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Implikationen von freiheitsentziehenden

Maßnahmen in einer kinder- und jugendpsychiatrischen Klinik

Dr. Michael Brünger

Pfalzinstitut – Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie

Klingenmünster/Rheinland-Pfalz

Ziele

» Profunder Einblick in den Alltag einer Versorgungsklinik

» Transparenz und Offenheit der klinischen Praxis herstellen

» Auswertung vorhandener Ressourcen (Zahlen aus der bisherigen Praxis, Erfahrung aus dem Alltag, Dienstanweisung)

» „Gute Praxis“ mit Ihnen gemeinsam diskutieren und entwickeln!

Ziele jeglicher Beschäftigung mit FEM sind

» FEM zu vermeiden

» Therapeutische und pädagogische Ziele mit dem Kind/Jugendlichen gemeinsam auf einem Weg ohne Zwang zu erreichen

» Falls dies nicht möglich ist: eine Anwendung von FEM, die für den Patienten sicher ist und seine Rechte und seine Würde wahrt

» Eine Anwendung von FEM, die für Mitarbeiter/innen sicher ist und ihre Würde wahrt

» Die Fortführung des Diskurses zu Kinderrechten, Menschenrechten, Patientenrechten, ethischen Maßstäben des Handelns in der KJP und in den Nachbardisziplinen.

Feature in der ZKJP (Organ der DGKJP) 2/2017

Was Sie erwartet …

» Einblicke in den klinischen Bereich des Pfalzinstituts

» Zahlen und Kennzahlen zu freiheitsentziehenden Maßnahmen im klinischen Bereich (Altersbereich 5 bis 17;11 Jahre)

» Standards, „gute Praxis“, Prozesse, Verfahrensanweisungen

» Probleme im Alltag

» Fazit und Diskussion

Pfalzinstitut – Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie

o 60 klinische Betten am Standort Klingenmünstero 5 klinische Bereiche (Clearing, DBT, Jugend, Intensiv und

Kinder);o Maßregelvollzug für Jugendlicheo Neu: 5 teilstationäre Plätze - bedarfsorientiert, integrativo Tagesklinik Kaiserslautern – 20 Plätzeo Tagesklinik Pirmasens – 20 Plätzeo Neu seit 01.10.2017:

Tagesklinik Speyer – 20 Plätze

Vollversorgungsauftrag!

Alle klinischen Stationen sind offen!

Maßnahmen gegen den Willen minderjähriger Patienten im PfalzinstitutErhebungszeitraum: Januar – September 2017Stand: 13.11.2017

Herzlichen Dank an Frau Katharina Meyer für die Zusammenstellung!

Art der freiheitsentziehenden Maßnahme(n = 100) im Zeitraum Jan – Sep 2017

69

31

28

0

0

0 20 40 60 80

Isolierung

Fixierung

Zwangsmedikation

Zwangssondierung

Festhalten

Art der freiheitsentziehenden Maßnahme(n = 100) im Zeitraum Jan – Sep 2017

69

31

28

0

0

0 20 40 60 80

Isolierung

Fixierung

Zwangsmedikation

Zwangssondierung

Festhalten

Zusätzliche Medikation bei

28/100 Maßnahmen

Art der „Zwangs“-Medikation

25; 89%

3; 11% 0; 0%

oral

intramuskulär

intravenös

Freiheitsentziehende Maßnahmen verteilt auf Wochentage (n = 100)

12

2320

1416

8 7

Freiheitsentziehende Maßnahmen verteilt auf Monate (n = 100)

52

1210

29

8

12

17

5

40; 40%

1; 1%30; 30%

28; 28%

1; 1%

PI_KINDER

PI_JUGEND

PI_CLAERING

PI_INTENSIV

PI_DBT

Freiheitsentziehende Maßnahmen verteilt auf die Bereiche (n = 100)

Freiheitsentziehende Maßnahmen (n = 100) pro Person (n = 32)

- -

28

1 1 2

1-5 6-10 11-15 16-20

Anzahl Patienten

Anzahl FEM

Freiheitsentziehende Maßnahmen pro Person in Kategorie 1-5 FEM (n = 28)

20

4

12

1

1 FEM 2 FEM 3 FEM 4 FEM 5 FEM

Anzahl Patienten

Anzahl FEM

Freiheitsentziehende Maßnahmen pro Person in Kategorie 1-5 FEM (n = 28)

20

4

12

1

1 FEM 2 FEM 3 FEM 4 FEM 5 FEM

Anzahl Patienten

Anzahl FEM

Freiheitsentziehende Maßnahme als singuläres

Ereignis während des stationären Aufenthaltes

65; 65%

35; 35% Anzahl notfallmäßigeSicherungsmaßnahmen(NSM)Anzahl planmäßigefreiheitsentziehendeMaßnahmen (Plan)

Notfallmäßige Sicherungsmaßnahme (NSM) oder Vorgehen nach Plan

-ausgehend von insgesamt 100 Freiheitsentziehenden Maßnahmen-

Isolierung und/oder Fixierung?untergliedert in NSM und Plan

51

1418 17

Isolierung Fixierung Isolierung Fixierung

NSM Plan

Durchschnittliche Dauer einer freiheitsentziehenden Maßnahme in Stunden

00:32

01:32

00:27

00:40

ohne Fixierung mit Fixierung ohne Fixierung mit Fixierung

NSM Plan

Vorgehen im Alltag im Pfalzinstitut

Freiheitsentziehende Maßnahmen im Pfalzinstitut

» Geschlossene Stationstür („Fakultativ geschlossene Station“)

» Besonderer geschlossener Raum (nicht: „time-out-Raum“!)

» Fixierung: immer 5-Punkt-Fixierung, immer Sitzwache

» Festhalten nach ProDeMa® bei Kindern

» Medikation gegen den Willen der/des Minderjährigen (in der Akutsituation)

„Diese Maßnahmen setzen stets die Entscheidung der Eltern bzw. der Sorgeberechtigten voraus. Sie unterliegen der Genehmigungspflicht durch das Familiengericht.“ DA Pfalzinstitut

» Sondierung gegen den Willen jugendlicher Patienten z. B. bei Ess-Störung (Gesundheitsfürsorge! §1631b BGB nicht relevant)

Freiheitsentziehende Maßnahmen im Pfalzinstitut

» Geschlossene Stationstür („Fakultativ geschlossene Station“)

» Besonderer geschlossener Raum (nicht: „time-out-Raum“!)

» Fixierung: immer 5-Punkt-Fixierung, immer Sitzwache

» Festhalten nach ProDeMa® bei Kindern

» Medikation gegen den Willen der/des Minderjährigen (in der Akutsituation)

» Sondierung gegen den Willen jugendlicher Patienten bei Ess-Störung

„Diese Maßnahmen setzen stets die Entscheidung der Eltern bzw. der Sorgeberechtigten voraus. Sie unterliegen der Genehmigungspflicht durch das Familiengericht.“ DA Pfalzinstitut

Diese Genehmigung liegt im Notfall

allerdings nicht vor!

Was tun wir bevor wir FEM einsetzen?

» Kommunikative Strategien der Deeskalation

› Information und Transparenz für den Patienten

› Aussteigen aus Machtkämpfen

› Auf verbale Kommunikation verzichten

› Wechsel der betreuenden Person

› Dolmetscher

» Entzerren, Entschärfen, Entspannen der Situation (Essen, Trinken, Einzelzuwendung, räumliche Veränderung,..)

» Eskalierende bauliche Gegebenheiten erkennen und verändern

» Teamschulungen DBT-A (Validieren, dialektische Strategien)

» Teamschulungen PRODEMA®

» Aus vorangegangenen Situation lernen...

Maßnahmen im Notfall

§ 34 StGB Rechtfertigender Notstand

» Wenn Maßnahmen der Deeskalation vom geschulten Team nicht erfolgreich sind, werden geplante Abläufe („Prozesse“) aktiviert:

› Alarm absetzen

› Verstärkung holen

› Mitarbeiter schützen

› FEM sicher durchführen

» Bei nicht planbaren Maßnahmen der Freiheitsentziehung beziehen wir uns auf den rechtfertigenden Notstand.

» Unmittelbar danach erfolgt die Information der Sorgeberechtigten

» Ärztliche Inaugenscheinnahme

» Dokumentation nach den Standards der Dienstanweisung.

§ 34 StGBRechtfertigender Notstand

» 1 Wer in einer gegenwärtigen, nicht anders abwendbaren Gefahr für Leben, Leib, Freiheit, Ehre, Eigentum oder ein anderes Rechtsgut eine Tat begeht, um die Gefahr von sich oder einem anderen abzuwenden, handelt nicht rechtswidrig, wenn bei Abwägung der widerstreitenden Interessen, namentlich der betroffenen Rechtsgüter und des Grades der ihnen drohenden Gefahren, das geschützte Interesse das beeinträchtigte wesentlich überwiegt.

» 2 Dies gilt jedoch nur, soweit die Tat ein angemessenes Mittel ist, die Gefahr abzuwenden.

6% unserer Patienten sind von FEM betroffen

» Anzahl der stationären Aufnahmen Jan – Sep 2017: 536

» Von FEM betroffen: 32 Kinder und Jugendliche

» Dies entspricht 5,97% der aufgenommenen Patienten

» Zum Vergleich: Zahlen aus 2003 bis 2013

Der Anteil von Patienten mit FEM im Pfalzinstitut wurde mehr als halbiert!

13,86%13,65%

8,39%

12,47%

8,49%

10,34%9,96%

6,20%

9,76%

6,40%

6,70%

0,00%

2,00%

4,00%

6,00%

8,00%

10,00%

12,00%

14,00%

16,00%

2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013

Schmitt, Meyer, Brünger 2014

Demographische Daten zu Patienten mit FEM(n = 32)

» Alter: Range von 6 Jahre bis 17 Jahre

» Geschlecht: weiblich 11 (34,4%); männlich 21 (65,6 %)

» Abstand zur Aufnahme: bei 12 Patienten erfolgte die FEM in den ersten 24 Stunden (37,5%)

2 2

1 1 1

4

3

2

4

3

5

4

1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12

Alter der Patienten bei AufnahmeAltersbereich 6;0 bis 17;11 Jahre

Altersbereich 6 bis 10 Jahre (n = 7) Altersbereich 11 bis 17 Jahre (n = 25)

Vorgehen im Alltag im Pfalzinstitut -die konkrete Situation auf Station

Unsere Clearing-Station

„Fakultativ geschlossene Station“

» Der Status der Unterbringung bezieht sich auf eine Person

» Mitpatienten/innen mit Ausgangsregelung auf einer Station mit geschlossener Tür sind nicht untergebracht

» Dialog mit dem zuständigen Familiengericht!

» Transparenz der Regelungen für die betroffenen Kinder und Jugendlichen sowie für die Sorgeberechtigten

Besonderer geschlossener Raum

» Besonderer geschlossener Raum, kein Einschluss im Zimmer

» Nicht verwechseln mit „time-out“!

» Immer Überwachung, je nach Situation persönlich, per Monitor, selten: Präsenz im Raum

» Es gibt keinen „sicheren“ Raum! Bei Selbstverletzung: Fixierung erwägen

» Kontinuierliche Überwachung!

» Dokumentation alle 5 Minuten

Besonderer geschlossener Raum einer Jugendstation: Überwachung durch ein Sichtfenster ist möglich. Direkter Sichtkontakt kann bei fremdaggressiven Jugendlichen dazu führen, dass eine Beruhigung ausbleibt. In einigen Bundesländern ist Kamera-Überwachung nicht gestattet.

Der Pfeil deutet auf das Kamera-Objektiv in der Zimmerdecke.

Die Monitorüberwachung wird eingesetzt, wenn direkter Sichtkontakt als ungünstiger eingeschätzt wird. Es erfolgt keine Video-Dokumentation

Kamera, Monitor; niemals: Aufzeichnung („Video“)

» In manchen Bundesländern ist Video verboten (NRW)

» Niemals heimliche/verdeckte Beobachtung!

» Monitorüberwachung niemals zur Personaleinsparung

» Monitorüberwachung kann Deeskalation bewirken

» Kontinuierliche Dokumentation bei Monitorüberwachung in 5-Minuten-Intervallen

» Wechsel des Beaufsichtigungs-Verfahrens, wenn ungünstige Auswirkungen (unangebrachte Kontaktaufnahme vor der Kamera) deutlich

» Zeitlich begrenztes Monitoring bei essgestörten Patientinnen (kurze Liegezeit nach Mahlzeiten)

Freiheitsbeschränkende Maßnahmen im Pfalzinstitut

» Ausgang, Zimmerzeiten

» Medienkonsum, interaktive Playstation, Handyregeln

» Kontakteinschränkung bez. Telefonzeiten, manchmal bez. Personen (nur in Absprache mit den Sorgeberechtigten)

» Taschenkontrollen, Zimmerkontrollen

» Kontrollen wegen Rauchen, Rasierklingen, Scherben, Klebstoffen usw.

» Bedeckung von Schnittwunden mit Kleidung

» Piercings stechen und Tattoos anbringen ist nicht erwünscht

» Medikamentenverwaltung nur durch die Station

» Keine Tauschgeschäfte, kein Ausleihen von Gegenständen

» Kein intimer Körperkontakt

Mitarbeiter/innen in der kinder- und jugendpsychiatrischen Klinik/Abteilung

Mitarbeiter/innen der kinder- und jugendpsychiatrischen Klinik/Abteilung

» Einschätzung der Eignung im Rahmen der Probezeit (6 Wochen/ 6 Monate)

» „Gewaltbereite“ Mitarbeiter können in diesem Kontext nicht arbeiten!

» Alle beantragen das erweiterte Führungszeugnis

» Schulungs- und Fortbildungsbedarf identifizieren

» Deeskalationstraining nach ProDeMa® für alle

» DBT-A als Stationskonzept im Jugendbereich, auch als Referenz für den Umgang im Team

» Wertschätzende Grundhaltung/Validierung

Ermächtigung des Teams ist in der Dienstanweisung verankert

» Notfälle ereignen sich meist, bevor der Arzt kommt

» Handlungsspielräume für Mitarbeiter sind präzise formuliert

» Die anschließende Auswertung der Situation braucht Routine und klare Gesprächsführung

» Reflektion/Selbstreflektion im Team einüben!

» Verbesserungspotenzial identifizieren!

» Schuldzuweisungen helfen nicht weiter!

Wer beteiligt sich bei Isolierung und Fixierung?

» Mindestanzahl: 5 Mitarbeiter/innen

» Alle Mitarbeiter/innen beteiligen sich!

» Immer: Lagebesprechung und Aufgabenverteilung vor Zugriff. Wer leitet die Aktion?

» Das Team handelt solidarisch.

Gute klinische Praxis bei Freiheitsentziehung

Gute klinische Praxis bei Freiheitsentziehung

» Dienstanweisung/Handlungsanweisung

» Schulungskonzepte und kontinuierliche Schulung

» Absprachen vor jeder Intervention

» Dokumentation

» Nachbesprechungen: Lernen!

» Transparenz nach innen und außen

» Controlling von Kennzahlen

Kennzahlen zu FEM

» Schädigung des Patienten

» Schädigung von Mitarbeitern

» Sachbeschädigungen

Empfehlungen

» S2k-LL der kinder- und jugendpsychiatrischen Fachgesellschaften soll erstellt werden

» Gute Praxis der Deeskalation beschreiben

» Vereinheitlichung der Terminologie

» Vereinheitlichung der Prozesse

» Vereinheitlichung von Qualitätskriterien

» Intensivierung des Dialogs mit der Jugendhilfe

Fazit

» Wir sind unserem gesellschaftlichen Auftrag verpflichtet.

» Ethisches Handeln und die Achtung von Werten ist Basis unserer Arbeit.

» FEM gehört (leider) zu unserem Versorgungsauftrag und ist in unserer Arbeit ein häufiges Vorkommnis.

» Obwohl wir Abläufe planen, üben und uns ständig verbessern, bleiben Unsicherheiten – nicht zuletzt durch eine fehlende rechtliche Grundlage bzw. Absicherung (z. B. bei Zwangsbehandlung).

» Deeskalation muss stetig geschult werden

Wir suchen den Austausch mit unseren Nachbardisziplinen

» Benchmarking zwischen kinder- und jugendpsychiatrischen Kliniken

› Was können wir im praktischen Tun voneinander lernen

› Was können wir verbessern

› Wie können wir uns in kritischen Situationen gegenseitig beraten

› Welche gesicherten Erkenntnisse können wir weitergeben (Forschung)

» Austausch mit anderen Fachdisziplinen

› Die Sprache des anderen verstehen

› Die Sichtweise des anderen verstehen

› Übergänge zwischen den Systemen gut bewältigen

Das war`s – danke fürs Zuhören!

» Michael.Bruenger@pfalzklinikum.de

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