Gibt es ein Recht auf Depression und Suizid? Zum Problem ... · Milane MS, Suchard MA, Wong ML...

Preview:

Citation preview

Gibt es ein Recht auf Depression und Suizid? Zum Problem der Medikalisierung von Trauer und Selbsttötung

Dirk Richter

- eine Depression ist eine schwere psychische Erkrankung

- Suizide sind immer mit schwerem Leid für die Betroffenen, Angehörigen und Professionellen verbunden

- depressiv erkrankte Menschen bedürfen einer intensiven Behandlung und Betreuung

- Suizidprävention ist und bleibt eine zentrale Aufgabe der Psychiatrie

- aber: ist jede negative Emotion gleich eine Depression? und ist jeder Suizid ein medizinisch-pflegerisches Problem?

Bitte verstehen Sie mich richtig!

- Medikalisierung: die Umkategorisierung eines sozialen Phänomens in ein medizinisches Problem

- aktuelle Beispiele: Computer-, Online-, Internetsucht

- früheres Beispiel: Homosexualität (psychiatrische Diagnose bis 1980)

Meine These: Trauer und Selbsttötung sind medikalisiert worden

„(…) Niedergeschlagenheit, die noch die unbedeutendsten Anlässe von Kummer, Mangel, Krankheit, Ärger, Furcht, Trauer, geistiger Unruhe, Missmut und Sorge begleitet.“

„(V)on diesen melancholischen Anwandlungen ist keine lebende Seele frei. (…) Melancholie in diesem Verständnis ist das Signum unserer Sterblichkeit.“

Robert Burton: Anatomie der Melancholie, 1621

Zur Geschichte der Melancholie/Depression

- Diagnosen affektiver Probleme werden heute faktisch weitgehend ohne Berücksichtigung des sozialen Kontexts vergeben: - Trauerreaktionen nach Todesfällen- Reaktionen auf Arbeitsplatzverlust- Reaktionen auf Beziehungsprobleme

normale Reaktionen auf normale Lebensereignisse werden pathologisiert

Was ist aus der Trauer geworden?

Nehmen Depressionen und andere psychische Störungen zu?

- die gesellschaftliche Entwicklung in der zweiten Hälfte des 20. Jh. ist gekennzeichnet durch:- Wohlstandssteigerung (im Durchschnitt!)- Individualisierung (Auflösung sozialer

Milieus)- Psychologisierung- Entstigmatisierung einzelner psychischer

Störungen (insb. Depression)

Sozialer Wandel und Psychologisierung

Einstellungen gegenüber der psychiatrischen Behandlung im Wandel

Mojtabai R: Americans’ atitudes toward mental health treatment seeking 1990-2003. Psychiatric Services 58 (2007), 642-651

Depression: Konvergenz von Alltags-stimmungen und Krankheitskonzept

LaienTrauer, Unzufriedenheit, AlltagsbelastungBurn Out

GesundheitswesenKrankheitskonzept,Therapie, Medikamente,Melancholie

Depression

Diskurs, Therapie und Diagnose

medizinisch/ psychiatrischer Diskurs

TherapeutIn/Hilfesystem

PatientIn/SH-Gruppe

persönliche/ soziale AkzeptanzStandardisierung/

Verbreitung

Zumutung einer spezifischen Diagnose

Erwartungen

Diskurs und sozialer Wandel

Kontakt 1keine Akzeptanz des Diskurses

Kontakt 2Akzeptanz des Diskurses

medizinisch/ psychiatrischer Diskurs

Wahrnehmung: soziale Belastung

Erklärungsmuster: psychische Belastung

Epidemiologie: keine Veränderung

- aus historischer Perspektive erfolgten Selbsttötungen zumeist nach individuellen oder kollektiven Trauer- oder Schandesituationen

- noch nach dem Ende von Nazi-Deutschland suizidierten sich zahlreiche Angehörige oder Unterstützer des Regimes

- heute gilt dagegen die Annahme, dass Suizide (fast) immer auf der Basis einer psychischen Störung geschehen

Die Medikalisierung der Selbsttötung

Griechenland

- suizidale Personen werden sehr oft nach Bekanntwerden der Absicht ohne psychiatrische Abklärung hospitalisiert

- bei einer Suizidabsicht gilt von vornherein der Generalverdacht einer psychischen Störung

- faktisch führt nicht die Abwesenheit einer psychischen Störung zur Entlassung, sondern die glaubhafte Verneinung der Suizidabsicht

Das Recht auf Selbsttötung wird bestritten

Milane MS, Suchard MA, Wong ML Licinio J: Modeling of the temporal patterns of fluoxetine prescriptions and suicide rates in the United States. PLOS Medicine 3 (2006), e190

Sinkende Suizidraten durch SSRIs?

Altersadjustierte Suizidsterblichkeit in Ost- und Westdeutschland (www.gbe-bund.de)

- terminal kranken und körperlich behinderten Menschen darf bei der Selbsttötung nicht oder nur unter erheblichen Auflagen assistiert werden

- eine Abklärung der psychischen Gesundheit und Urteilsfähigkeit ist Voraussetzung

- psychisch kranken Menschen nehmen wir per Gesetz das Recht auf Selbsttötung bzw. legen hohe Hürden bzgl. der Feststellung der Urteilsfähigkeit an

Wem gestehen wir das Recht auf Selbsttötung (nicht) zu?

Survival graphs for suicide by psychiatric disorder in people admitted to hospital during 1973-82 for attempted suicide in Sweden and followed to 2003.

Tidemalm D et al. BMJ 2008;337:bmj.a2205

©2008 by British Medical Journal Publishing Group

Method of index suicide attempt and risk of later successful suicide among 48 649 individuals treated for attempted suicide in Sweden 1973-82 and followed to 2003.

Runeson B et al. BMJ 2010;341:bmj.c3222©2010 by British Medical Journal Publishing Group

- in der Psychiatrie und in anderen Bereichen des Gesundheitswesens sollten die Selbstverständlichkeiten im Umgang mit Trauer/Depression bzw. Selbsttötung/Suizid hinterfragt werden

- der psychosoziale Kontext darf nicht ausser Acht gelassen werden

- es besteht ein grosses Risiko der Psychologisierung und Psychiatrisierung ‚allzu menschlicher‘ Phänomene

Schlussfolgerungen

- wir bekämpfen den Suizid unabhängig von der Ursache

- wir empowern PatientInnen, ihren eigenen Weg zu finden; unterstützen aber letztlich nur die ‚positiven‘ Entwicklungen

- wir setzen Autonomie voraus, verweigern sie jedoch schlussendlich vielen PatientInnen

Ethische Herausforderungen

Kontakt: dirk.richter@bfh.ch

Herzlichen Dank

Recommended