Der Kosmos der Kreativen

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Auf das ehemalige Kasernengelände zwischen Roß- und Ulmenstraße in Derendorf, den Platz der Ideen, sind Werbeagenturen und eine Modeakademie gezogen. Mit jedem Tag verändern sie das Viertel darum herum ein bisschen mehr. Besuch an einem Ort, der offen sein soll für alle und an dem die nächsten Poller nur eine Straßenecke entfernt sind. [...] Quelle: Rheinische Post, 18.06.2011, C6, Serie Düsseldorfer Geschichten

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INFO

Die Grey-Gruppe hat zu ihrem Um-zug an den Platz der Ideen folgen-de Statistik erstellt:7000 Klinkersteine ausge-tauscht8000 Kubikmeter Beton einge-setzt1000 Tonnen Betonstahl benö-tigt1100 Betonfertigteile verbaut20 Monate Bauzeit erlebt75 Bau-Besprechungen absol-viert10 000 Umzugkartons ein- undausgepackt140 Lkw-Ladungen (entspricht280 Tonnen)2900 Arbeitsstunden des Um-zugsunternehmens100 Container Müll entsorgt

Der Anfang in Zahlen

Die ehemaligen Kasernen an der Tannenstraße haben nun Balkone,auf denen besondere Pflanzen wachsen.

Studentinnen der Akademie Mode und Design an den Nähmaschi-nen.

In der Werbeagentur steht ein Konferenztisch in der Mitte einesBoxrings.

Der Platz der Ideen in Derendorf: Mitarbeiter der Agentur Grey (Hauptgebäude im Hintergrund) laufen zur Kantine – immer mindestens zu viert.

SERIE DÜSSELDORFER GESCHICHTEN (31 )

Auf das ehemalige

Kasernengelände zwischen

Roß- und Ulmenstraße in

Derendorf, den Platz der

Ideen, sind Werbeagenturen

und eine Modeakademie

gezogen. Mit jedem Tag

verändern sie das Viertel

darum herum ein bisschen

mehr. Besuch an einem Ort,

der offen sein soll für alle und

an dem die nächsten Poller

nur eine Straßenecke entfernt

sind.

Der Kosmos der Kreativen

VON CHRISTIAN HERRENDORFUND ANDREAS ENDERMANN (FOTOS)

Auf dem Platz der Ideen liegen diebeiden am schlechtesten genutztenWege von Düsseldorf. Das gelbePflaster führt einmal von vornenach hinten, einmal von links nachrechts über den Sand, vom Tor zurModeakademie und vom Haus dergroßen Werbefirma zum Haus dervielen kleinen Agenturen. Die Men-schen, die über den Platz gehen, be-achten die gelben Steine nicht, sienehmen irgendeinen Weg über denSand, das Pflaster berühren sie nur,wenn sie es kreuzen. Wer von linksnach rechts oder rechts nach linksüber den Platz läuft, erscheint sel-ten allein. Die Mitarbeiter der Agen-turen kommen immer in Gruppen,immer mindestens zu viert. Wernormal geht, hat Hunger, wer lang-sam geht oder steht, raucht. Wernicht zu viert kommt, trägt zweiKaffee.

Vom Tor nach hinten laufen ganzüberwiegend ganz junge Frauen.Stets in einer zurückhaltenden Far-be gekleidet mit einem Ausreißer:ganz offene Stiefel, eine etwas zuflächendeckende Sonnenbrille,eine sehr blaue Strumpfhose, eingroßes Haarknäuel oben auf demKopf. Unter ihnen ist nur ein Mann.Er trägt die größte Handtasche vonallen.

Die beiden Worte, die am häu-figsten auf dem Platz der Ideen zuhören sind, heißen Produkt undZielgruppe.

Vor 118 Jahren belegten noch„Achtung“ und „Jawohl“ diese Spit-zenplätze. Die Soldaten des Kaiserswaren Ende des 19. Jahrhunderts inder Nähe der Königsallee statio-niert, besaßen dort aber nicht ge-nügend Platz zum Üben. Deshalbbaute das Militär im Norden derStadt Kasernen, in die 1893 Infante-rie-, Kavallerie- und Artillerie-Regi-menter einzogen. Die zackigendeutschen Kommandos schalltenbis zum Ende des Ersten Weltkriegsüber die Höfe, nach einigen Jahrender Ruhe übernahmen die französi-schen Truppen das Gelände. Dengrößten Teil ihrer Geschichte, mehrals 70 Jahre, beherbergten die Ka-sernen die Polizei. Anfang des21. Jahrhunderts erhielten die Ge-bäude Denkmalschutz, da warensie aber auch schon so marode,dass die Polizei auszog. Kurz daraufkam Uli Veigel zu seinem ersten,

folgenreichen Besuch nach Deren-dorf.

Es ist ein nebliger, hässlicher No-vembertag, als Veigel, der Deutsch-land-Chef der Grey-Gruppe zurRoßstraße fährt. Was er vorfindet,passt so gar nicht zu seinen Plänen.Er sieht leerstehende, gelb- und rotgeklinkerte, wilhelminische Kaser-nen. Er sucht einen Ort, an dem dieüberall in Düsseldorf verteiltenTöchter und Agenturen des welt-weit operierenden Werbeunter-nehmens Grey zusammenkommenkönnen. Trotz Herbst und Klinkerweiß Veigel nach dem ersten Be-such, dass er die 17 Mietverträgekündigen kann und nicht in denMedienhafen ziehen wird. Er ahntaber noch nicht, was auf die Agen-tur in Derendorf alles zukommt.

Aus der Planstraße B wirdschließlich der Platz der Ideen

In jeder Etage stellen die Bauar-beiter große Wasserbehälter auf,gucken, wo in der Etage daruntersich die Decke biegt und ziehendort neue Träger ein. Es werden vie-le Träger. Das zweite Haupthaus istnicht mehr zu retten, dort mussGrey neu bauen lassen. Vom erstenHaupthaus wird das Dach abgetra-gen, an seine Stelle kommt ein glä-sernes Obergeschoss. Auch auf derRückseite entsteht ein neuer Ge-bäudeteil, Agentur und Architektennennen ihn Rucksack. Das Latri-nengebäude gefällt den neuenHausherren dagegen so gut, dass

sie es entgegen der Pläne stehenlas-sen und zum Schulungsraum um-bauen.

Nach wie vor ist kein Umzugskar-ton gepackt, und dennoch reißendie Strapazen nicht ab. Entlang desCampus führt die „Planstraße B“,ein Name, den die Agentur gerne inIdeenstraße ändern würde. Die Be-zirksvertretung stimmt dagegen,am Tag vor der Grundsteinlegungstimmt sie für Platz der Ideen.„Noch besser“, sagt Uli Veigel, derweiß, dass er sich richtig entschie-den hat, als er kurz nach dem Ein-zug überraschenden Besuch erhält.„Da draußen sind 20 Leute“, sagtseine Kommunikationschefin. DieDerendorfer Jonges begrüßen ihreneuen Nachbarn, legen jedem Mit-arbeiter eine Rose und einen Trau-benzucker auf dem Tisch.

Bei ihrem Rundgang sehen dieJonges Arbeitsplätze, die sie sonicht kannten. In vielen Räumen isteine der Wände mit Tafellack gestri-chen, auf den die Kreativen ihreIdeen mit Kreide schreiben. Einigeder Konferenztische besitzen keinePlatten. Auf dem Metallgestell lie-gen stattdessen hohe und großflä-chige Papierblöcke. Jeder, der an ei-ner Konferenz teilnimmt, kann sei-ne Gedanken sofort auf den Tischnotieren, nachher abreißen undmitnehmen. In einem Büro ist dasganze Fenster mit DinA4-Blätternbeklebt, in einem anderen mit Sil-berfolie bezogen. Vor dem Zimmerdes Finanzchefs stehen ein Tellerund ein Pappschild mit der Bitte um

Spenden, daneben liegen ein paarCentstücke und zwei Essensgut-scheine. Die Nischen auf den Flu-ren und die Besprechungsräumesind mit bunten Sofas gefüllt undgelegentlich auch mal mit einer Kis-te Bier.

Niemand weiß, wann die ent-scheidende Idee kommt, sagen dieWerber. Deshalb ist alles so ge-schaffen, dass sie zu allen Tages-und Nachtzeiten kommen kann,dass jeder jederzeit in der Agentursein kann. Einmal pro Wochekommt ein Masseur, alle 14 Tageeine Friseurmeisterin. Fußball-Fans können gemeinsam zu Fortu-na gehen – mit den Dauerkarten derFirma. Für Eltern, deren Kinderbe-treuung ausgefallen ist, gibt es ei-nen Raum, in dem sie arbeiten undauf ihr Kind aufpassen, ausgestattetmit Wiege, Spielsachen und Com-puter. An die Wand des Raums sindFiguren gemalt, die aussehen wiedie Teletubbies. Auf ihren Anzügensteht „Grey“.

Der Platz der Ideen selbst ist vorallem den Weg zur Kantine, „Pause“genannt, und gelegentliche Spiel-wiese: Eine Gruppe aus dem einenHaus hat einer aus dem anderenHaus die St.Pauli-Totenkopffahnegeklaut und saftige Forderungengestellt. Für 15 Uhr ist die ÜbergabeFahne gegen Bier und mehr ge-plant. Das jüngste Grillfest hat in ei-nem Boxring und an Stapeln vonEuroplatten stattgefunden, beimgemeinsamen Fußballgucken un-ter freiem Himmel gab es neben der

Leinwand im Hof auch mit Vuvuze-las geschmückte Bäume zu sehen.

Seit einigen Monaten auch für dieNachbarn von der Akademie Modeund Design. Künftige Modema-cher, Raumgestalter und De-signmanager studieren dort, in ei-nem Gebäude, das noch radikalerRaum für Inspirationen schafft. ImGebäude sind alle Wände unver-putzt, die Tische in den Zimmernsind weiß, die Wände auch. Alles istleer, alles ist Spielfläche. Auf jederEtage hängt eine kleine Ausstel-lung, sechs, acht, zwölf Fotos, meistschwarz-weiß. Am Schwarzen Bretthängen Kurslisten, Nachschreibe-termine, Anmeldelisten. Mittendrauf pinnt ein Foto, auf dem fei-ernde Studenten zu sehen sind. ImHof arbeitet eine Gruppe jungerFrauen. Eine Studentin fotografierteine andere, die, die drum herumstehen, geben Tipps. „Zehn Minu-ten noch, dann haben wir den Restder Zeit für uns“, sagt eine.

Keine Spur von Müll oder Dreck aufdem Spielplatz

Der Kosmos der Kreativen reichtinzwischen über den Platz der Ide-en hinaus. Die anderen alten Kaser-nen haben jetzt Balkone, auf denenein unausgeschriebener Wettbe-werb des anspruchsvollen Gärt-nerns zu laufen scheint: Palmen,Olivenbäume, Kugelsträucher,Wildkräuter – all das wächst wohl-geordnet neben Teakholzmöbeln.Zwischen den Häusern tauchen

immer mal wieder Spielplätze auf.Zwei Schaukeln, zwei Wackelpfer-de, ein Sandkasten, keine Spur vonMüll oder Dreck. Am Straßenrandstehen zwei Wasserkästen, nach ei-nigen Minuten rollt aus einer derTiefgaragen ein Auto und hält ne-ben den Kästen. Die Fahrerin steigtaus und lädt ihr unangerührtesLeergut ein. Ein anderer Fahrerwirkt weniger ortskundig. Er wen-det bereits zum dritten Mal, weil erebenso oft um eine Ecke gefahrenist, hinter der Poller demonstrieren,was die Anwohner von Durch-gangsverkehr halten.

Hinter den Ex-Kasernen wachsenweitere Häuser. Die einen sind qua-dratisch und scheinen vorwiegendaus Ecken und Garagen zu beste-hen, die anderen sind unten ausBackstein gemauert und erinnernin den oberen Etagen an Ferien-wohnanlagen auf spanischen In-seln.

Vor den Ex-Kasernen, auf der an-deren Straßenseite steht ein grauesHaus aus der Nachkriegszeit, andem oben eine etagenhohe Fahnemit dem blau-weißen Schriftzug„Auf Schalke“ hängt. Unten in denErdgeschossen dieser Straßenseitegibt es inzwischen einen französi-schen Weinhandel, zwei Cafés, dieauch selbst gemachte Marmeladeund italienische Feinkost verkau-fen, ein Hutgeschäft und ein „Cen-trum Schöne Zähne“. Die Kneipean der Ecke hat ein Schild über derTür. „Lounge-Restaurant“ steht da-rauf.

C 6 RHEINISCHE POST SAMSTAG 18 . JUNI 2011DÜSSELDORFD-L1

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