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8/22/2019 HA Ungleichheit
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Ludwig-Maximilians-Universitt Mnchen
Institut fr Soziologie
Wintersemester 2012/13
Dozent: Lukas Gernand
Theorie II: Soziale Ungleichheit
Arbeitstitel:Eine systemtheoretische Betrachtung des Artefakts Geschmackals Schichtungsmerkmal
Philipp Graf
Nr: 10032731
3. Fachsemester
Isabellastrasse 48, 80796 Mnchen
philipp.graf@campus.lmu.de
0176 9999 13 82
Abgabedatum: 1.03.2013
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Gliederung:
A. Einleitung
B. Hauptteil
1. Der feine Unterschied
1.1. Der Geschmack bei Pierre Bourdieu
1.2. Der Geschmack bei Niklas Luhmann1.3. Die Beurteilung von Geschmack bei Luhmann und Bourdieu
2. Aktuelle Beitrge zu Geschmack
2.1. Konsum und Geschmack
2.2. Erlebnissgesellschaft
C. Schluss
2
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A. Einleitung
Ernst Gombrich, seines Zeichens einer der bedeutendsten Kunsthistoriker des 20. Jahrhunderts,
bemerkte 1978 anlsslich einer Bildinterpretation: Die Darstellung ist so leicht zu verstehen, da
wir es geradezu als peinlich empfinden, fr so primitiv gehalten zu werden. Wir empfinden es
beinahe als Beleidigung, da man uns mit solch billigem Kder einfangen zu knnen glaubt - so
etwas mag vielleicht fr den dummen Pbel gut genug sein, aber bestimmt nicht fr gebildete und
feinsinnige Leute wie wir, die stets stolz darauf sind, an den Geheimnissen des Knstlers
teilzuhaben.1 Gombrich reproduziert mit dieser Aussage Grundaxiome elitren Denkens und zeigt
eindrucksvoll, welchen Stellenwert das Phnomen Geschmack fr das Konstrukt einer
geschichteten Gesellschaft in den 80er Jahre noch besa. Einerseits geht er davon aus, dass es so
etwas wie einen legitimen/guten Geschmack gibt, dessen Besitzer trennen kann zwischen einer
sthetik und einer Aisthesis, also dem interesselosem Genuss und einem Vergngen der Sinne2,
und andererseits kombiniert er - zumindest zum Teil - diese Erfahrung von Geschmack mit Bildung,
die es ihm ermgliche mehr in einem Kunstwerk zu erkennen als dies Anderen mglich sei. In
diesem Satz vollzieht sich damit nicht viel mehr, als die aktive Distinktion von gebildet und
ungebildet, feinsinnig und grob, und grundstzlich von Elite und Pbel. Diese unreflektierte
und berholte Aussage Gombrichs drfte heutzutage bei den meisten Menschen zu Verwunderung,
wenn nicht sogar zu deutlicher Ablehnung fhren, da sich die Auffassung von Geschmack in denletzten Jahrzehnten stark gewandelt hat. In einer theoretisch nheren Betrachtung wurde das
Phnomen Geschmack von zwei der wichtigsten Soziologen des letzten Jahrhunderts erkannt,
jedoch sehr unterschiedlich bewertet: Nmlich von Pierre Bourdieu und Niklas Luhmann. Das Ziel
dieser Arbeit ist es, nachzuvollziehen, welche Rolle die Idee des Geschmacks in den Anfngen
der funktional differenzierten Gesellschaft gespielt hat und welche Folgen sich daraus ergaben.
Darauf aufbauend mchte ich zeigen, welche Funktion diese Idee in der heutigen postmodernen
Gesellschaft noch haben kann.
Ich werde dazu in Abgrenzung an Bourdieus Ausfhrungen, die wenigen Schriften Luhmanns zum
Thema vorstellen und versuchen, diese so weit mit aktuellen soziologischen Erkenntnissen
auszufllen, dass sich ein kohrentes Bild des Geschmacks in der heutigen Zeit erkennen lsst.
Diese Ergebnisse sollen dann eine Einschtzung ermglichen, inwieweit der Geschmack noch als
Distinktions- und Schichtungsmerkmal in der heutigen Gesellschaft dient. Der Terminus
Geschmack bezieht sich in meiner Arbeit nicht nur auf Urteile ber Kunst oder Hochkultur,
3
1 Mller, Hans-Peter (1997): Sozialstruktur und Lebensstile: S. 311
2 Mller, Hans-Peter (1997): S. 310 f. / vgl. auch Kants Kritik der Urteilskraft (1957: 279ff)
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sondern vielmehr auf alle alltagssthetischen Wahrnehmungs- und Handlungsmuster, und kann
deshalb auch durch Synonyme ausgedrckt sein, die sich auf den gesamten Bereich
alltagssthetischen Denkens und Handelns beziehen.
B. Hauptteil
1. Der feine Unterschied
1.1. Der Geschmacksbegriff bei Pierre Bourdieu
Pierre Bourdieu arbeitete an seinem Werk Die feinen Unterschiede von 1963 bis 1979 und lsst
noch eine eindeutige Auffassung jener brgerliche Klassengesellschaft erkennen, die nach
Luhmanns Meinung schon der Vergangenheit angehrt. In einem seiner zentralen Werke, nmlich
La distinction. Critique sociale du jugement von 1979, versucht Bourdieu dahingehend
empirisch zu zeigen, da der Klassenkampf auch mittels jener je unterschiedlichen Aneignung von
Kunst und Kultur gefhrt wird: Klassen grenzen sich von anderen durch ein vllig anderes Kunst-
und Kulturverstndnis ab und reproduzieren so mehr oder minder ungewollt die Klassenstrukturen
der (franzsischen) Gesellschaft3. Der Mehrwert dieser Auffassung liegt meines Erachtens darin,
dass Kulturwahrnehmung als latent distinktive Operation beschrieben wird, die quer durch die
Gesellschaft weitestgehend reflexionsfrei verwendet wird und der Teil eines Habitus ist, der sich
auch durch ein scheinbar meritokratisches Erziehungswesen kaum aufbrechen lsst4. Dabei ist der
Habitus das generative und vereinheitlichende Prinzip, das die intrinsischen und relationalen
Merkmale einer Position in einen einheitlichen Lebensstil rckbersetzt5, wie es Bourdieu selber
ausdrckt. Die Bewertung dessen, was als einheitlicher Lebensstil verstanden werden kann, ist
dann in weiten Teilen die Funktion des subjektiv guten Geschmacks. Es ist hierbei egal, ob ber die
Tragbarkeit von Kleidung, die Qualitt bestimmter Musik, oder die Schmackhaftigkeit von Essen
geurteilt wird, das Urteil ist immer von einem Klassenhabitus und der zugehrigenGeschmacksausprgung determiniert6. Die Aneignung des legitimen Geschmacks wird dabei als
Sozialisations-, bzw. Lernprozess beschrieben, wobei Bourdieu immer wieder darauf hingewiesen
hat, dass der inkorporierte Habitus nachtrglich nur schwer verndert werden kann. Der Habitus,
4
3 Joas, Hans; Knbl, Wolfgang (2004): Joas, Hans; Knbl, Wolfgang (2004): Sozialtheorie, Zwanzigeinfhrende Vorlesungen S. 521
4 Joas, Hans; Knbl, Wolfgang (2004): S. 548
5 Bourdieu, Pierre (1998): Praktische Vernunft: Zur Theorie des Handelns: S. 21
6 Joas, Hans; Knbl, Wolfgang (2004): S. 551
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oder weiter gefasst: das kulturelle Kapital, spiegelt dabei immer auch konomische Mglichkeiten
und Zwnge wider und ist deshalb eng an konomisch gegebene Ungleichheiten in der Gesellschaft
gekoppelt. Diese Beschreibung der Gesellschaft stellt sich als schlssig dar in einer Zeit, in der alte
Klassenstrukturen und konomische Knappheit die Gesellschaft bestimmen und sich das Subjekt
hauptschlich ber den Beruf und das damit gekoppelte Einkommen definiert. Dem einfachen
Arbeiter ist es weder konomisch noch kulturell mglich, sich die von den herrschenden Klassen
als legitim definierte sthetische Anschauungsweise anzueignen und begngt sich deshalb mit
einem sogenannten Notwendigkeitsgeschmack, der in erster Linie den materiellen Sorgen und
Nten der Menschen Rechnung trgt. Die Kopplung von gutem Geschmack und monetren
Mglichkeiten, die im Nachkriegsdeutschland noch eindeutiger vorhanden war, fhrt
logischerweise zu einer solchen Entwicklung. Insgesamt ergibt sich daraus die These, da der in
einer bestimmten Klasse erworbene Habitus - als Ensemble von Wahrnehmungs-, Denk- und
Handlungsschemata - einen bestimmten Lebensstil definiert, durch den sich die Klassen
kulturell voneinander abgrenzen.7 Diese Inkorporation des Geschmacks in den Habitus-Begriff
verdeutlicht, dass Bourdieu den Geschmack als reflexionsfrei und als ein nachtrglich schwer
vernderbares Charakteristikum eines Menschen ansieht, was natrlich dazu fhrt, dass bestehende
Klassenstrukturen in der Gesellschaft weiter reproduziert werden.
1.2. Der Geschmacksbegriff bei Niklas Luhmann
Die Ausfhrungen von Niklas Luhmann zum Thema Geschmack sind rar gest und lassen
erkennen, dass das Thema nicht in seinem Fokus lag. In seinem systemtheoretischen Kontext
erscheint dies schlssig, da Luhmann Geschmack nicht als funktional und schon gar nicht als eine
zeitlich stabiles Strukturelement von sozialen Systemen beschrieben hat, sondern Geschmack ist
fr Luhmann das semantische Korrelat einer Idee, die im 17. Jahrhundert ihren Anfang hatte, mitder Funktion, die sich immer weiter fragmentierende Schichtung der Gesellschaft fortfhren zu
knnen. Die Entstehung der funktional differenzierten Gesellschaft fhrt dazu, dass es keinen
Akteur innerhalb der Gesellschaft geben kann, der in sich das Ganze reprsentieren oder steuern
kann, sondern die funktional differenzierte Gesellschaft teilt sich in funktionale Subsysteme, die
5
7 Joas, Hans; Knbl, Wolfgang (2004): S. 554
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sich allenfalls noch selber kontrollieren knnen8. Die obere Schicht - in diesem Fall der Adel -
verliert zunehmend diese Funktion der Steuerung/Reprsentation und ist gezwungen, die alte Form
der Abgrenzung/Schichteinteilung - nmlich qua Geburt - in andere Formen der Distinktion zu
berfhren.9 Neben dem Sanktionsmodus der Lcherlichkeit war dies die Vorstellung, es gbe so
etwas wie einen guten Geschmack10 ber den die obere Schicht der Gesellschaft verfgt. Dieser
gute Geschmack kann zwar theoretisch durch Bildung auch erlangt werden, erzeugt also auch eine
durchlssigere Schichtung der Gesellschaft, ist in der Praxis jedoch so kompliziert und trickreich
ausgestaltet, dass eine Aneignung des guten Geschmacks fr Angehrige unterer Schichten
aufgrund der fehlenden Sozialisierung, hin zum legitimen Geschmack, extrem erschwert ist.11 Im
Gegensatz zu einer Schichtung nach dem Merkmal der Geburt, wodurch Interaktionen innerhalb der
Gesellschaft teilweise unmglich gemacht wurde, stellt dies eine betrchtliche Steigerung der
Komplexitt dar, denn nun war es allen Gesellschaftsmitgliedern potenziell mglich, sich mit einem
legitimen Urteil eine Reputation zu erarbeiten.
Laut Luhmann geht es bei Geschmack um die Feststellung des Richtigen auerhalb des Bereichs
wissenschaftlicher Beweisfhrung und es geht nicht, wie im Alltag gerne behauptet, um
sthetische Urteile, sondern um eine sehr allgemeine Verhaltenskompetenz12. Der Geschmack geht
dabei interessanterweise von seiner eigenen Unangreifbarkeit aus13 und ist in seiner
Urteilskompetenz ganz selbstverstndlich den hheren Schichten reserviert14. Jedoch funktioniert
dieses Konstrukt eben nur genau so lange, wie die unteren Schichten dieses Monopol auf
Urteilskompetenz anerkennen und nachahmen. Die Neuheit von Moden und Geschmckern
garantiert dabei, dass eine Differenz dessen, was die Angehrigen der verschiedenen Schichten als
legitim erachten, fortwhrend gegeben bleibt und nur so kann der gute Geschmack immer wieder
als Prozess der Abgrenzung15 fungieren.
6
8
Ein grundlegendes Wissen bezglich der Systemtheorie von Niklas Luhmann wird an dieser Stellevorausgesetzt, da eine Einfhrung den Rahmen dieser Arbeit sprengen wrde. Es sei an dieser Stelle frdas Theorieverstndnis auf die Werke Soziale Systeme (1984), sowie Gesellschaft derGesellschaft (1998) verwiesen.
9 Luhmann, Niklas (1985): Zum Begriff der sozialen Klasse: S. 136
10 vgl. Begriffe wie: gusto, got, taste
11 Luhmann, Niklas (1985): S. 137
12 Luhmann, Niklas (1985): S.136
13 Luhmann, Niklas (1985): S. 136
14 Luhmann, Niklas (1985): S. 137, sowie Luhmann, Niklas (1995): Die Kunst der Gesellschaft: S. 265
15 Sei es in einem vertikalen oder horizontalen Sinne
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Erstaunlicherweise muss diese Art und Weise der Schichtung strker auf Interaktion rekurrieren, als
das alte Modell der Standeszugehrigkeit nach Geburt, denn Geschmack ist ein geselliges Urteil16
und wird in Gesellschaft, also in der Interaktion selber erworben und reproduziert. Anders gesagt,
nur in der direkten Interaktion ist es den Schichten mglich, sich deutlich abzugrenzen. Ein
Geschmack, der rein selbstreferentiell organisiert wre, kann logischerweise keine Abgrenzung
erzeugen. Auf diese Weise drfte sich erklren, wieso Menschen, die von sich behaupten, einen
guten Geschmack zu besitzen, ein gesteigertes Interesse an der Zurschaustellung desselben haben.17
Die ffnung der Interaktion fr alle Mitglieder der Gesellschaft stellt dabei keine Besonderheit dar,
sondern ist im Zuge der fortschreitenden funktional differenzierten Gesellschaft auch
gesamtgesellschaftlich zu beobachten und gilt mithin als ein wichtiger Faktor fr die
Individualisierung der Gesellschaft. Die jeweils ausdifferenzierten Subsysteme der Gesellschaft
operieren soweit autark, dass Sie ihre Interaktionsteilnehmer nicht mehr mit Hilfe eines
bergeordneten Ordnungsprinzip18 ansprechen mssen und sie erheben auch keinen Anspruch mehr
auf Exklusivitt, sondern inkludieren Personen gezielt im Hinblick auf die systemeigenen
Operationen, ohne die Person dabei als Ganzes aufzufangen. Eine Beurteilung dessen kann an
dieser Stelle nicht erfolgen, und der Geschmack darf als solches nicht als ein vollwertiges
Subsystem missverstanden werden19, jedoch sollte man die fortschreitende Individualisierung als
einen der wichtigsten Grnde nennen, wieso sich der Geschmack, abseits seiner einstigen Funktion,
in der heutigen Gesellschaft erhalten und verndern konnte. Dazu mehr weiter unten.
1.3 Bourdieu und Luhmann im Vergleich
Gute Einblicke in den verbissenen Kampf gegen Nivellierung und in das Bemhen, kleinsten,
feinsten Unterschieden soziale Bedeutung abzugewinnen, verdanken wir Pierre Bourdieu. ()
Anders als Bourdieu wrde ich jedoch meinen, da dieses Bemhen gerade in seiner Vergeblichkeit
und im Fehlen eines gesellschaftsstrukturellen Hintergrundes beeindruckt.20
schreibt Niklas
7
16 Luhmann, Niklas (1985): S. 137
17 Die Wirksamkeit dieses Mechanismus lsst sich an der Tatsache erkennen, dass der Autor des Textes vonsich behauptet einen guten Geschmack zu haben und eine gewisse Eitelkeit pflegt, obwohl (oder geradedeshalb?) er den Mechanismus erklren kann.
18 gemeint sind hier einerseits segmentr oder geschichtet differenzierte Gesellschaften, aber auch sehrstarke Dominanz einzelner Subsysteme, wie zum Beispiel der Religion als organisatorische und komplettinkludierende Instanz einer Gesellschaft.
19 Wenngleich auch Geschmack aufgrund der hohen Selbstreferentialitt und der Ausbildung einer eigenenLogik (insbesondere was die Wahrnehmung angeht) sehr wohl systemische Charakteristika annehmen kann.
20 Luhmann, Niklas (1997): Die Gesellschaft der Gesellschaft: S. 774 f. Funote 333
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Luhmann in seinem magnum opus in einer Funote und besttigt damit einerseits die Theorie
Bourdieus in ihren theoretischen Annahmen, relativiert sie andrerseits jedoch in der Bedeutung fr
eine Betrachtung der modernen Gesellschaft. Hierbei stoen zwei Theorien aufeinander, die zwar
grundstzlich nicht unvereinbar sind, die jedoch ihre Aussagen vor einem jeweiligen
zeitgeschichtlichen Hintergrund treffen, der wiederum die Einschtzung der Relevanz der feinen
Unterschiede, oder eben eine Ausprgung davon, nmlich den Geschmack, in jeweils eine
Richtung zu determinieren scheint.
Whrend Bourdieu betont, dass sich diese Distinktion mittels feiner Unterschiede im Habitus noch
immer21 in dieser starken, von ihm empirisch belegten, Ausprgung vollzieht und sich somit die
Gesellschaft in eine Klassengesellschaft differenzieren wrde, sieht Luhmann diese Vorgnge viel
eher als ein pathologisches Moment der Gesellschaft an, das entweder aus der Gesellschaft
verschwinden wird, oder aber in einer vernderten Funktion erhalten bleibt. Mir scheint, dass der
groe Erhebungszeitraum der Daten, sowie das auer Acht lassen der konomischen Besserstellung
weiter Teile der Bevlkerung und die weitreichenden Vernderungen durch die Studentenrevolte
1968 dazu gefhrt haben, dass Bourdieus Beobachtungen schon teilweise zum
Erscheinungszeitraum, aber sptestens heute, nicht mehr aktuell sind und deren Aussagen nur noch
eine tendenziell abnehmende Evidenz aufweisen. Ich mchte im Folgenden herausfinden, ob diese
Darstellung zutrifft und wenn ja, wie sie in der heutigen Zeit weitergedacht werden kann. Dafr
werde ich die von Luhmann selbst zitierte Literatur verwenden, aber natrlich auch neuere
Publikationen beachten.
Erlebnissgesellschaft und ein Wandel der Milieulandschaft
Die Sozialstrukturanalyse besitzt die Eigenheit, Gleichheit und Ungleichheit nach unterschiedlichen
Mastben zu bewerten und dementsprechend unterschiedliche Ergebnisse zu produzieren. Jenachdem nach welchem Beobachtungsschema sie beobachtet, kann sie bestimmte Dinge sehen und
andere nicht; jedoch verliert sie immer den blinden Fleck der Unterscheidung aus den Augen, was
im Luhmannschen Sinne dem Konzept der Erstunterscheidung entspricht. Ein Fokus auf die
Ungleichverteilung von konomischem Kapital sagt so zum Beispiel noch nichts aus ber den
Gesundheitszustand oder gar das subjektive Empfinden einer Schichtzugehrigkeit.
Wahrnehmungsperspektiven haben eine zentrale Bedeutung, wenn man ber soziale Ungleichheit
spricht, denn Gleichheit und Ungleichheit (sind) Vorstellungen (), die der Realitt im Erleben
8
21 Man beachte das Erscheinungsjahr 1979
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zugeschrieben werden, nicht Merkmale der Realitt selbst 22. Diese theoretischen berlegungen
werden relevant, wenn man bedenkt, dass diese Beobachtungsschmata immer auch auf die
Gesellschaft zurckwirken, denn Distinktive Wahrnehmungsmuster () strukturierende
Deutungsschemata sozialer Gruppierungen (enthalten), die dann als Handlungsorientierungen durch
den Vollzug sozialen Handelns wiederum strukturbildend wirksam werden 23. Im angewandten
Kontext bedeutet dies, dass kein abschlieendes Urteil darber abgegeben werden kann, wie sich
die Gesellschaft strukturiert, denn schon die Art und Weise wie die Strukturierung wahrgenommen
wird, drfte auf die Strukturbildung zurckwirken. Deshalb mchte ich mich im Folgenden den
empirischen Arbeiten von Mller-Schneider zuwenden, um in Verbindung mit dem Begriff der
Erlebniswelt von Gerhard Schulze eine mgliche theoretische Konzeption erkennbar werden zu
lassen. Da diese Arbeiten auch von Niklas Luhmann zitiert werden, mchte ich die berlegungen
im Anschluss in eine systemtheoretische Betrachtung eingliedern.
Hierarchische Gesellschaft der BRD in den 50er Jahren
Den Vorstellungen ber den hierarchischen und geschichteten Gesellschaftsaufbau der BRD in den
50er Jahren, liegt das industriegesellschaftlich fundierte vertikale Paradigma24 zugrunde, das auch
empirisch belegt werden konnte. So konnte G. Kleining in einer 1961 durchgefhrten Studie25
nachweisen, dass diese Hierarchie der Gesellschaftsschichten auch subjektiv von Menschen an
Hand einer Prestigedimension wahrgenommen wurde. Es darf aber vermutet werden, dass auch die
feinen Unterschiede, die Pierre Bourdieu beschreibt, hier hineingespielt haben und von den
Menschen als relevant erfahren wurden. Beruf, Bildung und Einkommen werden als wesentliche
Merkmale der Schichtzugehrigkeit betrachtet und finden, in der von Gterknappheit geprgten
deutschen Nachkriegsgesellschaft, vor allem in Prestigegtern wie dem PKW ihr deutlichstes
empirisches Korrelat. Auch wenn die absolute Reichtumsverteilung damals gleicher verteilt
gewesen war als heute, wurden bestimmte Gter weitaus strker als Prestigesymbol angesehen, dadiese auch oft einen Mehrwert an Handlungsfreiheiten mitbrachten.26 Das Paradebeispiel hierfr ist
der schon erwhnte PKW, denn dieser ermglichte der Oberschicht eine erhhte Mobilitt. Im
Gegensatz zu damals, leben heutzutage jedoch weit weniger Menschen am Existenzminimum und
9
22 Mller-Schneider, Thomas (1996): Wandel der Milieulandschaft in Deutschland: S. 191
23 Anthony Giddens, zitiert von Mller-Schneider, Thomas (1996): S. 191
24 Mller-Schneider, Thomas (1996): S. 192
25 vgl. Kleining, Gerhard (1961): ber soziale Images
26 Mller-Schneider, Thomas (1996): S. 193 f.
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die aufkommende Konsumkultur27 ermglicht fast allen Menschen einen immer gnstigeren
Zugang zu allen erdenklichen Gtern, die frher noch in ihrer Quantitt zur Abgrenzung und zur
Schau Stellung geeignet waren, heute jedoch allenfalls in ihrer Qualitt beeindrucken knnen. An
einem Beispiel verdeutlicht knnte man sagen, dass ein Angehriger der unteren Schicht in den
50er Jahren erstmal berhaupt einen Fernseher besitzen wollte, whrend ein heutiger Mensch mit
einem unterdurchschnittlichen Einkommen sich eher berlegt, ob er den 42 Flachbildschirm von
Mediamarkt in 12 oder in 24 Monatsraten abbezahlen sollte. Einen Fernseher zu besitzen ist
heutzutage eben nichts besonderes mehr, und auch wenn es immer wieder neue Moden an
Prestigeobjekten gibt28, knnen sie nicht mehr diese deutliche Abgrenzung erzeugen, wie es in den
50er Jahren noch mglich war. Wie auch von Mller-Schneider selbst betont, weisen diese
Ergebnisse deutliche Parallelen zu den Lebensstilsegmenten im Klassenmodell von Bourdieu
erkennen29 und lassen sich folglich noch gut mit seiner Theorie beschreiben.
Wandel der Milieulandschaft hin zur Erlebnisgesellschaft
In Abgrenzung an das hierarchische Schichtmodell stellt Mller-Schneider fest, dass das heutige
Ordnungsprinzip des Erlebnismodells () nicht von hierarchischen Strukturen aus (-geht),
sondern von persnlichen Stilen der Erlebnisorientierung, die den stndigen Strom
alltagssthetischer Handlungsalternativen sinnhaft strukturieren. Der Autor arbeitet in seiner
Abhandlung mit dem dem Begriff der Erlebnissgesellschaft von Gerhard Schulze, der diese wie
folgt charakterisiert: Mit Erlebnisgesellschaft gemeint ist () eine Gesellschaft, die (im
historischen und interkulturellen Vergleich) relativ stark durch innenorientierte Lebensauffassungen
geprgt ist.30 Die Gesellschaft differenziert sich also in Subsysteme, deren Mitglieder aufgrund
einer unterschiedlichen individuellen31 Lebensauffassung unterschiedliche Ziele in ihrem Leben
verfolgen. Vorherrschend sei dabei eine hedonistische Denkweise.
Mller-Schneider attestiert darauf aufbauend drei vorherrschende Schemata alltagssthetischer
Prferenzen, nmlich das Hochkulturschema, das Trivialschema und das Spannungsschema, was an
dieser Stelle nicht ausfhrlicher behandelt werden soll, da der Autor selbst diese Begriffe nur als
10
27 vgl. Hellmann, Kai-Uwe (2011): Konsum als Medium feiner Unterschiede
28 zu denken wre hier zB. an das iPad
29 Mller-Schneider, Thomas (1996): S. 193
30 Schulze, Gerhard (1992): Die Erlebnisgesellschaft: Kultursoziologie der Gegenwart
31 Schulze selber spricht von einer Innenorientierung
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kollektiv und vorherrschend ansieht. Weitaus wichtiger, als die genaue empirische Zuordnung32 von
Erlebniswelten und Lebensstilen scheint mir die theoretische Implikation dieser Beobachtung:
Immer mehr Menschen scheinen sich in differenten Erlebniswelten aufzuhalten und einen
individuellen Lebensstil zu verfolgen. Dabei ist die Vielfalt der Stile potentiell unendlich 33 ,
weshalb es meiner Ansicht nach sinnvoll wre, den Begriff differenter zu verwenden, um ihn auch
in Bezug auf die verschiedenen Subkulturen, Jugendkulturen und Migrantenkulturen anwenden zu
knnen, die sich in Gre und Art ebenfalls immer weiter ausdifferenzieren. Strukturell gilt fr alle
Erlebniswelten, dass die Teilnahme nicht exklusiv gehandhabt wird und deshalb eine Teilnahme in
mehreren Erlebniswelten mglich ist, beziehungsweise auch zwingend erscheinen kann. Darber
hinaus ist bemerkenswert, dass es Erlebniswelten gibt, die noch immer einseitig im alten
hierarchisierendem Denken verhaftet bleiben. Um im Beispiel des Autors zu bleiben, kann also eine
Person sich gleichzeitig dem Hochkultur- und dem Spannungsschema zugehrig fhlen und
gleichzeitig noch eine hierarchische Wahrnehmung der anderen Milieus beibehalten. Dazu
ausfhrlicher noch weiter unten.
Einen wichtigen Grund fr diese Entwicklung sieht Mller-Schneider in einer relativen
konomischen Besserstellung aller Menschen im Gegensatz zu frher. Das heutige absolute
Wohlstandsniveau ist - und das wird kaum jemand bestreiten wollen - weitaus hher, als im
Nachkriegsdeutschland. ber die Verteilung des konomischen Kapitals bleibt dabei zwar noch
nichts gesagt, allerdings scheint eine Gesellschaft, deren Grundbedrfnisse prinzipiell gedeckt sind,
auch eine ungleichere Verteilung von Reichtmern zu akzeptieren. Der Autor sieht demgem auch
eine Abnahme der Relevanz von Prestigegtern innerhalb der Gesellschaft. Wie schon
angesprochen, haben Statussymbole heutzutage nur noch selten einen exklusiven Wert und vor
allem Hochkulturelle Symbole weisen heute kaum noch auf einen gehobenen Einkommensstatus
hin34
. Ebenfalls zu beobachten ist eine generelle Tendenz der Ablehnung von Lebensstil-merkmalen, die zu eng mit monetren Mglichkeiten verknpft sind. Sollte dies doch vorkommen,
wird es entweder latent gehalten35, oder aber es werden andere Mglichkeiten gefunden, den
gewnschten Lebensstil auf gnstigerem Wege zu erreichen. Je nachdem kann diese Ablehnung
11
32 Die empirische Basis der genannten Schlussfolgerungen bezieht Mller-Schneider aus fnfStandardreprsentativumfragen im Zeitraum 1953/54 bis 1985/86, sowie der Wohlfahrtssurvey von 1993, dieauch Lebensstilmerkmale beachtete.
33 Mller-Schneider, Thomas (1996): S. 193
34 Mller-Schneider, Thomas (1996): S. 196
35 vgl. Ablehnung von Branding
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selbst sogar als Distinktionsmerkmal verwendet und gelebt werden, wie zum Beispiel in der Punk-
Kultur.
Eingliederung
In einer systemtheoretischen Betrachtungsweise wrde dies bedeuten, dass die Wahrnehmungs-
muster, die frher hierarchisch und heute gleichberechtigt nebeneinander existieren, die
Handlungen36 und Kommunikationen von sozialen Gruppen eine bestimmte Richtung hin
wahrscheinlicher machen und deswegen reziprok wieder strukturbildend wirken. Das empirische
Korrelat dieser Wahrnehmungsmuster ist dann der Geschmack eines Individuums bzw. einer
sozialen Gruppe37 und hat die Funktion der Identittsbildung mittels Abgrenzung. Nach Luhmann
ist die Idee des Geschmacks als hierarchisches Distinktionsmerkmal nur so lange wirksam, wie die
unteren Schichten die Deutungskompetenz der oberen Schichten anerkennt; Auch wenn die obere
Schicht in der heutigen Zeit diese Deutungskompetenz fr sich behauptet, wird sie durch das
Desinteresse der unteren Schichten in ihrer Bedeutung zunehmend untergraben und verliert an
Wirksamkeit. Interessanterweise wird diese Vernderung von beiden Seiten nicht als ein Problem
erkannt, sondern lst sich in einer einseitigen Betrachtungsweise, einer greren Toleranz und einer
Kompromissbildung zwischen den Gruppen auf. Ein kleines Beispiel soll diesen Gedanken
verdeutlichen: Whrend es frher unteren Schichten aufgrund konomischer Faktoren nicht
mglich war, an bestimmten Interaktionen der oberen Schicht teilzunehmen, weil hierfr eine
bestimmte Kleidung vorausgesetzt wurde, sind in der heutigen Zeit solche Dresscodes einerseits
seltener geworden und andererseits ist es auch dem relativ mittellosen Angestellten mittlerweile
mglich, sich bei einem Modediscounter einen schlecht geschnittenen Anzug zu kaufen, der ihm
zumindest einen Zugang zur Interaktion, wenn auch keine Reputation der Interaktionsteilnehmer,
verschaffen wird. Viel wahrscheinlicher erscheint es mir jedoch, dass die Angehrigen derUnterschicht in diesem Fall die Erlebniswelt der oberen Schichten nicht mehr als Erstrebenswert
erachten und folglich deren Aktivitten und Reputationen keine Rolle mehr fr ihre Deutungs- und
Handlungsmuster spielen werden. Es erscheint logisch, dass der Geschmack in diesem Falle keine
distinktive Funktion in einem hierarchischen Sinne mehr erfllt, sondern vielmehr als ein
12
36 vgl. Konsumverhalten
37 Es zeigt sich deutlich an den Moden und Formen der Imitation, bzw. der Aufnahme von funktionierendenuerungen guten Geschmacks und deren Variation, dass Geschmack immer in Interaktion und imAustausch mit Anderen existiert, also nicht alleine gedacht werden kann. Folglich ist Geschmack in derheutigen (genau wie in der frheren) Zeit etwas, dass in einer sozialen Gruppe beobachtbar ist.
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sthetisches Deutungsschema gesehen werden sollte, das von den jeweiligen Teilnehmern einer
Erlebniswelt bernommen wird38 , um die verschiedenen Erlebniswelten gegeneinander
abzugrenzen Whrend es sich in der geschichteten Milieukonfiguration () um ein
prestigedistinktives Zeichensystem mit Statussymbolen (handelt), (knnen) die Erlebnismilieus im
Alltag durch die Zeichenhaftigkeit der konstitutiven Existenzformen (Alltagssthetik, Alter,
Bildung) leicht wahrgenommen werden ()39
Den Geschmack auf diese Art und Weise umzuinterpretieren, zu individualisieren und zu
pluralisieren, bietet leicht erkennbare Vorteile: Nach innen gerichtet inkludieren gemeinsame
Moden und sthetische Vorstellungen die Teilnehmer zu einer festeren sozialen Gruppe und bauen
im selben Moment eine Grenze zu ihrer sozialen Umwelt auf. Im Hinblick auf Mode wird festgelegt
wer dazu gehrt, und wer nicht. Es klrt im vornherein, wer welche Kommunikation versteht und
was fr Erwartungen an diese Person gerichtet werden knnen. Auf gesellschaftlicher Ebene kann
so enorm viel Komplexitt abgebaut werden, die durch die zunehmen Pluralisierung an
Lebensstilen und Mglichkeiten der Partizipation entstanden ist. In dem Mae, in dem der
angenommene Lebensstil von vorherrschenden Werten und Normen der Gesellschaft abweicht und
in dem Mae, wie dieser Lebensstil auch zeitlich (chronisch/immer) gelebt wird, scheint er auch
strker oder schwcher nach auen transportiert werden zu mssen. Der Geschmack zeigt sich
insbesondere in diesen Beispielen als gelebte Kontingenz und wird von den Teilnehmern einer
Erlebniswelt auch grtenteils reflektiert ausgelebt, was bedeutet, dass diese sich einerseits aktiv
um eine gewisse Profilierung bemhen und andrerseits wissen, dass die Anzahl der Personen, die
diese sthetische Empfinden teilt, beschrnkt ist und nicht berall auf Akzeptanz oder Wohlwollen
stoen wird, weshalb die meisten Menschen sich wohl an die in ihrem jeweiligem Umfeld gelebten
Lebensstile anzupassen versuchen. Daraus ergeben sich dann im Zusammenspiel die Mglichkeiten
zu konservativem, anpassendem, und progressiven, provozierendem Verhalten. Die ursprnglicheFunktion als eine Form der vertikalen Distinktion von Gesellschaftsschichten hat der Geschmack
heutzutage allerdings verloren.
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38 Mller-Schneider, Thomas (1996): S. 192
39 Mller-Schneider, Thomas (1996): S. 192
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Meiner Ansicht nach hat sich die Funktion des Geschmacks vielmehr ausdifferenziert und kann an
Hand von zwei zentralen Aspekten beobachtet werden:
In erster Linie stellt er fr Menschen, die unterschiedliche Lebensstile leben, eine Form der
Distinktion dar, mit der sie sich von anderen Lebensstilen abgrenzen knnen und im Zuge dessen
auch eine soziale Identitt konstruieren knnen. Geschmack ist somit ein wichtiger Bestandteil der
Identitt, der auch ohne Worte kommuniziert werden kann. Darber hinaus weisen auch einzelne
Erlebniswelten eine eigene Geschmacksausprgung auf, die dann das Zusammengehrigkeitsgefhl
einer sozialen Gruppe, die sich innerhalb der gleichen Erlebniswelt aufhlt, strken drfte. Das
semantische Korrelat ist dabei der Begriff der Szene, oder um es in Luhmanns Worten
auszudrcken: Man bezeichnet sich selbst als Szene, als Technoszene usw. 40. Im Gegensatz
zu frheren Identittskonstrukten sozialer Gruppen, die im Zuge einer Homogenisierung der
Kleidung und anderen sthetischen Ausprgungen des Alltags natrlich ebenfalls schon eine
gewisse Form von Geschmack entwickelt haben41, erhebt keine Szene der Gesellschaft eine
Deutungshoheit ber den legitimen Geschmack. Und was noch wichtiger ist, selbst wenn dieser
Anspruch erhoben wird, kann er nicht verteidigt werden, wird vom Rest der Gesellschaft nicht
beachtet und im extremsten Fall sogar mit dem Sanktionsmodus der Lcherlichkeit abgestraft.
Ein zweiter wichtiger Aspekt, der bei der Betrachtung von Geschmack in der heutigen Zeit evident
wird, ist der zunehmende Individualisierungsprozess in der Gesellschaft, der mit dem Geschmack in
einer reziproken Beziehung zu stehen scheint, denn weil nur ein Individuum () letztlich
entscheiden (kann), ob ihm etwas gefllt, ist Gefallen ein Ansprechbegriff fr Individuen42.
Dieser Trend lsst sich meiner Ansicht nach auch daran erkennen, dass immer mehr Menschen die
Moden und Trends der Geschmcker ablehnen, die vormals noch etwas Struktur in das Phnomen
Geschmack bringen konnten, und sich auf ihren individuellen und authentischen Geschmack
berufen. In einer soziologischen Perspektive kann die Konstruktion eines komplett individuellen
Geschmacks, der einer Person intrinsisch gegeben sein soll, nur abgelehnt werden. Man msste eherdavon sprechen, dass der Zugriff auf die volle Vielfalt an Moden und Trends, zum Beispiel durch
das Internet und immer grer werdende Ballungsrume, enorm vereinfacht wurde und so auch
unbekanntere und neuere Formen von Lebensstilen und dem zugehrigen Geschmack Beachtung
finden knnen.
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40 Luhmann, Niklas (1996): Die Realitt der Massenmedien: S. 65
41 Ich denke hierbei an Uniformen, Trachtenmode, oder etwa den Schmuck eines Naturvolkes
42 Luhmann, Niklas (1995): S. 325
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C. Schluss
Nach der vorhergehenden Ausfhrungen komme ich zu dem Schluss, dass ein Geschmacksbegriff,
wie Bourdieu ihn definiert aus einer heutigen Perspektive nicht mehr vertretbar erscheint. Die
Ergebnisse von Bourdieus Arbeit werden von Niklas Luhmann nicht gnzlich zurckgewiesen und
sie scheinen auf einer theoretischen Ebene auch vereinbar, jedoch hat sich die Funktion des
Geschmacks deutlich gewandelt. Whrend er frher dazu diente, eine wegbrechende hierarchische
Schichtung der Gesellschaft aufrecht zu erhalten, hat sich diese Funktion ab dem Zeitpunkt
gewandelt, ab dem der vermehrte Wohlstand - zumindest in der westlichen Welt - eine
Pluralisierung der Lebensstile zugelassen hat und der Oberschicht die Deutungskompetenz ber
Geschmack von den unteren Schichten der Bevlkerung sukzessive entzogen wurde. Es sei an
dieser Stelle bemerkt, dass nicht hinreichend geklrt ist, warum es aus einer streng
systemtheoretischen Sichtweise zu diesem starken Wandel kam. In Anlehnung an Nassehi43 knnte
man jedoch sagen, dass sich Individuen den Geschmack als ein Hilfsmittel zur Gruppen- und
Identittsbildung zu Nutzen gemacht haben, um im Zuge der fortschreitenden
Exklusionsindividualitt neue Formen der Inklusion, und zwar jenseits von Klassen und Schichten,
zu sttzen. Auf diese Weise kann der Mensch, der sich heutzutage zwischen den verschiedenen
Subsystemen der Gesellschaft vorfindet, seinen Platz in der Gesellschaft selber definieren und so
fr sich gesellschaftliche Komplexitten abbauen.
Geschmack scheint in der heutigen Zeit allgegenwrtiger den je zu sein, jedoch hat gleichzeitig
seine soziale Relevanz immer weiter abgenommen. Je mehr Individuen sich mit dem Thema des
Geschmacks beschftigen und von sich behaupten, einen guten Geschmack zu besitzen, um so
funktionaler und khler scheint der Umgang der Gesellschaft mit ihm zu werden. Dies reicht so
weit, dass sich mittlerweile in jngeren Generationen neue Werte herausbilden, die eine
Differenzierung von Geschmack und Person fordern, bzw. frdern, die also eine immer grere
Pluralitt an Geschmack zulassen wollen. Damit wird der Geschmack immer individualisierter in
der Ausprgung und verliert immer weiter an Reichweite. Der Anteil der Personen, die mit dem
Geschmack einer Person bereinstimmen wrden, wird immer kleiner, aber gleichzeitig wird es
immer unwichtiger, dass ihm alle Menschen der Gesellschaft zustimmen knnten. Man knnte auch
sagen, die Ausprgungen von Geschmack werden durch die Pluralisierung immer extremer, fr die
Person selber wichtiger, obwohl sie von der gesellschaftlichen Umwelt nicht wirklich beachtet
werden.
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43 Nassehi, Armin (1997): S. 131
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Studienausgabe 2000, Frankfurt/ Main: Campus Verlag
Eigenstndigkeitserklrung:
Ich versichere, dass ich die vorgelegte Seminararbeit eigenstndig und ohne fremdeHilfe verfasst, keine anderen als die angegebenen Quellen verwendet und die denbenutzten Quellen entnommenen Passagen als solche kenntlich gemacht habe. DieseSeminararbeit ist in dieser oder einer hnlichen Form in keinem anderen Kurs vorgelegtworden.
Unterschrift Mnchen, den 31.3.2012
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