Ganz groûes Kino - textkreationentextkreationen.de/wp-content/uploads/2017/11/Lifeplus...und...

Preview:

Citation preview

  • S ofte Popmusik quillt aus den Bo-xen, Menschen fallen sich in dieArme und begrüßen sich, alshätten sie sich jahrzehntelangnicht gesehen. Auf vier riesigenMonitoren, die unter der Hallendecke hän-gen, sieht man Fotos von gesund und glück-lich aussehenden Frauen und Männern.Dazu werden große Lettern eingeblendet:„Beyond the horizon“ – hinter dem Hori-zont. Es ist das Motto des diesjährigenEvents „Spirit of Lifeplus 2017“ des ameri-kanischen Nahrungsergänzungsmittel-Konzerns Lifeplus in der Stuttgarter Mes-sehalle, zu dem etwa 15 000 Menschen ge-pilgert sind. Und diese sitzen nun, an einemstrahlenden Sommertag, in der Messehal-le 1 in schier endlos scheinenden Stuhlrei-hen und warten auf den Auftritt ihrer Idole.

    Eine Frau betritt mit ihrem Mann dieHalle, fädelt sich in die vorletzte Stuhlreiheein – und gerät in Panik. „Ihr habt doch ver-sprochen, uns einen Platz zu besetzen, wa-rum habt ihr das nicht getan?“, fragt sie ihreBekannten. Sie ist den Tränen nahe. Kei-nen Sitzplatz an diesem wichtigen Tag indieser riesigen Halle zu ergattern muss fürdie Lifeplus-Anhänger eine albtraumhafte Vorstellung sein. Glücklicher sind diejeni-gen, die schon um Punkt acht Uhr am Mor-gen zur Saalöffnung die Hallein Scharen enterten und sicheinen der guten Plätze ganzweit vorne sicherten. Nah bei den Stars, nah dran an denEmotionen, den Hoffnungen, dem echten, wahren Lifeplus-Gefühl.

    Dann geht es los. Kurz nachzehn Uhr gehen die Lichteraus, die Musik wird noch lau-ter, Nebel steigt auf, Laser-strahlen durchdringen das Dunkel. DerModerator und Top-Lifeplus-Mann Ott-mar Job betritt die Bühne und strahlt übersganze Gesicht. „Es ist ein Wahnsinn, hier zusein, ich spüre diese unglaubliche Energie,die von euch ausgeht“, ruft er in die Menge und erntet ein begeistertes Jubeln. Fähn-chen werden geschwenkt, Selfies geschos-sen und Videos gedreht.

    Diejenigen, die heute das erste Mal hierbeim Event seien – im Lifeplus-Jargon sinddas die sogenannten „Believer“, also dieMenschen, die an sich und an die Kraft desUnternehmens glauben – sollten nun bitteaufstehen und sich begrüßen. Daraufhinerheben sich schätzungsweise 3000 Men-schen, sie schütteln sich die Hände, fallensich um den Hals und jauchzen, als gäbe es

    etwas Unglaubliches zu feiern. Es sindMenschen aus Deutschland, Spanien, Frankreich, Italien, der Schweiz, den Nie-derlanden, sogar aus Kanada, Norwegen,Schweden und den USA. Es sind Menschenaller Couleur: dicke und dünne, große undkleine, Teenager, Mittfünfziger und Senio-ren, Menschen mit Kindern neben sich undBabys auf den Armen. Es sind Menschen mit Sportschuhen oder High Heels an denFüßen. Alle sind sie an diesem Wochenendenach Stuttgart gereist, um sich und einUnternehmen zu feiern, dem sie sich offen-sichtlich eng verbunden fühlen.

    Als der Firmengründer Bob Lemon dieBühne betritt, gibt es kein Halten mehr.Wer sich jetzt nicht vom Stuhl erhebt undin das rhythmische Klatschen einfällt, wirdmit strafenden Blicken bedacht. „Oh, es fühlt sich so toll an, heute hier zu sein, meinHerz hüpft vor Freude“, ruft der etwa 80-Jährige – Lemons genaues Alter ist unbe-kannt – wie ein Popstar in die riesige Men-ge unter ihm. „Ihr seid für mich die Zukunftvon Lifeplus! Nur ihr, die echten, wahrenund atmenden Menschen, habt all das mög-lich gemacht, was mit Lifeplus geschehenist. Wir haben es zusammen geschehen las-sen! Die Mischung aus unseren Talentenund euch wunderbaren Menschen, das ist

    Lifeplus und macht uns zu soetwas Besonderem!“ WiederJubel.

    Lemon erzählt seine Ge-schichte, wie er sie schon oftund an vielen Orten erzählthat: Als er vor vielen Jahrenals Pharmazeut seine Apothe-ken betrieben habe, habe er ir-gendwann festgestellt, dassdie meisten Menschen zu vie-le Medikamente genommen

    hätten. „Sie mussten Arzneien schlucken,um die Nebenwirkungen anderer Arzneienzu lindern“, sagt er. Schließlich, vor etwa 25Jahren, habe er dann den jungen ArztDwight McKee getroffen und mit ihm ge-meinsam seine persönliche Vision wahr ge-macht: allen Menschen mittels pflanzli-cher Präparate zu helfen und ihnen damit„zu einem besseren, glücklicheren Leben“zu verhelfen. Die Idee und das Unterneh-men Lifeplus waren geboren.

    Aus den kleinen Anfängen ist bis heuteein global agierendes Unternehmen mitHauptsitz in den USA geworden, die Euro-pazentrale operiert von Großbritannienaus. Produziert und vertrieben werdenMultivitaminpillen und Protein-Shakes,Omega-3-Fettsäuren, Pülverchen zum

    leichteren Abnehmen und Körperpflege-produkte. Die sogenannten Vitalstoffe –der Renner schlechthin – vertreibt Lifepluszwar nicht explizit unter diesem Namen, dennoch begegnet man dem Begriff immerund überall, wenn man sich mit Lifeplus-Anhängern unterhält.

    Vor der Halle sitzen zwei Besucherin-nen aus Bonn in der Sonne und rauchen.„Ich hatte ständig Kopfschmerzen und jah-relang Meningitis“, erzählt die eine. „Nachein paar Wochen der Einnahme von Vital-stoffen hatte ich nichts mehr.“ Dass in denLifeplus-Pillen nachgewiesenermaßeneine um ein Vielfaches zu hoch dosierte Vi-tamindosis enthalten sei, störe sie nicht.„Wenn ich so Zeug im Drogeriemarkt kaufe,ist noch Chemie beigemischt – da nehmeich doch lieber das von Lifeplus.“ Und über-haupt: Großartig sei dieses Event, ein un-glaublicher Spirit herrsche in der Stuttgar-ter Messehalle. Lifeplus habe eine „sanfteRevolution“ in Gang gesetzt, es gehe hiereinfach nur um ganz viel positives Denken.

    Ein paar Meter weiter steht ein MannMitte dreißig und vespert einen Supreme-Riegel, Inhaltsstoffe: Magnesium, Kalzium,Vitamine D, B12, B2, B6 sowie Niacin. Er seiberufsunfähiger Maler, erzählt der Mann,sein Arzt habe ihm kein langes Leben prog-nostiziert. Doch dann habe er Lifeplus ken-nengelernt, nun gehe es ihm körperlichsehr gut und mental sowieso. Denn bei Life-plus sei Zwischenmenschliches sehr wich-tig. Aber warum wirkt das Event wie dieWerbeveranstaltung einer Sekte? „Ist dochschön, wenn sich alle als eine große Familiefühlen. Hast du keine Familie?“

    Der Vertrieb des riesigen US-Konzerns,der keinerlei Zahlen bezüglich Umsatz undGewinn herausgibt, basiert auf dem soge-nannten Multi-Level-Marketing, kurzMLM: Person A – nennen wir sie Anna –kauft und konsumiert Lifeplus-Produkte,etwa um abzunehmen. Ihre Freundin Bea-te, Person B, findet sich ebenfalls zu dickund kauft auf Empfehlung von Anna nunauch das Produkt. Für diese Empfehlungerhält Anna einen Bonus in Höhe von fünfProzent. Eine dritte Person, Christiane, in-teressiert sich nun dafür und bestellt wie-derum bei Beate. Für diesen Schritt erhältBeate einen Bonus von fünf, Anna einenvon 25 Prozent. Christiane ist nun so be-geistert, dass auch sie die Produkte weiter-empfiehlt, nämlich an Doreen. Kauft dieseein, erhält Christiane dafür fünf und Beate25 Prozent, Anna als erstes Glied in der Kette und Ursprungsverkäuferin streichtimmerhin noch zehn Prozent ein. Der Bo-

    nus für Anna ist allerdings an eine Bedin-gung geknüpft: Sie muss noch drei weitere sogenannte „aktive Beine“ haben, also Partner, die jeden Monat zu einem Min-destbetrag bei Lifeplus bestellen. Je mehrPartner Anna wirbt und je mehr Menschenunter ihr als ihre „Downline“ arbeiten, um-so höher ist ihr eigener Verdienst, und um-so schneller kommt sie an die begehrtenSonderauszeichnungen von Bronze überSilber und Gold bis Diamant. Für die beson-ders Fleißigen gibt es zusätzlich Sternchen.

    Diese Vertriebsstruktur wirkt wie einSchneeballsystem – das wäre hierzulande verboten. Doch Lifeplus be-dient sich eines legalenTricks: Man muss kein eige-nes Kapital einsetzen, es gehtlediglich um die Weiteremp-fehlung der Produkte. Zumin-dest theoretisch. Praktisch funktioniert das System so:Kauft man nicht selbst jedenMonat Produkte im Wert vonetwa 60 Euro ein – Lifeplusrechnet in den sogenanntenInternationalen Punkten (IP) – ist mannicht provisionsberechtigt. Bei rund 60Euro im Monat kommt jeder Einzelne also auf Ausgaben von etwa 720 Euro pro Jahr.

    Die Professorin Claudia Groß von derUniversität Nijmegen betrachtet diese Ver-triebsstruktur kritisch: Das Unternehmenagiere in einer rechtlichen Grauzone. „Die Kriterien für die Definition eines Schnee-ballsystems treffen nicht zu, weil jedes Mit-glied von Lifeplus automatisch auch Ge-schäftspartner wird und somit kein norma-ler Verbraucher mehr ist“, sagt die Expertinfür Empfehlungsmarketing. Auch bezüg-lich des Verdienstes schlüpfe Lifeplus im-mer in eine Nische: Das Unternehmen ver-meide es partout, den Kunden und Part-nern Einkommensversprechen zu machen.

    Die zwei Worte „finanzielle Unabhän-gigkeit“ kommen freilich in Werbemittelnund im direkten Dialog mit Lifeplus-Leu-ten ständig vor. Von Freiheit wird gespro-chen und von Chancen, von Inspirationund ziemlich viel vom Glücklichsein. Gleichzeitig ist das Unternehmen aber auch sehr vorsichtig. „Denken Sie daran:Lassen Sie sich nicht von Behauptungen ir-reführen, hohe Einnahmen seien leicht zuerzielen“, steht in einem Flyer.

    Das eigentliche Problem sieht die Ex-pertin Claudia Groß bei den Vertrieblernselbst, von denen es zwei Sorten gebe.„Zum einen gibt es die Personen, die nullAhnung von der Materie Ernährung und

    Gesundheit haben, aber dennoch in diesemBereich beraten. Diese Leute werden zwarvon Lifeplus geschult, aber eben immer nurproduktabhängig.“ Die andere Sorte wiede-rum seien die Vertriebler mit Fachwissen, also etwa Mediziner, Heilpraktiker und Apotheker. Hier vertraue der Käufer aufderen Expertise, was der Verkäufer wiede-rum missbrauche: „Denn derjenige, derdiese Produkte empfiehlt, verdient ja nichtan der Beratung, sondern am Produktselbst – es kann hier also gar keine unab-hängige Empfehlung stattfinden, sondernes wird einfach nur das Produkt empfoh-

    len.“ Bei Unternehmen miteiner ähnlichen Vertriebs-struktur wie Tupperware seidas in Ordnung, bei Nah-rungsergänzungsmitteln hal-te sie das für fatal.

    Welche Versprechungengemacht werden, hat bei-spielsweise die Mutter einesbehinderten Kindes erfahren.Sie wandte sich kürzlich an dieVerbraucherzentrale Baden-

    Württemberg mit der Frage, was von Life-plus-Produkten eigentlich zu halten sei,weil sie Zweifel an der Wahrhaftigkeit desUnternehmens habe. Über ihre Yogalehre-rin hatte sie eine Heilpraktikerin kennen-gelernt, die ihr wiederum weismachenwollte, dass durch die richtige Gabe der so-genannten Vitalstoffe Krebs oder Gende-fekte heilbar seien. „Solche Thesen sind ab-soluter Humbug und auch nicht rechtens“, betont Christiane Manthey von der Ver-braucherzentrale. Ähnlich wie jene Heil-praktikerin schürten viele Lifeplus-Ver-käufer Erwartungen bei ihren Kunden, dienicht eingehalten werden könnten, soManthey. „Und das, obwohl offiziell keinerder Lifeplus-Vertriebler ein Gesundheits-versprechen machen darf.“

    Auch Dwight McKee weiß das. Der Ame-rikaner mit dem grauen Schnauzbart istBob Lemons Kompagnon und der wissen-schaftliche Direktor von Lifeplus. Sorgfäl-tig vermeidet er medizinische Aussagenund Versprechen, lieber redet er davon, denMenschen den „Weg zu einem besseren, ge-sünderen und glücklicheren Leben“ zu zei-gen. Was Lifeplus tue, gründe auf einerJahrtausende alten Wahrheit, ruft er insPublikum. Dann sagt er aber doch: „Genex-pressionen verändern unsere Gesundheit.Mit Lifeplus können wir die Langlebigkeitund die Gesundheit der nächsten Genera-tion verändern!“. Dann verlässt er unterriesigem Jubel der Menge die Bühne.

    Ganz großes Kino Gesellschaft Jährlich pilgern 15 000 Menschen in die Stuttgarter Messehalle zu einem Event des Pillenkonzerns Lifeplus. Was zieht die Massen an? Von Claudia Bell

    „Es ist ein Wahnsinn, hier zu sein. Ich spüre diese unglaubliche Energie, die von euch ausgeht.“Der Moderator Ottmar Job begrüßt das Publikum.

    „Die Mischung aus unseren Talenten und euch wunderbaren Menschen, das ist Lifeplus.“Firmengründer Bob Lemon bei seinem Auftritt

    Foto

    : Lg/

    Vere

    na E

    cker

    t

    28 Nr. 140 | Mittwoch, 21. Juni 2017STUTTGARTER ZEITUNGREPORTAGE

Recommended