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Dieser Band der Reihe Suhrkamp Studienbibliothek (stb) bietet Platons Theätet in einer zweisprachigen, zuverlässig edierten, detailliert kommentierten und kompetent interpretierten Neuausgabe. In höchst lesbarer und informativer Weise erschließt der Kommentar von Alexander Becker den historischen wie theoretischen Horizont des Werkes. Alle erforderlichen Informationen werden in kompakter und übersichtlicher Weise gebündelt. Der Band eignet sich daher nicht nur als erste Orientierung für Theorieeinsteiger, sondern stellt auch eine ideale Grundlage für Lektürekurse an Schule und Universität dar.
Alexander Becker ist Hochschulassistent am Institut für Philosophie der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main.
Platon Theätet
Aus dem Griechischen von Friedrich Schleiermacher
Übersetzung durchgesehen und überarbeitet von
Alexander Becker
Kommentar von Alexander Becker
Suhrkamp
© für den griechischen Text: Les Belles Lettres, Paris 1991
UB Dorn,::..:, Emil-FiggeBibliothek
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation
in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über
http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Suhrkamp Studienbibliothek 9 © Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2007
Erste Auflage 2007 Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung,
des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile. Kein leil des Werkes
darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert
oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
Satz: Hümmer GmbH, Waldhüttelbrunn Druck: Druckhaus Nomos, Sinzheim
Printed in Gerrnany Umschlag: Werner Zegarzewski
ISBN 978-3-518-27009-7
l 2 3 4 5 6 - I2 1 l IO 09 0 8 07
I. Platon: Theätet Griechisch-deutsch
Inhalt
7
II. Alexander Becker: Kommentar ................. 225
I. Einleitung .............................. 229 2. Historische Einführung .................... 2 3 5 3. Interpretation des Textes ................... 247 4. Rezeptionsgeschichte ...................... 3 82 5. Positionen der Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 90 6. Stellenkommentar ........................ 401
7. Biographischer Abriß und Zeittafel . . . . . . . . . . . 4 r 5 8. Auswahlbibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 1
9. Sachregister ............................. 430
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Theätet · r51d-152b 41
wollen tue, sondern mir nur eben keineswegs verstattet ist, Falsches gelten zu lassen und Wahres zu unterschlagen.
C Diskussion der ersten Definition
C.r Der Definitionsvorschlag und die Vorstellung der Thesen von Protagoras und Heraklit
Versuche also noch einmal von Anfang an, Theaitetos, zu sagen, was Wissen ist. Daß du aber nicht kannst, sage nur niemals. Denn so Gott will und du mutig bist, wirst du es wohl können.
THEAJTETOS: Wenn du freilich, Sokrates, solchergestalt zuredest, wäre es schändlich, nicht auf alle Weise mutig zu sagen, was einer ro
e eben hat. Mir also scheint, wer etwas weiß, dasjenige wahrzunehmen, was er weiß; und wie es mir jetzt erscheint, ist Wissen nichts anders als Wahrnehmung.
SOKRATES: Gut und tüchtig, Jüngling. So muß sich deutlich machen, wer etwas erklärt. Wohlan, laß uns nun dieses gemeinschaftlich 15
betrachten, ob es eine rechte Geburt ist oder ein Windei. Wahrnehmung, sagst du, sei Wissen?
THEA!TETOS: Ja. SOKRATES: Und gar keine schlechte Erklärung scheinst du gege-
152a ben zu haben vorn Wissen, sondern welche auch Protagoras gibt; 20"' nur daß er dieses nämliche auf eine etwas andere Weise ausgedrückt hat. Er sagt nämlich, der Mensch sei »das Maß aller Dinge, der seien-den, daß sie sind, der nichtseienden, daß sie nicht sind«. Du hast dies doch gelesen?
THEAITETos: Oftmals habe ich es gelesen. 25
SOKRATES: Nicht wahr, er meint dies so, daß, wie ein jedes Ding mir erscheint, ein solches ist es auch mir, und wie es dir erscheint, ein solches ist es wiederum dir. Ein Mensch aber bist du sowohl als ich?
THEA!TETOS: So meint er es unstreitig. b SOKRATES: Wahrscheinlich doch wird ein so weiser Mann nicht 30
Torheiten reden. Laß uns ihm also nachgehen. Wird nicht bisweilen, indem derselbe Wind weht, den einen von uns frieren, den andern nicht? Oder den einen wenig, den andern sehr stark?
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Theätet · 152b-152e 43
THEAITETOS: Durchaus. SOKRATES: Sollen wir nun in diesem Falle sagen, daß der Wind
an und für sich kalt ist oder nicht kalt? Oder sollen wir dem Protagoras glauben, daß er dem Frierenden ein kalter ist, dem Nichtfrieren
den nicht? THEAITETOS: So wird es wohl sein müssen. SOKRATES: Und so erscheint er doch jedem von beiden? THEAITETOS: Freilich. SOKRATES: Dieses »erscheint« ist aber eben das Wahrnehmen? THEAITETOS: So ist es. SOKRATES: Erscheinung also und Wahrnehmung ist dasselbe
beim Warmen und allem derartigem. Denn wie 'ein jeder es wahrnimmt, so scheint es für ihn auch zu sein.
THEAITETOS: Das leuchtet ein.
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SOKRATES: Wahrnehmung ist also wohl immer vom Seienden 15
und untrüglich, wenn sie ja Wissen ist. THEA!TETOS: So scheint es. SOKRATES: Nun, bei den Chariten, so war Protagoras gar über- "'
weise, und hat die Sache zwar uns, dem großen Haufen, nur dunkel angedeutet, seinen Schülern aber im geheimen die Wahrheit gesagt? ,.o
d THEAITETOS: Wie meinst du dies, Sokrates? SOKRATES: Ich will es dir sagen, und es ist gar keine schlechte
Rede, daß nämlich gar nichts Eines an und für sich ist, und daß du nichts als »etwas" oder als »etwas irgendwie Beschaffenes« bezeichnen dürftest; vielmehr wenn du etwas groß nennst, wird es auch 25
klein erscheinen, und wenn schwer, auch leicht, und so gleicherweise in allem, da eben nichts Eines ist, weder ein etwas noch ein irgendwie Beschaffenes. Sondern durch Bewegung, Veränderung und Vermischung miteinander wird alles, wovon wir sagen, daß es ist, es da-
e mit aber nicht richtig bezeichnen; denn niemals ist irgend etwas, 30
sondern immer nur wird es. Und hierüber sollen denn der Reihe nach alle Weisen, den Parmenides ausgenommen, einig sein, Protagoras sowohl als Heraklit und Empedokles, und so auch unter den Dichtern die Anführer von beiden Dichtungsarten, Epicharmos der
44
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Theätet · 152e-15 3 c 45
komischen und Homer der tragischen; denn wenn dieser sagt:
Okeanos, Ursprung der Götter, und Tethys die Mutter,
hat er gemeint, daß alles entsprungen ist aus dem Fluß und der Veränderung. Oder scheint er dir nicht dieses zu meinen?
THEAITETOS: Allerdings auch mir. l53a SOKRATES: Wer dürfte nun wohl gegen ein solches Heer und sei-
nen Anführer Homer etwas bestreiten, ohne sich lächerlich zu machen?
THEAITETOS: Leicht ist es nicht, Sokrates. SOKRATES: Gewiß nicht, Theaitetos. Zumal auch dies noch hin- 10
längliche Belege sind für diese Behauptung, daß nämlich die Bewegung allemal, was zu sein scheint, und ebenso das Werden verursacht, das Nichtsein aber und den Untergang die Ruhe. Denn Wärme und Feuer, welche dann wieder die andern Dinge erzeugen und in Ordnung halten, werden selbst erzeugt durch Umschwung 15
und Reibung, diese aber sind Bewegung. Oder sind dies nicht die Entstehungsarten des Feuers?
b THEAITETOS: Dies sind sie freilich. SOKRATES: Ferner entsproßt ja auch das Geschlecht der Leben-
den aus eben den Ursachen. 20
THEA!TETOS: Wie anders? SOKRATES: Und wie? Der ganze Zustand des Leibes, .wird er nicht
durch Ruhe und Trägheit zerrüttet, durch Leibesübungen aber und Bewegung im ganzen wohl erhalten?
THEAITETOS: Ja. 25
SOKRATES: Und der Zustand der Seele ebenso, pflegt sie nicht durch Lernen und Fleiß, welches Bewegungen sind, Kennrnisse zu erwerben und festzuhalten und so besser zu werden; durch die Ruhe aber, welche sich in Gedankenlosigkeit und Trägheit zeigt, nicht nur
c nichts zu lernen, sondern auch das Gelernte zu vergessen? 30
THEAITETOS: Ganz gewiß. SOKRATES: Das Gute also ist Bewegung für Seele und Leib, und
umgekehrt das Gegenteil davon?
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Theätet · r53c-154a 47
THEAITETOS: So scheint es.
SOKRATES: Soll ich dir nun auch noch die Stille des Windes und
die Ruhe der See anfuhren, und was dem ähnlich ist, wie überall
die Ruhe Fäulnis und Zerstörung bewirkt, das Gegenteil aber Erhal
tung? Und über dies alles nun noch den letzten Stein hinzutragend 5
beweisen, dals Homer unter der goldenen Kette nichts anders ver- '° d steht als die Sonne, und also andeutet, so lange der gesamte Umkreis
in Bewegung ist und die Sonne, so lange sei auch alles und bleibe
wohlbehalten bei Göttern und Menschen, wenn aber dieses einmal
wie gebunden stillstände, so würden alle Dinge untergehen und, rn
wie man sagt, das Unterste zuoberst gekehrt werden?
THEAITETos: Mir scheint er das anzudeuten, was du sagst, Sokra-
res.
SOKRATES: Denke dir also, Bester, die Sache so: Zuerst in Bezie
hung auf die Augen, was du weilse Farbe nennst, daß dies nicht selbst 15
etwas Besonderes ist aulserhalb deiner Augen noch auch in deinen
e Augen, und dals du ihm ja keinen Ort bestimmst, denn sonst wäre
154a
es schon irgendwo an fester Stelle, und es beharrte, und würde nicht
blols im Entstehen. THEAITETOS: Aber wie denn?
SOKRATES: Folgen wir nur dem eben vorgetragenen Satz, dals
nichts an und für sich Eines ist, und es wird uns deutlich werden,
daß Schwarz und Weils und jede andere Farbe aus dem Zusammen
stoßen der Augen mit der zu ihr gehörigen Bewegung entstanden ist,
20
und was wir jedesmal Farbe nennen, wird weder das Anstolsende 25
sein noch das Angestoßene, sondern ein dazwischen jedem beson-
ders Entstandenes. Oder möchtest du behaupten, dals jede Farbe,
eben wie sie dir erscheint, auch einem Hunde oder irgendeinem an
dern Tiere erscheinen werde?
THEAITETOS: Beim Zeus, das möchte ich nicht.
SOKRATES: Aber wie? Erscheint einem anderen Menschen irgend
etwas gerade ebenso wie dir? Bist du dessen sicher, oder vielmehr des-
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49
sen, daß etwas nicht einmal dir selbst als dasselbe erscheine, da du niemals ganz auf dieselbe Weise dich verhältst?
THEAITETOS: Dieses erscheint mir eher richtig als jenes. b SOKRATES: Also wenn das, wogegen wir uns abmessen, oder das,
was wir berühren, groß oder rot oder warm wäre: so könnte es nicht 5
dadurch, daß es auf einen anderen träfe, ein anderes geworden sein, während es sich selbst gar nicht veränderte. Wenn aber wiederum das Messende oder Berührende jedes einzelne von diesen wäre, so könnte das Messende oder Berührende nicht, wenn ein anderer Gegenstand herankommt oder ihm etwas begegnet, während jedoch 10
es selbst nichts erleidet, ein anderes werden. Denn jetzt, Freund, werden wir leicht genötigt, wunderbare und lächerliche Dinge zu behaupten, wie Protagoras und jeder, der dasselbe wie er behaupten will, uns vorwerfen würde.
THEAITETOS: Wie doch, und was für Dinge meinst du? 15
SOKRATES: Nimm nur ein kleines Beispiel, und du wirst alles wissen, was ich meine. Sechs Würfel, wenn du vier dagegen hältst, werden mehr sein als die vier, nämlich noch ein halbes Mal soviel; wenn aber zwölf, dann weniger, nämlich die Hälfte, und es ist nicht zuläs-
daß etwas anderes behauptet werde. Oder möchtest du es zulas- 20
sen? THEA!TETOS: Keineswegs ich. SOKRATES: Wie nun? Wenn dich Protagoras oder ein anderer
fragte: »Ist es wohl möglich, Theaitetos, daß etwas größer oder mehr werde auf eine andere Weise, als daß es zugenommen hat?« Was wirst 25
du antworten? THEAITETOS: Wenn ich antworten soll, was mir in Beziehung auf
d diese Frage allein richtig scheint, Sokrates, so werde ich sagen, es ist nicht möglich: wenn aber in Beziehung auf die vorige Frage, so werde ich - um mich zu hüten, daß ich nichts Widersprechendes io
sage - wohl antworten, es ist möglich. SOKRATES: Sehr gut, Freund, bei der Hera, und ganz göttlich. Je
doch, wie mir scheint, wenn du antwortest, es sei möglich, wird dir jenes aus dem Euripides begegnen: Es wird uns die Zunge freilich "" unwiderlegt sein, die Seele aber nicht unwiderlegt. 35
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Theätet -154d-155c
THEAITETOS: Ganz wahr. SOKRATES: Wenn wir also gewaltige Weise wären, du und ich, die
schon alles durchgeprüft haben in ihrem Gemüt, so würden wir von e nun an immer weiter nur zum Zeitvertreib einander versuchen, auf
sophistische Art einen eben solchen Kampf beginnen und gegensei- 5
tig Rede gegen Rede prallen lassen. Da wir aber nur schlichte Menschen sind, werden wir doch zuerst das, was wir denken, selbst für sich betrachten wollen, was es ist, ob es untereinander übereinstimmt, oder vielleicht nichts weniger als das.
THEAITETOS: Auf jede Weise würde ich meinesteils dieses letztere ro
wollen. SOKRATES: Auch ich gewiß. Da es sich nun so verhält, können wir
nicht ganz gelassen in voller Muße die Sache wieder von vom unter-155a suchen, ohne verdrießlich zu werden, sondern recht aufrichtig uns
selbst prüfen, was wohl diese Erscheinungen in uns eigentlich sind? ,5
Wenn wir von denen nun die erste untersuchen, werden wir, wie ich wenigstens glaube, sagen, daß niemals irgend etwas weder mehr noch weniger werde, weder der Masse noch der Zahl nach, so lange, als es sich selbst gleich ist. Oder nicht?
THEA!TETOS: Ja. 20
SOKRATES: Zweitens auch wohl, daß, wem nichts zugesetzt noch auch weggenommen wird, dieses niemals weder wachse noch schwinde, sondern immer gleich bleibe.
THEAITETOS: Ganz offenbar. b SOKRATES: Nicht auch das dritte, nämlich was vorher nicht war, 25
daß dieses doch auch nachher unmöglich sein könne, ohne geworden zu sein und zu werden?
THEAITETOS: So scheint es freilich. SOKRATES: Diese drei Behauptungen nun streiten, glaube ich, in
unserer Seele miteinander, wenn wir jenes von den Würfeln aus- 30
sagen oder wenn wir behaupten, daß ich, der ich diese bestimmte Größe habe, ohne weder zu wachsen noch das Gegenteil zu erleiden binnen Jahresfrist, jetzt zwar größer bin, als du, der Jüngere, hernach
c aber kleiner, da doch ich von meiner Masse nichts verloren habe, sondern nur du an der deinigen gewonnen hast. Denn ich bin ja her- 35
52,
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K«l &vn-runouc; &v8pC::,-n:ouc;. i56 a.
Theätet · 155c-r56a 53
nach, was ich vorher nicht war, ohne es geworden zu sein. Denn ohne Werden ist Gewordensein unmöglich, und da ich nichts von
meiner Masse eingebüßt habe, wurde ich ja niemals kleiner. Und mit tausend und aber tausend Sachen verhält es sich ebenso, wenn
wir dieses wollen gelten lassen. Du kommst doch wohl mit, Theaite- 1
tos? Wenigstens scheinst du mir nicht unerfahren in diesen Dingen
zu sem. THEAJTETOS: Wahrlich, bei den Göttern, Sokrates, ich wundere
mich ungemein, wie doch dieses wohl sein mag; ja bisweilen, wenn
ich recht hinsehe, schwindelt mir ordentlich, 10
d SOKRATES: Theodoros, du Lieber, urteilt eben ganz richtig über
deine Natur. Denn gar sehr ist dies der Zustand eines Freundes der Weisheit, die Verwunderung; ja es gibt keinen andern Anfang der
Philosophie als diesen, und wer gesagt hat, Iris sei die Tochter des <:o
Thaumas, scheint die Abstammung nicht übel getroffen zu haben. ,5
Aber hast du schon verstanden, warum diese Dinge, dem zufolge,
was - wie wir sagen Protagoras behauptet, sich wirklich so verhalten können, oder noch nicht?
THEAITETOS: Noch nicht recht, glaube ich. SOKRATES: So wirst du mir wohl Dank wissen, wenn ich dir von 20
der Meinung dieses Mannes oder vielmehr vieler berühmter Männer
e den rechten verborgenen Sinn aufspüren helfe? THEAITETOS: Wie sollte ich dir darum nicht Dank wissen, und
zwar sehr vielen? SOKRATES: Sieh dich aber wohl um, und habe acht, daß uns nicht 25
einer von den Ungeweihten zuhöre. Dies sind aber die, welche von "" nichts anderem glauben, daß es sei, als von dem, was sie recht herzhaft mit beiden Händen greifen können, das Handeln und das Wer
den jedoch sowie alles Unsichtbare gar nicht mit unter dem, was ist,
wollen gelten lassen. 30
THEAITETOS: Das sind ja verstockte und widerspenstige Men-156a sehen, Sokrates, von denen du redest.
54
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Theätet · 156a-156d 55
SOKRATES: Jene freilich, Kind, sind sehr roh. Viel feiner aber sind <:a
andere, deren Geheimnisse ich dir jetzt mitteilen will. Der Anfang
aber, an welchem auch alles, was wir vorhin sagten, hängt, ist bei
ihnen der, daß alles Bewegung ist und anderes außerdem nichrs,
von der Bewegung aber zwei Arten, beide der Zahl nach unendlich, 5
deren eine ihr Wesen hat im Wirken, die andere im Leiden. Aus der
Begegnung und der Reibung dieser beiden gegeneinander entstehen
b Erzeugnisse, der Anzahl nach auch unendliche, je zwei aber immer
Zwillinge zugleich, das Wahrnehmbare und die Wahrnehmung, die
immer zugleich hervortritt und erzeugt wird mit dem Wahrnehm- 10
baren. Die Wahrnehmungen nun führen uns Namen wie diese, Ge
sicht, Gehör, Geruch, Erwärmung und Abkühlung, auch Lust und
Unlust werden sie genannt, Begierde und Furcht, und andere gibt
es noch, unbenannte unzählbare, sehr viele auch noch benannte.
Die Arten des Wahrnehmbaren aber sind je eine einer von jenen ,,
c an- und miterzeugt, dem mancherlei Sehen die mancherlei Farben,
dem Hören gleichermaßen die Töne, und so den übrigen Wahrneh
mungen das übrige ihnen verwandte Wahrnehmbare. Was besagt
uns nun diese Erzählung, Theaitetos, in Beziehung auf das Vorige?
Merkst du es wohl? THEAITETOS: Noch nicht ganz, Sokrates.
20
SOKRATES: So sieh zu, ob wir es irgendwie zu Ende führen. Sie
will nämlich sagen, daß alles dieses, wie wir auch sagten, sich be
wegt. In dieser Bewegung aber findet sich Schnelligkeit und Lang
samkeit. Soviel nun langsam ist, das hat seine Bewegung an demsel- 25
d ben Ort und in Beziehung auf das, was sich nähert, und erzeugt auf
diese Weise. Das auf diese Weise Erzeugte aber ist schneller; denn es
geht im Raume fort, und in diesem Fortgehen besteht die Natur sei
ner Bewegung. Wenn nun ein Auge und ein solches anderes ihm An
gemessenes zusammentreffen und die weiße Farbe erzeugen nebst 30
der ihr mitgeborenen Wahrnehmung- was beides nicht wäre erzeugt
worden, wenn eines von jenen beiden auf ein anderes getroffen
wäre-, dann wird, indem beide sich im Raum dazwischen bewegen,
56
l!q,11:Qc; npoc; .. a,v 3<j>8al.l'ßv, .. ~c; oi AEUIC6'l:TJ'to<; npbc; i:oO e
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aoO Mvml:lm 1CC1't«vofjam, T16i:i.:pm 001eoOv't& aot As:yi.:tc; müd,
~ li:toO &none:tp~.
Theätet · 156e-157c 57
e nämlich das Sehen von den Augen her, die weiße Farbe aber vom die
Farbe miterzeugenden Gegenstand her, auf der einen Seite das Auge
erfüllt mit der Gesichtswahrnehmung, und sieht alsdann, und ist ge
worden nicht eine Gesichtswahrnehmung, sondern ein sehendes
Auge; auf der andern Seite wird das die Farbe Miterzeugende erfüllt 5
mit der weißen Farbe und ist geworden auch wiederum nicht die
weiße Farbe, sondern ein Weißes, sei es nun Holz oder Stein oder
wem sonst begegnet, mit dieser Farbe gefärbt zu sein. Ebenso ist
nun alles übrige, das Harte und Warme und alles andere, auf dieselbe
157a Art zu verstehen, daß es nämlich an und für sich nichts ist, wie wir ro
auch vorher sagten, sondern daß in dem einander Begegnen alles al
lerlei wird vermöge der Bewegung. Denn auch, daß das Wirkende et
was ist und das Leidende etwas, läßt sich an jeweils Einern nicht fest
stellen, wie sie sagen. Denn weder ist etwas ein Wirkendes, ehe es
mit einem Leidenden zusammentrifft, noch ein Leidendes, ehe mit 1 5
dem Wirkenden; ja auch, was mit dem einen zusammentreffend
ein Wirkendes wird, zeigt sich, wenn es auf ein anderes fällt, als
ein Leidendes. So daß diesem allen zufolge, wie wir von Anfang an
sagten, nichts an und für sich Eines ist, sondern immer nur wird
für irgendein anderes, das Sein aber überall ausgestogen werden 20
b muß, wiewohl wir es auch jetzt eben aus Gewohnheit und Unge
schicktheit gar oft und viel zu gebrauchen genötigt waren. Das aber
darf man nicht, nach der Rede der Weisen, weder darf man das „fa_
was« zugeben, noch das »Irgendjemandes«, noch »Meines«, noch
»Dieses«, noch »Jenes«, noch irgendeine andere Bezeichnung, die 2 5
stillstellt: sondern der Natur gemäß muß man nur reden von Wer
dendem, von dem, was bewirkt wird, von Vergehendem und von
dem, was verändert wird. Wenn nämlich jemand etwas stillstellt
durch seine Rede, ist er leicht zu widerlegen, wenn er dies tut. So
muß man sowohl von dem Einzelnen reden als auch von den vielen 3o
Zusammengefaßten, welcher Zusammenfassung man die Bezeich- <'
c nung »Mensch« gibt und »Stein« und jegliches einzelne Tier und
seine Gattung. Scheint dir dies nun lieblich, Theaitetos, und gefällt
es dir, daß du davon kosten möchtest?
THEAITETOS: Ich weiß nicht recht, Sokrates. Denn auch von dir 35
vermag ich nicht zu erkennen, ob du es sagst als deine Meinung oder
ob du mich nur versuchst.
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Theätet · 157c-r58a 59
soKRATES: Erinnerst du dich nicht mehr, Lieber, daß ich meinesteils dergleichen gar nicht weiß, auch nichts als das meinige vorbringe, sondern ganz und gar unfruchtbar bin in dergleichen? Dir aber will ich Geburtshilfe leisten, und deshalb bespreche ich dich
d und lege dir zu kosten vor von allerlei Weisheit, bis ich endlich auch 5
deine Meinung mit ans Licht bringe. Ist sie aber ans Licht gebracht, dann will ich auch gleich sehen, ob sie sich als ein \Vindei oder als eine gesunde Geburt zeigen wird. Also halte nur aus und sei guten Mutes und antworte frei und tapfer, wie dir erscheint, wonach ich eben frage. ro
n!EAJTETOS: So frage denn. soKRATES: Erkläre dich also noch einmal, ob es dir recht ist, daß
gar nicht sein, sondern immer nur werden soll, Gutes und Schönes und alles, was wir eben durchgegangen sind?
THEAITETOS: Freilich scheint mir, wenn ich dich die Sache so er- 15
örtern höre, alles ganz erstaunlich gegründet zu sein und daß es so müsse gedacht werden, wie du es auseinandersetzt.
SOKRATES: So wollen wir denn auch das nicht zurücklassen, was noch übrig ist davon. Es ist aber noch übrig das von den Träumen und Krankheiten, besonders auch dem Wahnsinn, und was man 20
nennt sich verhören oder sich versehen oder sonst eine Sinnentäuschung. Denn du weißt wohl, daß es das Ansehen hat, als könne durch alle diese Fälle einstimmig der Satz widerlegt werden, den
158a wir jetzt eben durchgegangen sind, und als würden uns auf alle Weise falsche Wahrnehmungen in diesen Fällen und als fehlte viel daran, 25
daß, was einem jeden erscheint, dasselbe auch sei, sondern ganz im Gegenteil, als sei nichts von dem, was erscheint.
THEAITETOS: Vollkommen richtig, Sokrates. SOKRATES: Was für eine Ausrede, Jüngling, bleibt also dem noch
übrig, welcher sagt, Wahrnehmung sei Wissen, und was jedem er- 30
scheine, das sei auch für den, welchem es erscheint? THEA!TETOS: Es fehlt mir der Mut, Sokrates, zu gestehen, daß ich
nicht weiß, was ich sagen soll, weil du mich nur vorhin gescholten,
UNIV,·BH3lOOR1'MUND
60
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Theätet · 158b-158d 61
b als ich dies sagte. Und in der Tat vermöchte ich nicht zu bestreiten,
daß die Wahnsinnigen oder die Träumenden nicht Falsches meinen,
wenn jene Götter zu sein glauben, diese aber geflügelt und sich im
Traume als fliegend vorkommen. soKRATES: Denkst du auch nicht an diesen Einwurf dagegen, be- 5
sonders was \'vachen und Schlafen betrifft?
THEAITETOS: Welchen? SOKRATES: Den du, meine ich, oft gehört haben wirst, wenn man
nämlich die Frage aufwirft, was für ein Kennzeichen jemand wohl
angeben könnte, wenn einer fragte, jetzt gleich gegenwärtig, ob wir 10
c schlafen, und alles, was wir vorstellen, nur träumen, oder ob wir
wachen und wachend uns unterreden? THEA!TETOS: Und wahrlich, Sokrates, es ist sehr schwierig, durch
was für ein Kennzeichen man es beweisen soll. Denn es folgt ganz
genau auf beiden Seiten dasselbe. Denn was wir jetzt gesprochen 15
haben, das können wir ebensogut im Traume zu sprechen glauben;
und wenn wir im Traume Träume zu erzählen meinen, so ist ganz
wunderbar, wie ähnlich dies jenem ist. SOKRATES: Du siehst also, daß das Bestreiten nicht schwer ist,
d wenn sogar darüber gestritten werden kann, was Schlaf ist und was 20
Wachen. Und da die Zeit des Schlafens der des Wachens ziemlich
gleich ist und die Seele in jedem von diesen Zuständen behauptet,
daß die ihr jedesmal gegenwärtigen Meinungen auf alle Weise wahr
sind: so behaupten wir eine gleiche Zeit hindurch einmal, daß das
eine, dann wieder ebenso, daß das andere wirklich ist, und beharren 25
beidemal gleich fest auf unserer Meinung. THEA!TETOS: Allerdings. SOKRATES: Verhält es sich nun nicht mit Krankheiten und mit
dem Wahnsinn ebenso, bis auf die Zeit, daß die nicht gleich ist?
THEAITETOS: Ganz richtig. 30
SOKRATES: Und wie? Soll das 'vv'ahre aus der Länge und Kürze
der Zeit bestimmt werden?
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Ui9 159a
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THEAITETOS: Lächerlich wäre das ja auf vielerlei Weise!
SOKRATES: Hast du aber etwas anderes Sicheres, woran du zeigen
kannst, welche von diesen Meinungen die wahren sind?
THEAITETOS: Mir scheint nicht. SOKRATES: So höre denn von mir, was diejenigen darüber sagen s
würden, welche behaupten, was jeder meint, sei für den, der es
meint, auch wahr. Sie werden aber, wie ich glaube, uns so befragen:
»Was ganz und gar von einem anderen verschieden ist, Theaitetos,
kann das wohl irgend dasselbe Vermögen wie jenes haben? Und
daß wir ja nicht annehmen, daß das, wonach wir fragen, in einer ro
Hinsicht doch gleich ist und nur in einer anderen Hinsicht verschie
den, sondern, daß es ganz verschieden ist.« THEAITETOS: Es ist ja unmöglich, daß eines mit einem anderen
gleich sei, ob nun im Vermögen oder in sonst etwas, wenn es ganz
und gar davon verschieden ist. r5
SOKRATES: Muß man nicht auch zugeben, daß ein solches not
wendig unähnlich ist? THEAITETOS: Mir scheint es wenigstens. SOKRATES: Wenn sich also ereignet, daß etwas einem ähnlich
wird oder unähnlich, es sei nun sich selbst oder einem andern, wer- 20
den wir nicht, wenn es ähnlich wird, sagen, daß es dasselbe wird,
wenn aber unähnlich, daß es verschieden wird?
THEAITETOS: Notwendig. SOKRATES: Haben wir nun nicht vorher gesagt, daß es vielerlei
und unzähliges Wirkende gebe, und Leidendes auch? 25
THEA!TETOS: Das haben wir. SOKRATES: Und auch, daß eins mit einem anderen und dann wie
der mit einem anderen sich vermischend nicht beidemal dasselbe,
sondern Verschiedenes erzeugen wird? THEAITETOS: Allerdings. JO
SOKRATES: So laß uns denn von dir und mir und allem auf die
selbe Weise sagen, der kranke Sokrates und der gesunde Sokrates,
sollen wir dies jenem ähnlich nennen oder unähnlich?
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THEAITETOS: Meinst du dieses Ganze, den kranken Sokrates, je-
nem Ganzen, dem gesunden Sokrates?
SOKRATES: Ganz recht hast du verstanden, so meine ich es.
THEAITETOS: Unähnlich dann.
SOKRATES: Auch verschieden etwa auf eben die Art wie unähn- 5
lieh? THEAITETOS: Notwendig. SOKRATES: Auch von dem Schlafenden also, und was wir sonst
jetzt angeführt haben, wirst du das nämliche behaupten?
THEAITETOS: Ich gewiß. 10
SOKRATES: Wird also nicht jedes seiner Natur nach etwas Wir
kende, wenn es den gesunden Sokrates trifft, mit einem verschiede
nen zu tun haben, und wenn den kranken, wieder mit einem ver
schiedenen? THEAITETOS: Wie sollte es nicht!
SOKRATES: Und Verschiedenes werden wir also in beiden Fällen
zusammen erzeugen, ich, der Leidende, und jenes, das Wirkende?
THEA!TETOS: Wie sonst? SOKRATES: 'Wenn nun ich, der Gesunde, Wein trinke: so erscheint
er mir lieblich und süß?
THEA!TETOS: Ü ja. SOKRATES: Es haben nämlich alsdann nach dem zuvor Einge-
d räumten das Wirkende und das Leidende erzeugt die Süßigkeit
und die Wahrnehmung, beide zugleich in Bewegung. Und zwar hat
15
20
die Wahrnehmung, welche auf der Seite des Leidenden ist, seine 2 5
Zunge wahrnehmend gemacht, die Süßigkeit aber, welche auf der
Seite des Weines sich um ihn bewegt, hat den Wein für die gesunde
Zunge süß zu sein und zu scheinen gemacht.
THEAITETOS: So waren wir allerdings vorher übereingekommen.
SOKRATES: Wenn er aber den Kranken trifft, hat er dann nicht zu- 30
erst der Wahrheit nach nicht denselben getroffen, da er zu einem
dem vorigen Unähnlichen gekommen ist?
THEA!TETOS: Ja. SOKRATES: Verschiedenes also erzeugen wiederum ein solcher So
krates und das Trinken des Weines. An der Zunge nämlich die Wahr- 35
nehmung der Bitterkeit, an dem \'//ein aber die werdende und sich
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Theätet · r59e-16oc
bewegende Bitterkeit, und machen diesen nicht zur Bitterkeit, son
dern zu einem bittern, mich aber nicht zur Wahrnehmung, sondern
zu einem Wahrnehmenden. THEA!TETOS: Ganz offenbar. SOKRATES: Also werde ich nie etwas anderes werden, wenn ich 5
auf diese Weise wahrnehme. Denn von anderem gibt es eine andere
Wahrnehmung, und sie macht den Wahrnehmenden zu einem verän-
160a denen und anderen. Und ebenso wird jenes, das auf mich Wirkende,
niemals, sobald es mit einem andern zusammentrifft, dasselbe erzeu
gen und ein ebensolches werden. Denn von anderem her anderes er- 10
zeugend muß es ein Verändertes werden.
THEAITETOS: So ist es. SOKRATES: Ebensowenig aber werde ich für mich selbst ein sol
cher, noch jenes für sich selbst ein solches werden.
THEAITETOS: Natürlich nicht. 15
SOKRATES: Notwendig also muß sowohl ich, wenn ich ein Wahr
nehmender werde, es von etwas werden, denn ein Wahrnehmender
zwar, aber ein nichts Wahrnehmender zu werden, das ist unmöglich;
b als auch jenes muß, wenn es süß oder bitter oder etwas dergleichen
wird, es notwendig für einen werden. Denn süß, aber für niemanden 20
süß zu sein, ist unmöglich. THEAITETOS: Allerdings muß es so sein.
SOKRATES: Es bleibt also, glaube ich, übrig, daß wir füreinander
etwas sind oder werden, je nachdem man nun sein oder werden sa
will, da unser Sein zwar die Notwendigkeit verknüpft, aber we- 25
mit irgendeinem andern noch mit uns selbst. Also bleibt übrig,
daß es für uns untereinander verknüpft sei. So daß, mag es nun je-
mand Sein nennen, er sagen muß, es sei für etwas oder von etwas
oder in Beziehung auf etwas; oder nenne er es Werden, dann ebenso.
Daß aber etwas an und für sich etwas sei oder werde, das darf man 30
c weder selbst behaupten noch, wenn ein anderer dies behauptet, es an
nehmen, wie die Rede, welche wir durchgegangen sind, zeigt.
THEAITETos: So ist es allerdings, Sokrates.
SOKRATES: Nicht wahr also, wenn das mich zu etwas Machende
für mich ist, und nicht für einen anderen: so nehme auch nur ich 35
es wahr, ein anderer aber nicht?
68
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Theätet · 16oc-161a
THEA!TETOS: Wie anders?
SOKRATES: Wahr also ist mir meine Wahrnehmung, denn sie ist
die meines jedesmaligen Seins. Ich also bin der Richter, nach dem
Protagoras, dessen sowohl, was für mich ist, daß es ist, als auch des
sen, was nicht ist, daß es nicht ist.
THEA!TETOS: So scheint es.
d SOKRATES: Wie also sollte ich, da ich untrüglich bin und nie
fehle, in meinem Denken über das, was ist oder wird, dasjenige nicht
auch wissen, was ich wahrnehme?
THEAITETOS: Es läßt sich auf keine Weise anders denken.
SOKRATES: Vortrefflich also hast du gesprochen, daß das Wissen
nichts anderes ist als Wahrnehmung; und es fällt in eins zusammen,
daß nach dem Homer, Heraklit und ihrem ganzen Stamm alles sich
wie Ströme bewegt, daß nach dem Protagoras, dem sehr weisen, der
10
e Mensch das Maß aller Dinge ist, und daß nach dem Theaitetos, 15
wenn dieses sich so verhält, die Wahrnehmung Wissen wird. Nicht
wahr, Theaitetos? Wir sagen doch, daß dies Kindlein dein neugebor
nes ist, und von mir geholt? Oder wie meinst du?
THEAITETOS: Notwendig so, Sokrates.
C.2 Widerlegung der Protagoras-Heraklit-Theorie 20
SOKRATES: Dieses haben wir recht mit Mühe endlich geboren, was
es auch nun eigentlich sein mag. Nach der Geburt aber müssen wir
nun das Umtragen im Kreise damit wirklich vornehmen, indem <:a
wir durch weitere Untersuchung erforschen, ob nicht das Geborene,
vielleicht ohne daß wir es wußten, nicht wert ist, auferzogen zu wer- 25
161a den, sondern ein Windei und Falsches. Oder glaubst du, dein Kind
müsse man auf alle Fälle auferziehen und keinesfalls aussetzen?
Oder wirst du es doch ertragen, wenn du siehst, daß es die Prüfung
nicht besteht, und nicht allzu verdrießlich werden, wenn es dir je-
mand, ohnerachtet es deine erste Geburt ist, wegnimmt? 3o
THEODOROS: Theaitetos wird es ertragen, Sokrates, denn er ist
gar nicht mürrisch. Also, bei den Göttern, sage, ob es sich nun wie
der nicht so verhält.
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139
b versuchen, den Theaitetos von dem, womit er schwanger ist über das
Wissen, durch unsere geburtshelferische Kunst zu entbinden.
THEODOROS: Wohlan, wenn du meinst, müssen wir es also tun.
C.3 Weitere Widerlegung der ersten Definition
SOKRATES: So überlege denn, Theaitetos, was das bisher Gesagte be- 5
trifft, auch noch dieses. Wahrnehmung sei Wissen, hattest du geant
wortet. Nicht wahr? THEAITETOS: Ja. SOKRATES: Wenn nun jemand dich so fragt: »Womit doch sieht
der Mensch das Weiße und Schwarze, und womit hört er das Hohe ro
und Tiefe?«, würdest du, glaube ich, sagen: »Mit den Augen und
Ohren.« THEAITETOS: Ich gewiß. SOKRATES: Es mit Worten aller Art nicht so genau nehmen und
sie nicht mit Spitzfindigkeit aussondern, das ist größtenteils gar 15
nicht unfein, sondern vielmehr das Gegenteil davon hat etwas Un
freies, nur ist es bisweilen doch notwendig. So ist es auch jetzt nötig,
die Antwort, die du gegeben hast, dabei anzugreifen, inwiefern sie
nicht richtig ist. Denn betrachte selbst, welche Antwort richtiger
ist, ob das, womit wir sehen, die Augen sind, oder das, vermittels des- 20
sen, und das, womit wir hören, die Ohren, oder das vermittels des
sen? THEAITETOS: Vermittels dessen wir jegliches wahrnehmen
scheint mir besser als womit. d SOKRATES: Arg wäre es auch, mein Junge, wenn diese mancherlei 25
Wahrnehmungen wie im hölzernen Pferde in uns nebeneinander lä
gen und nicht alle in irgendeiner einheitlichen Form - du magst es
nun Seele oder wie sonst immer nennen - zusammenliefen, mit
der wir dann vermittels jener gleichsam als Werkzeuge wahrnehmen,
was nur wahrnehmbar ist. 30
THEAITETOS: Darum scheint mir auch dieses besser als jenes.
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Aai16ave:tv m,pl «ö-i:ßv. ~Eu 1,il; ical 1:oÖE 'tEK1;1~ptov nz,1t o~
SOKRATES: Dessenthalben setze ich dir dies so genau auseinan
der: um herauszufinden, ob wir mit einem und demselben in uns ver
mittels jetzt der Augen das Weiße und Schwarze, dann vermittels der
e anderen wieder anderes auffassen, und ob du, befragt, alle diese auf
den Körper zurückführen kannst? Doch es ist vielleicht besser, daß 5
du selbst dies beantwortest und erklärst, als daß ich mich für dich
in Weitläufigkeit einlasse. So sage mir denn, das, vermittels dessen
du Warmes, Hartes, Leichtes, Süßes wahrnimmst, setzt du dies nicht
alles als zum Körper gehörig? Oder als zu etwas anderem?
THEA!TETOS: Zu nichts anderem. SOKRATES: Wirst du auch wohl zugeben wollen, daß du dasjenige,
185a was du vermittels des einen Vermögens wahrnimmst, unmöglich ver
mittels eines andern wahrnehmen könntest; als was vermittels des
Gesichtes, das nicht vermittels des Gehörs, und was vermittels des
Gehörs, das nicht vermittels des Gesichtes? THEAITETOS: Wie sollte ich nicht wollen?
SOKRATES: Wenn du also über beides etwas denkst, so kannst du
dies weder mittels des einen Werkzeugs noch auch mittels des an~
dem von beiden wahrgenommen haben? THEA!TETOS: Freilich nicht. SOKRATES: Von dem Ton nun und von der Farbe, denkst du nicht
von diesen beiden zuerst dieses, daß sie beide sind?
THEAITETOS: Das denke ich. SOKRATES: Nicht auch, daß jedes von beiden vom andern ver-
IO
15
20
schieden, mit sich selbst aber identisch ist? 25
b THEA!TETOS: Freilich. SOKRATES: Und daß sie beide zusammen zwei sind, jedes von bei
den aber eins? THEA!TETOS: Auch dieses. SOKRATES: Bist du nicht auch imstande, mögen sie nun einander 30
ähnlich sein oder unähnlich, dies zu erforschen? THEA!TETOS: Vielleicht. SOKRATES: Dieses alles nun, vermittels wessen denkst du es von
ihnen? Denn weder vermittels des Gehörs noch vermittels des Ge
sichtes ist es dir möglich, das Gemeinschaftliche von ihnen aufzufas- 35
sen. Auch dies ist noch ein Beweis mehr für das, was wir sagen: Näm-
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Theätet · r85b-186a 143
lieh wenn es möglich wäre zu untersuchen, ob beide salzig sind, so weißt du doch, was du sagen kannst, womit du es untersuchtest,
c und das ist offenbar weder das Gesicht noch das Gehör, sondern etwas anderes.
THEAITETOS: Selbsrverständlich das Vermögen vermittels der Zunge.
SOKRATES: Ganz recht. Vermittels wessen wirkt denn nun dasjenige Vermögen, welches dir das in allen und auch in diesen Dingen Gemeinschafi:liche offenbart, womit du von ihnen das »es ist« oder »es ist nicht« aussagst, und das, wonach ich jetzt eben fragte? Für dies 10
alles, was für Werkzeuge willst du annehmen, vermittels deren unser Wahrnehmendes jedes davon wahrnimmt?
THEAITETOS: Du meinst ihr Sein und Nichtsein, ihre Ähnlichkeit und Unähnlichkeit, Identität und Verschiedenheit, ferner ob sie
d eines sind oder eine andere Zahl. Offenbar begreifst du darunter 11
auch die Frage nach dem Geraden und Ungeraden, und was damit zusammenhängt, vermittels welcher Teile des Körpers nämlich wir dies mit der Seele wahrnehmen.
SOKRATES: Ganz vortrefflich, Theaitetos, folgst du mir; denn dies ist es eben, wonach ich frage. 20
THEAITETOS: Aber, beim Zeus, Sokrates, dies wüßte ich nicht zu sagen, außer daß es mir scheint, als gäbe es überhaupt gar nicht ein solches besonderes Werkzeug für diese wie für jene, sondern die
e Seele scheint mir vermittels ihrer selbst das Gemeinschaftliche in allen Dingen zu erforschen. 25
SOKRATES: Schön bist du, Theaitetos, und gar nicht, wie Theodo-ros sagt, häßlich; denn wer so schön spricht, der ist schön und gut. Außer dem aber, daß dieses schön gesagt war, hast du auch mir eine große Wohltat erwiesen, indem du mir über viele.s Reden hinweggeholfen hast, wenn es dir einleuchtet, daß einiges die Seele selbst ver- 30
mittels ihrer selbst erforscht, anderes aber vermittels der verschiedenen Vermögen des Körpers. Denn eben dieses war es, was ich selbst meinte und wovon ich wünschte, du möchtest es auch meinen.
THEAITETOS: Gar sehr leuchtet es mir ein.
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Theätet · r 86a-r 86d 145
SOKRATES: Zu welchem von beiden rechnest du nun das Sein? Denn dies ist es doch, was am meisten bei allem vorkommt?
THEAITETOS: Zu dem, worum sich die Seele selbst durch sich selbst bemüht.
SOKRATES: Wohl auch so die Ähnlichkeit und Unähnlichkeit, die 5
Identität und die Verschiedenheit? THEA!TETOS: Ja. SOKRATES: Und das Schöne und Schlechte, das Gute und Böse? THEAITETos: Auch hiervon scheint mir die Seele das Sein am
meisten in den gegenseitigen Beziehungen zu erforschen, indem sie 10
b bei sich selbst das Geschehene und Gegenwärtige in Verhältnis setzt mit dem Künftigen.
SOKRATES: Warte! Wird sie nicht die Härte des Harten und die Weichheit des Weichen vermittels des Tastsinns wahrnehmen?
THEAITETOS: Ja. 15
SOKRATES: Aber das Sein von beiden, und daß sie sind, und ihre Gegensetzung gegeneinander und wiederum das Sein der Entgegensetzung, dies versucht also die Seele selbst für uns zu beurteilen, indem sie auf sie zurückkommt und sie miteinander vergleicht.
THEA!TETOS: Auf jeden Fall. 20
SOKRATES: Nicht wahr, jenes wahrzunehmen, was irgend für Eindrücke vermittels des Körpers zur Seele gelangen, das eignet schon
c Menschen und Tieren von Natur, sobald sie geboren sind. Allein zu den Schlüssen über sie auf das Sein und den Nutzen gelangen <ca
nur schwer mit der Zeit und durch viele Mühe und Unterricht die- 25
jenigen, die überhaupt dazu gelangen? THEAITETOS: So ist es allerdings. SOKRATES: Kann man nun wohl die Wahrheit durch etwas errei
chen, durch das man nicht einmal das Sein erreicht? THEAITETOS: Unmöglich. 30
SOKRATES: Wovon man aber die Wahrheit nicht erreicht, kann man davon Wissen haben?
d THEAITETOS: Wie könnte man doch, Sokrates. SOKRATES: In den Eindrücken also ist kein Wissen, wohl aber in
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Theätet · 186d-187b 147
den Schlüssen über jene. Denn das Sein und die Wahrheit zu erreichen ist, wie es scheint, nur hier möglich, dort aber unmöglich.
THEA!TETOS: Das leuchtet ein. SOKRATES: Willst du nun jenes und dieses dasselbe nennen, da
beides so große Verschiedenheiten zeigt? THEAITETOS: Das scheint wohl nicht recht. SOKRATES: Welchen Namen nun legst du jenem bei, dem Sehen,
Hören, Riechen, Frieren, Warmsein? THEAITETOS: Wahrnehmen nenne ich es. Denn wie anders? SOKRATES: Insgesamt also nennst du dies Wahrnehmung? 10
THEAITETOS: Natürlich. SOKRATES: Welcher, wie wir gesagt haben, nicht verliehen ist, bis
zur Wahrheit zu gelangen, da sie ja auch nicht bis zum Sein gelangt? THEA!TETOS: Nicht veriiehen. SOKRATES: Also auch nicht zum Wissen? THEA!TETOS: Nein. SOKRATES: Auf keine Weise also, Theaitetos, wären Wahrneh
mung und Wissen dasselbe.
II
THEAITETOS: Es scheint nicht; vielmehr ist es jetzt vollkommen deutlich geworden, daß das Wissen etwas anderes ist als die Wahr- 20
nehmung.
D. Diskussion der zweiten Definition: Wissen ist wahre Meinung
D.1 Das Problem der falschen Meinungen 187a SOKRATES: Aber wir haben ja doch nicht deshalb angefangen uns zu
unterreden, um zu finden, was das Wissen nicht ist, sondern was es 25
ist. Indes sind wir doch nun wenigstens so weit vorgeschritten, daß wir es ganz und gar nicht unter der Wahrnehmung suchen wollen, sondern unter demjenigen Namen, den die Seele führt, wenn sie sich für sich selbst mit dem, was ist, beschäftigt .
THEATTETOS: Dieses, Sokrates, wird ja, glaube icb, das Meinen 30
genannt. SOKRATES: Ganz recht glaubst du, Lieber, und nun sieh wieder
b von vorn nach Auslöschung alles Vorigen, ob du nun mehr siehst,
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149
da du doch bis hierher vorgedrungen bist, und sage noch einmal, was
wohl das Wissen ist? THEAITETOS: Zu sagen, daß jede Meinung es sei, Sokrates, ist un
möglich, da es auch die falsche Meinung gibt. Es mag aber wohl die
wahre Meinung Wissen sein; und dieses will ich nun geantwortet ha
ben. Denn sollte es uns, wenn wir weitergehen, nicht mehr so schei
nen wie jetzt, so wollen wir dann versuchen, etwas anderes zu sagen.
SOKRATES: Das ist recht, Theaitetos, und so muß man etwas mu
tiger reden, als du anfänglich nur allzu bedenklich warst zum Am-
,: worten. Machen wir es so, so werden wir eins von beiden, entweder 10
das finden, worauf wir ausgehen, oder weniger glauben dasjenige zu
wissen, was wir keineswegs wissen. Und auch ein solcher Preis wäre
schon nicht zu verschmähen. Wie meinst du es aber jetzt? Von zwei
Arten der Meinung, deren die eine die wahre ist, die andere die fal-
sche, bestimmst du die wahre als Wissen? 15
THEAITETOS: Das tue ich; denn dies leuchtet mir für jetzt ein.
SOKRATES: Ist es wohl noch wert, bezüglich der Meinung zurück
zukommen auf-? THEAlTETOS: Worauf meinst du?
d SOKRATES: Es beunruhigt mich jetzt sowohl als auch sonst schon 20
oft so, daß ich in großer Verlegenheit bei mir selbst und auch vor an
deren gewesen bin, da ich nämlich nicht zu sagen weiß, was für ein
Ereignis doch dieses in uns ist und wie es uns entsteht.
THEAITETOS: Welches denn? SOKRATES: Daß jemand Falsches meint. Und auch jetzt überlege 2,
ich noch zweifelnd, ob wir es so lassen oder ob wir es auf eine andere <:o
Art als vor kurzem untersuchen. THEAlTETOS: Warum nicht, Sokrates, wenn es dir nur im minde-
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8Eal-c11-coc; ~ li 0e:ahri-roc; L(,)tcpa:-cric;;
Theätet · 187d-188b
sten nötig scheint? Denn gar nicht schlecht habt ihr vorher über die Muße geredet, du und Theodoros, daß uns nichts drängt in derglei
chen Dingen. soKRATES: Ganz recht erinnerst du mich. Vielleicht ist es nicht
übel getan, die Spur noch einmal zu verfolgen. Denn es ist besser, 1
ein weniges gut, als vieles ungenügend zu vollbringen.
THEAITETOS: Allerdings. SOKRATES: Wie nun, was sagen wir eigentlich? Behaupten wir,
dag es jedesmal eine falsche Meinung gebe und daß der eine von
uns Falsches meine, der andere Wahres, da wir uns von Natur aus ro
so verhalten? THEAITETOS: Das behaupten wir freilich. SOKRATES: Nun findet sich doch dies bei uns für alles und jedes
einzelne, daß wir es wissen oder daß wir es nicht wissen? Denn das
Lernen und Vergessen als zwischen beiden befindlich will ich für ,;
jetzt beiseite lassen, weil es uns jetzt gar nicht zur Sache gehört. THEAITETOS: Dann freilich, Sokrates, bleibt nichts übrig für jede
Sache, als es zu wissen oder nicht zu wissen. SOKRATES: Ist es nun nicht notwendig, daß, wer meint, entweder
von dem etwas meine, wovon er weiß, oder wovon er nicht weiß? 20
THEAITETOS: Notwendig. SOKRATES: Daß aber, wer etwas weiß, dasselbe auch nicht wisse,
b oder wer nicht weiß wisse, ist doch unmöglich.
THEAITETOS: Wie sollte es nicht? SOKRATES: Also wer etwas Falsches meint, was er weiß, der 25
glaubt, dieses sei nicht dieses, sondern etwas anderes von dem, was er weiß, und beides wissend weiß er beides auch wieder nicht?
THEAITETOS: Aber das ist ja unmöglich. SOKRATES: Oder das, was er nicht weiß, hält er wohl für irgend
anderes, was er ebenfalls nicht weig, und das hieße, jemandem, der 30
weder vom Sokrates weiß noch vom Theaitetos, käme in den Sinn,
Sokrates wäre Theaitetos oder Theairetos Sokrates?
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Theätet · 2oob-2ooe -------------··--------------------
dere aber nicht, und hält, was er weiß, für das, was er nicht weiß? Oder was er nicht weiß für das, was er weiß? Oder werdet ihr mir wieder sagen, es gebe von den Wissensstücken und Nichtwissens-stücken wiederum Wissen, welches der Besitzer in irgendeinem anderen lächerlichen Taubenschlag oder Wachsgebilde eingesperrt hat 5
, und sie weiß, so lange er sie besitzt, auch wenn er sie nicht bei der Hand hat in der Seele? Und so werdet ihr genötigt sein, tausendmal denselben Kreis zu durchlaufen, ohne etwas damit zu gewinnen.« Was werden wir hierauf antworten, Theaitetos?
THEAITETOS: Ja, beim Zeus, Sokrates, ich weiß nicht, was darauf 10
zu sagen ist. SOKRATES: Macht uns also unsere Rede nicht ganz mit Recht
einen Vorwurf und zeigt uns, daß wir Unrecht taten, die falsche Mei-il nung eher zu suchen als das Wissen und dieses dagegen fahrenzulas
sen? Und daß es unmöglich ist, jene zu verstehen, ehe jemand das ,5
Wissen hinlänglich aufgefaßt hat, was es ist? THEAITETOS: Notwendig, Sokrates, muß man für jetzt glauben,
was du sagst.
D.2 Widerlegung der zweiten Definition SOKRATES: Was soll man also wieder von vorne sagen, daß das Wis- 20
sen sei? Denn wir wollen doch wohl noch nicht aufgeben? THEAITETOS: Gewiß nicht, wenn du mir nicht aufkündigst. SOKRATES: So sprich denn, wie sollen wir es endlich erklären, um
am wenigsten uns selbst zu widersprechen? e THEAITETOS: Wie wir es in dem Vorigen versucht haben, Sokra- 25
tes; ich wenigstens weiß nichts anderes zu sagen. SOKRATES: Welches meinst du denn? THEAITETOS: Daß wahre Meinung Wissen ist. Denn ohne Fehl
ist wahres Meinen, und was daraus hervorgeht, das geht alles schön und gut hervor. 3o
SOKRATES: Wer bei der Flußüberquerung vorangeht, Theaitetos, sagt, es werde sich ja selbst zeigen. So auch wenn wir weitergehen und diesem nachspüren, wird es uns vielleicht, wenn es uns vor die
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Theätet · 201a-2orc 193
Füße kommt, das Gesuchte auch zeigen. Bleiben wir aber stehen, so
wird uns nichts klar werden.
THEAITETos: Du hast recht. Laß uns also gehen und untersu
chen. SOKRATES: Dies wohl ist eine kurze Untersuchung; denn eine ,
ganze Kunst beweist dir schon, daß dies nicht Wissen ist.
THEAITETOS: Wieso, und was für eine?
SOKRATES: Die Kunst der Vornehmsten an Weisheit, die man
Redner und Advokaten nennt. Denn diese überreden durch ihre
Kunst nicht, indem sie lehren, sondern indem sie bewirken, daß 10
man meint, was sie eben wollen. Oder hältst du sie für so bewun-
b dernswürdige Meister im Lehren, daß sie vermöchten, denen, die
nicht Zeugen eines Diebstahls oder einer anderen Gewalttat waren,
während nur wenig Wasser verrinnt, die Wahrheit über das Gesche- <ca
hcne hinreichend zu lehren? 15
THEAITETOS: Keineswegs glaube ich das, sondern daß sie nur
überreden. SOKRATES: Heißt aber nicht überreden bewirken, daß etwas auf
eine gewisse Art gemeint werde?
THEAITETOS: Was sonst?
SOKRATES: Wenn also Richter, so wie es sich gehört, überredet
worden sind in bezug auf etwas, das nur, wer es selbst gesehen hat,
wissen kann, sonst aber keiner: So haben sie dieses nach dem bloßen
c Gehör urteilend vermöge einer wahren Meinung, aber ohne Wissen
abgeurteilt, so jedoch, daß die Überredung richtig gewesen, wenn sie 25
nämlich als Richter gut geurteilt haben?
THEAITETOS: So ist es allerdings.
SOKRATES: Nicht aber, mein Freund, könnte jemals, wenn wahre
Meinung und Wissen im Gerichtshof dasselbe wären, auch der beste
Richter Wahres meinen ohne Wissen. Nun aber scheint beides ver- 10
schieden zu sein.
194
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Theätet, 201c-202b 195
E. Diskussion der dritten Definition: Wissen ist wahre Meinung mit Erklärung
E.1 Die Definition und ihre Erläuterung durch die »Traumtheorie« n-IEAITETOS: Was ich auch schon einen sagen gehört und es nur ver- <ca
gesscn habe, kommt mir jetzt wieder in den Sinn. Er sagte nämlich, 5
d die mit Erklärung verbundene wahre Meinung sei Wissen, die ohne cc• Erklärung dagegen liege außerhalb des Wissens. Und wovon es keine Erklärung gebe, das sei auch nicht wißbar, und so benannte er dies auch, wovon es aber eine gebe, das sei wißbar.
SOKRATES: Gewiß schön gesagt. Dies Wißhare aber und nicht 10
Wißbare, sage an, wie er es unterschied, ob wir es also auf gleiche Weise gehört haben, du und ich.
THEA!TETOS: Ich weiß nicht, ob ich es herausfinden werde; trüge es aber ein anderer vor, so glaube ich, würde ich wohl folgen.
SOKRATES: Höre also einen Traum für den andern. Mir nämlich ,5
e schien, von einigen gehört zu haben, die ersten gleichsam Elemente, aus denen wir sowohl als alles übrige zusammengesetzt sind, hätten keine Erklärung. Denn an und für sich könne man jedes einzelne nur benennen, etwas anderes von ihm auszusagen sei nicht möglich, weder daß es ist, noch daß es nicht ist; denn alsdann würde ihm 20
doch Sein oder Nichtsein schon beigelegt, man dürfe ihm aber nichts weiter zusetzen, wenn man doch jenes allein aussagen wolle. Daher man ihnen weder das »selbst« noch das »jenes«, noch das »jedes«, noch das »allein«, noch »dieses«, noch viel anderes dergleichen zusetzen dürfe. Denn eben diese Begriffe laufen überall umher und 25
werden mit allen zusammengefügt, immer aber als verschieden von denen, welchen sie beigelegt würden. Jene Dinge müßten aber, wenn es möglich wäre, sich über sie zu erklären, und jedes seine eigentüm- <ca
liehe Erklärung hätte, ohne alle andern erklärt werden. Nun aber sei b es unmöglich, daß irgend eins von den ersten Dingen durch eine Er- 10
klärung ausgedrückt werde; denn es gebe für sie nichts als nur ge-
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Theätet · 202b-202e 197
nannt zu werden - sie hätten eben nur einen Namen. Was aber aus diesen schon zusammengesetzt wäre, dessen Name wäre, so wie es selbst zusammengeflochten ist, ebenfalls zusammengeflochten und zu einer Erklärung geworden. Denn Verflechtung von Namen sei das Wesen der Erklärung. Auf diese Art also wären die Elemente 5
ohne Erklärung und unerkennbar, wahrnehmbar aber; die Verknüpfung hingegen erkennbar und erklärbar und durch wahre Meinung zu meinen. Wenn nun jemand ohne Erklärung eine wahre Meinung
, von etwas empfinge: so sei zwar seine Seele darüber im Besitz der Wahrheit, wisse es aber nicht. Denn wer nicht Erklärung geben ro
und empfangen könne, der sei ohne Wissen über diesen Gegenstand. Wer aber die Erklärung auch dazu nehme, der sei des allen mächtig geworden und habe alles vollständig zum Wissen beisammen. Hast du diesen Traum ebenso gehört oder anders?
THEAITETOS: Ebenso ganz und gar. ,, SOKRATES: Gefallt es dir auch, und setzt du auf diese Weise an,
daß wahre Meinung mit Erklärung Wissen ist?
THEAITETOS: Genau so. SOKRATES: Also hätten wir auf diese Art am heurigen Tage er
reicht, was seit langer Zeit viele der Weisen gesucht und ohne es zu 20
finden alt geworden sind? THEAITETOS: Mir scheint doch, Sokrates, das jetzt Vorgetragene
sehr schön gesagt zu sein.
E.2 Kritik der »Traumtheorie« SOKRATES: Es ist auch ganz wahrscheinlich, da{s sich die Sache an 25
sich so verhalte. Denn was sollte auch Wissen sein ohne Erklärung und richtige Meinung? Nur eins will mir an dem Gesagten mißfallen.
THEAITETOS: Was denn? SOKRATES: Gerade was das Raffinierteste zu sein scheint, daß 30
e nämlich die Elemente unerkennbar wären, die Gattung der Verknüpfungen aber erkennbar.
THEAITETOS: Ist dies nicht richtig? SOKRATES: Man muß zusehen. Haben wir doch zu Geiseln für
diesen Satz die Beispiele, von denen offenbar, wer dieses alles sagte, J5
ausgegangen ist.
402 6. Stellenkommentar
manden bezeichnet, der sich in Geometrie auskennt. Auch Th~odor~s isr_Platons Dialog die Hauptquelle; er scheint efWai, gle1chaltng mtt Sokrates gewesen zu sein, also um 470 geboren und nach 3 99 gestorben. Dem entsprechen die Angaben in Eu~ demos' Katalog der Mathematiker (überliefert in Proklos' Kommentar zu Euklids Elementen, 3.65,21-66,9). Der glei~ ehe Text enthält auch einen weiteren Hinweis auf Theodoros' •. mathematisches Werk (3.u8), über das ansonsten kaum et· was bekannt ist. Für weitere Informationen siehe die erwähn. ten Arbeiten von Sachs und Hellweg sowie der Artikel voi:r K. von Fritz im Großen Pauly, 2. Reihe, Bd. V, Sp. 18u-1825 •.
B. Einleitungsgespräch
29.ro r47d2 Sokrates] Sokrates d.J. tritt als Gesprächs-partner im Politikos auf; weitere Erwähnungen finden sich im II. Brief Platons (358d5) und bei Aristoteles (Metaphysik Zu 1036b24-36). Vgl. E. Kapp, »Sokrates der Jüngere«, in:. Philologus 79 ( 1924), S. 228-2 3 3.
29.12-31.7 147d4-148b3 Von den Quadraten] In di~ sem Beispiel aus der Mathematik geht es um folgendes: The<r doros hat für einzelne natürliche Zahlen n gezeigt, daß die Seite einer (quadratischen) Fläche mit dem Inhalt n Fuß nicht kommensurabel ist zur Länge der Seite einer (quadratischen) Fläche mit dem Inhalt I Fuß. bzw. zu einer Strecke der Länge I Fuß. Theätet und Sokrates d. J. entwickeln daraufhin
a) eine Klassifikation der Zahlen: - viereckige (quadratische) bzw. gleichseitige Zahlen sind
solche, die entstehen, wenn man »Gleiches gleichvielmal nimmt« (das heißt eine Zahl mit sich selbst multipliziert)
- längliche Zahlen sind solche, die nur entstehen, wenn man »mehr weniger oft bzw. weniger öfter nimmt« (das heißt unterschiedlich große Zahlen miteinander multipliziert);
b) eine Klassifikation der Strecken danach, welche Quadrate sie zu bilden gestatten:
zus. 29-3 9
- Längen (mekoi) sind Strecken, die ein Quadrat mit einer Fläche n ergeben, wobei n quadratisch bzw. gleichseitig ist;
- Kräfte ( dynameis) sind Strecken, die ein Quadrat mit einer Fläche n ergeben, wobei n länglich ist. Kommensurabel (zu 1, das heißt natürliche Zahlen) sind nur die Flächen der Quadrate solcher Strecken.
In moderner Terminologie ausgedrückt: Theodoros zeigte, daß die Wurzeln einiger natürlicher Zahlen irrational sind. Theätet und sein Freund liefern eine Systematisierung der Zahlen, die eine allgemeine Definition erlaubt: Die Wurzel einer natürlichen Zahl n ist irrational, wenn es keine natürliche Zahl m gibt, so daß n m x m. Siehe dazu auch Myles Burnyeat, »The Philosophical Sense ofTheaetetus' Mathematics«, in: Isis 69 (1978), S. 489-513, und Hellweg, Mathematische Irrationalität.
33.12 149a2 Sohn einer Hebamme] Die Angabe, Sokra-tes' Mutter Phärenete sei Hebamme gewesen, findet sich nur hier, ebenso die Selbstdarstellung Sokrates' durch den Vergleich mit der Hebammenkunst (die sogenannte »Maieutik«). Die ausführlichsten Angaben zu Sokrates' Leben und zur Quellenlage bietet K. Döring, H. Flashar (Hg.), Die Philosophie der Antike, Bd. 2.1: Sophistik, Sokrates, Sokratik, Mathematik, Medizin, Basel 1998; einen Überblick über Sokrates' Philosophie geben die Aufsätze in Andreas Patzer (Hg.), Der historische Sokrates, Darmstadt 1987, und Hugh Benson (Hg.), Essays on the Philosophy of Socrates, Oxford 1992.
3 9. 7 151a1 Aristides, Sohn des Lysimachos} Aristides war einer der prominentesten Athener Strategen zur Zeit der Perserkriege, vermutlich auch in der Schlacht bei Marathon 490 V. Chr.
3 9.9 151a4 das Göttliche} Zum daimonion (»das Gött-liche«) des Sokrates vgl. besonders die (fiktive) Selbstdarstellung in der Apologie (31c-d, 40a).
39.20 151b5 Prodikos] Prodikos, geb. ca. 470, gestorben vermutlich nach 399 v. Chr. Platon stellt ihn öfters als Lehrer des Sokrates dar (zum Beispiel Protagoras 341a, Menon
6. Stellenkommentar
96d, Kratylos 384b); eine Verbindung zwischen Prodikos und Sokrates erwähnt auch Aristophanes (Wolken 360-62). Platons Angaben zufolge hat sich Prodikos vor allem mit semantischen und lexikalischen Problemen befaßt.
C. Diskussion der ersten Definition
41.20 152a Protagoras} Protagoras von Abdera, ca. 486-411 v. Chr., war ein umherreisender Lehrer (»Sophist«), der sich längere Zeit in Athen aufhielt; 444 v. Chr. entwarf er gemeinsam mit anderen im Auftrag von Perikles eine Verfassung für die attische Kolonie Thurioi. Seine Lehrtätigkeit dürfte alle Bereiche umfaßt haben; von seinen Schriften - eine von ihnen, auf die Sokrates im Theätet mehrfach anspielt, trug offenbar den Titel »Wahrheit« - ist nichts erhalten. Neben der Darstellung im Theätet gibt auch Platons Dialog Protagoras ein lebhaftes Bild von der Wirkung, die Protagoras entfaltet hatte, das aber ebensowenig wie die Darstellung im Theätet historisch getreu sein dürfte. Die einzige von Platon unabhängige doxographische Überlieferung findet sich bei Sextus Empiricus (Pyrrh. I 216-219), der Protagoras nicht nur die im Theätet erwähnten Thesen zuschreibt, sondern darüber hinaus die Behauptung, daß »die Materie an sich selbst alles das sein könne, was allen an ihr erscheine« (Übersetzung: M. Hossenfelder). Faßte man diese Potentialität der Materie realistisch auf, dann hätte man keine relativistische, sondern eine naturalistische Position vor sich: Ein Ding hat potentiell verschiedene Aspekte, die von verschiedenen Menschen jeweils in unterschiedlicher Auswahl aktualisiert und erfaßt werden. Daß Protagoras eine Unterscheidung zwischen einem potentiellen und aktualen Sein vorgenommen hat, ist aber nicht belegt und auch unwahrscheinlich. Gerade Aristoteles bringt Pro-tagoras nämlich mit einer Position in Verbindung, der zufolge etwas nur dann potentiell F ist, wenn es auch aktual F ist -demnach könne nichts eine wahrnehmbare Eigenschaft haben,
zus. 39-55
wenn es nicht wahrgenommen wird (Metaphysik IX 3, rn47a4-7). Zur Kontroverse darüber, ob die Darstellung von Protagoras' Doktrin im Theätet historisch angemessen ist oder nicht, siehe zum Beispiel Myles Burnyeat, »Protagoras and Self-Refutation in Plato's Theaetetus«, in: Philosophical Review 85 (1976), S. 172-195, und Gail Fine, »Relativism and Self-Refutation. Plato, Protagoras, and Burnyeat«, in: J. Gentzler (Hg.), Method inAncient Philosophy, Oxford 1998, S. 137-163.
Die Rede von einer Geheimlehre (r 52c9 f.) ist möglicherweise eine Anspielung auf die sophistische Lehrpraxis, die eigentlichen Lehren nur einem exklusiven zahlenden Schülerkreis zu vermitteln. Trifft diese Deutung zu, dann handelt es sich offensichtlich um eine ironische Bemerkung, denn Sokrates hätte sich den Unterricht bei Protagoras kaum leisten können, weiß aber andererseits über die »Geheimlehre« gut Bescheid.
43.18 152c8 bei den Chariten} Die drei Chariten sind segenspendende weibliche Gottheiten.
45.2 I 52e7 Okeanos, Ursprung der Götter, und Tethys die Mutter} Vgl. Ilias XIV, 201.
47.6 I 53cIO goldene Kette} Vgl. Ilias VIII, 18 ff. 49.34 154d4 jenes aus dem Euripides} Vgl. Euripides,
Hippolytos 612: »Die Zunge hat den Eid geschworen, nicht das Herz.«
53-14 155d4 Iris sei die Tochter des Thaumas} Iris ist eine Götterbotin, die zwischen Göttern und Menschen verkehrt; der Name ihres Vaters, Thaumas, wird etymologisch mit dem Verb thaumazein (»sich wundern«) in Verbindung gebracht. Vgl. Hesiod, Theogonie 26 5 f.
53.26 155e4ff. einer von den Uneingeweihten} Wer mit den Uneingeweihten (»Materialisten«) gemeint ist, ist unklar; eine ähnliche Charakterisierung einer Gruppe findet sich im Sophistes 245e6-248a2.
55-1 156a2 f. Viel feiner aber sind andere} Auch wer mit den »Feineren« gemeint ist, ist unklar; es könnten Herakliteer sein, aber auch Aristipp und seine Anhänger.
6. Stellenkommentar
57.31-32 r57b9-cr welcher Zusammenfassung man die Be;. zeichnung »Mensch« gibt] Man könnte den Relativsatz auch in einem instrumentellen Sinn auffassen, derart, daß durch die Zusammenfassung dasjenige, was als Mensch usw. bezeichnet wird, festgelegt oder bestimmt wird. (Den Hinweis auf· diese Möglichkeit verdanke ich Jula Wildberger.)
69.23 16oe7 ff. das Umtragen im Kreise] Einige Tage nach der Geburt wurden neugeborene Kinder um den Herd. des Hauses herumgetragen und getauft; diese Zeremonie bedeutete vermutlich die Aufnahme des Kindes in die Familie.
71.22 r6rc9 seiner Weisheit wegen}: sophia wird hier (und ebenso in r61e3, r62c4, r62e4) mit »Weisheit« übersetzt, weil hier keine durch einen Gegenstand spezifizierte Sachkunde ·· gemeint ist (diese Konnotation rückt später in r66d ff. wie• der ins Zentrum, wenn es um spezifische Fähigkeiten geht, jemanden besser zu machen). Es gibt keinen deutschen Aus. ·. druck, der das Bedeutungsspektrum von sophia genau wiedergibt.
73. 7-8 r6re6 f. dem ganzen Geschäft des untersuchenden Unterredens/ Der griechische Ausdruck, der hier mit »untersuchendes Unterreden« übersetzt wird (he tou dialegesthai pragmateia) bezieht sich auf die Dialektik, Platons Ausdruck für die (philosophische) Wissenschaft, die in einer bestimmten Art der Gesprächsführung besteht.
73.20 r62br Lakedämon] Lakedämon ist ein anderer Name für Sparta.
75.12 ff. 162d6 ff. indem ihr die Götter mit hineinzieht} Über Protagoras und die Leugnung der Götter siehe C. W. Müller, ))Protagoras über die Götter«, in: Hermes 95 (1967}, S. 140-I 59.
83.13 r64e8 Kallias, der Sohn des Hipponikos] Kallias, ca. 450-371 v. Chr., wurde häufig als reicher und verschwende" rischer Athener verspottet. In Platons Protagoras tritt er als großzügiger Gastgeber des Protagoras und anderer Sophisten auf.
91.21 ff. r67e5 ff. untersuchendes Gespräch] Das griechi•;
zu S. 57-ro5
sehe Wort ist wieder dialegesthai, also der Ausdruck, mit dem Platon die Tätigkeit der philosophischen Wissenschaft bezeichnet. Sokrates legt ihn Protagoras hier in den Mund, nicht um Protagoras auf seine Seite zu ziehen, sondern um vorzuführen, wie Protagoras ad hominem argumentiert: Denn aus dem für die Dialektik charakteristischen Aufweis von Widersprüchen in den Aussagen von Sokrates' Gesprächspartner macht Protagoras einen Trick, wie sich der Lehrer gegen Vorwürfe seiner Schüler absichern kann.
95-14-23 169a9-cr Skiron} Skiron war ein Riese, der zwischen Megara und Athen die Wanderer zwang, ihm die Füße zu waschen, und sie dann ins Meer stieß (vgl. Diodor 4,59,4; Plutarch, Theseus ro; Pausanias 1,44,8). Antaios war ein libyscher König, der die sein Gebiet durchziehenden Fremden zum Ringkampf zwang und tötete, um aus den Schädeln seinem Vater Poseidon einen Tempel zu bauen (vgl. Pindar, [sthmien IV, 52 ff.). Beide wurden besiegt - der erste von Theseus, der zweite von Herakles -, indem ihre Taktik gegen sie gewendet wurde. Sokrates kehrt in 169b ff. allerdings die Rollen um: Er nimmt den Vergleich mit Skiron und Antaios an, präsentiert sich aber in der Rolle des Unterlegenen, der kräftig Prüo-el hat einstecken müssen, aber darum nicht aufgibt.
b 105-12 172b4 wollen sie behaupten] Es liegt hier ein
auffälliger Wechsel des Numerus gegenüber dem vorhergehenden »dürfte er wagen zu behaupten« vor, das sich vermutlich auf Protagoras bezieht. Das Stichwort physei (»durch Natur«) gibt einen Hinweis auf eine verbreitete Debatte, ob Werte von Natur aus oder aufgrund von Konvention bestehen (der »Physis-nomos-Konflikt«). Diejenigen, die Protagoras nicht ganz folgen, sondern nur in bezug auf den Werterelativismus, die aber dennoch die sophia betreiben, wären demnach Sophisten wie Antiphon, die zwar einige natürliche Bestimmungen akzeptieren, die Gerechtigkeit aber als bloß konventionelle Angelegenheit ansehen (so läßt sich Schleiermachers etwas freie Übersetzung von hosoi . . . me pantapasi ton Protagorou logon legousin rechtfertigen).
6. Stellenkommentar
107.5 172e1 das "Wasser, welches abfließt] Wasseruhren wurden generell zur Zeitmessung verwendet, so auch bei Gericht, um die jedem Redner zustehende begrenzte Zeit abzumessen.
107. 7 172e3 die abgelesenen Punkte] Gemeint ist vermutlich die sogenannte Antomosie, ein Eid, den beide Parteien eines Prozesses auf ihre Prozef~schriften ablegen muß. ten, an die sie folglich im Prozeß gebunden waren.
109.23-24 173e5 nach Pindaros »was in den Tiefen der Erde« ... »über dem Himmel«} Vgl. Pindar fr. 292, ed. Snell (B. Snell (Hg.), Pindarus, Leipzig 1964). Die beiden genannten Tätigkeiten des Denkens - die Erde vermessen (geometrein) und die Sterne ordnen (astronomein) - sind übrigens die Fächer des Theodoros.
u3. 5 ff. 175a8 ff. Aber ein Verzeichnis von fünfundzwanzig Vorfahren für etwas Großes ausgeben] Gemeint ist mit dieser Kritik an der Genealogie, daß diejenigen, die ihre Abstammung 2 5 Generationen weit auf einen Heros wie Amphirryon zurückführen, zu kurzsichtig sind, um in der Genealogie weiter zurückzugehen und 25 Generationen hinter Amphitryon einen beliebigen unbekannten Vorfahren anzutreffen - dessen Nachfahren in der 50. Generation sie selbst sind.
II3.29 ff. 175d2 ff. wie ihm in der Höhe schwebend] Ironische Anspielung auf Aristophanes' Komödie Die Wolken, in der Sokrates als auf einer Hängematte hausender Wolkenverehrer verspottet wird.
115.5 175e3 das Bündel schnüren} Gemeint ist mit diesem Ausdruck (gr. stromatodesmon) das Bündel, zu dem die Sklaven die Bettwäsche schnüren mußten.
123.33 179q die einem jeden gerade gegenwärtige Erfahrung} Zum Ausdruck »Erfahrung« (gr. pathos) siehe die Erläuterungen im Kommentar S. 303 f.
125-13 179dff. die Freunde des Herakleitos/ Zur Verbreitung der Herakliteischen Philosophie in Ionien (also vor allem in den Städten der Westküste der heutigen Türkei) und zur Beschreibung der Herakliteer: Heraklit (um 500 v. Chr.
zus. 107-131
ca. 40 Jahre alt) stammt aus dem ionischen Ephesos; mit den »rätselhaften Sprüchlein« könnten unter anderem die von Heraklit überlieferten, oft wie abgeschlossene Sinnsprüche wirkenden Fragmente gemeint sein. Wer die zeitgenössischen Herakliteer sind, ist unklar; nur über einen radikalen Heralditeer, Kratylos, gibt es einen von dieser Darstellung unabhängigen Bericht (vgl. Aristoteles, Metaphysik IV,5 rorna12-15); Kratylos stammte allerdings aus Athen. Es ist nicht auszuschließen, daß die Vielzahl von Heralditeern eine illustrative Fiktion Platons ist: So wie ein Materialist ein roher Mensch sein muß (vgl. 155e), so können Heralditeer gar nicht anders denn als Pluralität auftreten (vgl. Burnyeat, Theaetetus, S. 47 f.).
125.21 179e7 gänzlich bewegt] Das griechische Wort atechnos, das hier mit »gänzlich« übersetzt wird, ist möglicherweise in einem doppelten Sinne verwendet, denn es kann (mit anderer Akzentsetzung als in der Ausgabe von Dies) auch im Sinne von »kunstlos« oder »ohne die Regeln einer Kunst« gelesen werden. (Den Hinweis auf diese Möglichkeit verdanke ich Jula Wildberger.)
127.29 r8oeI f. die Melissos und die Parmenides] Parmenides (um 500 v. Chr. ca. 40 Jahre alt) stammt aus Elea in Süditalien; in seinem großen Lehrgedicht versuchte er zu zeigen, daß das gesamte Seiende eines sein muß und es keine Vielheit und folglich auch keine Veränderung geben kann. Die Position des zitierten Verses in diesem Lehrgedicht ist unklar (zu verschiedenen Deutungen siehe Leonardo Taran, ·Parmenides, Princeton 196 5, S. r 3 3). Melissos war Schüler von Parmenides und verfaßte einen Traktat zur Verteidigung seines Lehrers, von dem größere Fragmente erhalten sind.
131.7 181d4 Es kann nicht anders sein] Nach einer anderen Lesart des griechischen Textes (die in OCT favorisiert wird) ist Theodoros' Antwort »So scheint es mir« zu eliminieren; statt dessen sind ihm die Worte »Es kann nicht anders sein« als Antwort zuzuweisen. In diesem Fall läge die emphatische Bestätigung bei Theodoros; der inhaltliche Unterschied ist aber gering, da auch Sokrates sich zur Unterscheidung der beiden Bewegungsarten bekennt.
4ro 6. Stellenkommentar
131:29-3? 182a8 werde alsdann ein 'Wahrnehmendes)
Das hier mit »Wahrnehmendes« übersetzte Wort lautet im
von Dies aisthetikon, OCT entscheidet sich für aisthanomenon ..
Ii:11 _erst~n F~!l l'.egt der Akzent eher auf der Wahrnehmungs: fah1gke1t (word1ch: »etwas, das zur Wahrnehmung gehört«)
im zweiten auf dem aktualen Vorgang der Wahrnehmung. '
I 37.21 183e5 den einen Parmenides} Wörtlich der »eines
seiende Parmenides«, eine Anspielung auf die Lehre des Parmenides, ähnlich den »rohen Materialisten« und evtl. den
Herakliteer~ zuvor. Zur Anspielung auf Homer vgl. Odyssee
VIII, 22; llzas III, 172. Sokr~tes erwähnt hier _seine im Dialog
Parmemdes dargestellte (fiknve) Begegnung mit Parmenides.
145.24 186e2 f. zu den Schlüssen über sie} »Schlüsse«
(analogismata) meint nicht notwendigerweise Schlüsse von
Prämissen auf eine Konklusion. Das griechische Wort ent
stammt der mathematischen Sphäre und bedeutet »Rechen
ergebnis«. Gemeint ist also eher das Resultat kombinatorischer
Akte mit Worten - die auch einfach in Urteilen darüber mün
den können, was etwas ist (vgl. dazu auch die Hinweise im
Kommentar S. 3II f.). In r86d3 wird das Wort syllogismos ver
mutlich in ähnlich weitgefaßter Weise verwendet, denn diese
»Schlüsse« sollen aus den Wahrnehmungseindrücken gezogen werden.
D. Diskussion der zweiten Definition
149.26 f. I 87d7 f. auf eine andere Art als vor kurzem]
Der Rückverweis bezieht sich möglicherweise auf die Leug
nung falscher Meinung in der grofsen Verteidigungsrede des Protagoras (vgl. 167a6-b r).
I 59.6 19oa9 f. ifenn also jemand das eine für das andere
hält} Auch hier (und an den folgenden, gleich übersetzten
Stellen) steht im Griechischen das ansonsten mit »meinen«
übersetzte Verb doxazein, allerdings konstruiert nicht
einem Daß-Satz, sondern mit einem direkten Objekt.
zus. 131-173 4II
159.26 r9oc8 du mußt mir diesen Ausdruck durchgehen
lassen} Gemeint mit »dieser Ausdruck« ist das unmittelbar
vorangehende »daß eines das andere ist«, für das im Griechi
schen die Formulierung to heteron heteron esti steht, die auch
als Tautologie »daß das andere das andere ist« aufgefaßt wer
den kann. I 6 5. 9 ff. I 92a ff. Erinnerungszeichen} Platon verwendet
hier für die Einprägungen in den Wachsblock verschiedene
Ausdrücke (»Erinnerungszeichen«/mnemeion, »Abzeichen«/
semeion, »Abdruck«!typos, »Siegelbild«lsphragida), die - wie
die lange Fallaufzählung zeigt - synonym gebraucht werden.
167.7 ff. 192d ich, der ich vom Theodoros weiß} Zu den
Ausdrücken »wissen von« und »kennen«: Das Verb eidenai
wird generell im Griechischen und auch von Platon im Theä
tet sowohl mit propositionaler Ergänzung (zum Beispiel
147b2 f., 157e4) als auch-wie hier- mit einem direkten Ob
jekt als Ergänzung gebraucht. Im Deutschen verwendet man
für den zweiten Fall hauptsächlich »kennen«, das Schleierma
cher allerdings für das griechische Verb gignoskein reserviert.
Dort, wo eidenai eindeutig mit einem Objekt konstruiert ist,
steht hier daher »wissen von«; ansonsten steht das wörtlichere
»wissen, was« bzw. »wissen, daß«. Eine Reihe von Stellen legt
ohnehin nahe, daß Platon zwischen den Verben eidenai, epi
stasthai und gignoskein nicht terminologisch differenziert hat:
Beispielsweise werden in r63b9-cr epistasthai und eidenai
offenbar als bloß stilistische Varianten verwendet; in 196d f. werden epistasthai, gignoskein, agnoein und synienai gleicher
maßen auf episteme als Grundbegriff zurückgeführt.
173.3 194c8 wie Homeros, die Ähnlichkeit mit dem Wachs
andeutend, sagt} Vgl. Ilias II 851. Die äußere Ähnlichkeit der
griechischen Worte kear (wörtlich: Herz) und keros (Wachs)
soll Homer zur Andeutung einer tatsächlichen Ähnlichkeit
der durch diese Worte bezeichneten Gegenstände benutzt ha
ben. 173.7-9 194d5 ff. Denn sie kijnnten ihre festen und ge
räumig gelegenen Abbilder leicht an das ihnen Zugehörige ver-
412 6. Stellenkommentar
teilen, was das Seiende heißt} Die Konstruktion des Satzes ist
sehr schwierig; gemeint sein könnte auch, daß die Abbilder
auf die jeweiligen Wachsblöcke verteilt werden (dann wäre
allerdings der Plural schwer verständlich, da jeder Seele nur
ein Wachsblock entsprechen soll), oder daß die Abdrücke
den jeweiligen »Stempeln« zugeordnet werden, bei denen es
sich dann um das Seiende handelt, das vermittels der Wahr
nehmung die Abdrücke erzeugt.
. 179 . .9-10 :9~d5 f. wie eigentlich das Wissen beschaffen
ist} Hier sowie m d12 und 197a4 verwendet Platon nicht
das Substantiv episteme, sondern den nominalisierten Infinitiv
to epistasthai und legt so die Betonung auf die Tätigkeit oder
den Zustand des Wissens. Der Unterschied ist jedoch im
Deutschen kaum angemessen wiederzugeben.
193.14 201b2f. während nur wenig ~sser verrinnt]
Erneuter Hinweis auf die Verwendung der Wasseruhr bei Ge
richt (vgl. die Amnerkung zu 172e1).
E Diskussion der dritten Definition
195.4 201c7 ~sich auch schon einen sagen gehört} Als
Urheber der Definition wird gelegentlich Antisthenes ge
nannt, erstens, weil Theätet sich im Falle des Wortes episteta
(»wißbar«) ausdrücklich auf den Wortlaut des Urhebers beruft
und dieser Ausdruck sonst bei Platon nicht vorkommt; und
zweitens, weil in 202a6 f. vom oikeios Logos (»eigentümliche Er
klärung«) die Rede ist, der von Aristoteles in Metaphysik H3
1043b23 f. Antisthenes zugeschrieben wird. Vgl. dagegen die
Argumentation von Burnyeat ( Theaetetus, S. 164 f.), der zufolge
die Traumtheorie eine Konstruktion Platons ist.
195.7 201c8 die mit Erklärung verbundene wahre Mei
nung sei Wissen} »Erklärung« steht hier und im folgenden für
das mehrdeutige Wort logos; siehe dazu die Erläuterungen im
Kommentar.
195.28 202a6 sich über sie zu erklären} Zur Formulie
rung »sich erklären« siehe die Anmerkung zu 206d6.
zus. 173-219
199.2 202e Die Buchstaben ... und die Silben} Dem
Wechsel zu »Silben« und »Buchstaben« in der Übersetzung -
dem Beispiel gemäß - entspricht kein terminologischer Wech
sel im Griechischen; das Wort für »Silbe« (syllabe) steht ebenso
im allgemeinen Sinn für »Verknüpfung«, das Wort für »Buch
stabe« (stoicheion) für »Element«.
203.2 7-28 204c6 ff. haben wir ein Gesamtes, die Sechs,
gefunden} OCT entscheidet sich in 204c6-8 für eine andere
Lesart als Dies: in c6 statt pan ta hex (»ein Gesamtes, die
Sechs«) für panta hex (so daß es heißt: »In allen diesen For
meln also haben wir insgesamt sechs gefunden?«, in c8 statt
ta panta (»die sämtlichen«) für to pan (so daß es heißt: »Und
wiederum, meinen wir nichts, wenn wir sagen, das Ge
samte?«). 211.18 206d6 daß er sich erklärt} Die bessere Überset
zung wäre: »Wenigstens sagen wir von dem, der dies tut, daß
er redet.« So allerdings Mirde die Kontinuität in der Verwen
dung von logos zu legein überdeckt, das sowohl »erklären«
wie »reden« bedeutet. Schleiermacher versucht hier, die Ver
wendung von »erklären« zu retten, indem er auf das altertüm
liche »sich über etwas erklären« zurückgreift, das in der Tat
auch eine einfache Aussage meinen kann.
211.24 206e2 eine richtige Meinung} Platon verwendet
in diesem Schlußabschnitt auffällig häufig »richtige Meinung«
(orthe doxa) anstelle von »wahre Meinung« (alethe doxa). Al
lerdings hat er auch vorher schon gelegentlich von »richtiger
Meinung« gesprochen, und zwar offenbar synonym mit »wah
rer Meinung« (vgl. zum Beispiel 161d7 und 202d7), und auch
im Schlußabschnitt taucht gelegentlich noch »wahre Mei
nung« auf (207c2, 210b1), so daß es schwerfällt, hierin mehr
als eine Nuance der Formulierung zu sehen.
213.2 207a3 f. Wie Hesiodos vom ~gen sagt} Vgl. He
siod, Erga 456.
219.2-3 208e8 wie bei den großen auf die Entfernung
berechneten Gemälden} Die Maltechnik, auf die sich Sokrates
hier bezieht, heißt wörtlich »Schattenmalerei« (skiagraphia),
6. Stellenkommentar
bei der es vermutlich darum ging, mit Hilfe von gemaltem
Licht und Schatten aus einer gewissen Entfernung den Ein
druck von Räumlichkeit zu erwecken.
219.26 209b8 den letzten der Myser] Die Myser sind
die Bewohner einer Landschaft im nordwestlichen Kleinasien
in der unter anderem Ilion (Troia) liegt. '
221.18 209d10 alles andere Herumdrehen im Kreise}
Wörtlich: »Die Umdrehung einer Skytale oder einer Mörser
keule oder wovon sonst«: Die Skytale war ein in Sparta ver
wendeter Briefstab, um Nachrichten zu verschlüsseln: Die
Nachrich~ wurde auf einen Pergamentstreifen geschrieben,
der auf emen solchen Stab gewickelt war; gelesen werden
konnte sie nur, wenn der Pergamentstreifen auf einen Stab
genau gleichen Durchmessers gewickelt wurde. Gemeint ist
hier eine Tätigkeit, die man immer wieder ausführt, ohne
etwas zu erreichen.
221.24-25 209e5 was wolltest du vorher noch herausbrin
gen mit deiner Frage} Der Rückbezug gilt vermutlich 209d6:
Dort hatte Sokrates mit ei men (»Denn heißt dies ... «) anschei
nend die erste von zwei Möglichkeiten genannt, so daß Theätet
nun nach der zweiten fragt. McDowell ( Theaetetus, S. I 12) und
OCT entscheiden sich hier für eine andere Textvariante, die
diesen Sinn deutlicher zum Ausdruck bringt.
223.27 210d wegen der Klage, die Meletos gegen mich
angestellt hat} Die Klage ist diejenige, die zu Sokrates' Hin
richtung führte. Die Verabredung für den nächsten Tag weist
auf das im Sophistes geschilderte Gespräch voraus.
7. Biographischer Abriß und Zeittafel
I. Biographischer Abriß
Platon wurde 42 7 v. Chr. vermutlich in Athen geboren und
starb dort 348 v. Chr. Er entstammt einer vorn~hmen atti
schen Familie; enge Verwandte seiner Mutter übten in der Po
litik Athens zeitweise erheblichen Einfluß aus. Als Angehöriger
einer Familie der Oberschicht war auch für Platon die politi
sche Karriere ein naheliegender Weg. Unter den Bedingungen
der in Athen herrschenden radikalen Demokratie bedeutete
dies, vor allem durch die Ausbildung der eigenen rhetorischen
Fähigkeiten zu einem einflußreichen Redner in der Volksver
sammlung und vor Gericht zu werden. Da es keine organi
sierte höhere Bildung in Athen gab, eignete man sich diese
Fähigkeiten durch den privaten Unterricht bei sogenannten
))Sophisten« an, Lehrern, die gegen Bezahlung die unterschied
lichsten Fächer, darunter auch die Rhetorik im engeren Sinne
und dasjenige, was heute als Philosophie bezeichnet wird, un
terrichteten. Platon schloß sich mit ca. 20 Jahren einem dieser
Lehrer an, Sokrates, der sich - so jedenfalls sagt es die nicht
zuletzt durch Platon geprägte biographische Tradition - erheb
lich von den anderen Sophisten unterschied: Erstens nahm
er für seinen Unterricht kein Geld, zweitens zeichnete er sich
nicht durch angesammeltes Wissen aus, das er anderen weiter
gab, sondern durch eine besondere Methode der Wissenssu
che, deren erster Schritt die Aufdeckung und Beseitigung blo
ßen Scheinwissens war, und drittens befaßte er sich vor allem
mit Problemen, die man heute der Ethik und politischen Phi
losophie zurechnen würde, insbesondere mit der Bestimmung
grundlegender moralischer Begriffe.
Platon wurde mitten im Peloponnesischen Krieg geboren,
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