Feuilleton - Wannsee Conference...Dark Tourism – Ein Workshop in Berlin diskutierte den Umgang mit...

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  • Dark Tourism – Ein Workshop in Berlin diskutierte den Umgang mit Täterorten

    Aufklärung kontra VoyeurismusVon Karlen Vesper

    Iwas here«, verkündet ein Graf-fiti an einer Mauer des Tuol-Sleng-Genozid-Museum inPhnom Phen. Es befindet sich imehemalige Gefängnis S-21 der RotenKhmer und dient der Erinnerung anderen Verbrechen und Opfer. Im In-nern war einst eine »Landkarte« Kam-bodschas zu sehen, gestaltet aus Schä-deln und Knochen Ermordeter; sie istinzwischen entfernt worden. EineFrage des Geschmacks? Über den lässtsich laut Volksmund streiten. Aberwasteilt das Graffiti mit? Außer, dass dajemand mal war. Hat jener Menschverstanden, was an diesem Ort und350 Killing Fields landesweit passiertist? Dass Menschen Menschen mitSchaufeln und Stöcken erschlugenoder die Kehle aufschlitzten, um Mu-nition zu sparen. Reflexe einer mör-derischen Ideologie, für die der NamePol Pot, »Bruder Nr. 1«, steht.John Lennon, Professor an der

    Glasgow Caledonian University, führ-te die Teilnehmer des Workshops»Dark Tourism« auf eine fotografi-sche Reise rund um den Globus. Dentitelgebenden Begriff hat er geprägt.Unter »Dark Tourismus« fasst der His-toriker Orte des Terrors und des To-des, der Massemorde und Folter, derdunklen Seiten der Geschichte. EinFoto zeigt Touristen am jener Stellein Dallas, Texas, wo 1963 John F. Ken-nedy erschossen wurde. Ein weißesKreuz auf Asphalt markiert den At-tentatsort. In Oradour-sur-Glane, je-nem französischen Dorf, in dem 1944die Waffen-SS fast alle Einwohner er-mordete, posieren Touristen vor Rui-nen. Besuchermagnet ist auch das uk-rainischePrypjat, eineGeisterstadt seitdem Super-Gau in Tschernobyl 1986.Dort hatten 50 000 Menschen gelebt.An sie erinnern nur noch verfaulen-des Mobiliar in verlassenen Häusernund vor sich hinrostende Kletterge-rüste auf leeren Spielplätzen. Lennonhat auch ein Foto aus China, aus Si-chuan mitgebracht. Es zeigt Touristenvor Trümmerbergen. Das schwereErdbeben 2008 kostete 70 000 Tote;Tausende Leichen liegen noch immerunter den Steinen.Was zieht Menschen an solche Or-

    te? Die Faszination der Katastrophe,menschlichen Unglücks und Leidens?

    Der morbide Charme des Bösen? DasGrauen? Das plötzlich und unerwar-tet über Menschen hereinbricht. Undjeden zu jeder Zeit an jedem Ort tref-fen kann?Mit Smartphones lassen sichunbegrenzt Fotos schießen und überGrenzen, grenzenlos, mit der ganzenWelt teilen. Aber, so Lennon: »Fotoskritisieren nicht.« Sie können Emoti-onen hervorrufen, Abscheu, Horror,Angst, Entsetzen. Doch ist ihre Aus-sagekraft begrenzt. Sie erzählen nicht,was, warum, wie geschah.Zum Tagesseminar hatte die Ge-

    denkstätte Haus der Wannsee-Konfe-renz geladen, ein Täterort. In der ehe-maligen Fabrikantenvilla wird seit1992 an die hier am 20. Januar 1942stattgefundene Tagung erinnert, aufder 15 hochrangige Vertreter der SS,der NSDAP und verschiedener Minis-terien ihre Komplizenschaft bei derDeportation und Ermordung der eu-

    ropäischen Juden besprachen.130 000 Besucher zählt die Gedenk-stätten jährlich, informierte deren Lei-ter Hans-Christian Jasch. Eine Son-derausstellung ist Joseph Wulf ge-widmet. Der Auschwitz-Überlebendeund Historiker hat sich in den 1960erJahren vergeblich für eine Dokumen-tation im Haus Am Großen Wannseeeingesetzt. 1974 beging er Selbst-mord. Auch aus Verzweiflung über dasSchweigen und Verweigern in derBundesrepublik. Der Regierende Bür-germeister von Westberlin, KlausSchütz, habe damals – so Jasch – ar-gumentiert, man wolle keine maka-bre Kultstätte für alte und neue Nazisschaffen. Ein Scheinargument. Die»Befürchtung« bestätigte sich nicht.Andere Täterorte sind zweifellos

    Pilgerstätten, höchst fragwürdige. Et-wa für »alte Kameraden«, die fatalerNostalgie frönen. Oder Rechtsextre-misten, die sich wieder nach einem»Führer« sehnen. Oder Voyeure ausdem In- und Ausland, die einen woh-ligen Schauer in der »Nähe« von Mas-senmördern verspüren. Beispielswei-se auf der Wewelsburg, auf der SS-

    »Reichsführer« Heinrich Himmler sei-nen Rassenwahn und Okkultismusauslebte. Oder in der Ordensburg Vo-gelsang, ehemalige NS-Schulungs-stätte. Und vor allem auf dem Ober-salzberg, auf dem Hitler ein Drittelseiner »Amtszeit« verbrachte, wie AxelDrecoll vom dort seit 1999 existie-renden Dokumentationszentrumweiß. 175 000 Besucher zieht es je-des Jahr hinauf. Nicht alle aus Bil-dungshunger. Und obwohl von Hit-lers »zweitem Regierungssitz« , demBerghof, nur noch Schutt übrig ist,kriechen Neugierige zwischen Bäumeund Büsche, um einen Blick auf die-sen Schrott zu werfen.Eine neue Dauerausstellung in ei-

    nem 760 Quadratmeter messendenNeubau ist geplant. Drecoll hofft, dassder Bayerische Landtag darüber nochin diesem Jahr positiv entscheidet.Denn angesichts des privaten Kom-merzes, der an diesem »Rummelplatzder Zeitgeschichte« verkauften Hoch-glanzbroschüren, angepriesen als»seltene Bilddokumente« (indes einstmassenweise vertriebene NS-Propa-gandafotos von Hitlers LeibfotografenHeinrich Hoffmann), sei intensivereAufklärung dringend nötig. Der Tä-terort in idyllischer Natur sei zu de-konstruieren mit Verweisen etwa aufdie Blockade von Leningrad und aufAuschwitz. Auf dem Berghof hatteHitler die Weisung Nr. 21 (Barbaros-sa), den Überfall auf die UdSSR, un-terschrieben und die Deportation derungarischen Juden befohlen.Florian Dierl aus Nürnberg stellte

    ebenfalls neue Vorhaben vor. Das Ge-lände der Reichsparteitage derNSDAP, Zeppelinfeld und Tribüne,Luitpoldhain und die unvollendet ge-bliebene Kongresshalle sind ein zwarstark fragmentiertes, aber dennoch»das größte erhaltene Ensemble vonNS-Staats- und Parteiarchitektur«. Diejährlichen 300 000 Besucher (40 Pro-zent ausländische) sollen mittels wei-terer Informationsstelen und Doku-mentationstafeln unterrichtet werdenüber Größenwahn und Glorifizierungsowie den Trugschluss »Volksge-meinschaft«. Irritierend für Nürnberg-Besucher sei, so Dierl weiter, dass derSaal 600 im Justizpalast nicht jenemauf historischen Aufnahmen vom In-ternationalenMilitärtribunal 1945/46gegen die NS-Hauptskriegsverbrecher

    gleicht. Als die US-Besatzungsmachtdas Gerichtsgebäude 1961 der bayri-schen Justiz übergab, ließ die sichnicht an ihre Mittäterschaft erinnernwollende und alliierte »Siegerjustiz«ablehnende deutsche Richtersschaftden Schwurgerichtssaal in den Urzu-stand von 1916 zurückversetzen. EinVorschlag des CSU-StaatsministersMarkus Söder, dies wieder rückgän-gig zu machen, ließ die Historiker dieHaare zu Berge stehen. Denn allein je-ner Vorgang sei bezeichnend, einewichtige Lektion. Eine Entlarvung.Vorgestellt wurde auch die Villa ten

    Hompel in Münster, die ebenfalls ei-nem Industriellen gehörte und 1940von der »Ordnungspolizei« beschlag-nahmt wurde. Dort werden jetzt dieUntaten der NS-Bürokratie doku-mentiert und Angebote zur Ausei-nandersetzung mit Rechtsextremis-mus heute gemacht. Täterorte kön-nen und sollten genutzt werden. MitBedacht, Verantwortung, Kompetenz.Dafür plädierte auch der zweite Gastaus Großbritannien, Colin Philpott.Dem Buch des langjährigen BBC-Re-dakteurs, »Relics of the Reich«, sei ei-ne baldige Übersetzung gewünscht.

    Was zieht Menschenan Orte des Terrorsund des Todes?

    Feuilletonu neues deutschland Donnerstag, 30. Juni 2016

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    Bilanz der ZPS-Aktion

    Briefe anden NikolausVon Christian Baron

    S chluchzend geht die Welt zu-grunde. Mit stockender Stim-me verlas die syrische Schauspie-lerin May Skaf am Dienstagabendein Statement, in dem sie sich zurStellvertreterin des Leids all jenerFlüchtlinge erklärte, denen Euro-pa den Zutritt verweigert. Dabeihatten die vielen vor dem Berli-ner Maxim-Gorki-Theater ver-sammelten Menschen etwas völ-lig anderes erwartet: Angekün-digt war das ganz große Finale derAktion »Flüchtlinge fressen« des»Zentrums für politische Schön-heit« (ZPS), in dem sich Skaf vierTigern freiwillig zum Fraß vorzu-werfen gedachte.Einlösen wollte sie ihr Ver-

    sprechen, falls die Bundesregie-rung jenes durch das ZPS ge-charterte Flugzeug nicht ins Landlassen würde, das 100 syrischeFlüchtlinge ohne gültige Visa ausder Türkei nach Berlin bringensollte. Am Montag stornierte »AirBerlin« den Flug, weil das Bun-desinnenministerium keine Aus-nahmegenehmigung erteilte. Skafbetrat die Arena dennoch nicht,sondern verlas mit brüchigem Toneinen »Brief der Tiger«, die dem-nach niemanden fressen wollten:»Ihr habt Mitleid mit uns, aber eu-ren Schwestern und Brüdern ver-sagt ihr den Schutz?« Tagelanghatte das ZPS zuvor geschickt amAufmerksamkeitskarussell ge-dreht. Die Drastik der Mittel ließkeinen Zweifel: alles »nur« Kunst.Und doch lancierte das ZPS dieFrage nach der Universalität derMenschenrechte mit einer erfri-schenden Naivität, wie sie sichMandatsträger selten erlauben.Eine solche Herangehensweise

    birgt freilich die Gefahr des Mo-ralismus: »Ist das Hirn zu kurz ge-kommen, wird sehr gern Moral ge-nommen«, dichtete Wiglaf Drosteeinmal treffend. Und das ZPSmusssich den Vorwurf gefallen lassen,die politische Ökonomie der Men-schenrechte nicht einbezogen zuhaben. Wenn Skaf am Ende ihrerRede das Inhumane auf »Ver-drängung, Geschäftsmacherei undAngst« zurückführt, dann unter-

    schlägt sie, dass sich die Definiti-on vonMenschlichkeit stets andemorientiert, was die Machtinteres-sen des Augenblicks diktieren.Nicht allein einzelne »Schurken«(so das ZPS über handelnde Poli-tiker) sind ursächlich für die ag-gressive Flüchtlingsabwehrpolitik,sondern ein internationales Para-digma, das wirtschaftlich globali-siert und sozial entsolidarisiert.Sogar Artikel 14 der UN-Men-

    schenrechtscharta atmet diesenUngeist: »Jeder hat das Recht, inanderen Ländern vor VerfolgungAsyl zu suchen« – und nicht zu fin-den. In der ZPS-Metaphorik heißtdas: Wer zu einem Tiger in den Kä-fig steigt, darf diesen höflich bit-ten, er möge ihn nicht fressen. Be-sonders mit dem Blick auf das mo-ralisierende Ende mutet die Akti-on damit so nutzlos an wie dasBriefeschreiben an den Nikolaus.Ein Verdienst aber nimmt dem ZPSniemand: »Flüchtlinge fressen« hatgezeigt, dass es sogar im so gernedesillusioniert daherkommendenTheaterbetrieb möglich ist, sichüber potenziell veränderbare Ge-sellschaftsstrukturen zu empören.

    Er hungert freiwillig. Foto: dpa/Gambarini

    »Einen Speer durch den Speer.« Das Dokumentationszentrum in Nürnberg spielt auf Hitlers Leibarchitekten an, obwohl er die Kongresshalle nicht entwarf. Foto: imago/imagebroker

    Siegfried-Lenz-Preis

    Verknüpferder ModernenDer englische Schriftsteller Ju-lian Barnes erhält den mit50 000 Euro dotierten Siegfried-Lenz-Preis. Das teilte die Sieg-fried-Lenz-Stiftung am Mittwochin Hamburg mit. Der Preis wird al-le zwei Jahre verliehen und gilt alseiner der höchstdotierten Litera-turpreise im deutschsprachigenRaum. Mit ihm sollen internatio-nale Schriftsteller ausgezeichnetwerden, »die mit ihrem erzähleri-schen Werk Anerkennung erlangthaben und deren schöpferischesWirken dem Geist von SiegfriedLenz (1926-2014) nah ist«. Denersten Siegfried-Lenz-Preis erhielt2014 der israelische SchriftstellerAmos Oz.Julian Barnes verstehe es, in

    seinen Romanen Elemente derModerne und Postmoderne aufraffinierte Weise miteinander zuverknüpfen. »So eindrücklich sei-ne Bücher von satirischen und iro-nischen Tonlagen geprägt sind, sounmittelbar stellt er sich in dieTradition eines Erzählens, das es-senzielle Lebensfragen der Men-schen verhandelt«, heißt es in derBegründung der Jury. dpa/nd

    Silvia Tennenbaum ist tot

    Friedenstifterin

    Die US-amerikanische Schrift-stellerin Silvia Tennenbaumist tot. Die aus einer großbürger-lichen jüdischen Frankfurter Fa-milie stammende Autorin sei amMontag im Alter von 88 Jahren inHaverford bei Philadelphia ge-storben, teilte der Schöffling-Ver-lag mit. Tennenbaum besuchte inden vergangenen Jahren immerwieder ihre alte Heimat, um vomSchicksal ihrer Familie in der NS-Zeit zu erzählen und für ein fried-liches Miteinander von Religio-nen und Kulturen zu werben. Da-für erhielt sie 2012 die Goethe-Plakette des Landes Hessen. Die1928 geborene Tennenbaummusste 1936 mit ihrer Familie zu-nächst in die Schweiz, dann 1938in die USA emigrieren. 1978 er-schien ihr erster Roman »Rachel,the Rabbi’s Wife«. epd/nd

    »Wenn jeder anstatteines neuenFernsehgerätsFrieden verlangenwürde, dann würdees Frieden geben.«

    John Lennon

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