Empirismus in der Phonetik Klaus J. Kohler IPDS, Kiel Kolloquium WS 2007/8 16. Januar 2008

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Empirismus in der Phonetik

Klaus J. Kohler

IPDS, Kiel

Kolloquium WS 2007/816. Januar 2008

• paralinguistische Funktionen der Gipfelsynchronisierung

– früh – Finalität° wissen° zusammenfassen° Ende einer Argumentationskette° Resignation

– mittel - Offenheit° beobachten° erfahren° Beginn einer neuen Argumentationskette

– spät - unerwartet° beobachten, erfahren im Gegensatz zur

eigenen Erwartung° Überraschung° nicht glauben wollen

– Diese kommunikativen Kategorien sind Teil einer Argumentationsstruktur.

– Sie werden durch die Kommunikatoren gesetzt.– Sie sind nicht identisch mit der externen

Informationsstruktur von 'gegeben' und 'neu'.– Der Sprecher entscheidet über das argumentative

Gewicht der informativen Fakten.– an beobachtbaren Daten in einem Dialog, Sprecher-

reaktionen, ist zunächst nur eine Informations-struktur ablesbar, die Argumentationsstruktur sitzt tiefer, muss theoretisch interpretiert werden.

• Gegebenheit and Argumentation können gegenläufig sein– Am Ende einer langen Diskussion zu Semester-

beginn über die Verlegung eines Seminars auf einen anderen Termin sagt der Dozent° “Wir werden das Seminar auf Donnerstag

verlegen.” ° mit einem frühen Gipfel, um die Diskussion

endlich abzuschließen und die Endgültigkeit zum Ausdruck zu bringen

° obgleich dies 'neue' Information ist.

– Nach Festlegung des Termins ruft der Dozent am Ende der Sitzung noch einmal in Erinnerung ° Bitte denken Sie daran: "Wir haben das

Seminar auf Donnerstag verlegt."° mit mittlerem Gipfel, um zu insistieren,° obwohl das 'gegebene' Information ist.

• An dieser Stelle hat Benno Peters eingewendet, dass im ersten Beispiel auch ein mittlerer Gipfel möglich sei und ebenfalls Abschluss signalisiere, dass also der tiefe Intonationsverlauf am Ende bereits Abschluss kodiere, nicht erst die Synchronisierung.

• Hier ist nun nach dem semantischen Gehalt des Wortes "Abschluss" zu fragen.– Ich habe es als terminus technicus im Rahmen

meiner Semantik der Argumentation verwendet.– Daneben wird das Wort gebraucht im Gegensatz

zu Weiterweisung (siehe Habilschrift Gilles) in der Gesprächsanalyse.

– Was "abschließend" oder "weiterweisend" ist, wird in der Konversationsanalyse an den Reaktionen der Gesprächspartner abgelesen: Weitersprechen des Sprechers - Sprecherwechsel

– Diese Verwendung der Begrifflichkeit ignoriert, dass der Sprecher im Thema weiterfahren oder es nahtlos wechseln kann. Das wird an der Analyse der Informationsstruktur abgelesen. ° So kann der Sprecher im 2. Beisp. fortfahren.

"Ehe Sie gehen, tragen Sie sich noch in die ausliegenden Listen ein."

– Schließlich bedeutet die Begrifflichkeit, dass ein Sprecher den Partnern Finalität, Endgültigkeit der Aussage zum Ausdruck bringen will. ° im 1. Beisp. tut der Sprecher kund, dass er nicht

mehr weiter diskutieren will° dies ist nicht an der Informationsstruktur der

externen Gesprächssteuerung oder des Themenwechsels ablesbar

° der frühe Gipfel signalisiert den argumentativen Abschluss, die vom Sprecher gewünschte Finalität

° der mittlere signalisiert argumentative Offenheit, auch wenn eine thematische Analyse "Abschluss" im Sine einer Informationsstruktur "entdeckt"

° um das zu erfassen, bedarf es einer prosodischen Argumentationstheorie, nicht einfach empirischer Analyse; diese Theorie hat KIM erarbeitet

° ob der Gesprächspartner sein Verhalten am Signal des Sprecherwillens orientiert oder es ignoriert und weiter diskutiert, ist für die Argumentationsstruktur völlig irrelevant

° wenn diskussionsfreudige Gesprächspartner insistieren und erneut Gründe für einen anderen Termin vorbringen, dann geht die Diskussion halt zunächst einmal weiter

° d.h. eine am empirisch beobachtbaren Dialog-verhalten ausgerichtete Konversationsanalyse kann keine Argumentationsstruktur offenlegen

• Das ist gleichzeitig der erste Teil einer Antwort auf die Frage nach der empirischen Basis der Aussagen zu Funktionen der Gipfelsynchronisierung– natürlich liegen den Aussagen empirische

Beobachtungen zugrunde° ausgehend von Intuitionen ° darauf aufbauend in Testverfahren° hinführend zu einer funktionalen prosodischen

Theorie

• Diese theorieorientierte Phonetik unterscheidet sich grundlegend von einer empiristischen Laborphonologie – das Verhältnis von sprachlichen Kategorien und

empirischer Manifestation ist in den beiden diametral entgegengesetzt

– in der Erstgenannten werden Kategorien nicht durch Messung und statistische Analyse in Emu und R aus der physikalischen Welt aufgeschlürft

– sondern sie werden gesetzt und dann empirisch validiert bzw. falsifiziert

– die Setzung beruht auf initialem Wissen– die Empirie wirkt auf die Setzung zurück– so ergibt sich ein spiralartiges Voranschreiten

von theoretischer Setzung zur Empirie zur Setzung usw., bis eine Teiltheorie erarbeitet ist, die den Phänomenbereich adäquat erfassen und erkären kann.

– so sind wir bei der Erarbeitung von KIM vorgegangen

• Wenn die Phonetik wieder für die lautsprachliche Kommunikationsforschung interessant werden will, muss sie diesen Empirismus der Laborphonologie aufgeben.

• Sie muss sich wieder die erkenntnistheoretische Frage stellen, was für einen Wert Messungen jeder Art an sprachlichen Äußerungen für die Erhellung der lautsprachlichen Kommunikation haben.

• Das mündet in die wissenschaftstheoretischen Fragen:

Was will und soll die Phonetik überhaupt?

Was ist ihr Standort im Wissenschaftsgefüge?

Das sind die Gretchenfragen

für das Überleben

der Phonetik in Kiel