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ORDEN POUR LE MÉRITE
FÜR WISSENSCHAFTEN UND KÜNSTE
REDEN UND GEDENKWORTE
DREIZEHNTER BAND
1976/77
VERLAG LAMBERT SCHNEIDER•HEIDELBERG
Gedenkworte für
RUDOLF BULTMANN
von
Hans-Georg Gadamer
Als der Orden im Jahre 1969 Rudolf Bultmann zu seinem Mit¬
glied wählte, stand Bultmann bereits im hohen Alter von
83 Jahren und konnte an unserer Tätigkeit nur noch von ferne
teilnehmen. Gleichwohl hat er die Aufnahme in diesen Kreis
von Gelehrten, Forschern und Künstlern mit großer Genug¬
tuung begrüßt und hat uns seine volle Anteilnahme zugewandt.Zwar stand er längst als Altmeister neutestamentlicher For¬
schung in weltweitem Ansehen, aber die eigentümliche Span¬
nung, der der Theologe von Rang ausgesetzt ist, Forscher —
Historiker, Philologe, Mann der Wissenschaft — zu sein und
zugleich ein Lehramt im Auftrag der Kirche zu versehen, hat
gerade Rudolf Bultmann zeit seines Lebens mit besonderer
Schärfe begleitet. So war die wissenschaftliche Anerkennung,die die Aufnahme in den Orden darstellte und die ganz außer-
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halb der Kirche, von Laien, beschlossen worden war, für ihn
von besonderem Werte.
Er stammte aus einem evangelisch-lutherischen Pfarrhaus im
Oldenburgischen. Geboren am 20. August 1884, verbrachte er
Kindheit und Schulzeit dort, um dann seine theologischen Stu¬
dien in Tübingen, Berlin und in Marburg zu betreiben. Von
Marburgs großer theologischer Schule, insbesondere von Jüli¬
cher, Wilhelm Herrmann und Heitmüller empfing er seine
Prägung, und nach vier Jahren Breslau, wo er 1916 — 1920
seine erste Professur innehatte, und einem Jahr in Gießen
kehrte er 1921 nach Marburg zurück, dem er bis zu seinem
Lebensende treublieb. Die letzten Jahrzehnte lebte er dort in
großer Zurückgezogenheit, insbesondere nachdem Leiden und
Tod seiner Gattin ihn vereinsamt hatten. Er starb im gesegne¬
ten Alter von 92 Jahren am 30. Juli 1976, bis in die letzten
Jahre seinen Kindern, Schülern, Freunden und dem geistigenLeben aufmerksam teilnehmend zugewandt.So hat er über ein halbes Jahrhundert Marburg, der ältesten
protestantischen Universität Deutschlands, seine Präsenz ge¬
liehen. Die einzigartige Fruchtbarkeit, die er als Lehrer vieler
Generationen von Theologen entfaltete, lebt bis heute in den
lebendigen Treffen weiter, die alljährlich die Alten Marburger
vereinigen. Sein pädagogisches Charisma war von der Produk¬
tivität seiner Forschungskraft nicht zu trennen, insbesondere
nicht von seiner unermüdlichen Fragelust und seinem konzen¬
trierten Ernst. Wer einmal eine Vorlesung von ihm gehört oder
an seinem (oft allzu zahlreich besuchten) Seminar teilgenom¬men hat oder auch ihm im kirchlichen Amt des Predigers be¬
gegnete, wurde von der Intensität seiner Präsenz gepackt.Nichts von Pathos oder rhetorischer Kunst. Äußerste Nüchtern¬
heit, bohrender Scharfsinn, Sarkasmus und manchmal erwär-
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mender, manchmal grimmiger Humor waren ihm eigen, aber
man muß es erlebt haben, wenn er in einer exegetischen Vor¬
lesung den Bibeltext, griechisch und in seiner Übersetzung,vorlas, als ob er es ganz nur für sich selber täte und nur, um
darüber nachzusinnen. Was war da für eine Spannung in der
Luft, die auch nicht nachließ, wenn sich dann in der Interpre¬tation die erstaunlichste Gelehrsamkeit und der subtilste Scharf¬
sinn mit oft erbarmungslosem Spott über seine theologischen
Kollegen mischte. Und wenn er im Seminar seine spitzigen,scharfen und geschliffenen Debatten führte, jeder Gegenrede
offen, seine eigene Replik blitzartig hinter den blauen Wolken
seiner Pfeife hervorschießend — das war ein Schauspiel, nein,kein Schauspiel, sondern ganz ohne Spiel und ganz ohne Schau
ein Stück vorgelebter Redlichkeit.
Es war diese unbeirrbare Redlichkeit, die ihn in besonderem
Maße vor den Gefahren der Erbaulichkeit, des Pathos und der
Routine bewahrte, die sich so leicht im kirchlichen Amt einstel¬
len. Es war dieselbe unbeirrbare Redlichkeit, die ihm in den
Zeiten der Anfechtung seine Stärke lieh, wie sie ihm insbeson¬
dere der Kirchenkampf in der Hitlerzeit, aber auch die nicht-
abreißenden Konflikte mit den kirchlichen Behörden vor und
nach dem Dritten Reich brachten.
Die Organisation seines Gelehrtenlebens war von beispielloser
Disziplin und einem äußersten Willen zur Sparsamkeit. Einen
nicht geringen Teil seiner wissenschaftlichen Produktion hat er
auf den freien Rückseiten von bezahlten Rechnungen, beant¬
worteten Briefen, ja, auf dem aufgeklappten Innern von Brief¬
umschlägen zu Papier gebracht. Aber am sparsamsten war er
mit seiner Zeit. Ohne den Lebensgenuß, das Leben in Familie
und Freundschaft und beim Glase Wein zu schmälern, hielt
er die strengste Zeiteinteilung ein. Selbst die freie Zeit war
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sinnvoll geplant und ausgefüllt. Selbstverständlich wurde je¬de Reise genau vorbereitet und mit größter Planmäßigkeit
durchgeführt. Seine jährliche Kur, die er für sein Hüftleiden
später regelmäßig im Schwarzen Bock in Wiesbaden nahm,enthielt regelmäßig ein genau vorbereitetes Lektüre-Pro¬
gramm aus den verschiedensten Bereichen von Kunst und Wis¬
senschaft. Zu seinen Freizeitliebhabereien gehörte, neben kon¬
sequent durchgehaltenen täglichen Lektürestunden, die vor
allem die klassische Literatur, aber auch moderne Literatur
pflegten, das imaginäre Reisen, irgendwohin in die ferne Welt,mit genauer Wahl der Züge, die er nehmen würde, der Hotels,in denen er wohnen würde, und natürlich vor allem mit ge¬
nauester historischer und kunstgeschichtlicher Vorbereitungfür alle Sehenswürdigkeiten, die er antreffen würde: ein einzig¬
artiges Gemisch von Phantasie und Pedanterie, diesen Feen¬
gaben des geborenen Gelehrten. Welch ein beständiges Sam¬
meln und Anreichern des eigenen stupenden Wissens selbst
noch im Spiel.Und gar im Ernst. Es müßte ein Berufenerer ausführen, wie
sich das gelehrte Werk des großen Exegeten aufbaut. Es be¬
ginnt mit der Lizenziatenarbeit über den Stil der Paulinischen
Predigt und der kynisch-stoischen Diatribe (1910) — und schon
damit wird die formgeschichtliche Methode der damaligenhistorischen Theologie bereichert, die mit seinem Standard¬
werk von 1921 Die Geschichte der synoptischen Tradition
einen repräsentativen Höhepunkt erreichte. Auch später hat
Bultmann, vor allem durch ungezählte begriffsgeschichtliche
Beiträge, die den Neutestamentier mit der ganzen großen Lite¬
ratur und Sprache des griechischen Altertums in Wechselwir¬
kung brachten, seine Meisterschaft in der Ausübung des philo¬
logischen Handwerks bewiesen. Große exegetische Leistungen,
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vor allem der umfassende, ihn fast zwei Jahrzehnte in Atem
haltende Kommentar zum Johannesevangelium, zeigen ihn auf
der Höhe der historisch-kritischen Kunst. Auch wenn er kein
theologischer Denker von eigener Prägung gewesen wäre, blieb
er ein großer Philologe und ein wahrhaft überzeugter Huma¬
nist. Die griechische Philosophie, die griechische Literatur wa¬
ren ihm beständig gegenwärtig, und als er nach 1945 seine
Gedanken zur Reorganisation der Marburger Universität vor¬
legen sollte, hat er mit entschlossener Radikalität die humani¬
stische Tradition ins Zentrum seiner Vorschläge gestellt.Und doch war er nicht nur ein Philologe, sondern ein wirklicher
theologischer Denker, dessen Reflexionen beständig um die me¬
thodischen Probleme der Theologie und ihr Verhältnis zur
Philosophie kreisten. In seiner Jugend, in der Zeit des ersten
Weltkrieges, lag die Krisis des Historismus in der Luft. Die
gewaltige Expansivität, mit der Polyhistoren wie Wilhelm
Dilthey und Max Weber, große Philologen wie Wilamowitz,
Historiker wie Theodor Mommsen und Eduard Meyer, Theo¬
logen wie Adolf von Harnack und Ernst Troeltsch das histori¬
sche Universum aufgeschlossen und unter sich aufgeteilt hat¬
ten, war ausgelebt. Reflektiertere Figuren, wie Werner Jaegerund Karl Reinhardt, Karl Barth und Friedrich Gogarten er¬
hoben ihre Stimme. Der junge Theologe Rudolf Bultmann war
auch längst auf der Suche, wie er sein vertieftes religiöses En¬
gagement und seine wissenschaftliche Redlichkeit miteinander
in Einklang bringen sollte. So wurden zwei Begegnungen für
ihn entscheidend: die mit der dialektischen Theologie, insbe¬
sondere mit Karl Barths Kommentar zum Römerbrief, und die
mit der Existenzphilosophie, insbesondere mit Martin Heideg¬
ger in Jahren fruchtbarer Marburger Zusammenarbeit. Die
damit gegebene Spannung auszuhalten, bedeutete eine Heraus-
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forderung. Sie wies dem theologischen Denker Rudolf Bult¬
mann seinen vielumstrittenen Weg.Was ihn mit Karl Barth, dem reformierten Theologen, ver¬
band, war im Negativen klarer als im Positiven. Der Brief¬
wechsel dieser beiden Theologen scharf ausgeprägter und ex¬
trem verschiedener Art, der uns heute vorliegt, spiegelt beides :
ein neues Ernstnehmen des Wortes der Verkündigung ineins
mit der Abkehr von der Kulturtatsache der Religion, von dem
Anspruch einer natürlichen, bzw. philosophischen Theologie so
gut wie von dem sozialpolitischenAktivismus einer christlichen
Welt< und Weltbewährung. Radikaler noch als Luther kannte
Rudolf Bultmann im Grunde nur ein Sakrament, das des Wor¬
tes. Dieses Wort der Verkündigung sich selbst und den anderen
zum Sprechen zu bringen, dem galt sein ganzes exegetischesBemühen — aber so, daß zugleich die Verpflichtung auf wissen¬
schaftliche Redlichkeit und die klare Rationalität seines per¬
sönlichen Wesens jede Willkür fernhielten.
Selbstverständnis im Glauben, das war, wie es das pädagogischeZiel des Lehrers Bultmann war, so auch der Maßstab, unter
den er sein eigenes wissenschaftliches Werk stellte. So hielt er
alles, was dem nicht diente, als >mythologisch< fern, und selbst
die Autoren des Neuen Testamentes, vor allem die ihm näch¬
sten, Paulus und Johannes, waren ihm weniger Zeugen der
Heilsbotschaft als Partner eines theologischen Gesprächs, mit
deren Selbstverständnis er sich in Übereinstimmung wußte. So
interpretierte er im Johannesevangelium aus der Rede von der
Enderwartung die gesamte Zeitdimension weg. Endzeit ist
jetzt, ist der >Augenblick< des Anrufs, in dem das simul Justussimul peccator wahrwerden kann. Er ging in der Eliminierungdes Zeitmoments aus der Eschatologie des Johannes zeitweise so¬
gar so weit, die Authentizität des Evangelientextes in dem Grade
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anzuzweifeln, daß er selbst die Abschiedsreden Jesu für den
mißverstehenden, mythologisierenden, von einstiger Wieder¬
kehr fabelnden Zusatz eines Redaktors des Evangeliums er¬
klärte.
Daß ihn die Radikalität dieser seiner eigensten Redlichkeit in
Konflikt mit naiverem Glaubensverständnis und mit den kirch¬
lichen Instanzen bringen mußte, war kein Wunder, und doch
war es für ihn wie für seine Freunde eine Überraschung, als
die Publikation seines im kirchlichen Lehrdienst gehaltenen
Vortrags über >die Entmythologisierung des Neuen Testa-
ments< einen wahren Sturm erregte. Die tägliche Briefpost, die
ihn erreichte, schnellte plötzlich in die Hunderte hinauf. Für
ihn selbst und seine Schüler war dieser Vortrag in Wahrheit
nur die — vielleicht etwas provokatorisch geratene — Ausarbei¬
tung der Grundsätze seiner von eh und je geübten exegetischenPraxis, eine Formulierung des hermeneutischen Prinzips, daß
Verstehen Übersetzen in die eigene Sprache sein muß, wenn es
wirklich Verstehen sein soll — ein methodisches, kein dogmati¬sches Problem, geschweige denn eine Häresie oder Ketzerei.
Daß er sich nicht nur aufgerufen, sondern auch fähig fühlte,die mythologische Sprache der Bibel und der Bibelverkündi¬
gung in schlichte Rechenschaftsgabe mit eigenen Worten um¬
zusetzen und daß er die methodische Klarheit seiner exegeti¬schen Position überdies zu rechtfertigen wußte, verdankte er
der zweiten wichtigen Begegnung seines theologischen Denker-
tums : der Begegnung mit Martin Heidegger.Es ist hier nicht der Ort, die Marburger Atmosphäre um Hei¬
degger zu schildern und den Austausch des Gebens und Neh¬
mens, der zwischen Heidegger und Bultmann damals erfolgte.Bultmann eignete sich die existentiale Analyse des menschlichen
Daseins, die er aus Heideggers Lehre und aus Sein und Zeit
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herauslas, auf seine Weise an. Sie gab ihm die begrifflichenMittel in die Hand, sein eigenes Selbstverständnis im Glauben
und seine darauf abzielende theologische Arbeit zu artikulie¬
ren. Es ist kein objektivierendes Wissen, keine Verfügbarkeit,was dem unter den Anruf des Glaubens Gestellten zuteil wird.
Die von der existentialen Analytik des Daseins herausgearbei¬teten Strukturen der Sorge, des Vorlaufens zum Tode, der Zeit¬
lichkeit und der Geschichtlichkeit galten ihm ihrerseits als die
Elemente eines philosophischen Daseinsverständnisses, die auch
für den Theologen unvorgreifliche Wahrheit hätten, geradeweil sie existentiale Bestimmungen und nicht Existenzideale
sein wollten.
Das wurde ihm von theologischer wie von philosophischer
Seite, von Karl Barth und Emil Brunner wie etwa auch von
Karl Löwith bestritten, und in der Tat war das Augustinischeund Kierkegaardsche Kolorit von Heideggers Existentialana-
lytik unverkennbar. Schwerer wog, daß Heideggers eigenesDenken in ganz andere Richtung weiterging. Die erste Exposi¬tion der Seinsfrage, die Sein und Zeit gebracht hatte, wurde
der Ausgangspunkt einer langen Reihe von Denkversuchen,die jedes anthropologische Verständnis seines ersten großenWerkes desavouierten. Dabei mußte es die Theologie wahrlich
interessieren, wie jetzt statt der Eigentlichkeit des Daseins
Sterbliche und Unsterbliche, Mythos und Sage, Dichtung und
Sprache, Hölderlin und die Vorsokratiker das Denken des Den¬
kers beherrschten. Rudolf Bultmann konnte ihm darin nicht
folgen.In der immer wieder aufflammenden Auseinandersetzung mit
Karl Barth bestand er darauf, daß der Theologe einer geklärten
Begrifflichkeit bedürfe. Nur die Philosophie habe eine solche
dem Selbstverständnis im Glauben zu bieten, sofern sie die all-
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gemeine Struktur des Daseinsverständnisses in den Begriff er¬
hebe. So hielt er mit Scharfsinn an der einmal gewonnenen
Klarheit fest, unbeirrt durch alle theologischen Konflikte, in die
ihn seine Redlichkeit verstrickte, sei es mit Karl Barth, sei es
mit Karl Jaspers, dessen Kritik an der Entmythologisierung er
mit Überlegenheit abwehrte, sei es gegen die Tendenzen seiner
eigenen Schüler, die historische Dimension in der neutesta-
mentlichen Forschung wieder stärker zu akzentuieren oder
dogmatische Folgerungen zu ziehen, die an den späteren Hei¬
degger oder gar an Hegel heranrückten. Dergleichen verfolgteer mit Skepsis, aber auch mit jenem bereiten Wohlwollen des¬
sen, der um die Endlichkeit und Geschichtlichkeit des Menschen
nicht nur in der Theorie weiß.
Das sakramentale Leben der Kirche, seine Symbolik wie seine
Dogmatik blieb für den unermüdlichen Exegeten weiter im
Hintergrund. Aber er bewährte seine äußerste Redlichkeit und
den Wahrheitspunkt seiner Einsichten noch über den Tod hin¬
aus, als nach seiner eigenen letztwilligen Verfügung in der
kirchlichen Trauerfeier außer dem Rahmen klassischer Musik
nur der Gemeindegesang und das Wort der Heiligen Schrift zu
Gehör kamen : Worte des Alten und des Neuen Testaments, die
diesem langen und erfüllten Leben ein stilles Gedenken liehen,kamen zum Sprechen.
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