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ISBN Print: 9783525560075 — ISBN E-Book: 9783647560076© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen

George / Herlth / Münch / Schmid, Tolstoj als theologischer Denker und Kirchenkritiker

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Martin George / Jens Herlth / Christian Münch /Ulrich Schmid (Hg.)

Tolstoj als theologischer Denkerund Kirchenkritiker

Übersetzung der Tolstoj-Texte von Olga Radetzkajaund Dorothea Trottenberg,

Kommentierung von Daniel Riniker

2. Auflage

Vandenhoeck & Ruprecht

ISBN Print: 9783525560075 — ISBN E-Book: 9783647560076© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen

George / Herlth / Münch / Schmid, Tolstoj als theologischer Denker und Kirchenkritiker

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Die Arbeit der Übersetzerinnen wurde vom Deutschen Übersetzerfonds(DÜF) gefördert, das wissenschaftliche Projekt vom Schweizerischen

Nationalfonds (SNF) finanziert und die Publikation von derBurgergemeinde Bern und dem Fonds für ökumenische und historische

Theologie (Bern) unterstützt.

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in derDeutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind

im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN 978-3-525-56007-5

Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de

Umschlagabbildung: Michail Nesterov, Porträt von Graf Lev Tolstoj (1907)

© 2015, 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen/Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A.

www.v-r.deAlle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt.

Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf dervorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Hinweis zu § 52a UrhG:

Weder das Werk noch seine Teile dürfen ohne vorherige schriftliche Einwilligung desVerlages öffentlich zugänglich gemacht werden. Dies gilt auch bei einer entsprechenden

Nutzung für Lehr- und Unterrichtszwecke. Printed in Germany.

Satz: Dörlemann, LemfördeDruck und Bindung: Hubert & Co, Göttingen

Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

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George / Herlth / Münch / Schmid, Tolstoj als theologischer Denker und Kirchenkritiker

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Inhalt 5

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11

Theologische und kirchenkritische Schriften

Aus dem Tagebuch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37Brief an A.A. Tolstaja (1859) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39Über die Religion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43Christlicher Katechismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47Wessen sind wir? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52Beichte (Auszug) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58Kirche und Staat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72Brief an A.A. Tolstaja (1880) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83Untersuchung der dogmatischen Theologie

(Schlussbetrachtung) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87Mein Glaube (Auszüge) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102Brief an Alexander III. (1881) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125Kurze Darlegung des Evangeliums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134Das Wunder der Auferstehung Christi . . . . . . . . . . . . . . . . . 164Über das Leben (Auszüge) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174Die Leiden unseres Herrn Jesus Christus . . . . . . . . . . . . . . . . 180Das Reich Gottes ist in euch (Auszüge) . . . . . . . . . . . . . . . . . 182Religion und Sittlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188Wie soll man das Evangelium lesen und worin besteht sein Wesen? . . 211Was ist Kunst? (Auszüge) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215Gedanken über Gott . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223Beschreibung eines Gottesdienstes aus dem Roman Auferstehung . . . 234Antwort auf den Beschluss des Synods vom 20.–22. Februar 1901 . . 240An die Geistlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249Drei Briefe an V.K. Zavolokin (1900/1901) . . . . . . . . . . . . . . . 270Gebete . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 282Das Wesen der christlichen Lehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285Brief an I.I. Solov’ev (1908) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 290Drei Tage (aus der Sammlung Für jeden Tag) . . . . . . . . . . . . . 292Gleichnisse (aus der Sammlung Für jeden Tag) . . . . . . . . . . . . 299Aphorismen (aus der Sammlung Für jeden Tag) . . . . . . . . . . . . 304Gebet (aus der Sammlung Für jeden Tag) . . . . . . . . . . . . . . . 310

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6 Inhalt

Brief an I.I. Perper (1910) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315Aus dem Tagebuch nur für mich selbst . . . . . . . . . . . . . . . . . 317

Tolstojs Theologie: Systematische und historische Einordnungen

1. Kernkonzepte

Christian Münch: Glaube und Vernunft . . . . . . . . . . . . . . 323Christian Münch: Offenbarung und Bibel . . . . . . . . . . . . . 339Martin George: Gott . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 355Christian Münch: Jesus Christus . . . . . . . . . . . . . . . . . . 373Martin George: Kirche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 389Holger Kuße: Religion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 408Holger Kuße: Anthropologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 433Jens Herlth: Staat und Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . 449Sylvia Sasse: Kunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 462

2. Tolstojs Auseinandersetzung mit derPhilosophie und den religiösen Traditionen

Jens Herlth: Jean-Jacques Rousseau . . . . . . . . . . . . . . . . . 477Ulrich Schmid: Immanuel Kant und Arthur Schopenhauer . . . . 491Ilja Karenovics: Friedrich Nietzsche . . . . . . . . . . . . . . . . 499Ulrich Schmid: Anarchismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 516Olga Caspers: Sozialismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 521Pål Kolstø: Orthodoxie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 528Erich Bryner: Protestantismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 541Ulrich Schmid: Katholizismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 554Rainer Goldt: Judentum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 557Ulrich Schmid: Islam . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 571Radha Balasubramanian: Buddhismus . . . . . . . . . . . . . . 575

3. Rezeption und Wirkung der Theologie Tolstojs

Georgij Orechanov: Russische Orthodoxe Kirche . . . . . . . . . 585Regula Zwahlen: Russische Religionsphilosophie . . . . . . . . . 594Martin Tamcke: Protestantische Theologie . . . . . . . . . . . . . 608Ulrich Schmid: Katholizismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 620Olga Caspers: Marxismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 628Christian Münch: Religiöser Sozialismus in der Schweiz . . . . . 638Robert Hodel: Ludwig Wittgenstein . . . . . . . . . . . . . . . . . 653Rainer Grübel: Existenzialismus (Sestov, Heidegger, Camus,

Sartre) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 668

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Inhalt 7

Ludger Udolph: Mahatma Gandhi . . . . . . . . . . . . . . . . 683Ilja Karenovics: Rudolf Steiner . . . . . . . . . . . . . . . . . . 692Sergei Zhuk: Die Stundisten in der Ukraine . . . . . . . . . . . . 707Andrew Donskov: Die Duchoborzen in Kanada . . . . . . . . . 719

Verzeichnis der theologischen und sozial-religiösen Schriften Tolstojs . 731

Bibliographie der deutschen Übersetzungen . . . . . . . . . . . . . . 735

Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 747

Stichwortregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 755

Werkregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 771

Die Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 773

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8 Inhalt

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Inhalt 9

Vorwort

Dieses Buch nahm seinen Anfang an einem sonnigen Frühlingstag des Jahres2007 im Innenhof der Unitobler – der zu einem Institutsgebäude der Uni-versität Bern umgebauten Schokoladenfabrik der »Toblerone«. Damalstrafen sich Christian Münch und Ulrich Schmid und sinnierten über denverkannten späten Tolstoj, den sich viele Leser bis heute als Moralpredigerohne philosophischen Tiefgang vorstellen. Der hundertste Todestag Tolstojsam 20. November 2010 hat die Relevanz dieses Autors noch einmal deutlichgemacht – aber auch dieses Jubiläum hat sich vornehmlich mit dem Roman-cier beschäftigt und den Denker, Pazifisten und Theologen weitgehend aus-geblendet. Der vorliegende Band will diesen »anderen Tolstoj« neu beur-teilen und kritisch würdigen.

Die Publikation besteht aus zwei unterschiedlichen Teilen: einem Quel-lenteil mit ausgewählten theologischen Texten Tolstojs in neuer, teilweiseerstmaliger deutscher Übersetzung und einem Aufsatzteil mit Beiträgenüber »Tolstojs Theologie«, ihren ideengeschichtlichen Kontext und Einfluss.Die Übersetzung der Primärtexte im ersten Teil besorgten Olga Radetzkaja(f 37–173) und Dorothea Trottenberg (f 174–318), während die Beiträgedes zweiten Teils von zwanzig Fachleuten aus Theologie, Slavistik und Phi-losophie verfasst und mehrheitlich an einer Tagung in Fischingen (Schweiz)vom 25. bis 27. August 2009 präsentiert wurden. Allen Beiträgerinnen undBeiträgern sei an dieser Stelle herzlich gedankt.

Die Kosten für Projekt und Tagung hat der Schweizerische Nationalfondsgetragen, dem wir hier unseren großen Dank aussprechen. Die Übersetze-rinnen ihrerseits danken dem Deutschen Übersetzerfonds (DFÜ) für dieUnterstützung durch ein Arbeitsstipendium. Der Burgergemeinde Bern unddem Fonds für ökumenische und historische Theologie der Fontes-Stiftung(Bern) verdanken wir Druckkostenzuschüsse.

Ein weiterer Dank geht an Sonja Geninazzi, Andrea Meier und MichaelReinhard für die organisatorisch-technische Unterstützung sowie für die Mit-arbeit bei der Übersetzung der Beiträge von Radha Balasubramanian, SergeiZhuk und Andrew Donskov. Ebenfalls danken wir Daniel Riniker für die re-daktionelle Hilfe in der Endphase des Projektes. Daniel Riniker hat die Einlei-tungen und die meisten Anmerkungen zu Tolstojs Texten verfasst, den Beitragvon Pål Kolstø aus dem Englischen übersetzt und sich als Co-Übersetzer derBeiträge von Radha Balasubramanian, Georgij Orechanov und Andrew Dons-kov betätigt. Ein letzter Dank gehört dem Verlag Vandenhoeck & Ruprechtfür die große Geduld und das Verständnis bei der Erstellung dieses Bandes.

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10 Vorwort

Texte und Zitate Tolstojs werden nach der neunzigbändigen sowjetischenGesamtausgabe (Polnoe sobranie socinenij = PSS) übersetzt, Verweise erfol-gen mit entsprechender Bandnummer und Seitenzahl (PSS Bd.: S.). Quer-verweise innerhalb der vorliegenden Publikation, vor allem Verweise aufTextstellen im ersten Teil, sind mit Pfeil (f) und Seitenzahl angegeben.

Die Wiedergabe von russischen Wörtern, Eigennamen und Werktitelnfolgt der philologisch-wissenschaftlichen Transkription, die Datierung vonEreignissen aus Tolstojs Leben dem julianischen Kalender.

Die Herausgeber

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Problematik und Forschungsstand 11

Einleitung

Problematik und Forschungsstand

Lev Tolstoj (1828–1910) gilt heute unbestritten als einer der bedeutendstenSchriftsteller der Weltliteratur. Dass der Autor von Krieg und Frieden(1864–68) und Anna Karenina (1875–77) vor allem in den letzten drei Jahr-zehnten seines Lebens zahlreiche theologische und kirchenkritische Schrif-ten verfasste, die breit rezipiert wurden, geriet gegenüber der alles überra-genden Wirkung der literarischen Texte schnell in den Hintergrund. Und wodoch beide Hauptlinien des Werks in Betrachtung gezogen wurden, wurdedem Schriftsteller gegenüber der Theologe und Kirchenkritiker meist radi-kal abgewertet. Diese weithin etablierte Rezeptionspraxis verkennt aller-dings, dass Kunst und Moral, Narration und Predigt bei Tolstoj stets Hand inHand gehen.

Es ist ebenfalls irreführend, von einer radikalen Wende zu sprechen, dieTolstoj nach der Lebenskrise der 1870er Jahre vollzogen habe. Zwar unter-scheidet er in seiner autobiografischen Beichte (1879–82) deutlich ein »Vor-her« von einem »Nachher«, allerdings dient dieser rhetorisch komplexe Textim Wesentlichen der Selbstüberzeugung: Tolstoj insistiert immer wieder da-rauf, dass er das »falsche Schreiben« erst im Moment der Einsicht in die re-ligiöse Wahrheit durch das »richtige Leben« ersetzt habe. Tatsächlich aberziehen sich Krisenperioden und Konversionsmomente seit den ersten Tage-buchaufzeichnungen aus dem Jahr 1847 durch seine Selbstbeobachtungenwie durch sein ganzes literarisches Werk hindurch. Auch die Religion spielteschon früh eine eminente Rolle in Tolstojs Leben. Bereits 1855 findet sich einTagebucheintrag, in dem er darüber nachdenkt, eine neue Religion zu grün-den, und zwar eine »Religion Christi, aber befreit von Glauben und Geheim-nis, eine praktische Religion, die nicht zukünftige Glückseligkeit verspricht,sondern Glückseligkeit auf Erden schenkt«.1 In so gut wie jedem seiner er-zählerischen Werke finden sich lebensphilosophische Passagen, die einedeutliche religiöse Dimension aufweisen.

Mit seiner späteren Diagnose bagatellisiert Tolstoj das aufrichtige Strebennach moralischer Selbstdisziplinierung, das ihn bereits als jungen Mann an-getrieben hatte. Gleichzeitig behandelt er die im Zeichen religiösen Sen-dungsbewusstseins verfassten Werke seiner späten Jahre, wie etwa die Erzäh-lungen Die Kreutzersonate oder Hadzi Murat, als Nebenprodukte seinereigentlichen religiösen Mission und verwendet auf ihre Publikation deutlichweniger Energie als auf die Verbreitung seiner Traktate oder die Erledigung

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12 Einleitung

seiner umfangreichen Korrespondenz. Und wenn der späte Tolstoj sich dochder Literatur widmete, so vor allem in provokatorischer Absicht. Der RomanAuferstehung (1899) markiert einen Höhepunkt in seinem Kampf gegen allestaatlichen und gesellschaftlichen Institutionen. Tolstoj beschreibt hier ingrotesker Verfremdung einen orthodoxen Gottesdienst.2 Die Reaktion derKirche war scharf: 1901 stellte der Heilige Synod, das oberste Entscheidungs-organ der Russischen Orthodoxen Kirche, den Abfall Tolstojs von der Kirchefest. Einige Geistliche identifizierten Tolstoj gar als Antichrist. Der 1990 hei-lig gesprochene Priester Ioann von Kronstadt sah in ihm den »größten Kom-plizen des Teufels« und den »berüchtigsten Gegner Christi«.3 Aber auchTolstoj war in seiner Wortwahl nicht zimperlich. Ein gut meinender Priestersuchte am 4. Januar 1908 den Grafen auf seinem Landgut Jasnaja Poljana aufund erklärte ihm, dass die orthodoxen Rituale wie eine Eierschale seien.Wenn man die Schale zu früh zerstöre, dann könne das Küken nicht schlüp-fen. Tolstoj erklärte später gegenüber seinem Sekretär Nikolaj Gusev: »Ichsagte ihm, dass die Schale der Körper, das Küken der Geist sei, eure Lehreaber der Mist auf der Schale. Er war sehr beleidigt. Ich hatte es sogar schärferausgedrückt, nicht mit M, sondern mit Sch.«4

Tolstojs theologische Traktate, die vor dem Ersten Weltkrieg für weltweitesAufsehen sorgten, sind heute weitgehend vergessen und werden auch von derForschung kaum beachtet. Dieses Defizit ist in Russland und im Westen aufunterschiedliche Gründe zurückzuführen.

In Russland wurden Tolstojs theologische Entwürfe hauptsächlich bis zurOktoberrevolution, im Westen bis zum Zweiten Weltkrieg rege diskutiert.Die Religionsphilosophen Vasilij Rozanov, Lev Sestov, Dmitrij Merezkovskij,Semen Frank, Evgenij Trubeckoj, Sergej Bulgakov, Nikolaj Losskij, NikolajBerdjaev, Vasilij Zen’kovskij, Fedor Stepun und Ivan Il’in beurteilten Tolstojstheologisches Denken überwiegend kritisch bis ablehnend.5 Als repräsenta-tiv für diese Rezeptionslinie darf der Moskauer Sammelband O religii L’vaTolstogo (Über die Religion Lev Tolstojs) aus dem Jahr 1912 gelten, in demvier Positionen vertreten werden: Der geniale Künstler sei erstens ein flacherDenker,6 zweitens stelle er sich außerhalb des Christentums,7 drittens ver-trete er einen Pantheismus8 und viertens predige er einen zerstörerischenRationalismus.9

Eine neuere nennenswerte Schrift über Tolstojs Theologie, die von einemrussischen Theologen verfasst wurde und einen breiten Leserkreis erreichte,stammt vom Priester und Dissidenten Aleksandr Men’. Sie trägt den Titel»Bogoslovie« L’va Tolstogo i christianstvo (Die »Theologie« Lev Tolstojs unddas Christentum).10 Men’ knüpft darin an Bulgakov und Berdjaev an undgibt vorwiegend deren Ansichten wieder, die in der Sowjetunion der 1980erJahre weitgehend vergessen waren. Seine Abhandlung, die seit der Pere-

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Problematik und Forschungsstand 13

strojka mehrmals gedruckt wurde, hat v.a. zum Ziel, den »anderen Tolstoj« –den Theologen und Religionsphilosophen – wieder ins Gespräch zu brin-gen. In gebotener Loyalität zur Orthodoxen Kirche hat Men’ jedoch mancheVorurteile aus der vorrevolutionären Zeit übernommen.

Die religionspolitische Wende des Jahres 1988 mit der aufwändigen Jahr-tausendfeier der Christianisierung Russlands bahnte auch den Weg für eineneue Beschäftigung mit Tolstojs Theologie. So stellte der Philosoph Vladi-mir Nazarov11 1991 in seinem Aufsatz Metafory neponimanija. L.N. Tolstoj iRusskaja Cerkov’ v sovremennom mire (Metaphern des Unverständnisses. L.N.Tolstoj und die Russische Kirche in der modernen Welt) fest, dass »die pole-mische Auseinandersetzung Tolstojs mit dem kirchlich-christlichen Ge-dankengut nicht auf eine Verwerfung, Entstellung, Verneinung der funda-mentalen Glaubensgrundlagen hinauslief, sondern auf eine hermeneutischeMethode«. Folgerichtig konfrontierte Nazarov die Kirche mit der Frage, »obes nicht Zeit sei, Tolstoj zu verstehen und aufzunehmen als einen großen rus-sischen Christen, der in seiner Lehre über das Gesetz der Liebe, über die Ge-waltlosigkeit auch angesichts des Bösen die unerschöpflichen humanistischenMöglichkeiten der russischen Orthodoxie ausgedrückt hat?«12 Diese Fragewurde in den 1990er Jahren wiederholt gestellt,13 auch im Rahmen einer 1996publizierten Vortragsreihe Tolstoj i religija (Tolstoj und die Religion) der Mos-kauer Tolstoj-Gesellschaft.14 Allerdings zog die Kirche 2001 einen vorläufi-gen Schlussstrich unter diese Diskussion und bestätigte Tolstojs Exkommu-nikation: Der »geniale Schriftsteller« habe neben Meisterwerken wie Kriegund Frieden auch »antichristliche Werke« verfasst.15 Vor diesem Hintergrundist eine unvoreingenommene Auseinandersetzung mit Tolstojs theologi-schen Schriften an Russlands Geistlichen Akademien bis auf weiteres nichtzu erwarten.

Selbst Nazarov modifizierte daraufhin seine Ansichten und vertrat späterin einem kirchlichen Interview die These von der SelbstexkommunikationTolstojs. Gleichzeitig plädierte er jedoch (in freier Anlehnung an Bultmann)dafür, Tolstoj als einen »existenzialen Theologen« ernst zu nehmen: DennTolstoj könne durchaus als Theologe bezeichnet werden, insofern die Suchenach Gott den Nerv seines gesamten Schaffens und spirituellen Suchensbilde. »In diesem Fall ist sein Gottsuchertum«, so Nazarov, »eine besondereArt der Theologie« – eine »existenziale Theologie, da Tolstoj vom Leben aus-geht; allerdings liegt zwischen der existenzialen Theologie, zumal protestan-tischer Ausprägung, und dem orthodoxen christlichen theologischen Denkeneine gewaltige Distanz.«16 Damit reanimiert Nazarov die alte These von Tol-stojs (Krypto-)Protestantismus.17 Neuerdings untersucht der Kirchenhistori-ker Georgij Orechanov die Wechselwirkung zwischen der zeitgenössischenorthodoxen Theologie und Tolstojs theologischen Schriften. Auch er stelltsich aber auf den Standpunkt, Tolstoj sei zu Recht exkommuniziert worden.18

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14 Einleitung

Im Westen zeigt sich ein anderes Bild. Tolstojs theologische Schriften wur-den zunächst von einem breiteren Publikum als in Russland diskutiert.19

Nach dem Zweiten Weltkrieg nahm das Interesse jedoch merklich ab. Dieverheerende Erfahrung des Nationalsozialismus schienen Tolstojs aufkläre-risch-idealistisches Menschenbild und insbesondere sein Gebot, dem Bösennicht mit Gewalt zu widerstehen, widerlegt zu haben. Tolstojs vermeintli-cher Vernunftglaube, sein religiöser Anarchismus und seine Vision eines im-manenten Gottesreiches wurden zunehmend als Irrtum oder Schwärmereiabgetan.20 Ähnlich wie in Russland unterschied man fortan den »genialenKünstler« vom »flachen Denker«. Wenn Johannes von Guenther 1964 in sei-nem Buch Die Literatur Russlands schrieb, dass Tolstoj »bis zu einem primi-tiven Christentum für Primitive abgeglitten« sei,21 so gab er eine verbreiteteMeinung wieder.

Tolstojs theologische Schriften stießen besonders bei deutschsprachigenevangelischen Theologen auf Interesse.22 Freilich neigten diese dazu, den pa-zifistischen Grafen im Rahmen der eigenen Theologie zu instrumentalisie-ren, sei es als leuchtendes oder fragwürdiges Beispiel. An den evangelisch-theologischen Fakultäten stand Tolstoj nicht so sehr als Religionsphilosophim Blickpunkt des Interesses als vielmehr in seiner Eigenschaft als Bibelin-terpret.23 Auch sein Verhältnis zum Protestantismus wurde mehrfach unter-sucht.24 Im Gegensatz zu protestantischen Autoren zeigte die römisch-ka-tholische Theologie bislang wenig Interesse an Tolstoj, vermutlich vor allemaufgrund tief greifender Unterschiede im Verständnis der Kirche.25

Untersuchungen zu Tolstojs Religion kommen seit einigen Jahren vor al-lem aus der Literaturwissenschaft.26 Hervorgehoben seien hier die Publika-tionen der amerikanischen Slavisten David Matual und Richard Gustafson27

sowie die Dissertation des französischen Slavisten Nicolas Weisbein, L’évolu-tion religieuse de Tolstoï (Paris 1960). Letztere bietet anhand von Tolstojsdichterischen und theologischen Schriften eine umfassende Darstellung sei-ner religiösen Biografie.28 Theologische Fragen werden außerdem von dernorwegischen Russistik untersucht29 und in Publikationen über »Tolstoj undGandhi« gestreift.30 In philosophischen Fachzeitschriften werden vereinzeltThemen wie »Tolstoj und Wittgenstein«, »Tolstoj und Schopenhauer« be-leuchtet.31 2008 legte die amerikanische Slavistin Inessa Medzhibovskayaeine Studie vor, in der sie die Entwicklungsgeschichte von Tolstojs philoso-phisch-religiösem Projekt im Kontext religionsgeschichtlicher und philoso-phisch-literarischer Strömungen und Entwicklungen der Epoche untersucht.32

Schließlich hat das Jubiläumsjahr 2010 das Interesse am theologischen undphilosophischen Denken Tolstojs neu belebt: Martin Tamcke legt eine »spi-rituelle Biographie« Tolstojs vor,33 Jan Rohls würdigt Tolstoj als Propheteneines neuen Christentums34 und Holger Kuße untersucht aus linguistischerPerspektive Tolstojs »Sprache der Weisheit«.35

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Die vorliegende Publikation will vor allem den späten Tolstoj als ernstzu-nehmenden religiösen und theologischen Denker rehabilitieren. Aus derenormen Masse seiner Traktate, Briefe und literarischen Werke mit theolo-gischer Relevanz haben die Herausgeber jene Texte ausgewählt, die TolstojsPosition am deutlichsten wiedergeben. Die vorgestellten Quellen sollennicht nur die Spannbreite von Tolstojs Interessen erkennbar machen, son-dern auch einen Einblick in die narrative und rhetorische Aufbereitung sei-ner religiösen Suche bieten. Anschließend wird in einzelnen analytischenBeiträgen Tolstojs intensive Auseinandersetzung mit religiös-philosophi-schen und konfessionellen Fragen dargestellt. Auch hier zeigt sich, wie enzy-klopädisch Tolstojs Lektüre war und wie intensiv er sich mit fremden Ge-dankenentwürfen auseinandersetzte.

Schließlich wird Tolstojs Rezeption in der Ideengeschichte des 20. Jahr-hunderts skizziert. Seine Entwürfe wurden von so unterschiedlichen Per-sönlichkeiten wie Ludwig Wittgenstein, Rudolf Steiner oder Mahatma Gan-dhi diskutiert. Sie haben auch heute nichts von ihrer Brisanz verloren.Gerade die Erfahrungen des noch jungen 21. Jahrhunderts zeigen, wie blutigdie Trennlinien zwischen den Religionen sein können und wie sinnlos alleVersuche einer militärischen Eindämmung religiöser Konflikte ausfallen.

Tolstoj als theologischer Denker?

Tolstojs theologisches Denken ist nie gebührend gewürdigt worden undstellt nach wie vor eine Herausforderung dar. Zwar liegen zu Teilaspektenverdienstvolle größere Untersuchungen vor, doch präsentieren sie großen-teils unbefriedigende Forschungsergebnisse, die widersprüchlicher nichtsein könnten: So gilt Tolstoj bald als Nichtchrist, bald als Urchrist, bald alsPantheist, bald als judaistischer Monotheist, bald als Quasi-Buddhist, baldals Protestant, bald als Rationalist, bald als Mystiker, bald als Nihilist, bald alsMaximalist, bald als Idealist, bald als Realist, bald als Genie, bald als Dilet-tant, bald als finsterer Asket, bald als Freigeist und Aufklärer. Solch bunte Be-funde spiegeln vor allem die Volatilität von Tolstojs Denken und zeigen, dasssich seine Ansichten nicht in ein theologisches oder ethisch-religiöses Sys-tem pressen lassen. Allen synkretistischen Zügen zum Trotz sind die theolo-gischen Entwürfe Tolstojs durchaus originell, und sie verlangen nach ande-ren als den bisher gewählten Herangehensweisen.

Aber handelt es sich wirklich um dezidiert theologische Entwürfe odereher um nicht genauer zu qualifizierende religiöse Schriften? Die Heraus-geber sprechen bewusst von Tolstojs theologischen Schriften und theolo-gischen Traktaten aus den letzten drei Jahrzehnten seines Schaffens und

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16 Einleitung

gebrauchen dabei die Begriffe Theologie und theologisch nicht mit Anfüh-rungszeichen im uneigentlichen Sinn wie manche russische Autoren.36 Dasbedarf der Begründung.

Tolstojs Traktate, die teils biblisch-exegetische, teils kirchlich-dogmati-sche, teils religiös-philosophische, teils sozial-ethische Fragen behandeln,sind hinsichtlich ihrer Gattung und Fachrichtung schwer unter einen Nen-ner zu bringen. Oft werden sie unter den Sammelbezeichnungen religions-und gesellschaftskritische Schriften, religiös-ethische oder religiös-philosophi-sche Werke zusammengefasst. Wir bezeichnen sie generell als theologischeTraktate oder Werke, nicht nur weil sich darunter Schriften zur Bibelexegeseund zur dogmatischen Theologie befinden, sondern weil sie fast alle (die so-zialkritischen Flugschriften eingeschlossen) theologische Implikationenaufweisen.

Nicht selten werden Tolstojs Entwürfe zu Kirche und Religion – entspre-chend der orthodoxen und römisch-katholischen Terminologie – der Laien-theologie zugeordnet (oder, um den kirchlich konnotierten Begriff der Theo-logie zu vermeiden, der Religionsphilosophie). Diese Zuordnung ist insofernzutreffend, als es sich hier weder um theologische Entwürfe eines akade-misch geschulten oder positionierten Theologen handelt noch um die einesKlerikers. Da der Begriff Laientheologie aber auch im Rahmen eines Dualis-mus Klerus – Laien gebraucht wird, der in der theologischen Lehre von derKirche, der Ekklesiologie, umstrittenen ist und zudem oft einen pejorativenBeiklang hat, wird er von den Herausgebern im vorliegenden Zusammen-hang vermieden. Dies umso mehr, als Tolstoj nicht einer Kirche angehörenwollte, die sich in Klerus und Laien gliedert, und zumal er sich selbst wederim ekklesiologischen Sinne als Laie verstanden hat, der einem Klerus in sei-nem theologischen Schaffen Rechenschaft schuldig wäre, noch als theologi-scher Laie im Sinne eines Amateurs ohne theologische Bildung. Tolstojs re-ligiöse Schriften werden stattdessen in dieser Publikation als Niederschlagseines theologischen Denkens bezeichnet, und zwar im Sinne einer Theologie,die als intuitive, analytische oder künstlerische Auseinandersetzung mit denQuellen und der Praxis des religiösen, namentlich des christlichen Glaubensaußerhalb kirchlicher Bekenntnisgebundenheit steht, aber selbst aus derPraxis namentlich des christlichen Glaubens kommt und zu ihr führen will.

Dieser weite Theologiebegriff bedarf der Erläuterung, da er für die abend-ländische Denktradition ungewöhnlich ist. Christliche Theologie hat sichbis ins hohe Mittelalter nicht, und seitdem in weiten Teilen nicht in erster Li-nie als akademische Disziplin verstanden. Entstanden ist sie in den erstenJahrhunderten der Alten Kirche als intuitives und kritisches Verstehen dergöttlichen Offenbarung in Jesus Christus. Dieses Verstehen setzt den glau-benden und persönlich betroffenen Umgang mit der Offenbarung vorausund hat zum Ziel, mittels denkerischer Anstrengung den christlichen Glau-

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ben zu erfassen und zu vertiefen und, wo im Streit der Meinungen nötig, zukorrigieren. Im engeren Sinn bezeichnete Theologie in der Alten Kirche dieLehre von Gott im Unterschied zur Lehre vom Menschen, der geschaffenenWelt usw. Alle diese altkirchlichen Konnotationen von Theologie treffen aufdas Denken und die Schriften Tolstojs zu, auch auf seinen sehr innovativen,ja, revolutionären Umgang mit der Bibel als dem schriftlichen Zeugnis dergöttlichen Offenbarung in Christus.

Darüber hinaus wird man Tolstoj gerade aus dem traditionellen Theolo-gieverständnis der östlichen Orthodoxie heraus als Theologen bezeichnendürfen. Folgende Eckpunkte orthodoxen Verständnisses christlicher Theo-logie kann man auch für Tolstojs Denken geltend machen:

1. In orthodoxer Theologie haben Glaubenssätze (Dogmen) nicht die allesüberragende Hauptrolle. Orthodoxe Theologie definiert sich als Akt desGotteslobes – wie der orthodoxe Gottesdienst, die Liturgie.

2. In der orthodoxen Theologie hat die negative Theologie eine lange Tradi-tion, welche die Undefinierbarkeit und Unaussagbarkeit Gottes zu seinenWesenseigenschaften zählt und ein Gegengewicht zu den positiven dog-matischen Aussagen über Gott bildet.

3. Die persönliche Gotteserfahrung des Einzelnen – allerdings immer imkirchlichen Rahmen erfolgend – ist in der orthodoxen Theologie Grund-lage seiner Aussagen über Gott.

4. Theologie ist zuerst eine spirituelle, erst dann eine akademische Diszip-lin. Besonders als monastische Theologie, die einen Großteil orthodoxerTheologie ausmacht, hat sie eine mystische Komponente. Dort wirdTheologie teilweise als Bezeichnung für die intuitive und unmittelbareGotteserkenntnis nach längerer Kontemplation verwendet.37

5. Theologie als kirchlich eingebundene Disziplin hat den Anspruch, dasalltägliche Leben derer, die vom theologischen Denken erreicht werden,effektiv zu prägen. Sie ist von daher stets praktische Theologie.

6. Christliche Theologie in diesem umfassenden Sinn einer persönlichenLebensdisziplin soll nach einer speziellen Tradition der östlichen Ortho-doxie zur allmählichen Vergöttlichung des Menschen, der sie betreibt,führen, d.h. den Menschen immer vollkommener in der Befolgung derGebote Christi machen und ihn seinem ewigen Heil näher bringen.

Diese Charakteristika eines spezifisch orthodoxen Theologieverständnissessind in der einen oder anderen Form bei Tolstoj wieder zu finden, wie dieeinzelnen Artikel im zweiten Teil dieses Buches zeigen. Andererseits gibt eswichtige Aspekte orthodoxer Theologie, die Tolstoj strikt abgelehnt hat, vorallem die Gebundenheit der Auslegung der Bibel an die apostolische kirch-liche Tradition und deren Überwachung durch orthodoxe Bischöfe als Hü-

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ter der apostolischen Tradition sowie die Beachtung der kirchlichen Tradi-tion in Liturgie und Frömmigkeit als weiterer Quelle des theologischenDenkens. Aber seine Frontstellung gegen die kirchlich gebundene Theologieund diejenige der Theologischen Akademien der Russischen OrthodoxenKirche seiner Zeit im Besonderen darf nicht die breite Einbindung seinestheologischen Denkens in die Muster altkirchlicher und östlich-orthodoxerTheologie in den Hintergrund rücken.

Dem entspricht, dass gerade russische Denker, welche die genannten geis-tesgeschichtlichen Zusammenhänge kennen, nämlich Religionsphilosophenwie Sergej Bulgakov, Lev Sestov, Vladimir Ern, Michail Novoselov, VasilijRozanov und Fedor Stepun von Tolstojs »theologischen Werken« (bogoslovs-kie socinenija resp. bogoslovskie trudy) bzw. seiner »Theologie« (bogoslovie)sprechen.38

Die Inhalte der Theologie Tolstojs, die zur öffentlichen Feststellung seinesAbfalls vom orthodoxen Glauben durch den Heiligen Synod der RussischenOrthodoxen Kirche führten, sprechen nicht gegen die Charakterisierung sei-nes Denkens über Gott, die Kirche und die Welt als theologisches Denken.Sie sind zwar in der Tat nach traditionellen Maßstäben unorthodox und inhöchstem Maße revolutionär für sein orthodoxes Umfeld. Jedoch ist Kir-chenkritik auch in der theologischen Tradition der Orthodoxie ureigensteSache der Theologie, und das Gleiche gilt für Kritik am Gottesbegriff theolo-gischer Schulen. Nur in ihrer Radikalität, in ihrem Umfang, in ihrer Schroff-heit und Unversöhnlichkeit ist Tolstojs Kirchen- und Theologiekritik für dieOrthodoxie ungewöhnlich, die Tatsache fundamentaler Kritik als solche istes nicht.

Insofern ist es keine abendländisch-protestantische Verengung der Per-spektive, wenn wir Tolstoj als theologischen Autor betrachten und untersu-chen.

Genres der narrativen Theologie

Tolstoj gilt in erster Linie als Epiker. Er hat in seiner Jugend aber auch epigo-nal-romantische Gedichte verfasst; außerdem ist er Autor einiger bekannterTheaterstücke. Für die Präsentation seines religiösen Programms hat Tolstojalle Genreregister gezogen, die ihm zur Verfügung standen. Auffällig ist diehohe Rekurrenz persönlich adressierter Textsorten: Appell, Brief, Send-schreiben. Gerade die hohe Sorgfalt, mit der er die auf ihn einbrechende im-mense Korrespondenz bewältigte, zeugt von der Wichtigkeit der persönli-chen Kommunikation in seinem Selbstverständnis. Er beantwortete vieleBriefe persönlich, bisweilen mit erstaunlicher Ausführlichkeit. Mit besonde-

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rer Aufmerksamkeit bedachte er Zuschriften von ausländischen Korrespon-denten, die sich für seine religiösen Ideen interessierten. In der Hoffnung,seinem Programm weltweit Nachachtung zu verschaffen, wiederholte er un-ermüdlich seine zentralen Glaubenspunkte: Das Leben ist Gott, Gott ist imMenschen, das Böse darf nicht mit Gewalt bekämpft werden, staatliche, ge-sellschaftliche und kirchliche Institutionen bringen nur Betrug und Verbre-chen hervor, persönliches Eigentum führt zu Habgier und Egoismus.

Als Ziel schwebte Tolstoj die brüderliche Vereinigung der Menschheit imZeichen dieser Ideale vor. Deshalb verhielt er sich auch äußerst skeptisch ge-genüber den Tolstojanern, weil sie in seinen Augen der religiösen Zersplit-terung nur weiter Vorschub leisteten, indem sie sich zu einer neuen Sekteformierten.39 Tolstoj handelte nur konsequent, wenn er der privaten Korres-pondenz mit einzelnen Personen den Vorzug vor der Organisation einerneuen konfessionellen Gruppierung gab.

Die Funktion des religiösen Briefes veränderte sich indes über die Jahre.Die frühe Korrespondenz mit der Tante Alexandrine diente vor allem derSelbstreflexion über religiöse Dinge. Tolstoj dozierte hier noch nicht,sondern erklärte seiner Vertrauten die theologischen Dilemmata, die ihnumtrieben. Auch in den ausgedehnten Briefwechseln mit den Freunden Afa-nasij Fet und Nikolaj Strachov in den krisenhaften 1870er Jahren experi-mentierte er mit einer lebensphilosophischen Argumentation und entwarfdiskursive Versatzstücke, die später in seine programmatischen Texte Ein-gang fanden.40 Eine Wende bringt die Beichte, die eigentlich dem Genre desoffenen Briefs zugerechnet werden muss. Der theologische Gehalt diesesWerks ist letztlich zweitrangig. Tolstoj bündelt hier eigentlich nur jene reli-giösen Gedanken, die er bereits seit seiner Jugend entwickelt hat.41 Viel wich-tiger ist die Beichte als Sprechakt, in dem Tolstoj seine eigene Umkehr alsVorbild für die Leser darstellt.42

Die meisten Briefe, die Tolstoj nach der Beichte geschrieben hat, folgendemselben rhetorischen Muster, das gewissermaßen das Ideal einer religiö-sen Vereinigung der Menschen im Rahmen herrschaftsfreier Kommunika-tion vorwegnimmt. Tolstoj dankt dem Korrespondenten für seine Zuschriftund erklärt ihn so zu einem gleichwertigen Autor. Dann leitet er zu einemBescheidenheitstopos über und vermittelt dem Briefpartner, den Eindruck,auf einer Ebene mit ihm zu stehen. Dieser Mechanismus funktioniert nichtnur nach unten, vom berühmten Grafen zum Ratsuchenden, sondern auchnach oben, zum Monarchen. So schreibt Tolstoj am 8. März 1881 an Alexan-der III.: »Ich werde nicht in dem Ton schreiben, in dem man gewöhnlich anHerrscher schreibt, in jenem unterwürfigen und heuchlerischen gedrechsel-ten Stil, der Gefühle wie Gedanken nur verschleiert. Ich will einfach schrei-ben, von Mensch zu Mensch. Mein wahres Gefühl der Achtung für Sie, alsMensch wie als Zar, wird ohne solche Ausschmückungen deutlicher sichtbar

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werden«.43 Im Hauptteil seiner Briefe erklärt Tolstoj in der Regel noch ein-mal geduldig diesen oder jenen Punkt seiner religiösen Überzeugungen. DenAbschluss bietet eine unzeremonielle Grußformel, durch die er seine Ver-bundenheit mit dem Adressaten zum Ausdruck bringt. Jeder einzelne Brief-schreiber war für Tolstoj ein kleiner Beweis der Wirkmächtigkeit seiner An-schauungen, und deshalb scheute er keine Mühe, diese potentiellenMultiplikatoren zu unterstützen.

Welchen immensen Aufwand Tolstoj in den letzten drei Jahrzehnten sei-nes Lebens mit der persönlichen Korrespondenz trieb, wird nur schon anderen schierem Umfang deutlich: In der 90-bändigen Gesamtausgabe findendie Briefe der Jahre 1844–1879 in vier Bänden Platz, während die Schreibender folgenden Jahre 26 Bände füllen.

Ergänzt wurde diese epistolarische Schwerstarbeit durch ein publizisti-sches Großprojekt, dem Tolstoj in seinem letzten Lebensjahrzehnt viel Zeitund Energie widmete. Er wollte seine Ideen mit Lesebüchern unter das Volkbringen. Dabei konnte er auf Erfahrungen aus seinen pädagogischen Expe-rimenten auf Jasnaja Poljana in den 1860er und 1870er Jahren zurückgrei-fen. Für seine Schule hatte er selbst Lesefibeln entworfen, denen er höchsteBedeutung beimaß.

Nach der Beichte richtete sich Tolstoj mit diesem Genre auch an Erwach-sene. Um nachzuweisen, dass Denker, Schriftsteller und Weise aller Kulturenund Epochen dasselbe wie er gepredigt hätten, stellte er Anthologien mit ei-genen und fremden Aphorismen und Prosastücken zusammen. Auf dieseWeise versuchte er, die wichtigsten Werke der religiösen Literatur zu einemeinheitlichen Text zu verbinden, der als eine Art Handbuch zum richtigenLeben dienen könnte. Dabei wurden die Aphorismen in einem Kalendernach Daten geordnet und dem Leser ein bestimmtes Tagespensum auferlegt(so in der Anthologie Für jeden Tag, 1907–1910).

Entsprechend seiner kunstkritischen Ästhetik bevorzugte der späte Tol-stoj eine formelhafte Darlegung der Wahrheit. Zwar hatte er mit seinenVolkserzählungen auf die Wirkung einer narrativen Theologie gesetzt, dochsah er in der künstlerischen Ausgestaltung von Glaubensinhalten auch dasRisiko einer Verfälschung. Einen religiösen Text, der nicht unmittelbar ver-ständlich war, befand er für ungültig. Sogar die Bibel erschien ihm verbesse-rungsbedürftig, weshalb er 1880/81 eine eigene Evangelienharmonie anfer-tigte. Tolstojs Anspruch lag darin, die biblische Wahrheit so zu präsentieren,dass sie unmittelbar, ohne weitere Interpretation von Priestern, Theologenoder Kirchenfürsten aufgenommen werden konnte. Besonders auffällig istdabei die volksnahe Lexik: Kirchenslavische Wörter werden konsequentdurch russische ersetzt.44 Damit wollte Tolstoj den Wirkungskreis seinerEvangelienharmonie so weit wie möglich ausdehnen und einem wenig ge-bildeten Publikum das Verständnis dieses Textes erleichtern.

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Genres der narrativen Theologie 21

In der Schrift Mein Glaube (1883/84) insistierte Tolstoj erneut auf der un-mittelbaren Verständlichkeit der religiösen Wahrheit, die gar keine theologi-sche Auslegung erfordere: »Nicht auslegen will ich Christi Lehre! Ich will nurerzählen, wie mir das, was in ihr einfach, klar und verständlich, unzweifelhaftund an alle Menschen gerichtet ist, klar wurde, und wie das, was mir klar ge-worden ist, meine Seele umgewandelt und mir Frieden und Glück gegebenhat. Nicht auslegen will ich Christi Lehre; nur eines möchte ich: verhindern,dass sie ausgelegt wird«.45 In diesem programmatischen Bekenntnis zeigtsich auch die innere Widersprüchlichkeit von Tolstojs Hermeneutik: Auf dereinen Seite ist er zuversichtlich, die Wahrheit des biblischen Textes durcheine Nacherzählung herauspräparieren zu können, auf der anderen Seiteglaubt er, dass bei dieser narrativen Reduktion auf das Verständliche keineAuslegung stattfinde. Die Legitimation für diese kühne Operation findetTolstoj in einer Apotheose des Verstehens. Nur ein verstandener Glaubens-inhalt kann auch wahr sein. Deshalb übersetzt er den berühmten Anfang desJohannesevangeliums ganz in seinem eigenen Sinne. Der »Logos« wird beiihm zum »Verständnis des Lebens«: »Im Allgrund und Allbeginn ward dasVerständnis des Lebens. Und das Verständnis des Lebens trat an GottesStelle. Das Verständnis des Lebens ist Gott«.46

An die Stelle der Autorität des biblischen Textes tritt das Wahrheitskrite-rium der Verständlichkeit. Dunkle, komplizierte Stellen müssen neu erzähltoder – besser noch – weggelassen werden. Insofern ist die narrative Theolo-gie für Tolstoj nur die zweitbeste Möglichkeit. Idealerweise müsste sich dieReligion in einigen formelhaften Merksätzen ausdrücken lassen. Eine litera-rische Präsentation der Religion ist nur dann zu rechtfertigen, wenn man dieMenschen nicht anders erreichen kann.

Für Tolstoj gab es keinen Zweifel, dass seine eigenen Zusammenfassungendes Evangeliums höher als der Originaltext standen. Den besonderen Zorndes Grafen zog der Evangelist Matthäus auf sich. Der Leibarzt Dusan Mako-vicky notierte am 22. Oktober 1910 Tolstojs vernichtendes Urteil über denstilistischen Ausdruck der Bergpredigt: »Viel Überflüssiges, mühsam zu le-sen. Noch schlechter geschrieben als Dostoevskij. In diesen vier Evangelienhat man weniger Unsinn gefunden als in den übrigen, und man hat sie zurHeiligen Schrift gemacht. Bemerkenswert ist der Götzendienst am wörtli-chen Ausdruck des Evangeliums.«47 Der Vergleich der Bergpredigt mit Dos-toevskij wird noch deutlicher, wenn man Tolstojs Kritik am Autor von Ver-brechen und Strafe kennt. Tolstoj bemängelte in einem Gespräch mitAleksandr Cinger, dass »Dostoevskij nie schreiben konnte, weil er immer zuviele Gedanken hatte, er musste zuviel sagen.«48 Genau dasselbe trifft ausTolstojs Sicht auch auf das Evangelium und die Bergpredigt im Besonderenzu. Der Sinn des gesamten Matthäus-Evangeliums lässt sich für Tolstoj aufden Vers Mt 5,39 reduzieren: »Widerstehe dem Bösen nicht mit Gewalt«.

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22 Einleitung

Wie Tolstoj in Mein Glaube ausführt, setzte sein Verständnis der Religionerst ein, als ihm dieser Satz in seiner ganzen Bedeutung klar wurde. Hinder-lich für das Verständnis war in Tolstojs Umkehrschluss also das gesamteWortgeklingel, das den so einfachen Sinn dieses einen Satzes übertönte.

Tolstojs narrative Theologie beschreibt einen Bogen, der von der monu-mentalen Explikation seiner religiösen Ansichten im Levin-Handlungs-strang von Anna Karenina über den autobiografischen Großbrief der Beichtezu den parabelhaften Erzählungen der Leseanthologien und der eigenwilli-gen Zusammenfassung der Evangelien reicht. Tolstoj reduzierte nicht nurden Umfang, sondern auch die Komplexität seiner religiösen Erzählungenimmer weiter, bis er bei der Zusammenstellung einzelner Maximen undSpruchweisheiten anlangte.

Argumentationsstil und Denkfiguren

Die Sprache, die Argumentationsweise und die Erzählverfahren der Briefe,der theologischen Traktate und publizistischen Interventionen Tolstojs un-terscheiden sich nicht wesentlich von den im engeren Sinne literarischen Tex-ten. Die Abspaltung des »Moralisten« vom »großen Erzähler«, die Tolstojselbst mit seiner in der Beichte öffentlich zelebrierten Konversion und der ra-dikalen Absage an jegliche Elitenkultur in Was ist Kunst? festgeschrieben hatteund der die kritische Rezeption so dankbar Folge leisten sollte, ist nur auchschon deshalb kaum zu halten, weil sein literarisches Schreiben durchgängigvon einem machtvollen moralischen Impuls regiert wird. Schon in den Kau-kasus- und Sevastopol’-Erzählungen der 1850er Jahre finden sich ausführli-che Überlegungen zu Fragen von Moral und Politik, genauso wie Apostro-phen an Gott als höchste, allwissende Instanz des moralischen Urteils.49 Auchdie Schilderung der Figuren, ihrer Reflexionen und innersten seelischen Re-gungen weist stets einen moralischen Unterton auf: Es geht Tolstoj um dieOffenlegung der wirklichen Motive, um die »Wahrheit«, wie er am Ende vonSevastopol’ im Mai 1855 pathetisch formuliert. Diese Wahrheit ist für ihn im-mer das Unverstellte, Echte, Unmittelbare. Es ist eine spezifische Wahrheit,eine Wahrheit der Entlarvung, die den Menschen nur dort als authentischsieht, wo er vom Ballast der kulturellen Ordnung befreit ist. So befindet derErzähler im autobiografischen Roman Knabenalter (1854): »[…] [M]einerMeinung nach ist die Divergenz zwischen der Lage eines Menschen und sei-ner moralischen Tätigkeit das sicherste Zeichen der Wahrheit.«50

Das literarische Verfahren, das Tolstoj zur Offenlegung dieser »Wahrheit«verwendet, ist von dem berühmten russischen Literaturtheoretiker ViktorSklovskij als priem ostranenija (Verfahren der Verfremdung) beschrieben

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Argumentationsstil und Denkfiguren 23

worden.51 Tolstoj präsentiert scheinbar Bekanntes aus einer kritischen Per-spektive und erreicht bei seinem Leser eine »Deautomatisierung der Wahr-nehmung«. Dieses Verfahren liegt ebenso der Darstellung der Oper in Kriegund Frieden zugrunde wie der Analyse von Wagners Siegfried im Traktat Wasist Kunst?, ebenso der Schilderung des Gottesdienstes in Auferstehung wieder Analyse der Dogmen und Sakramente in der Untersuchung der dogmati-schen Theologie. Dabei ist dieses Verfahren bei Tolstoj, was Sklovskij nicht se-hen wollte, stets philosophisch-ideologisch motiviert: Es vollzieht sich durchdie imaginierte Mimesis des unverfälschten, klaren Blicks des rousseauschenhomme naturel – wie ihn Tolstoj in den Kindern und vor allem in den einfa-chen russischen Bauersleuten erkennen wollte – auf die menschliche Kulturund Zivilisation. Solcherart ihrer symbolischen Voraussetzungen enthoben,wirken die Rituale der Kultur und der Religion als sinnlose und lächerlicheSpektakel. Alle sorgfältigen »Manipulationen«, wie sie etwa der Priesterwährend des Gottesdienstes in Auferstehung vollzieht, versperren nur denBlick auf den eigentlichen Sinn – oder eben die Sinnlosigkeit – einer Hand-lung, eines kulturellen Phänomens, einer Institution.

In seinem Schreiben geht es Tolstoj um die Herstellung einer absolutenTransparenz der »Wahrheit«. In der polemischen Auseinandersetzung mitden fremden Texten und kulturell-zivilisatorischen Konfigurationen führtder Weg zur Wahrheit notwendig über die Entlarvung logischer Haltlosig-keiten und innerer Widersprüche. Wo er die eigene Position dagegensetzt,bemüht sich Tolstoj stets, einen direkten Durchblick auf die von ihm ver-tretene »Wahrheit« sicherzustellen. An erster Stelle steht hier die Beglaubi-gung durch Erfahrung, und dies kann, wo es um grundlegende Fragen desmenschlichen Lebens geht, immer zuerst nur die eigene Erfahrung sein. DasMuster einer induktiven Herleitung der Wahrheit aus den eigenen vortheo-retischen Beobachtungen und Empfindungen verbindet etwa die pädagogi-schen Artikel der selbst gegründeten Zeitschrift Jasnaja Poljana (1862/63)mit den Reflexionen zum Gottesbegriff in der Beichte.

Tolstoj bewegt sich in zwei verschiedenen Diskursen: auf der einen Seiteder Diskurs der Kultur und des herkömmlichen Schrifttums, in dem dieWahrheit verstellt ist und entlarvt werden muss, und auf der anderen Seitedie eigenen Schriften, die gemäß dem Anspruch ihres Autors den direktenZugriff auf die in ihnen formulierte Wahrheit erlauben.52

Der angestrebten absoluten Transparenz seiner »Wahrheit« hilft Tolstojmit einem reichen Arsenal an rhetorischen Mitteln nach. Ein charakteristi-sches Merkmal seines Stils sind die zu Steigerungsketten geformten Aufzäh-lungen. Oftmals bestehen diese aus einer Reihung von rhetorischen Fragen,die in ihrer offenen Adressierung die Dringlichkeit einer tua res agitur-Situa-tion provozieren. Die Steigerungsketten gipfeln vielfach in Hyperbeln, diebuchstäblich aus dem Paradigma der vorher genannten Elemente ausbre-

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chen und den eigentlichen Hauptgedanken vermitteln. Eine anaphorischeVerknüpfung der Satzperioden sorgt für Eingängigkeit und unterstreichtden didaktischen Anspruch der Texte. Dieser Stil der Dringlichkeit und Ent-larvung, angereichert mit Elementen des Sarkasmus, der Ironie und der Sa-tire, weicht, wo es um die Herausstellung der eigenen Wahrheit geht, in derRegel einer ruhigen, in einfachem Satzbau gehaltenen Rede. Der apodik-tische Tonfall signalisiert: Hier geht es um Wahrheiten, die keiner weite-ren Begründung bedürfen. Allenfalls werden zur Verdeutlichung einfacheparabelhafte Vergleichskonstellationen oder ein gewissermaßen katecheti-scher Wechsel aus Frage und Antwort eingeschaltet. Das natürliche Ziel dergenannten Tendenzen lässt sich dann etwa in den Sprüchesammlungen be-trachten, wo Tolstoj zwischen die zitierten Weisheiten der großen Philoso-phen und Religionsdenker eigene aphoristisch zugespitzte Lehrsätze ein-schaltet und dabei in der Formulierung einfachster Wahrheiten auch vorBanalitäten nicht zurückschreckt. Ein stilistisches Vorbild sind hier die Lehr-sätze und Gleichniserzählungen Jesu.

War in der Beichte wie auch in den epischen Großprojekten bis hin zuAuferstehung noch die Biografie das Maß für die Entwicklung eines exem-plarischen Läuterungsgeschehens, so fragmentarisiert der späte Tolstoj dieerzählerischen Sequenzen zunehmend: Nun sind es nur noch einzelne,punktuelle narrative Konstellationen, anhand derer sich die Perspektive aufdie moralische Wahrheit, auf die Dimension des Nicht-Irdischen, des reli-giösen Bewusstseins öffnet. Der Sinn, nach dem Tolstoj zeitlebens suchte,lässt sich nicht in einer Erzählung immanentisieren: Er ist immer ein Bruch,der den Blick auf eine andere Dimension erlaubt. Daher ist die angemes-senste Form der Aphorismus, die Kurzerzählung und natürlich die Tage-buchaufzeichnung – denn hier müssen nicht durch fiktionale KonstruktionZusammenhänge simuliert werden, vielmehr kann sich das Schreiben ganzauf das punktuelle Durchscheinen der Wahrheit konzentrieren. Der einfa-che Soldat Platon Karataev in Krieg und Frieden, der dem Romanhelden Be-zuchov als »runde und ewige Verkörperung des Geistes der Einfachheit undWahrheit« erscheint, ist dermaßen authentisch und präsent, dass er selbstauf Aufforderung nicht zu wiederholen vermag, was er noch vor einigen Au-genblicken geäußert hat. Oftmals sagt er sogar das genaue Gegenteil des zu-vor Verlautbarten, aber »das eine wie das andere war richtig«. Als solcherartselbstvergessener Aphoristiker gibt er das Idealmodell für das SchreibenTolstojs in den letzten Schaffensjahren ab.

Das zentrale Element in Tolstojs Argumentation sind Gegensatzkonstella-tionen: »rein« und »schmutzig«, »geistig« und »körperlich« bzw. »tierisch«,»gut« und »böse«, »wahr« und »falsch«, »Glaube« und »Aberglaube« – diessind nur einige der grundlegenden Oppositionen, die seine theologischenTraktate durchziehen. Oftmals vertauscht Tolstoj die Positionen ironisch,

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George / Herlth / Münch / Schmid, Tolstoj als theologischer Denker und Kirchenkritiker

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um die eigentlich perverse Struktur einer schon lange bestehenden und all-gemein für »richtig« befundenen Situation zu entlarven. Besonders markantist dabei das Mittel der ironischen Periphrase, einer nachgestellten Begriffs-erläuterung, die die Diskrepanz zwischen Wort und bezeichnetem Konzeptumso klarer hervortreten lässt. Die Pointe besteht dabei immer in der Um-kehrung einer geläufigen Sichtweise: So wird etwa die gegenwärtige politi-sche »Ordnung« zur Unordnung erklärt, weil in ihr die moralischen Wertepervertiert würden.

Holger Kuße hat eine überzeugende Systematisierung für dieses Denkenin Gegensätzen vorgeschlagen.53 Als Grundopposition für alle weiteren ar-gumentativen Operationen dient die Unterscheidung zwischen Wahrheitund Täuschung. Tolstoj erblickt seine eigentliche philosophische Leistung inder Erschließung dessen, was »wahr« ist. Das entscheidende Kriterium istfür ihn dabei die allgemeine Einsehbarkeit dieser »Wahrheit«, die aber in derRegel gerade nicht mit einer traditionellen Wahrnehmungskonvention zu-sammenfällt. Mehr noch: Die Wahrheit der gesellschaftlichen Institutionenist eine absichtliche Täuschung, die es in einem hermeneutischen Akt zuentlarven und zu überwinden gilt.

Die suchende Verstandestätigkeit des Menschen führt Tolstoj auf einenzweiten Gegensatz zwischen Gott und Mensch. Zwar ist der Mensch in seinDasein hineingeworfen, er kann aber seine göttliche Mission in sich selbsterkennen. Tolstoj propagiert eine Überwindung dieses Gegensatzes in dermystischen Denkfigur des göttlichen Funkens, der dem Menschen inne-wohnt. Die Göttlichkeit des Menschen bezieht sich aus Tolstojs Sicht jedochausschließlich auf seinen Geist, das Fleisch mit seinen Trieben und Bedürf-nissen wird abgelehnt. Der unversöhnliche Gegensatz von Geist und Fleischwird überlagert vom komplementären Gegensatz von Mann und Frau. DerMann ist aus Tolstojs Sicht zwar zu geistiger Arbeit berufen, muss sich aberständig der Anfechtungen des Fleisches erwehren – und Agentin dieser Ver-suchung ist die Frau, die in den späten Erzählungen immer wieder als Teufelapostrophiert wird.

Kuße sieht die vier Gegensätze in einer letzten Opposition aufgehoben:Tod und »wahres« Leben fallen in einem ultimativen Erkenntnisakt in eins.Der Tod ist nichts anderes als das Erwachen aus einem falschen Leben. Erscheidet die Wahrheit von der Täuschung, er führt den Menschen von seinerfinsteren Existenz zum Licht, das in ihm leuchtet, und befreit ihn von dereigenen Fleischlichkeit, die nicht nur durch die Sexualität, sondern auchdurch körperliche Beschwerden abgewertet wird. Paradigmatisch lässt sichdieser Vorgang in der berühmten Schlusspassage der Erzählung Der Tod desIvan Il’ic ablesen: »›Und der Tod, wo ist er?‹ Er suchte seine frühere Todes-angst und fand sie nicht. Wo ist er? Welcher Tod? Er hatte überhaupt keineAngst, denn es gab keinen Tod. Anstelle des Todes war Licht.«54

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