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Reihe 1
Das Monatsmagazin der Staatstheater Stuttgart Staatsoper Stuttgart, Stuttgarter Ballett, Schauspiel Stuttgart Juli 2020
3EditorialReihe 1 Juli 2020
TitelmotivWir arbeiten weiter, aber wir haben neue Regeln für jeden Schritt entwickelt. Mehr über diese Szene erfahren Sie auf Seite 6
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Liebe Leserinnen und Leser,
willkommen bei Reihe 1, dem neuen Magazin der Staatstheater Stuttgart. Reihe 1 ist ein Frischling und ein Mischling. Denn wir haben zwei Hefte miteinander verschmolzen. Einerseits stecken hier all jene Infos zum Spielplan drin, die Sie aus dem kleinen Monatsheft kennen. Andererseits ersetzt Reihe 1 für einige Zeit das größere Reihe 5, unser Magazin, in dem wir alle drei Monate Geschichten erzählt haben übers Theatermachen, Opernentwickeln und Ballettkreieren (und natürlich noch viele mehr).
Weil sich auch bei uns die Vorzeichen schneller ändern, als wir »Vorhang auf« sagen können, ist Reihe 1 klein, schnell, immer ein bisschen provisorisch. Perfekt für diese Zeit.
Mit Reihe 1 sind Sie ab sofort näher an allem, was bei uns passiert. Alle vier bis sechs Wochen schicken wir das Heft zu Ihnen nach Hause – und an jede und jeden, der oder die es gern hätte. So bleiben wir mit Ihnen in Kontakt. Und Sie mit uns.
Uns geht es wie Ihnen: In den Monaten, die hinter uns liegen, haben wir uns umorientiert, aber weitergearbeitet. Jetzt spielen wir wieder – und gehen dabei auf Nummer sicher. Natürlich gleichen unsere Pläne noch einem Mosaik voller Lücken, einem Puzzle, in dem Teile fehlen. Aber wir haben uns entschieden, Ja zu sagen zum Unfertigen, zu Collage und Improvisation. Daher sammeln wir nun ein, was ist, was kommt und was bleibt – und stellen es Ihnen vor. Schnell, roh, ungefiltert. Wenn sich die Zeiten ändern, dann ändern auch wir uns wieder.
Bis dahin und für die Zeit danach versprechen wir zu spielen. Mit allem, was uns wichtig ist, nur nicht mit Ihrer Gesundheit.
Die Staatstheater Stuttgart
Reihe 1 Juli 2020 54 Inhalt 5
3 Editorial 6 Umdenken: Weil es ja irgendwie weitergehen muss 8 Spielplan
Was ist 10 Wertschätzen Die Tänzer sind nun zertifizierte Leistungssportler 12 Berühren Per Telefon ein Gedicht? Wie zart, wie schön, wie nah! 14 Umbauen Zum Beispiel die Liederhalle
Was kommt 16 Reagieren Ein Ballettabend als Antwort 20 Haltung zeigen Mehr Wagner wagen und für Freiheit und Demokratie demonstrieren 22 Neues schaffen Ein Bestseller als Livehörspiel
zum Mitsingen 24 Nähe schaffen Das Opernhaus ist geschlossen. Also packen wir das ganze Musiktheater auf einen Truck – und fahren in die Stadt
Was bleibt 28 Erinnern Auch das Stuttgarter Ballett vermisst magische Bühnenmomente 30 Entdecken Das Schauspiel Stuttgart wird zur Geisterbahn, das Publikum geht auf eine BackstageTour
34 Umlernen Das neue Ding: Wie wir improvisieren 34 Impressum
Reihe 1 Juli 20206 7Umdenken
Körpernah, konzentriert und dabei sicher: Gewandmeisterin Anna Volk steckt das Kostüm von Tänzer Henrik Erikson ab
In die Garderobe für Statisten umziehen musste der Schneider Moustapha Koumai, damit Distanzregeln gewahrt werdenFo
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Reihe 18 9Juli 2020 Spielplan
Wir spielen für Sie weiter. Ob draußen in der Stadt, am Telefon, online oder im umgebauten Konzertsaal. Die Termine des Monats
1Mi
Live am TelefonDas Lyriktelefon17 – 19 Uhr, kostenlos
Schauspielerinnen und Schauspieler des Ensembles lesen am Telefon Texte von Friedrich Hölderlin, Paul Celan, Nelly Sachs, Gertrud Kolmar
Weitere Termine: 2., 3., 6., 7., 8., 9., 10., 13., 14., 15., 16., 17., 20., 21., 22., 23., 24., 27., 28., 29. Juli
Schäfchen im Trockenenvon Anke Stelling20 Uhr, Kammertheater, 20/7 €
Mittvierziger, glücklich, mit Eigentumswohnun g – nur eine hasst die durchgestylte Welt
Weitere Termine: 2., 21., 27. Juli
Ex MachinaEine audiovisuelle Reise zu den Stimmen der Zukunft22 Uhr, Opernvorplatz, 12/7 €
Teil III der Recherche und PerformanceReihe von Johannes Müller und Philine Rinnert
Weiterer Termin: 2. Juli
2Do
Sommertheater Ich bin wie ihr, ich liebe Äpfelvon Theresia Walser19 Uhr, Innenhof Opernhaus, 20/7 €
Ihr Leben soll verfilmt werden. Nun streiten sich drei Diktatorengattinnen über die Details
Weitere Termine: 3., 4., 8., 10., 15., 16., 17., 18. Juli, 19 Uhr; 12., 19. Juli, 15 Uhr
3Fr
PremiereDie Blume von HawaiiOperette von Paul AbrahamHafen Stuttgart, 25/7 €, Uhrzeit siehewww.staatsoperstuttgart.de
Abrahams JazzOperette aus dem Jahr 1931 erzählt das LiebesChaos von vier Paaren
Weitere Termine: 4., 5. Juli
Ceci n’est pas une premièreKlanginstallation vor dem Opernhausvon Carlos Hernández21 – 22 Uhr, Opernvorplatz, Eintritt frei
Lautsprecher an der Fassade simulieren das volle Leben eines Konzerthauses
Weitere Termine: 4., 6., 7., 8. Juli
4Sa
Peter und der WolfFamilienkonzert ab 4 Jahren14 & 15.30 Uhr, Beethovensaal, Liederhalle, 12/7 €
Weitere Termine: 11. Juli, 11 & 12.30 Uhr
OperntruckDie Geschichte vom Soldaten von Igor Strawinsky15 & 19 Uhr, Museumshügel vor dem MercedesBenz Museum, 12/7€
Weitere Termine: 5. Juli, 19 Uhr; 9. Juli, 15 Uhr
Beethoven-Zyklus 3Sinfonie Nr. 3 EsDur op. 55 Eroica19 Uhr, Beethovensaal, Liederhalle, 25/7 €
Staatsorchester Stuttgart Musikalische Leitung/Moderation: Cornelius Meister
Weiterer Termin: 5. Juli, 19 Uhr
5So
Beethoven-Zyklus 2Sinfonie Nr. 2 DDur op. 36 11 & 13 Uhr, Beethovensaal, Liederhalle, 25/7 €
Weiterer Termin: 12. Juli, 11 Uhr
LivehörspielExtrem laut und unheimlich nahvon Jonathan Safran Foer19.30 Uhr, Schauspielhaus, 20/7 €
Ein Neunjähriger läuft durch New York, sucht Spuren seines toten Vaters
Weitere Termine: 9., 11. Juli
7Di
Bei Max Littmann zu HauseEin Salon mit Gesprächen und Musik20 Uhr, Opernhaus, 12/7 €
Vorbild dieses Abends sind die legendären Salons des 18. und 19. Jahrhunderts
Weiterer Termin: 12. Juli, 18 Uhr
8Mi
Beethoven-Zyklus 4Sinfonie Nr. 4 BDur op. 6019 & 21 Uhr, Beethovensaal, Liederhalle, 25/7 €
Weitere Termine: 11. Juli, 19 Uhr; 21. Juli, 19 & 21 Uhr
KammerkonzertDer Klang der Träume19.30 Uhr, Mozartsaal, Liederhalle, 16/7 €
Begegnung mit Francis Poulenc
10Fr
Trouble in TahitiMusical von Leonard BernsteinHafen Stuttgart, 25/7 €, Uhrzeit siehewww.staatsoperstuttgart.de
Ehe kaputt, Vorort höllisch: Dinah benutzt einen HollywoodSchinken als Flucht
Weitere Termine: 11., 12. Juli
Liedkonzert Ida RänzlövSkandinavische und deutsche Lieder19.30 Uhr, Mozartsaal, Liederhalle, 16/7 €
11Sa
Radioshow Nr. 6Sound of Silence21 Uhr, Opernhaus, 12/7 €
Geschlossene Opernhäuser, leere Straßen, verwaiste Spielplätze. Stille ist ein Klang, den jeder kennt. Oder? Wir erforschen ihn
12So
Demo(kratie)Ein Bühnenfreifestspiel mit dem Staatsopernchor im Stuttgarter Stadtraum17 Uhr, Schlossplatz, kostenlos
Wir ziehen los und singen Wagner in der Stadt. Eine Demo der anderen Art
Weitere Termine: 15., 16. Juli
Beethoven-Zyklus 5 Sinfonie Nr. 5 cMoll op. 6719 Uhr, Beethovensaal, Liederhalle, 25/7 €
Weitere Termine: 20., 21. Juli, 19 & 21 Uhr
14Di
PremiereBlack Box Phantomtheater für 1 Personvon Stefan Kaegi/Rimini Protokoll18 Uhr, Schauspielhaus, 15 €
Audiotour durch das Schauspielhaus
Weitere Termine: 15., 20., 23., 24., 25. Juli, 19 Uhr; 26. Juli, 17 Uhr
18Sa
Beethoven-Zyklus 7Sinfonie Nr. 7 ADur op. 9219 Uhr, Beethovensaal, Liederhalle, 25/7 €
Weiterer Termin: 19. Juli, 19 Uhr
19So
Beethoven-Zyklus 6 Sinfonie Nr. 6 FDur op. 68 Pastorale11 & 13 Uhr, Beethovensaal, Liederhalle, 25/7 €
Weitere Termine: 22. Juli, 19 & 21 Uhr
Preview MadrigaleSechs Musikfilme: Quälend süße Einsamkeit18 Uhr, Opernhaus, 12/7 €
23Do
PremiereDie Nacht kurz vor den Wäldernvon Bernard-Marie Koltès 20 Uhr, Kammertheater, 12/7 €
Der Monolog eines Getriebenen, der durch die Straßen der Großstadt rennt
Weitere Termine: 25., 28. Juli
24Fr
Beethoven-Zyklus 8Sinfonie Nr. 8 FDur op. 9319 & 21 Uhr, Beethovensaal, Liederhalle, 25/7 €
25Sa
Liedkonzert Stine Marie Fischer Musik nach Heinrich Heine und Nikolaus LenauWerke von Klughardt, Schumann, Lang, Brahms, Mendelssohn19.30 Uhr, Mozartsaal, Liederhalle, 16/7 €
PremiereBallettabend: Response I Something old, something new, something classic, something blueUraufführungen von Fabio Adorisio, Roman Novitzky, Louis Stiens und Choreographien von Michel Fokine, Hans van Manen, Edward Clug, John Cranko sowie weitere Stücke20 Uhr, Opernhaus, 77 €
Weitere Termine: 26. Juli, 14 & 20 Uhr
Ballett am Kulturwasen Liveübertragung beim Kulturwasen, kostenlos, Karten ab 8. Juli unter www.kulturwasen.de
26So
Liedkonzert Helene SchneidermanMehr als ein halbes Leben19.30 Uhr, Mozartsaal, Liederhalle, 16/7 €
2S. 12
5S. 22
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7S. 30
Oper trotz CoronaBellinis I Puritani und als JuliSpecial Wagners ganzer Ring onlinewww.staatsoperstuttgart.de
#StuttgartBallet@HomeJedes Wochenende wechselnde VideosonDemandwww.stuttgarterballett.de
Virtuell statt liveTheaterfilme, digitale Premieren und Einblicke ins Archivwww.schauspielstuttgart.de
OperBallettSchauspiel
Streams und digitale SpecialsFolgen Sie uns in den sozialen Netzwerken
Die Newsletter der Staatstheater StuttgartHalten Sie sich auf dem Laufenden und abonnieren Sie unsere Newsletter unter www.staatstheaterstuttgart.de
Reihe 1 Juli 202010 11Was ist Wertschätzen
Tamas Detrich erzählt, wie Ballett offiziell zum Hochleistungssport wurde – und wie gerade das die Kunst im Tanz rettet
Kräfte messen
»Vor vier Monaten hätte ich ge sagt: Tänzer sind Künstler, keine Sportler. Ballett lebt von der künstlerischen Darstellung, der Kraft des Aus drucks, der Fähigkeit, mit Bewe gung Geschichten zu erzählen. Unsere Kunst entfaltet sich auf der Bühne.
Dann kam Corona, wir konnten von einem Tag auf den anderen nicht auftreten, und auch das täg liche Training im Ballettsaal musste ausfallen. Was, glauben Sie, passiert mit Tänzern, die nicht trainieren können? Viele dieser Körper werden seit dem sechsten Lebensjahr täglich feingetunt wie eine Stradivari. Wenn so hochtrainierte Körper plötzlich mit dem Training aufhören, schwinden Muskeln, die Ausdauer nimmt ab, das Adre nalin fehlt. Ich habe also jedem Tänzer ein zweimal zwei Meter großes Stück Tanzboden nach Hause geschickt und für die Com pagnie online ein Programm aus klassischem Ballett, Krafttraining und Yoga zusammengestellt. Das war ein Anfang, aber nicht optimal.
Eines Morgens habe ich in der Zeitung gelesen, dass Profisportler
wieder in kleineren Gruppen trainieren. Allerdings galt diese Erlaubnis nur für Hochleistungssportler wie Olympioniken oder Profi fußballer. Das hat mich geärgert, denn wir trainieren genauso hart. Wenn man eine Vorstellung von drei Stunden tanzt, ist das durchaus einem Mara thonlauf oder einem Erstligaspiel vergleichbar.
Daraufhin habe ich mit unserem Betriebsarzt ein Konzept ausgearbeitet. Wir haben mit rotem Klebeband den Studioboden markiert, um Abstände zu kennzeichnen. Und wir haben ein Rotationssystem erarbeitet, damit jeder Tänzer, jede Tänzerin täglich trainieren kann. Unsere Anfrage ging bis zum Ministerpräsidenten, und Herr Kretschmann hat uns unterstützt! Nun sind die Tänzer und Tänzerinnen des Stuttgarter Balletts offiziell anerkannte Hochleistungssportler, dürfen ihren Körper trainieren – und die Grundlage unserer Kunst erhalten.«
Wenn der Vorhang sich hebt, ist es Kunst. Davor ist es harte körperliche Arbeit
Tamas Detrich, Intendant
Ballettabend RESPONSE I im Juli 1 im Spielplan
Newton muss ein männlicher Tänzer bei der Landung von Sprüngen aushalten – ein Kinn haken von Schwer gewichts boxer Anthony Joshua ist um 1000 Newton weniger kraftvoll
6000
Drehungen auf Spitze macht Odile in Schwanenseehintereinander, sogenannte Fouettés
32
Kilo pro Vorstellung stemmt ein Tänzer in der Rolle des Romeo. Mehr als 30 Mal hebt er Julia in John Crankos Romeo und Julia hoch
1600
Blessuren, also Verlet zungen wie Bänderrisse oder Verstauchungen, hat ein Tänzer oder eine Tänzerin pro Jahr – so viele wie ein Footballspieler
6,8
Mal steht Dornröschen im 1. Akt von Marcia Haydées Dornröschen auf einem Bein auf Spitze
126
Newton muss eine Tänzerin bei der Landung von Sprüngen standhalten, mehr Kraft als bei einem knochenbrechenden Tackle im Rugby
4000
Mal heben Tänzer ihre Beine pro Training
350
Der Beruf des Tänzers wird als einer der 20 anstrengendsten Jobs in den USA bewertet, wie die Arbeit auf dem Bau, bei der Feuerwehr oder als Dachdecker
Laut Studien zählt Ballett zu den körperlich
und geistig anspruchsvollsten Sportarten –
vergleichbar mit Football, Basketball und Judo
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Reihe 1 Juli 202012 Was ist 13Juli 2020
Unsere Verbindung wird gehalten Das Deutsche Literaturarchiv Marbach und das Schauspiel Stuttgart haben ein Lyriktelefon erfunden. Vier Berichte
Katharina Hauter liest gemeinsam mit sechs anderen Schauspielern und Kolleginnen Gedichte am Telefon vor
Das Lyriktelefonim Juli 2 im Spielplan
»Montagabend, ich war der Einzige im Büro, als mein Handy zum fünften Mal klingelte. Ich ging ran, gestresst, genervt. Dann hörte ich diese Stimme, sanft, geduldig – ich war supergefl asht. Ich hatte vergessen, dass ich mich gemeldet hatte. In nur zwei Minuten hat Katharina Hauter mich aus dem Chaos geholt; mich, nun ja, zutiefst berührt. Ich kann mich kaum an Inhalte erinnern, umso tiefgreifender war das Gefühl. Es hat meinen Montag, ach, die Woche gerettet.«
»In kürzester Zeit, ein Gedicht dauert oft nur eine Minute, entsteht ein Moment höchster Konzentration, der beide Seiten rührt. Dies passiert vielleicht verstärkt, weil wir in Zeiten der Einschränkung leben. Und ausgerechnet jetzt kommt eine Kunst zum Strahlen, die durch Beschränkung defi niert ist. Ein Gedicht entsteht ja erst in der Einschränkung der Form. Aber sobald wir diese Form annehmen, uns berühren lassen, tun sich dahinter ganze Welten auf. Das
macht mich froh.«
Anke Schubert ist Schauspielerin im Ensemble des Schauspiels Stuttgart
»Über Twitter hatte ich von der Aktion erfahren und mich sofort angemeldet. Das Telefonat selbst dauerte nur zwanzig Minuten. Nicht viel Zeit, aber wenn Sie die allein Gedichten widmen, ist es lang. Das Gespräch ging mir tagelang nicht aus dem Kopf. Ich habe anschließend viel über Nelly Sachs und Hölderlin nachgelesen. Anke Schubert hat eine ungemein konzentrierte Atmosphäre geschaffen. Ich glaube, das Schönste und Bewegende war, dass dieser Moment nur mir galt.«
»Ich habe mit mehr als dreißig Leuten telefoniert, jede dieser Begegnungen war großartig. Es gab Menschen, die steckten tief in der Materie. Andere saßen zu dritt um die Muschel, das Telefon auf laut gestellt. Mal war mein Anruf eine Überraschung für die Freundin, oft gab es Momente tiefster Rührung, sowohl bei mir als am anderen Ende der Leitung. Wenn ich Theater spiele, genieße ich den Schutz der Rolle. Hier aber öffnen sich beide Seiten, und die Begegnung wird persönlich.«
Katharina Hauter ist Schauspielerin im Ensemble des Schauspiels Stuttgart
Martina Kellermeier ist Texterin und selbstständige PRBeraterin in München
Felix Schleinkofer ist Redakteur bei einem Stadtmagazin in Kempten
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Reihe 114 Reihe 114 15Was istJuli 2020 Umbauen
Im Beethovensaal sitzen Orchester und Zuschauer nun auf einer Ebene, im Raum verteilt
Mit Abstand – und doch ganz nah
Alles muss neu vermessen werden: Begriffe wie Nähe und Distanz haben für uns andere Bedeutungen erlangt – auch das Konzertleben beginnt mit neuen praktischen Fragestellungen. Das Publikum wird mit Sicherheitsabstand platziert. Das Orchester darf nicht Stuhl an Stuhl sitzen. Für das Staatsorchester Stuttgart heißt das: Das Parkett des Beethovensaals in der Liederhalle wird zur Bühne – die Musiker sitzen in einem Bereich des Raums, das Publikum im Halbkreis herum. Wie aber atmet, fühlt, spielt ein Orches ter gemeinsam, wenn die Musiker drei Meter von einander entfernt sitzen? Ermöglichen solche Raumkonstella
tionen vielleicht ungeahnte Perspektiven auf altbekannte Werke wie eine BeethovenSinfonie?
Konzerte funktionieren derzeit im Modus des Ausprobierens, des lustvollen Versuchs. Es gibt die bereits seit Anfang Mai stattfi ndenden 1:1 Concerts, bei denen ein Musiker und ein Zuhörer aufeinandertreffen. Die Innenhofkonzerte, bei denen das Orchester zum Publikum kommt. Nun die Liederhalle. Was die Not gebiert, kann fruchtbar sein. Wir machen uns immer aufs Neue auf die Suche – gemeinsam mit unserem Publikum.Johannes Lachermeier, Direktor Kommunikation
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1,5 m 1,5 m 4 m
Konzerte in der Liederhalle im Juli 3 im Spielplan
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Kontrabass
Kontrabass1. Violine
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KlarinetteKlarinette FagottFagott
Flöte Flöte Oboe OboeTrompete Trompete
Posaune Posaune Horn Horn
2. Violine1. Violine2. Violine
Dirigent
1. ViolineViola Kontrabass
17Reihe 1 Juli 202016
Körper, die neu sprechen lernenKeine Hebungen und viel Abstand. Wie das Stuttgarter Ballett mit einem Balletabend auf Corona antwortet
Ballett ist eine Kunst der Körper und der Nähe. Das Repertoire des Stuttgarter Balletts umfasst Hunderte von Werken – und nur eine Handvoll davon lässt sich tanzen, wenn alle Abstandsregeln eingehalten werden. Ohne Berührungen, ohne Nähe fällt der gesamte klassische Kanon weg mit seinen wieder kehrenden Folgen von Pas de deux und Gruppen szenen. Und auch nahezu alle zeitgenössischen Stücke des Stuttgarter Repertoires. Wie kann ein Ensemble mit derartigen Hindernissen einen Ballett abend zusammenstellen?
Andere Theater erklärten die Saison für beendet. Aber Ballettintendant Tamas Detrich wollte nicht kapitulieren. Wie auch die anderen Intendanten der Stuttgarter Staatstheater glaubte Detrich an die Kraft der Kreativität und musste sich zunächst dem Chaos stellen. »Einen Ballettabend in diesen Zeiten zusammenzustellen«, sagt Detrich, »ist ein bisschen wie ein Ziel treffen wollen, das stetig Haken schlägt.« Permanent ändern sich Richtlinien. Lange herrschte Unklarheit über eine mögliche Öffnung. Wie bereitet man sich darauf vor? Wie ließe sich proben? Würden die Tänzer zehn Meter Abstand halten müssen? Zwei Meter? Sechs Meter?Die Antwort des Stuttgarter Balletts auf diese einzigartige Situation ist der Ballettabend RESPONSE I, der Ende Juli im Opernhaus Premi
ere feiert. Something old, something new, something classic, something blue ist die Unterzeile des Abends, angelehnt an den angelsächsischen Brauch, eine Braut solle »something old, something new, something borrowed, something blue« zur Hochzeit tragen – etwas Altes, etwas Neues, etwas Geliehenes und etwas Blaues. Der Tänzer in Edward Clugs Solo aus Ssss … trägt Blau. Mit Michel Fokines Solostück Der sterbende Schwan ist etwas Altes dabei. Dazu suchte Detrich nach Coronaregeln tanzbare Stücke, etwa Solo von Hans van Manen, in dem drei Tänzer mit ausreichend Abstand tanzen, und den berühmten Pas de deux aus John Crankos Onegin, einen Klassiker der Ballettmoderne.
Aber halt, Pas de deux? Wie kann man das Verschlingen zweier Körper tanzen, ohne gegen Abstandsregeln zu verstoßen? Die Antwort ist so simpel wie romantisch: Der Erste Solist Roman Novitzky und die Erste Solistin Miriam Kacerova sind verheiratet und leben mit ihrem kleinen Sohn zusammen; folglich dürfen sie sich auch auf der Bühne berühren.
Für »something new« greift Detrich auf eine gewachsene Infrastruktur des Stuttgarter Balletts zurück: Mit Fabio Adorisio, Roman Novitzky und Louis Stiens hat er drei junge Choreo graphen im Ensemble, die nun eigens für RESPONSE I
Roman Novitzky bei der Arbeit im Ballettsaal. Sein neues Werk kreiert er für vier Tänzer und zwei Tänzerinnen – darunter ein Paar
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Reihe 1 Juli 202018
Ballett umsonst im Autokino
Eine zusätzliche Dimension dieser neuen Choreographien ist die Musik: Sie soll möglichst live spielbar sein und für eine sehr kleine Besetzung funktionieren, so lautet der Auftrag an die Choreo graphen. Denn der Orchestergraben, in dem die Musiker Ellbogen an Ellbogen sitzen würden, darf nicht benutzt werden. Wenn also live, dann Kammer musik. Die Repertoirestücke werden notgedrungen zu Tonbandmusik getanzt.
An die dreihundert Karten wird es für die drei Vorstellungen von RESPONSE I geben, ins Opernhaus dürfen Ende Juli nicht mehr als 99 Zuschauer pro Vorstellung. Wie werden diese Menschen den Abend wahrnehmen? Fest steht jetzt schon, sie werden eine neue Grammatik der Körper erleben; eine neue Sprache, eine, die Liebe ohne Berührung ausdrückt, Verbundenheit auf Distanz, Intimität trotz Isolation. Sie werden neue Antworten bekommen – auf eine neue Situation.Jana Petersen
Uraufführungen kreieren. In dieser Krise profitiert das Stuttgarter Ballett von seiner langjährigen Tradition, junge Choreographen in den eigenen Reihen zu fördern. Nach der langen Isolationszeit waren Adorisio, Novitzky und Stiens überglücklich, endlich wieder kreativ arbeiten zu können. Natürlich mit Einschränkungen – es darf in den neuen Stücken kein »Partnern« geben, also keine PasdedeuxElemente wie Hebungen, es sei denn, die Tänzer wohnen in einem Haushalt.
Trotz des Verzichts sehen die Choreographen positive Seiten in der neuen Situation: »Die Einschränkung bringt Klarheit«, sagt Roman Novitzky. Er hat nun nicht so viel Spielraum wie sonst – aber gerade diese neue Grenze bahnt ihm einen Weg durch die unendlichen Variationen von Bewegung.
Auch die Kommunikation mit den Tänzerinnen und Tänzern muss er sich neu erschließen: Normalerweise ist der Prozess des Kreierens sehr körperlich, nun muss Novitzky alles verbal vermitteln und dafür sehr präzise Worte finden.
Auch die Proben laufen anders ab als gewohnt: Hier müssen die Tänzerinnen und Tänzer ebenfalls Abstand halten. Zudem gibt es für jedes Stück normalerweise eine Zweit und Drittbesetzung, falls jemand kurzfristig ausfällt. Diese Tänzer stehen in der Regel am Rand des Ballettsaals, während der Choreograph kreiert. Das geht jetzt nicht, weil sich nur wenige Personen in einem Ballettsaal aufhalten dürfen. Trotzdem wird es auch für die Stücke in RESPONSE I eine zweite Besetzung geben müssen, das macht den Probenprozess langwieriger.
Fabio Adorisio nutzt für seine neue Kreation ein Werk des zeitgenössischen Komponisten Bryce Dessner
Louis Stiens lässt die Tänzer für sein neues Stück zu einer barocken Sonate von Domenico Scarlatti tanzen
Was tun, wenn nur 99 Menschen in den Zuschauersaal des Opernhauses dürfen und das jährliche Ballett im Park ausfallen muss? Gemeinsam mit seinem Hauptsponsor Porsche reagiert das Stuttgarter Ballett auf diese ungewöhnliche Situation: Die Premiere des Ballettabends RESPONSE I wird am 25. Juli ab 20 Uhr live ins Autokino auf dem Areal des Cannstatter Wasens übertragen, von der Bühne des Opernhauses direkt auf die Leinwand. Es ist Platz für tausend Fahrzeuge, und wie bei Ballett im Park ermöglicht Porsche als Hauptsponsor freien Eintritt. Die kostenlosen Platzkarten gibt es ab 8. Juli unter www.kulturwasen.de.
Unter Einhaltung aller Abstands und Hygienevorgaben kreieren Fabio Adorisio, Roman Novitzky und Louis Stiens für den Ballettabend RESPONSE I (Some thing old, something new, some thing classic, something blue) neue Stücke. Ihre Uraufführungen werden flankiert von Werken des Repertoires: Hans van Manens Solo und Der sterbende Schwan nach Michel Fokine sowie Ausschnitten aus Edward Clugs Ssss…, John Crankos Onegin und weiteren Stücken.
Die Premiere des Ballettabends RESPONSE I wird live beim Kulturwasen übertragen
Ballettabend RESPONSE I im Juli 1 im Spielplan
Nichts an meiner Arbeit ist gerade so wie sonst. Aber genau das führt dazu, dass ich mich entwickle und so viel lerne wie selten zuvor
Roman Novitzky, Choreograph
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Reihe 1 Juli 202020 21
Mehr Wagner wagen!Stuttgart wird im Juli eine Operndemo erleben. Für Freiheit, Vernunft und Demokratie. Der Chor der Staatsoper Stuttgart und ein BayreuthRegisseur laden ein
Wir singen. Wir streiten. Wir stören. Wir laden die Menschen ein, mit uns zu sein
Valentin Schwarz hätte in Bayreuth den Ring inszenieren sollen. Auch seine Pläne gerieten durcheinander
»Wenn die Geschäfte, Fitnesscenter und Kneipen öffnen, kommt bei vielen die Illusion auf, die Normalität wäre zurück. Aber das ist nur ein Teil des Lebens: Solange nicht jede Art der Kunstausübung erlaubt ist und die Theater wieder gefüllt sind – in allen Sitzreihen und ohne Abstand –, so lange bleiben wir im künstlerischen Ausnahmezustand. Und das muss man auch klar genau so benennen.
Ein Leben ohne Wagner ist für mich unvorstellbar. Als Soundtrack zur Krise höre ich jeden Tag seine Werke rauf und runter. Aber wie für viele ist die Musik aus der Konserve für mich nur ein schwacher Ersatz für das LiveErlebnis. Ein Stream kann niemals das ersetzen, was uns das Theater bedeutet.
Denn das Wesen von Oper und Theater ist das gemeinschaftliche Erlebnis: der Austausch, das Streiten mit anderen danach und in der Pause – hier entsteht Diskurs. Die Gesellschaft braucht diesen Gemeinschaftsraum, diesen Übungsraum für kollektive Praktiken.
Gemeinsam mit Wagner – dem Komponisten und dem Revolutionär – öffnen wir im Format einer Kunstkundgebung den Theaterraum ins Offene. Wir ziehen vom Schlossplatz zur Oper. Dabei schenkt uns der Staatsopernchor als Botschafter des Musiktheaters mit großen Chören aus Wagners Dramen die Atmosphäre eines echten Opernabends. Währenddessen fordern wir zum Nachdenken auf, wofür man politisch öffentlich eintreten möchte. Das geschieht wohlüberlegt und unter Beachtung des CoronaAbstandsregelwerks.
Wir singen. Wir streiten. Wir stören. Wir üben Demonstration. Ein wagnersches Bühnenfreifestspiel für die Werte der Freiheit, Vernunft und Demokratie. Wir laden die Menschen ein, mit uns zu sein, zu feiern und zu streiten, zu denken und zu genießen – und gemeinsam aus der Fassung unseres Alltags zu geraten.«
Demo(kratie). Ein Bühnenfreifestspiel im Juli 4 im Spielplan
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»Oscar Schell klingelt an fremden Türen, läuft tagelang durch die Stadt, besessen von der Idee, alle Menschen mit dem Nachnamen Black zu besuchen. Darum geht es in dem Roman Extrem laut und unglaublich nah von Jonathan Safran Foer. Oscar ist neun Jahre alt, hat bei den Anschlägen auf das World Trade Center in New York seinen Vater verloren. Als er eines Tages auf dem Schrank des Vaters einen Schlüssel findet, in einem Umschlag mit der Aufschrift ›Black‹, geht er los.
Unterwegs sein in der Stadt, Menschen besuchen, neue Leute kennenlernen – das haben wir alle lange vermisst. Bei diesem Stück dürfen wir es miterleben. Die Geschichte um den kleinen Oscar ist berührend, humorvoll und voller schöner Dialoge. Und sie eignet sich sehr für eine Art von Inszenierung, die mir großen Spaß macht: einen Hybriden aus Schauspiel und Hörspiel.
Schließt man als Zuschauer die Augen, erlebt man die Geschichte als Livehörspiel. Öffnet man sie, kann man vier Schauspielern zusehen, wie sie mit kleinen Kostümwechseln permanent in neue Rollen schlüpfen. Ein Hut, eine Brille, ein anderer Sprachrhythmus – das Format arbeitet mit einfachen Mitteln der Verwandlung. Der Roman bietet da eine wunderbare Grundlage:
Extrem laut und unglaublich nah im Juli 5 im Spielplan und demnächst als Stream
Was passiert, wenn man Hörspiel, Theater und Livemusik zu einem Abend vermischt? Regisseurin Bernadette Sonnenbichler erzählt, wie man einen Bastard erschafft Es war
einmal ein Klang ...
Reihe 1 Juli 202022
Sonnenbichler produziert Hörspiele für BR, HR und SWR. Nun bringt sie den Bestseller Extrem laut und unglaublich nah auf die Bühne
Oskar trifft viele besondere Menschen, zwischen den Schauspielern entstehen lauter kleine, kuriose Begegnungen.
Der größte Spaß daran ist, dass die Schauspieler die Geräusche des Hörspiels live und selbst erzeugen. Die Requisiten liegen in Griffweite. Man kann mit einem Pflanzenrollwagen und einer Rezeptionsklingel wunderbar das Öffnen von Aufzugstüren suggerieren. Das Stück wird von einem Musiker begleitet, den in Stuttgart viele kennen: Max Braun sitzt auf der Bühne und greift zu ungewöhnlichen Instrumenten, vom Glockenspiel bis zum Eierschneider.
Wir werden das Stück aufzeichnen, den Ton bearbeiten und als Stream bereitstellen. Ich strebe größtmögliche akustische Qualität an, aber natürlich ist ein BühnenLivehörspiel nicht das Gleiche wie eines, das im Studio aufgenommen wird. Das Format lebt von der Mischung aus Hörspiel und Theater, erhebt keinen Anspruch auf Perfektion und wird nur eine Woche lang geprobt. Aber das Rohe, das Improvisierte und Unfertige, erzeugt einen ganz besonderen Charme.«Protokoll: Hiltrud Bontrup
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Reihe 1 Juli 202024 25Nähe schaffen
Die Oper aufladen
Musiktheater als Logistikprojekt. Das Opernhaus ist geschlossen. Also packen wir die Kulissen auf einen Vierzigtonner, fahren in die Stadt hinein – und die Ladefläche wird zur Bühne
Vor dem Zentrallager der Staatstheater Stuttgart steht ein ganz besonderer Sattelzug bereit. Auf diesem Truck wird gesungen und gespielt. Bald vielleicht sogar für Randbezirke
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Als Igor Strawinsky im Jahr 1917 Die Geschichte vom Soldaten schreibt, lebt er im Exil am Genfer See. Er ist vor dem Krieg geflohen. Die Theater sind geschlossen, die Orchester schweigen, die Welt der Kunst steht still. In diese Stille hinein will er ein kleines Werk komponieren, für zwei bis drei Schauspieler, eine Tänzerin und sieben Musiker. Musik, die kein Opernhaus braucht. Musik für eine Wanderbühne.
Etwas mehr als hundert Jahre später nehmen Staatsoper und Schauspiel Stuttgart ebendiese Geschichte vom Soldaten ins Programm. Es herrscht zum Glück kein Krieg, aber doch ein Ausnahmezustand. Wieder sind die Theater geschlossen, die Orchester schweigen, Kunst und Kultur stehen still. Nun wird Strawinskys MiniMusiktheater auf einer ganz besonderen mobilen Bühne gegeben: Sie hat drei Achsen und ist 13,50 Meter lang. Seit Mitte Juni rollt der Operntruck. Er war einst ein Vierzigtonner im Güterverkehr.
Heute ist er eine Antwort auf das Problem, das alle Opern zurzeit haben. Sängerinnen können nicht singen, Musiker nicht proben, das Publikum darf nicht Platz nehmen. So wie viele Menschen im Lockdown in alten Fotokisten kramen, so schaut auch das Theater zurück. »Wir erinnern uns an die Traditionen unseres Genres«, erklärt Ingo Gerlach, Chefdramaturg der Staatsoper. »Das Musiktheater entstand einst auch auf Bretterbühnen, es gab fahrende Truppen, die Opera buffa hat eine enge Verbindung zum Jahrmarkt. Auch das sind unsere Wurzeln, und auf die besinnen wir uns nun zurück.«
Nach der kurzen Schockstarre lag daher die Idee auf der Hand, eine mobile Bühne zu bauen. Und es gab jemanden, der das kann. Alper Kazokoglu vom Stuttgarter »Studio umschichten« war dem Opernintendanten Viktor Schoner ohnehin aufgefallen – mit Aktionen, die Kunst mitten in die Stadt hineintragen. Das Studio hat mit Schülern gigantische Skulpturen aus Müll aufgeschichtet oder einen Kunstpavillon in eine Rutschbahn für Bobbycars umgebaut. Diese
Aktionskünstler wissen, wie man mit wenig viel erreicht – und mit dem, was ist, Neues schafft.
»Wir nennen es Precycling«, sagt Kazokoglu. »Wir benutzen Materialien, bevor sie weggeworfen oder sogar bevor sie überhaupt benutzt werden. Für die Umbauten am Truck haben wir nur das verwendet, was in den Theaterwerkstätten schon da war.« Einen roten Samtvorhang etwa und Elemente von Bühnenbrücken. Dass der Lkw in Benutzung war, soll man ihm weiter ansehen. Gestern Lieferwagen, heute Bühne, morgen vielleicht etwas anderes – das Material lebt.
»Normalerweise fassen Bühnenbildner nichts an, was schon einmal in einem Stück zu sehen war. Wir wollen aber gerade, dass man sich an das Theater erinnert«, sagt Kazokoglu. »Fragmente des Betriebs sind auf dem Truck zu sehen. Bis hin zu Stühlen aus dem Haus, die wir zu einer Skulptur verbaut haben.«
Auf dem Kulturwasen hatte der Truck Pre miere, nun soll er vor dem MercedesBenz Mu seum und am Opernvorplatz haltmachen. Die Musiker spielen neben dem Truck, die Ladefläche wird zur Bühne.
»Beim Inszenieren geht es zurzeit immer darum, mit den Hygienevorgaben kreativ zu arbeiten, aus der Not eine Tugend zu machen«, erklärt FranzErdmann MeyerHerder, der das Stück nach nur zwei Wochen Proben als Dramaturg mit auf
die Bühne bringt. Maurice Lenhard führt Regie. So gibt es etwa in Strawinskys Soldaten eine Szene, da wird der Teufel wütend, weil er Soldat und Prinzessin »eng umschlungen« sieht. Auf dem Truck streicheln die Schauspieler einander mit Schaumstoffhänden an langen Stangen.
»Wir machen aus den Einschränkungen eine Spielaufgabe. Das kann ganz neue Energie freisetzen«, sagt MeyerHerder. »Und das hilft auch beim Nachdenken darüber, was inhaltlich passiert. Wir spielen schließlich ein hundertjähriges, recht holzschnittartiges Märchen. Es will nicht die Wahrheit erzählen, sondern Menschen auf der emotionalen Ebene verbinden – auch mit der Frage, ob ›HeileWeltGeschichten‹ von gestern noch funktionieren können.«
Wenn es sich bewährt, wird das Konzept vielleicht weiterrollen. »Unser Traum ist es, auch später zum Publikum zu fahren – in die Hochhaussiedlung oder weit raus aufs Land«, sagt Gerlach.
»Wir erleben eine interessante Umkehr der Verhältnisse. Die Menschen dürfen einander zwar nicht so nah sein wie sonst. Aber trotzdem rückt man dem Publikum viel näher als gewohnt, Oper fühlt sich viel unmittelbarer an«, sagt MeyerHerder. »Es tut gut, rauszugehen.«Thomas Lindemann
Die Stühle aus dem Schauspielhaus werden Teil des Bühnenbilds. Zwei Schauspieler des Schauspiels Stuttgart gehen mit an Bord
Truckbauer: Alper Kazokoğlu (links) und Peter Weigand vom Studio umschichten
Wir wollen gerade, dass man sich ans Theater erinnert. Fragmente des Betriebs sind überall auf dem Truck zu sehen
Alper Kazokoğlu, Aktionskünstler
Die Geschichte vom Soldaten im Juli 6 im Spielplan
Was kommt
Reihe 126
Der Operntruck wird gebaut aus Material, das in den Theaterwerkstätten schon vorhanden war
Kostüm und Bühnenbildstudien zu Strawinskys mobiler Oper Die Geschichte vom Soldaten
Juli 2020 Nähe schaffen 27
Arme, Köpfe, Beine, selbst die Finger und die Blicke der Tänzerinnen sind im gleichen Winkel geneigt in der berühmten Szene aus Das Königreich der Schatten, einem Akt des Balletts La Bayadère. Wie ein einziger Körper erscheinen die 24 Tänzerinnen. Ob sie sogar gemeinsam atmen?
Das vermissen wir!
Reihe 128 ErinnernJuli 2020 Was bleibt 29
#StuttgartBallet @Home Wechselnde VideosonDemand mit diversen Stücken des Repertoires und Momenten wie diesem zum Erinnern und Schwelgen im Juli auf www. stuttgarterballett.de
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31Reihe 1 Juli 2020
Was geschah hier?
Kostüme, Mischpulte, Kabel: Die Tour Black Box. Phantomtheater für 1 Person erforscht Orte, die Technik und Werkstätten vorbehalten sind
Dieser Gang führt zum Malsaal, Publikum hat hier keinen Zugang. Das ändert sich bald, für kurze Zeit
Ab 14. Juli können Sie das Schauspiel Stuttgart erkunden. Ganz allein in Ecken schauen, Anekdoten lauschen. Bei einer Audiotour von Rimini Protokoll
30 EntdeckenWas bleibt
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Reihe 132 33Juli 2020
»Die Museen dürfen wieder öffnen, die Theater sind geschlossen. Wieso dann nicht das Theater zum Museum machen? Das war der Gedanke, der zu meiner Idee führte, eine Audiotour durchs Schauspiel Stuttgart zu entwickeln. Menschen auf eine Erkundungstour durch ein Theater zu schicken, als wäre es eine Ruine. Dort können sie in seine Vergangenheit und verborgene Winkel blicken, Zeitzeugen zuhören, wenn sie von großen, bewegenden Momenten erzählen. Und das alles, obwohl das Haus leer ist – und sie quasi die einzigen Gäste sind: Kopfhörer aufsetzen, und die Reise beginnt.
Black Box. Phantomtheater für 1 Person führt den Besucher, die Besucherin auf eine Tour in den Bauch, die Eingeweide, das Gedächtnis des Schauspiels Stuttgart – und des Theaters überhaupt. Der Name spielt auf den dunklen Theaterraum an, andererseits auf den Flugschreiber eines Flugzeugs, weil auch wir den Erinnerungsspeicher des Schauspiels Stuttgarts auslesen. Das Wort bezeichnet ebenso alles Undurchsichtige, schwer Durchschaubare – und die Dunkelkammer einer Kamera. Bei Computern, Behörden, Geheimdiensten und eben auch in Theatern geschieht das meiste im Verborgenen – man weiß nie, was innen passiert. Ich öffne nun die Black Box Theater und verwandle sie in einen White Cube, in eine begehbare Galerie.
Die Reise führt durch alle Abteilungen, sogar unter die Bühne, mitten rein in die Maschinerie. Alle fünf Minuten geht ein Zuschauer los und ist dann eine bis anderthalb Stunden im Gebäude unterwegs, ganz allein. Geführt nur von einem Audioguide. Manchmal, in der zweiten Hälfte der Tour vielleicht, wird man in der Ferne, wenn sich plötzlich eine Sichtachse auftut, eine andere Person sehen.
Die Klangkomposition, die Inhalte der Tour, also das, was die Besucher über ihren Kopfhörer hören, stammen von Interviews, die unser Team im Haus geführt hat, an genau den Stationen der Route, in einer bestimmten Ecke der Bühne, an einem Stuhl im Foyer oder im Lager, wo die Scheinwerfer liegen. Dort bleiben die Gäste stehen und hören Schauspielern, Technikerinnen oder Zuschauerinnen zu, die davon erzählen, was sie an genau dieser Stelle erlebt haben oder worüber sie an dieser Stelle mit einer Expertin, einem Experten nachgedacht haben. Diese Tonkonserven haben wir mit einer speziellen Technik aufgenommen, dem ›Kunstkopf‹, in dessen Ohren die Mikrofone stecken. Das Ergebnis ist ein realistisches, akustisches Puzzle. Das Gesamtbild des Puzzles wird bei jedem Menschen anders ausfallen.
Vielleicht führt uns die Aktion auch in eine Reflexion über die Bedeutung von Theatern? Momen tan
sind sie ja Ruinen. Monatelang konnte man nicht mehr auf Premieren fiebern, die Gesichter der anderen befragen, wenn man in die Pause drängt, in die Ruhe vor dem Schlussapplaus hineinlauschen. Die anderen Zuschauerinnen und Zuschauer fehlen – und wir spüren, dass wir alle das Theater sind. Es gibt Gründe, warum ein Kinostuhl weich ist, ein Theatersitz aber unbequem. Im Kino soll man sich vergessen. Theater aber entsteht in der Gemeinschaft. Daher kann es auch sein, dass im Fehlen der anderen ein gewisser Phantomschmerz hochkommt, und vielleicht tut es sogar ein bisschen weh, auf die Audiotour zu gehen. Wir spüren, was uns fehlt, wenn uns das Theater fehlt.
Und wir erfüllen den Traum eines jeden Fans. Man hat das ganze Haus für sich allein, das Schauspielhaus wird zur Geisterbahn. Sogar im technischen Sinne. Zeitlich ist alles genauestens mit dem Audio im Kopfhörer abgestimmt – die Bühnenmaschinerie ist mit dem Timing synchronisiert, die Scheinwerferschwenks und auch die Nebelmaschine werden punktgenau zum Einsatz kommen.
Wir werden das Schauspielhaus Stuttgart erleben wie nie zuvor. Ich selbst habe das Haus bei der Vorbereitung völlig neu kennengelernt. Wir haben sogar einen Gang gefunden, von dem nicht einmal die Mitarbeiter etwas wussten.« Stefan Kaegi
Die sogenannte Stallgasse verbindet Schauspielhaus und Opernhaus. Hier hat die Logistik das Sagen
Das Kostümmagazin liegt im dritten Stock zwischen Opern und Schauspielhaus
Theater sind momentan Ruinen
Stefan Kaegi, Regisseur und Philosoph vom Theaterkollektiv Rimini Protokoll
Im Malsaal entstehen die Kulissen. Hinten hängen Übungsarbeiten der Auszu bildenden
Der Baum entstand für Tschechows Kirschgarten, wurde dann umgestaltet zum Mandelbaum der Oper Don Carlos
Black Box. Phantomtheater für 1 Person ab 14. Juli 7 im Spielplan
EntdeckenWas bleibt
Was ist Nähe schaffen 35
VERTIGOOP ART UND EINE GESCHICHTE DES SCHWINDELS 1520 –197023.11.2019 –19.04.2020 M
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Unterstützt durch Kooperationspartner
VERLÄNGERT BIS 23.08.2020
Impressum
Herausgeber Die Staatstheater Stuttgart Geschäftsführender Intendant MarcOliver Hendriks Intendant Staatsoper Stuttgart Viktor Schoner Intendant Stuttgarter Ballett Tamas Detrich Intendant Schauspiel Stuttgart Burkhard C. Kosminski
Konzept Bureau Johannes Erler & Grauel Publishing GmbHBeratung der Herausgeber Johannes Erler, Ralf GrauelRedaktion Thomas Lindemann (Ltg.), Jana Petersen, Hiltrud Bontrop; Christoph Kolossa Redaktion für Die Staatstheater Stuttgart Johannes Lachermeier, Ingo Gerlach, Claudia EichParkin (Oper); Vivien Arnold, Pia Boekhorst (Ballett); Carolina Gleichauf, Ingoh Brux (Schauspiel)Gestaltung Anja Haas; Lina Stahnke
Anzeigen Sandra Lackingeranzeigen@staatstheaterstuttgart.deDruck W. Kohlhammer Druckerei GmbH + Co. KG, Stuttgart Erscheinungsweise 1 × monatlich
Hausanschrift Die Staatstheater Stuttgart Oberer Schlossgarten 6 70173 Stuttgart www.staatstheater-stuttgart.de
Hauptsponsor des Stuttgarter Balletts
Partner der Staatsoper Stuttgart
Anja Schoenwald: »Sobald zwei Schauspieler sich anschauen und miteinander sprechen, müssen sie vier Meter Abstand halten. Wenn sie einen Wutausbruch spielen, sogar sechs – solche Vorgaben hat der Amtsarzt gemacht. Klingt simpel, ist aber ein Problem. Schauspieler sind es nicht gewohnt, in Metern zu denken. Wie groß ihr Abstand ist, können weder sie noch wir vom Produktionsteam per Augenmaß einschätzen. Im Bühnenbild für das Stück Die Lage von Thomas Melle stehen ohnehin Plexiglaswände.
Wenn zwei Schauspieler sich nah sein müssen, platzieren wir sie dazwischen. Das geht nicht immer.
Die rettende Idee hatte Stephan Abeck, der technische Leiter des Kammertheaters. Er baute den Abstandsstab. Einen Stock aus leichtem Holz, vier Meter lang. Rote Markierungen für je einen Meter sind eingezeichnet. Ist eine Situation unklar, nehmen wir den Stab und messen die Distanzen aus. Der Stab löst viele Probleme, aber ich glaube, alle sind froh, wenn wir ihn nicht mehr brauchen.«
Das neue Ding: Der Viermeterstab
Wir spielen und proben – aber mit Abstandsregeln für die Schauspieler. Eine davon lautet: vier Meter Distanz bei Dialogen. Dafür gibt es nun ein Hilfsmittel
Reihe 134 Juli 2020 Umlernen
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Schauspieler haben jetzt eine Orientierung, auf den Meter genau
Anja Schoenwald, Regieassistentin
1.8. – 13.9.
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