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Dietrich Busse: Historische Semantik Kapitel 6 (S. 145 © 174) 129 ß Dietrich Busse 1987 Kapitel 6: Bedeutung im kommunikativen Handeln Die Thesen der drei behandelten Autoren markieren den Rahmen, inner- halb dessen ein Modell kommunikativer Interaktion versucht werden kann. Wittgenstein lehrt uns, daü Sprechen immer nur als Teil einer den einzel- nen kommunikativen Akt ubergreifenden Handlungsform Sinn bekommt, daü unser Umgehen mit der Sprache, ihr Gebrauch in der aktuellen Situati- on, die Bedeutungen stiftet; Grice zeigt, daü Sprechen zu kommunikativen Zwecken zuruckgreifen muü auf Intentionen des Sprechenden, die die Vo- raussetzungen und Bedingungen fur das Vorliegen eines kommunikativen Aktes abstecken; Ho rmann erweitert die Intentionalita t in der Kommunikati- on auf den Ho rer, indem er diesem ebenso wie dem Sprecher eine auf die Erlangung von Sinn gerichtete intentionale Aktivita t zuspricht, die auf der Suche nach Sinn, ausgehend vom vorher gewuü ten Sinnhorizont, die kon- krete sprachliche Zeichenfolge sinnvoll zu machen trachtet. Ein Modell kommunikativer Interaktion muü drei Bereiche integrieren: die Rolle des Sprechers, die Rolle des Ho rers, und die Bedingungen der Mo glichkeit von kommunikativen Handlungen. Daü es sich bei der Rekonstruktion von Sprecher- und Ho rerrolle immer nur um idealtypische Modelle handeln kann, sollte nicht aus dem Auge verloren werden. 1. Die Rolle des Sprechers Kommunikation als Handeln zu interpretieren bedeutet, ein Beschreibungs- vokabular, das fur nichtsprachliche Handlungen entwickelt wurde, auf Kom- munikation zu ubertragen bzw. dort nach Analogien zu suchen. Handlun- gen, das wurde schon gesagt, sind zielgerichtete, rationale, intentionale Ak- tivita ten. Der Begriff der Handlungsabsicht (Intention) ist mit dem der Hand- lung logisch verknupft, da Handlungen immer nur Handlungen unter einer Beschreibung sind. Dabei gibt die Zuordnung einer Aktivit a t zu einer Ab- sicht die Grenzen der jeweils betrachteten Handlung an. Die Ausgrenzung von einzelnen Handlungen aus einem Kontinuum von Aktivit a ten ist immer ein Akt der Beschreibung 1 ; erst / die Zuordnung zu einer als Bezugspunkt 1 So auch Holly/Kuhn/Puschel 1984: Dabei ist es von grter Bedeutung, daü Handlung nicht als empirisch bestimmbarer Begriff verstanden wird, sondern als Interpretationskon- 145 146

Kapitel 6: Bedeutung im kommunikativen HandelnDietrich Busse ß Dietrich Busse 1987

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  • Dietrich Busse: Historische Semantik Kapitel 6 (S. 145 © 174) 129

    ß Dietrich Busse 1987

    Kapitel 6:

    Bedeutung im kommunikativen Handeln Die Thesen der drei behandelten Autoren markieren den Rahmen, inner-halb dessen ein Modell kommunikativer Interaktion versucht werden kann. Wittgenstein lehrt uns, daü Sprechen immer nur als Teil einer den einzel-nen kommunikativen Akt ubergreifenden Handlungsform Sinn bekommt, daü unser Umgehen mit der Sprache, ihr Gebrauch in der aktuellen Situati-on, die Bedeutungen stiftet; Grice zeigt, daü Sprechen zu kommunikativen Zwecken zuruckgreifen muü auf Intentionen des Sprechenden, die die Vo-raussetzungen und Bedingungen fur das Vorliegen eines kommunikativen Aktes abstecken; Hormann erweitert die Intentionalita t in der Kommunikati-on auf den Horer, indem er diesem ebenso wie dem Sprecher eine auf die Erlangung von Sinn gerichtete intentionale Aktivita t zuspricht, die auf der Suche nach Sinn, ausgehend vom vorher gewuü ten Sinnhorizont, die kon-krete sprachliche Zeichenfolge sinnvoll zu machen trachtet. Ein Modell kommunikativer Interaktion muü drei Bereiche integrieren: die Rolle des Sprechers, die Rolle des Horers, und die Bedingungen der Moglichkeit von kommunikativen Handlungen. Daü es sich bei der Rekonstruktion von Sprecher- und Horerrolle immer nur um idealtypische Modelle handeln kann, sollte nicht aus dem Auge verloren werden. 1. Die Rolle des Sprechers Kommunikation als Handeln zu interpretieren bedeutet, ein Beschreibungs-vokabular, das fur nichtsprachliche Handlungen entwickelt wurde, auf Kom-munikation zu ubertragen bzw. dort nach Analogien zu suchen. Handlun-gen, das wurde schon gesagt, sind zielgerichtete, rationale, intentionale Ak-tivita ten. Der Begriff der Handlungsabsicht (Intention) ist mit dem der Hand-lung logisch verknupft, da Handlungen immer nur Handlungen unter einer Beschreibung sind. Dabei gibt die Zuordnung einer Aktivita t zu einer Ab-sicht die Grenzen der jeweils betrachteten Handlung an. Die Ausgrenzung von einzelnen Handlungen aus einem Kontinuum von Aktivita ten ist immer ein Akt der Beschreibung1; erst / die Zuordnung zu einer als Bezugspunkt

    1 So auch Holly/Kuhn/Puschel 1984: ‚Dabei ist es von groü ter Bedeutung, daü Handlung nicht als empirisch bestimmbarer Begriff verstanden wird, sondern als Interpretationskon-

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    gewa hlten Absicht hebt die betrachtete Handlung aus der Reihe der Ursa-che-Folge-Beziehungen heraus. Bei kommunikativen Handlungen scheinen die Abgrenzungsprobleme der Handlung nicht so schwierig zu sein, ob-gleich man auch dort streiten konnte, ob man nun das Erklingen der Laut-folge oder das Verstehen als ‘Handlungsergebnis“ auffassen will. Die Abgrenzung einer Handlung erfolgt also durch Bezug auf das beabsich-tigte Handlungsziel. Das Zuruckfragen vom Ende, vom angestrebten Hand-lungsziel her (eine teleologische Erkla rung) ermoglicht es, nach den Hand-lungsgrunden zu fragen; d.h. den Grunden, die den Handelnden veranlaü t haben, die Verwirklichung seines Handlungsziels mit der Vollfuhrung eben dieser Handlung zu versuchen. Handeln la ü t sich dann, fragt man nach den Grunden, nach dem Modell des praktischen Schlieü ens rekonstruieren. Schlusse werden immer vor dem Hintergrund von Pra missen gezogen, die mit dem Handlungsziel (der Handlungsabsicht) kontrastiert den Handlungs-vollzug (den praktischen Schluü ) nahelegen. Versucht man, dieses Vokabular auf Kommunikation zu ubertragen, dann kommt man zu folgender Beschreibung: Ein Kommunikand hat ein Hand-lungsziel, er mochte in einem Horer eine bestimmte kognitive Einstellung hervorrufen. Das Handlungsziel ist erfullt, d.h. der Handlungserfolg ist ein-getreten, wenn der Horer seine kommunikative Handlung verstanden hat. Das Verstehen des Horers bezieht sich auf das Handlungsergebnis, d.h. die vor einem Hintergrund gea uü erte Zeichenfolge. Der Hintergrund gibt zugleich die Pra missen des praktischen Schlusses des Sprechers ab; dazu gehoren Kenntnisse uber folgende Faktoren:2 /

    strukt.— (288) ‚Dies bedeutet, daü nicht die Absicht des Handelnden, sondern die zuge-schriebene Sinnhaftigkeit und Zielgerichtetheit durch den/die Handlungsbeteiligten oder den wissenschaftlichen Beobachter als konstitutive Merkmale einer Handlung angesehen wer-den mussen.— (295) Allerdings muü man hinzufugen, daü der Handelnde auch selbst diese Rolle ubernehmen kann (in Selbstreflexion, z.B. bei Storungen des Handlungsvollzugs). 2 Listen von Voraussetzungen kommunikativen Handelns existieren in verschiedensten Fas-sungen (so z.B. bei Bayer 1977, 109; Fiehler 1981, 209; Drunkler 1981, 51; Harras 1978, 18). Ich glaube allerdings nicht, daü es sinnvoll ist, solche Listen mit dem Anspruch auf Vollsta ndigkeit und Allgemeinheit aufzustellen. Es ha ngt m.E. von der Spezifik der einzelnen kommunikativen Handlungen und vom Untersuchungsziel ab, die Offenlegung welcher Be-dingungen zu ihrer Kla rung beitra gt. Ü Die m.W. fruheste und detaillierteste Klassifikation von Bedingungen der Kommunikation findet sich in Coserius 1955, 278Ü 290 Auflistung der ‚Umfelder des Sprechens— (vgl. dazu auch Schlieben-Lange 1983, 17 ff.). Coseriu detailliert die von uns aufgefuhrten Faktoren, geht aber nicht daruber hinaus. (Ich verzichte deshalb hier auf die ausfuhrliche Darstellung und empfehle statt dessen, bei Coseriu selbst oder bei Schlieben-Lange 1983 nachzulesen). Obgleich Coseriu seine ‚Umfelder— nicht durchga ngig in Termini des Wissens formuliert, so ist doch seine Betonung ihrer zentralen Rolle fur die Sprachtheorie hervorzuheben: ‚Ganz allgemein kann eine eigentlich funktionelle Sprachwis-senschaft die Umfelder, und auch die ‘auü ersprachlichen“, schon deswegen nicht uberge-hen, weil die wirklichen Funktionen nicht in der abstrakten Sprache, sondern im konkreten Sprechen erscheinen. Das trifft sogar auf die diachronische Linguistik zu, die die allgemei-nen Bedingungen, in denen eine Sprache gesprochen wurde, auch nicht vernachla ssigen darf.— (287) Angesichts der Tatsache, daü ich meine Voraussetzungen kommunikativen Handelns ohne Kenntnis von Coserius Klassifikation entwickelt habe, und angesichts des unterschiedlichen theoretischen Bezugsrahmens, ist die weitgehende U bereinstimmung eine erfreuliche U berraschung. Ich werte sie als ein Zeichen fur die Gultigkeit der angefuhr-ten kommunikationsermoglichenden Faktoren.

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    (a) Handlungssituation (b) Partnereinscha tzung (Erwartungshaltung) (c) Gesellschaftliches Wissen (Interpretations- und Handlungsmuster, als

    selbstversta ndlich Unterstelltes) (d) Vorgeschichte (situativer und textueller Kontext, gegenwa rtiges

    Sprachspiel) (e) Relevanzbereich, Fokus, Diskurs (f) Handlungsziel (Motive, Intentionen) (g) Handlungsmittel (sprachlich-syntaktische Regeln etc.)

    Diese Kenntnisse, die der Sprecher hat, erwartet er in gleicher oder a hnli-cher Weise beim Horer; ebenso wie das Beherrschen sprachlicher Regeln. Aus all dem ergibt sich, daü der Sprecher unter Berucksichtigung der Pra -missen und seines Handlungsziels seine Handlung so vollzieht, daü das Handlungsergebnis (die ausgesprochene Zeichenfolge) voraussichtlich zum gewunschten Handlungserfolg (dem Verstehen) fuhrt. Die ‘Intentionalita t“ des Handelns umfaü t diesen ganzen ‘Prozeü “ (den man sich aber nicht als zeitliche Abfolge vorstellen darf).3 Intentionalita t ist, wie wir gesehen hatten ‚nicht etwas ‘hinter“ oder ‘auü erhalb“ des Verhaltens [Ä ] Intentionalita t ist kein geistiger Akt und auch keine sie begleitende charakteristische Erfahrung [Ä ] Man konnte sagen, [Ä ] daü die Intentionalita t des Verhaltens sein Platz in einer Geschichte uber den Han-delnden ist. Ein Verhalten bekommt seinen intentionalen Charakter dadurch, daü es vom Handelnden selbst oder von einem Beobachter in einer weiteren Perspektive ge-sehen wird, dadurch, daü es in einen Kontext von Zielen und kognitiven Elementen ge-stellt wird.—4 /

    Die Intention druckt sich aus im Vollzug der Handlung. Das ergibt sich auch daraus, daü Handeln immer der Vollzug von Aktivita ten in Institutionen und Praktiken, in Lebens- und Handlungsformen ist, die als Ganze gelernt bzw. eingeubt wurden. Die Rekonstruktion von Handeln als praktisches Schlie-ü en, unter Ruckfuhrung auf Handlungsgrunde und © Pra missen, ist also eine theoretische Rekonstruktion, die notwendige Momente offenlegt, wel-che den Handelnden als solche nicht bewuü t sein mussen. Allerdings kann unterstellt werden, daü im Falle von Miü versta ndnissen zumindest Teile der Grunde bzw. Pra missen der Handlung offengelegt werden.5 3 ‚Eine Handlung ist keine Entita t, die sich aus bestimmten Bestandteilen zusammensetzt, sondern ein Prozeü .— Rehbein 1977, 15. 4 von Wright 1974, 108 (dort auch Bemerkungen zum praktischen Schlieü en). Ü Ich kann hier Burkhardt/Henne 1984, 337 (deren Konzept ich ansonsten nicht teile) zustimmen, de-nen zufolge ‚die fremde Intentionalita t immer nur eine unterstellte Intentionalita t sein [kann], deren Erkennen zum einen situativ, zum anderen konventionell, insgesamt also erfahrungs-bedingt ist.— 5 Man konnte anstatt von Pra missen des Schlieü ens bzw. Voraussetzungen des Hand-lungsvollzugs auch, wie in der Sprechakttheorie, von Bedingungen des Gelingens einer kommunikativen Handlung reden. Solche Bezeichnungen schlieü en sich nicht aus. Aller-

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    Das Problem nun bei der Rekonstruktion kommunikativer Handlungen ist, daü einige Teile der Handlung, einige Pra missen ungleich offensichtlicher sind, als andere. Dies hat stets zu Problemen gefuhrt. Im Rahmen der Re-konstruktion von Kommunikation als Handeln aufgrund praktischer Schlus-se sind die Verwendungskonventionen von Sprachzeichen nur eine Pra -misse unter vielen. Da die Sprachzeichen aber (vermutlich erst durch die Verschriftlichung) als Handlungsergebnis herausgelost worden sind aus dem Gesamtkontext der kommunikativen Handlung und eigenen Ding-Cha-rakter zugesprochen bekamen, wurde ihnen die ganze Leistung beim Zu-standekommen von kommunikativer Versta ndigung zugesprochen; die an-deren Pra missen wurden ubersehen, oder zu Randbedingungen degra-diert; es wurde ubersehen, daü das Zeichen nur als ‘Figur vor einem Grund“, der von den anderen Pra missen gebildet wird, verstehbar ist und Sinn bekommt. Das praktische Schlieü en bei kommunikativen Handlungen geschieht im Vollzug des Sprechens; indem auf der Grundlage der genann-ten Bedingungen so-und-so gesprochen wird, wird die kommunikative Ab-sicht vollzogen. Wir haben also bisher den Begriff der Handlung, in der wir Handlungs-Ziel, Handlungsergebnis und Handlungs-Erfolg unterscheiden (hier kommunika-tive Absicht, gea uü erte Zeichenfolge, Verstehen durch den Horer), und fur die der Sprecher Grunde hat, die sich im Modell des praktischen Schlie-ü ens rekonstruieren lassen (welches Zielvorgabe = Absicht, Pra missen und Handlungsvollzug umfaü t). Dieses konnte man auch als Handlungskalkul bezeichnen. Handlungen werden nun, wenn auch als Einzelne vollzogen, meist nicht jede einzeln fur sich beabsichtigt und ausgefuhrt; vielmehr ge-schehen sie, und kommunikative Handlungen im Besonderen, in Hand-lungsformen, Praktiken, die einzelne Situationen ubergreifen und als Ver-haltens-Muster Anleitungscharakter haben konnen. Diesen Begriff der Handlungsform gilt es na her zu erla utern. In der Matrix der kommunikativen Handlungsform bilden die Aspekte, die / als ‘Sprachsystem“ ausgegrenzt wurden, nur ein Moment unter mehreren. In der Tat sind grammatische Regeln bestimmend fur die Konstruktion der Zeichenfolgen in der Kommunikation, und somit auch fur das, was mit sprachlichen Auü erungen kommunikativ erreicht werden kann. Man sollte jedoch den Charakter der grammatischen Formen und Strukturen klar se-hen, die letztlich nichts anderes sind als verfestigte Formen kommunikati-ven Handelns, als Petrefakte des Sprechens. Wittgenstein wies zurecht darauf hin, daü Grammatik immer nur aus der Beschreibung sprachlicher Kommunikation entstehen kann, des Gebrauchs, den wir von den Zeichen und Formen machen. Erst im Gebrauch, vor einem Hintergrund von Hand-lungsformen, bekommen die grammatischen Regeln ihre Funktion. Hand-lungsformen sind weder allein durch grammatische, noch durch kommuni-kative Regeln bestimmt, sie gehen auch nicht in Sinnzusammenha ngen auf; sie sind von allem etwas, aber nichts ganz. Das grammatische System hat gegenuber seiner einzelnen Aktualisierung im kommunikativen Akt eine dings macht die Rede von Pra missen m.E. den modellhaften Charakter solcher Rekonstruk-tionen deutlicher, und wird deshalb hier vorgezogen.

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    gewisse Selbsta ndigkeit. Wir konnen immer nur wenig uber die Ra nder der Grammatik hinausgehen, wenn wir reden (auch wenn man ‘Grammatikali-ta t“ nicht so eng faü t, wie dies oft geschieht). Andererseits bestimmt die Grammatik aber auch nicht das kommunikative Handeln allein (dafur reicht schon das Beispiel grammatisch korrekter, aber sinnloser Sa tze). Ebenso ist es mit den sozialen Regeln, die die Kommunikation bestimmen. (In gewissem Sinne sind naturlich auch grammatische Regeln soziale Re-geln). Weder bestimmen sie allein Zustandekommen und Ablauf kommuni-kativer Interaktion, noch sind sie auf diese beschra nkt. So ist z.B. das ‘Ra-tionalita tsprinzip“ eine Grundlage menschlichen Handelns uberhaupt. Auch fur andere soziale Aspekte wie z.B. Situationsfeststellungen lieü e sich dies behaupten. Auch die Sinnkonstanz zeigt sich nicht nur im Zusammenhang mit kommunikativem Handeln; vielmehr bestimmt sie Wahrnehmung und auü ersprachliches Handeln ebenso stark wie die Kommunikation. Wir sehen also, daü kommunikative Handlungsformen ein Teil der mensch-lichen Lebenspraxis sind, die durch viele Parallelen mit nicht-sprachlichem Handeln verbunden sind. Als ‘Sprachspiele“ sind sie meist untrennbar in auü ersprachliche Handlungsabla ufe, gesellschaftliche Institutionen, Verhal-tensmuster eingebunden. Der Begriff Handlungsform in Bezug auf kommu-nikatives Handeln soll diese Bezuge verdeutlichen. In theoretischen Zu-sammenha ngen sind die Handlungsformen naturlich mehr durch vorher Gesagtes bestimmt, wa hrend in nicht-sprachlichen Handlungszusammen-ha ngen der Aspekt der Funktionalita t fur dieses Handeln wichtiger fur das kommunikative Handeln ist. Eine Handlungsform ist eine Matrix, die sprachliche, kommunikative, soziale Konventionen, Sinn- und Funktionszu-sammenha nge so zu einem Verhaltensmuster zusammenfaü t, daü sie ein Sinnganzes bilden6‘ das nicht in seine Be- / standteile aufgelost werden kann, und es auch nicht muü , um seine Rolle spielen zu konnen, da seine Beherrschung allen Teilhabern der Kommunikation prinzipiell in gleicher Weise zuga nglich ist. Handlungsformen sind Handlungsweisen, die man nicht erlernen kann, wie man ein Gedicht auswendig lernt, sondern in die man sich einuben muü , indem man sozial interagiert, mit anderen Men-schen lebt und handelt. Deshalb wa re es auch falsch, auf Handlungsformen die Dichotomie von type und token anzuwenden, wie es gerade bei Sprachwissenschaftlern so gerne gemacht wird. Diese Analogie zu der Vorstellung vom Funktionieren sprachlicher Regeln kann nicht so ohne weiteres auf das Ganze der Hand-lungsmatrix ubertragen werden. Zu viele Faktoren wirken mit, um der ein-zelnen Handlung ihre Funktion (ihren Sinn) zu geben, als daü eine situati- 6 So auch Rehbein 1977, 21: ‚Eine Handlung bildet gemeinsam mit ihrer Umgebung eine Struktur.— Ü Im Gegensatz zu Muller 1980, 291 bin ich nicht der Meinung, daü diese Vo-raussetzungen generell ‚unformulierbar— sind; dies gilt nur fur die Beteiligten im Vollzug der kommunikativen Interaktion, nicht jedoch fur die Sprachreflexion und Sprachanalyse. Kon-zepte wie das Vorgeschlagene werden in letzter Zeit als ‚holistisch— bezeichnet, so bei Quasthoff/Hartmann 1982, 99, weIche allerdings den erkenntnistheoretischen Kardinalfehler begehen (wie leider die meisten Sprachwissenschaftler), nicht sorgf a ltig genug zwischen theoretischer Modellkonstruktion und ‚Sache— zu unterscheiden. Vgl. zu ‚holistischen— Kon-zeptionen auch Lutzeier 1981, 106 ff.

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    onsubergreifende Abstrahierung auf einen ‘Handlungstyp“ hier sinnvoll wa -re. Zwar werden in der einzelnen kommunikativen Handlung verschiedene Handlungstypen realisiert (sprachliche, kommunikative, soziale), doch ist das Ganze der Handlungsform, das immer nur in Bezug auf eine konkrete Situation existiert, nicht auf einen Typ abstrahierbar. Der Begriff der Handlungsform soll hier kontrastieren zu dem der einzelnen kommunikativen Handlung. Diese ist Teil der Handlungsform, in sie einge-bettet. Von Handlungsform zu reden, heiü t nur, einen anderen Fokus der Betrachtung zu wa hlen. Wa hrend beim Begriff der kommunikativen Hand-lung der einzelne Handlungsvollzug vor dem Hintergrund des Gesamtzu-sammenhanges gesehen wird (eine einzelne Auü erung vor dem Hinter-grund der zu ihr fuhrenden bzw. sie rational machenden Voraussetzungen), liegt bei dem der Handlungsform der Schwerpunkt auf dem Gesamt des Zusammenhanges, in dem die einzelne Auü erung nur der konkrete, mate-riell faü bare Vollzug ist. Der Begriff der Handlungsform macht deutlicher als der der Handlung, daü die Handlung immer nur auf dem Hintergrund der genannten Zusammenha nge funktioniert und verstanden werden kann, daü diese nichts zweitrangiges sind, sondern unabdingbare Bedingung der Moglichkeit fur das Zustandekommen der Handlung.7 / Es sollte deutlich sein, daü der Begriff der Handlungsform als theoretischer Begriff zu bestimmten Zwecken nutzlich ist, zu anderen moglicherweise nicht. Soweit es in der historischen Semantik um den Zusammenhang von Sprachverstehen und Weltverstehen geht, kann er verdeutlichen, daü der einzelne kommunikative Akt eingebunden ist in einen Sinnzusammenhang, der sich nicht allein aus den verwendeten Wortern und ihren etwaigen ‘Be-deutungen“ ergibt. Wenn kommunikatives Handeln als das Vollziehen praktischer Schlusse interpretiert wird, so sind die einzelnen Momente, die das Ganze der Hand-lungsform konstituieren, die Pra missen, die dem Schluü vorausgehen mus-sen. Man kann deshalb die Pra missen des praktischen Schlieü ens auch als Voraussetzungen kommunikativen Handelns bezeichnen. Es soll versucht werden, die einzelnen Voraussetzungen darzustellen, die mindestens ge-geben sein mussen, damit eine kommunikative Handlung gelingen kann. 2. Voraussetzungen kommunikativer Interaktion Kommunikative Handlungsformen werden von einer groü eren Menge von Bedingungen gesteuert, die vorliegen mussen, um kommunikative Ver-sta ndigung zu erzielen. D.h. sie mussen Sprecher wie Horer zugleich ge-genwa rtig sein. Im Modell des praktischen Schlieü ens bilden sie die Pra -missen, wobei zwischen solchen Voraussetzungen unterschieden werden

    7 Es kann hierbei Fiehler 1981, 209 darin zugestimmt werden, daü die Rekonstruktion der Bedingungen, welche die Handlungsmatrix bilden, ‘nicht weit genug“ gehen kann. Sie erfor-dert das Explizit-Machen aller, d.h. auch der scheinbar selbstversta ndlichen Bedingungen.

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    muü , die allgemein erfullt sein mussen, damit Kommunikation uberhaupt zustande kommt, und solchen, die das Zustandekommen des speziellen kommunikativen Aktes ermoglichen.8 Als Pra missen des Handlungskalkuls werden die Voraussetzungen vom Sprecher angesetzt bei der Formulierung seiner sprachlichen Auü erung. Ihr Vorliegen muü vom Sprecher jeweils gewuü t bzw. unterstellt werden, und von ihm auch fur den Horer unterstellt werden. Der Sprecher hat also ge-genuber dem Horer Erwartungen und unterstellt diesem, daü dieser ihm gegenuber auch Erwartungen hat. Dies nennt man in der Interaktionssozio-logie Erwartungserwartungen. Wir sehen, daü die Intentionen in Grice“s Modell auch als Erwartungen / formuliert werden konnen. Allerdings ist die-ser Begriff weiter als der der Handlungsabsicht, er bezieht Erwartungen mit ein, die nicht fur jede Handlung neu beabsichtigt sein mussen. Zu diesen, soziale Interaktion uberhaupt erst ermoglichenden Erwartungen gehort vor allem das Rationalita tsprinzip. Wie bei jedem zweckrationalen Handeln, so wird auch bei kommunikativer Interaktion ihre Rationalita t, d.h. ihre Vernunftigkeit im sozialen Handeln unterstellt. Dabei ist Rationalita t im Rahmen zweckrationalen Handelns nichts anderes als die Forderung, das Handeln so auszurichten, daü es unter Annahme der jeweils geltenden Be-dingungen seine erstrebten Zwecke erfullt. Bei der kommunikativen Hand-lung heiü t das, da der Hauptzweck der ist, verstanden zu werden, die Au-ü erung so auszurichten, daü der Horer unter Annahme der vorliegenden, vom Sprecher auch bei ihm unterstellten, Voraussetzungen die Auü erung (ungefa hr) so verstehen wird, wie der Sprecher sie gemeint hat (zumin-destens aber, daü sie im aktuellen Handlungsspiel ihre Rolle erfullt). Die Rationalita tsannahme besagt also nichts anderes, als daü der Spre-cher seine Handlung einer Abwa gung der vorliegenden Rahmenbedingun-gen unterziehen, ein Handlungskalkul und damit einen praktischen Schluü vollziehen muü , um seine Ziele zu erreichen. In der sozialen Interaktion, also im Zusammenwirken zweier (oder mehrerer) Partner, wenn die Ver-wirklichung des Handlungsziels nur uber den Partner zu erreichen ist, wie bei der kommunikativen Interaktion, muü die Rationalita tsannahme auch dem Handlungspartner unterstellt werden. D.h. der Sprecher muü erwar-ten, daü der Horer die Sprecher-Handlung unter Berucksichtigung dersel-ben Voraussetzungen als zweckrational, d.h. als kalkuliert vor einem Hin-tergrund von Rahmenbedingungen, auffaü t. Die Rationalita tsannahme ist nicht trivial. Nicht jedes Handeln wird als Kalkul unter Berucksichtigung der Rahmenbedingungen vollfuhrt. Da kommunikatives Handeln als soziales Handeln zwischen Partnern vermitteln muü , ist der Bezug auf Gemeinsa-mes in Form der als beiderseitig gewuü t unterstellten Rahmenbedingungen

    8 Abstrakt konnen immer nur Typen von Pra missen benannt werden. Die Pra missen, die im konkreten Fall zum Gelingen einer kommunikativen Handlung notwendig waren, konnen im-mer nur fur jede untersuchte Handlung einzeln bestimmt werden. Diese Bestimmung ist eine interpretative Rekonstruktion; das Vorgehen ist (in einem bestimmten Sinne) hermeneutisch. Bestimmte Voraussetzungen lassen sich auch mehreren Bedingungstypen zuordnen; so ge-horen z.B. die Erwartungen gegenuber dem Partner zum Bereich der Partnereinscha tzung, andererseits wird aber auch das gesellschaftliche Wissen beim Partner erwartet.

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    unabdingbar, soll der Handlungserfolg (das Verstehen) regelma ü ig und mit hinreichender Sicherheit erwartbar eintreten, und nicht lediglich dem Zufall uberlassen bleiben. Der Begriff der Erwartung steht in Konkurrenz zu dem der Intention. Da in der Rekonstruktion des kommunikativen Handelns als praktisches Schlie-ü en des Handlungskalkul als Ganzes das umfaü t, was bei Grice Intention genannt wurde, la ü t sich dieser Begriff nicht in dieses Modell einordnen. Hingegen sind Erwartungen als Pra missen des praktischen Schlieü ens for-mulierbar. Soziale interaktionsbezogene Erwartungen beziehen sich auf sa mtliche das Zustandekommen von Kommunikation ermoglichende Fakto-ren. Sie umgreifen die allgemeinen wie die speziellen Voraussetzungen des kommunikativen Handelns. Es ist nicht sicher auszumachen, ob zwi-schen beiden Arten von Voraussetzungen uberhaupt ein klarer Trennungs-strich gezogen werden kann. Dies wird bei der Er- / wartung sozialer Hand-lungsregeln deutlich. Grice hatte mit seinen Konversationsmaximen Hand-lungsregeln formuliert, die er als allgemeine, transzendentale Vorausset-zungen der Kommunikation bezeichnete. Doch zeigt sich, untersucht man diese Regeln na her, daü sie eher zu den speziellen Voraussetzungen zu za hlen sind. So ist z.B. die Forderung, Wahres zu reden, zwar eine Bedin-gung akademischer, informationsbezogener Diskurse, nicht aber kommuni-kativer Interaktion uberhaupt. Soziale Handlungsregeln, deren Befolgung von den interagierenden Part-nern wechselseitig erwartet wird, lassen sich nur situations-spezifisch for-mulieren; sie sind Teil der speziellen Handlungsformen und eingebunden in Interaktionsmuster, wechseln also mit diesen. Wichtige Voraussetzung des Handlungskalkuls ist deshalb die Feststellung und wechselseitige Erwar-tung der vorliegenden Situation. Jeder Interagierende muü davon ausge-hen, daü sein gleichzeitig an wesender Interaktionspartner die Handlungs-situation genauso oder anna hernd gleich definiert, wie er selbst. Situatio-nen sind nicht einfach gegeben, sondern werden im Zusammenhang mit dem Hintergrundwissen und der aktuellen Wahrnehmung der Beteiligten interpretiert und konstituiert. Situationsdefinitionen sind nicht immer in das Belieben der Teilhaber gestellt; institutionelle Zusammenha nge (wie z.B. Gerichte, Kirchen) geben die Situation vor, der sich der untergeordnete Beteiligte nur entziehen kann, indem er die Teilnahme verweigert, und die zu vera ndern ihm nicht moglich ist. In informeller Kommunikation geben soziale Verhaltensmuster Rahmenbedingungen an, innerhalb deren die Situation von den Interagierenden zu Beginn ihres Austauschs definiert wird. Innerhalb von informellen Interaktionssequenzen haben die Beteilig-ten die Moglichkeit, die Situation neu zu definieren. So kann man z.B. in kommunikativen Interaktionen von einer sachbezogenen Kommunikation auf eine private umschalten. Situationsdefinitionen sind Teil des Hand-lungsvollzugs und werden u.U. auch sprachlich angedeutet. In kommunika-tiven Situationen kann die Situation durch vorhergehende kommunikative Akte definiert werden (z.B. Gruü - und Anredeformen). Situationen konnen aber auch als selbstversta ndlich unterstellt werden. Bei Interaktionsproble-

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    men kann die Situation, wie jede Pra misse des Handlungskalkuls, bewuü t gemacht und hinterfragt werden. Zur Situationsdefinition gehort in kommunikativen Interaktionen auch die Gegenstandsbestimmung, die sprachlich vollzogen wird. So wie Einlei-tungsformeIn der Kommunikation die Situationsmuster hinsichtlich von Si-tuations-Alternativen festlegen, so differenzieren in der sprachlichen Auü e-rung Worter Bezugsobjekte hinsichtlich von Alternativen. Das Grundmuster dieses Vorgangs wurde in der Wahrnehmungspsychologie deutlich, wo ge-zeigt wurde, daü Worter Bezugsobjekte hinsichtlich von Wahrnehmungsal-ternativen differenzieren. Da Situationsdefinitionen sich auch auf Situati-ons-Wahrnehmungen beziehen, kann dieses Muster hier ubernommen werden. Allerdings ergibt sich die zur Situationsdefinition gehorende Ge-genstandsbestimmung nicht allein aus den ak- / tuellen Wahrnehmungen. Sie speist sich ebenso aus dem an die Situation herangetragenen Wissen der Beteiligten. Der Begriff des Handlungs-Wissens konkurriert wiederum mit dem der Er-wartungen. In Handlungserwartungen wird gegenseitig unterstellt, daü die Beteiligten uber das gleiche Wissen verfugen, wie man selbst. Die Inter-agierenden konnen ihre Erwartungen mit hinreichender Sicherheit haben, weil sie schon ein Wissen uber die Partner mit in die Situation einbringen. Dieses Wissen haben sie sich durch Erfahrungen erworben, die sie in ver-gangenen kommunikativen Interaktionen, aber auch auü erhalb, gemacht haben. Genausowenig wie der Begriff der Erwartung umschreibt der des notwendigen Wissens einzelne Pra missen des kommunikativen Handelns; er ist vielmehr eine Art Oberbegriff, der den Charakter der heranzuziehen-den Voraussetzungen umschreibt. Der Begriff Erwartung bezeichnet die soziale Komponente der Pra missen, wa hrend der des Wissens die private, bewuü tseinsma ü ige Komponente umschreibt. Wesentlich fur das Hand-lungswissen ist, daü es gemeinsam geteilt wird; da dies aber nicht sicher ‘gewuü t“ werden kann (in einem starken Sinn von ‘Wissen“), hat man fur interaktive Zusammenha nge den (weicheren) Begriff der ‘Erwartung“ ge-schaffen. ‘Erwarten“ heiü t dann: die Beteiligten mussen fur sich so tun, als wuü ten sie vom Vorliegen der notwendigen Voraussetzungen beim Part-ner. Die Erwartungen finden ihre Berechtigung in dem vergleichbaren Le-bens- und Handlungshintergrund der Interagierenden. Voraussetzung der Erwartbarkeit von sozialem und Handlungswissen bei den Partnern ist im-mer die Mitgliedschaft in einer sozialen und kulturellen Gemeinschaft, die einen gemeinsamen Schatz von Weltwissen und Handlungsmustern, das gesellschaftliche Wissen, hat.9 Im Gegensatz zu dem allgemeinen (Welt-)Wissen, das die an der Kommu-nikation Beteiligten einbringen mussen, bezieht sich das Kontext-Wissen auf die unmittelbar der einzelnen Sprech-Handlung vorausgehenden Abla u-fe. Wa hrend sich Situations-Kenntnis mehr auf die gegenwa rtige soziale Handlungssituation bezieht, geht es beim Kontext-Wissen um die Beruck- 9 ‚Sie [die Mitglieder einer Kommunikationsgemeinschaft, DB] teilen Diskursuniversen, die aus deren jeweiligen Erfahrungen entstanden sind, die also Resultat gemeinsamer, aber nicht unbedingt gemeinsame gemachter Erfahrungen sind.— Johnson 1976, 156.

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    sichtigung der vorangegangenen kommunikativen Akte und deren themati-scher Ausrichtung. Der einzelnen kommunikativen Akten vorausgehende diskursive Kontext steckt den inhaltlichen Rahmen ab, den Sinnhorizont (den Diskurs), auf dessen Hintergrund die folgenden kommunikativen Akte durchfuhrbar und verstehbar werden. Deshalb kommt auch der ersten inter-aktiven Situationsdefinition eine groü e Bedeutung zu, weil durch sie auch der Fokus, der Rahmen der kommunikativen Moglichkeiten abgesteckt wird. In schriftlichen Diskursen wird die Situationsdefinition durch explizite The-ma- / Definition ersetzt, der diskursive Kontext, das Gesamt des Textes wird wichtiger als in der mundlichen Kommunikation. Vorausgegangener thematischer Kontext und Situationskenntnis, d.h. auch die thematische Ak-tualisierung von Ausschnitten des Welt- und Handlungs-Wissens, stecken den Sinnhorizont ab, der infolge der Sinnkonstanz die Interpretation kom-munikativer Akte anleitet. Sprecher wie Horer berucksichtigen den ange-sprochenen Sinn-Horizont; der Sprecher unterstellt ihn, aufgrund der offen-sichtlichen (von ihm als offensichtlich unterstellten, und damit als Wissen des Horers erwarteten) thematischen und situativen Lage und wa hlt in Be-zug darauf seine sprachliche Auü erung, der Horer bezieht die gehorte Zei-chenfolge auf den wahrgenommenen und auch beim Sprecher unterstellten (von ihm erwarteten) Sinnhorizont. Die intentionale Ausrichtung auf das Sinnvoll-Machen des Vernommenen bezieht sich auf den Sinnhorizont als Pra misse des Vollzugs bzw. der Rekonstruktion praktischen kommunikati-ven Handlungskalkuls. Versuchen wir, die Voraussetzungen der kommunikativen Interaktion, wie sie als Pra missen des Handlungs-Kalkuls zur Geltung kommen, aufzu-listen, kommen wir zu einer Struktur, die die verschiedenen Momente zur Matrix einer Handlungsform vereinigt. Auf der allgemeinen Ebene ist das ‚Welt—-Wissen anzusiedeln, also jene allgemeine Sinnstruktur, die unser Weltbild und unsere Wirklichkeitsauffassung ausmacht, und das wir als Teilhaber einer sozialen und kulturellen Gemeinschaft immer schon in jede Handlungs- und Kommunikations-Situation mit einbringen. Dieses Wissen bildet den Raum der Moglichkeiten, Sinn zu realisieren; ihn konnen wir nicht nennenswert uberschreiten, jede Kommunikation, jede Information muü auf ihn beziehbar sein, soll sie in unseren privaten Kosmos eingeord-net werden konnen. Wissen als Sinn-Moglichkeiten heiü t aber auch, daü es nicht in allen Teilen auch bewuü t gehabt werden muü ; ebenso wie tatsa ch-lich Gewuü tes entha lt es auch als selbstversta ndlich Unterstelltes.10 Vor dem Hintergrund dieses allgemeinen gesellschaftlichen Wissens, das als Voraussetzung jeden Handelns auch ‘allgemeines Handlungswissen“ genannt werden konnte, wird ein konkretes Wissen als Situationswissen aktualisiert, das die Voraussetzung der konkreten Einzelhandlung bildet. Zu diesem Situationswissen gehort zuna chst die aktuelle Wahrnehmung, inso-weit sie fur den Handlungsvollzug relevant ist. Sie umfaü t ‘Weltwahrneh-

    10 Dazu gehort Ü Foucault zufolge Ü auch das Ausgeschlossene, Unterdruckte, als falsch Unterstellte; sozusagen das organisierte Nicht-Wissen.

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    mung“, als Wahrnehmung des nicht-thematischen Umfeldes der Interaktion, und die Wahrnehmung der Situation, als deren Teil die kommunikative Handlung realisiert wird. Letztere wird, wie gezeigt, meist durch wechsel-seitige Definition eingeschra nkt. Zur aktuellen Situationswahrnehmung (bzw. -Definition) tritt das Wissen um den unmittelbar vorausgegangenen thematischen und situativen Kontext der Interaktion, das / in Form von Kommunikations-Erfahrung auftritt. Die aktuelle Erfahrung des Kontextes und der Situation wird kontrastiert auf dem Sinn-Horizont allgemeiner Handlungserfahrungen. Diese sind als Handlungsmuster und Interpretati-onsmuster spezieller Teil des allgemeinen Wissens, und damit Teil des konkreten Handlungswissens. Handlungsmuster sind Erfahrungen mit Handlungsweisen, die als Abstraktion aus vergangenen Handlungsvollzu-gen Anleitungscharakter fur kunftiges Handeln haben. (Sie werden auch als ‘Konventionen“ bezeichnet.) Interpretationsmuster sind Abstraktionen aus Weisen der Welt-Erfahrung, die als thematische kulturelle Konstanten Wahrnehmung und Interpretation von Welt und sozialer Interaktion steuern. Handlungs- und Interpretationsmuster stehen in engem Bezug zu sozialen Regeln. Zu den sozialen Regeln gehoren auü er den allgemeinen Handlungsregeln (Rationalita tsprinzip, Kommunikationsregeln etc.) auch die Regeln des Sprachsystems. Sie sind ebenso wie diese Handlungsregeln, geben also Anweisung, wie fur bestimmte Zwecke, auf dem Hintergrund eines gege-benen oder angenommenen Sinnhorizonts sprachliche Zeichenfolgen strukturiert werden mussen. Bei allen bisherigen Erkla rungsversuchen kommunikativen Handelns wurden sprachliche Regeln in einer dualen Re-lation zu den weiteren Faktoren eingefuhrt. Meiner Ansicht nach wird diese Gewichtung der Bedeutung der anderen Voraussetzungen kommunikativer Interaktion, wie sie hier erla utert wurden, nicht gerecht. Es gibt nicht eine einfache Gegenubersetzung der Realisierung sprachlicher Regeln und des situativen Kontextes, den die sprachlichen Zeichenfolgen zu ihrer aktuellen Verstehbarkeit brauchen. Diese Annahme fuhrt unweigerlich zur Vernach-la ssigung solcher Faktoren wie Sinnkonstanz etc. und ist geeignet, den An-schein zu erwecken, als seien sprachliche Zeichenfolgen abstrakt, situati-onsentbunden verstehbar. Demgegenuber bleibt festzuhalten, daü kommunikative Handlungen Bedin-gungen voraussetzen, die weit uber die Kenntnis der sprachlichen Struktur-regeln hinausgehen. Ich wurde sogar so weit gehen, zu behaupten, daü sprachliche Regeln in ihrer Funktion nur zu verstehen sind, wenn man die genannten Voraussetzungen berucksichtigt. Ihre Vernachla ssigung war ein Miü versta ndnis, das aufgrund der Selbstversta ndlichkeit des allgemeinen und situativen Handlungswissens, das meist unhinterfragt, sogar unbewuü t gegeben ist, zwar versta ndlich ist, fur theoretische Rekonstruktionen aber nicht entschuldigt werden kann. Kommunikatives Handeln als Vollzug einer Handlungsform auf einem voraussetzungsreichen Hintergrund ist nicht als schlichtes Handeln mit Handlungs-Mitteln darstellbar. Die Sprache ist nicht ein Mittel, das lediglich zur Transformation vorher gehabter Pla ne benutzt wird; vielmehr geschieht kommunikatives Handeln als ein Ablauf, in dem

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    eine Vielzahl von Faktoren berucksichtigt werden mussen und konstitutiv wirken. Diese Faktoren, theoretisch im Modell des praktischen Schlieü ens rekonstruiert, mussen nicht bewuü t sein, sind dies meist auch nicht, kon-nen aber bei Storungen im Interaktionsverlauf bewuü t / gemacht werden. Dabei kommen die konkreten situativen Bedingungen eher zum Vorschein, als die des allgemeinen Wissens. Letzteres bleibt als Ganzes, als Lebens- und Handlungsfundament unhinterfragbar; aus ihm konnen immer nur ein-zelne Teile hinterfragt werden (und auch dies geschieht meistens nicht).

    All die genannten Wissens-Faktoren sind als gegenseitig geteilte Erwar-tungen (und Erwartungserwartungen) Teil des Handlungskalkuls. Sie wer-den bezogen auf die Erwartung der Sinnhaftigkeit der kommunikativen Handlungen. Die allgemeine Sinn-Erwartung ist Anstoü zu Konstruktion und Rekonstruktion kommunikativer Handlungen; die speziellen themabe-zogenen Sinn-Erwartungen stecken den Rahmen der aktualisierbaren Sinn-Moglichkeiten ab; Hormann hatte sie als Sinnkonstanz plausibel be-schrieben. Die Voraussetzungen kommunikativer Interaktion, die den Hintergrund der Auü erung und des Verstehens sprachlicher Zeichen ausmachen, verdich-ten sich im Praktischen Schluü der Interagierenden, dem kommunikativen Handlungskalkul zu einer Handlungsform, die als Ganze, als Matrix insze-niert und interpretiert wird. Die sprachliche Zeichenfolge (Laut oder Schrift) ist dabei nur das materielle Korrelat, das tertium comparationis, das Spre-cher wie Horer dazu dient, kognitive Momente zu aktualisieren und als Pra -missen ihrer handelnden bzw. verstehenden Schlusse zu erkennen. Dabei sind die Leistungen von Sprecher und Horer prinzipiell vergleichbar. 3. Die Rolle des Ho rers Die kommunikative Leistung des Horers, das Verstehen, wird in traditionel-len Theorien meist nicht besonders beachtet. In Modellen, wo die Sinnhaf-tigkeit sprachlicher Auü erungen zum Teil des Lexikons bzw. der Sprach-Kompetenz wird, und in Form der Bedeutungen der Worter und Wortse-quenzen einfach abgerufen werden muü , ist Verstehen auch kein Problem. Es wird dabei ubersehen, daü das kommunikative Verstehen eine eigene Leistung, einen Akt des Horers voraussetzt, der dem des Sprechers in der Struktur vergleichbar ist. Selbst Grice erkennt diesen Akt dem Horer nur bei Rekonstruktion von Implikaturen zu, nicht beim Verstehen von ‘wortlich“ gemeintem (gesagtem). Damit wird unterstellt, daü das Verstehen nur bei komplizierteren kommunikativen Handlungen ‘erworben“ werden muü , wa h-rend es ‘normalerweise“ schlicht vorhanden ist, dem Horer ‘zufa llt“. Es gibt jedoch keinerlei Anzeichen, die die Annahme berechtigten, es gebe unter-schiedliche Arten des Verstehens kommunikativer Akte; ich halte diese An-nahme auch aus Grunden der Einheitlichkeit der theoretischen Beschrei-bung fur ungerechtfertigt. Bei Verstehensproblemen, wie sie mit komplizier-teren kommunikativen Interaktionen auftreten, werden nur die Bedingungen

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    deutlicher, die fur das Verstehen erfullt sein mussen. Erst bei der Analyse von Miü versta ndnissen, und dem Bemuhen, sie aufzulosen, / werden die Vorga nge des Verstehens deutlich. Die Selbstversta ndlichkeit im allta gli-chen Umgang mit Sprache, die Leichtigkeit des Verstehens, verdeckt die Voraussetzungen, die nur in einem theoretischen Modell aufgeschlusselt werden konnen. Das Modell der ‘Ausarbeitung“ von Implikaturen durch den Horer, das Grice anspricht, kann dabei als Anhaltspunkt fur ein Modell je-den Verstehens kommunikativer Akte dienen. Wir hatten die kognitiven Voraussetzungen, die zur Ausfuhrung eines kommunikativen Aktes vorliegen mussen, als von den Kommunikations-partnern geteiltes Wissen beschrieben. Fur den Sprecher heiü t dies, daü er zumindest vom Horer erwartet, daü dieser uber dasselbe Wissen, diesel-ben kognitiven Aspekte verfugt wie er selbst (da er es nicht mit Sicherheit ‘wissen“ kann). Der Sprecher muü diese Voraussetzungen berucksichtigen, d.h. Grunde fur die Annahme haben, daü sie beim Horer auch vorliegen, um seinen Handlungsvollzug danach auszurichten. Dies heiü t aber zu-gleich, daü die fur das Verstehbar-Machen der gea uü erten Zeichenfolge notwendigen Voraussetzungen, die Pra missen, die der Sprecher fur seinen praktischen Schluü berucksichtigen muü , in gleicher Weise auch beim Ho-rer vorliegen. Die Verpflichtung zur Rationalita t des Handelns zwingt den Sprecher, nur die mit einigermaü en hinreichender Sicherheit erwartbaren kognitiven Vo-raussetzungen als Pra missen seines Handlungskalkuls zuzulassen. D.h. mit der rationalen kommunikativen Handlung des Sprechers sind die Vo-raussetzungen beim Horer normalerweise nahezu vollsta ndig vorhanden. Der Sprecher kann sich immer nur auf Unwa gbarkeiten geringen Umfanges verlassen, will er sein Handlungsziel, das Verstehen, erreichen. Er kann immer nur erwarten, daü der Horer einige wenige Voraussetzungen er-ga nzt, die meisten mussen mehr oder weniger offensichtlich vorliegen. Prinzipiell ist naturlich die kommunikative Handlung des Sprechers zu-na chst nur ein Handlungsversuch, dessen Gelingen davon abha ngt, ob die vom Sprecher beim Horer erwarteten Voraussetzungen vorliegen, die erst den Handlungserfolg, das Verstehen, ermoglichen.11 Insofern reichen fur eine erfolgreiche kommunikative Interaktion die Annahmen des Sprechers nicht aus. Sie liegt erst dann vor, wenn der Horer die Voraussetzungen wirklich erfullt. Wir konnen also als erste Bedingung fur das Gelingen einer kommunikati-ven Interaktion, deren zweiter wesentlicher Teil die Verstehens-Leistung des Horers ist, formulieren: die kognitiven Voraussetzungen, die vom Spre-cher zur Grund- / lage seines Handlungskalkuls gemacht worden sind (als Pra missen des praktischen Schlusses), mussen beim Horer in anna hernd dem gleichen Umfang vorliegen, wie beim Sprecher selbst, und von ihm fur

    11 ‚Kommunizieren ist riskant, Kommunizieren hat Experimentalcharakter. Meine Individual-kompetenz ist meine Hypothese daruber, wie ich meinen kommunikativen Akten am besten Erfolg beschere. Die Tatsache, daü meine Kompetenz meine Hypothese uber das erfolgrei-che Kommunizieren ist, la ü t sie zum Gegenstand evolutiona rer Entwicklung werden. Gute Hypothesen werde ich beibehalten, schlechte modifizieren.— Keller 1984, 66.

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    den Horer erwartet werden. Die einzelnen Voraussetzungen brauchen hier nicht noch einmal aufgefuhrt zu werden. Auf der Grundlage dieser Voraus-setzungen muü der Horer in einem eigenen intentionalen Akt die einzelnen Momente der kommunikativen Handlung so aufeinander und auf seinen kognitiven Horizont beziehen, daü sich ihm ihr Sinn als rational nachvoll-ziehbares Verstehen erschlieü t. D.h. der Horer setzt die Rationalita t der zu verstehenden Handlung voraus, und rekonstruiert auf der Grundlage dieser Annahme, unter Bezug auf die kognitiven Voraussetzungen, die von ihm mit der Handlung in Verbindung gebracht und dem Sprecher unterstellt werden, den Sinn der kommunikativen Handlung. Als Ergebnis dieser Re-konstruktion tritt das Verstehen ein, das selbst keine Handlung ist, sondern den Charakter der Evidenz als Folge einer kognitiven Leistung des Horers tra gt.12 Der Horer teilt mit dem Sprecher die Voraussetzungen in der gleichen Wei-se, wie dieser selbst; sie tragen fur ihn, wie fur den Sprecher, den Charak-ter von Erwartungen. Der Horer erwartet, daü der Sprecher die Vorausset-zungen berucksichtigt hat, die dessen kommunikative Handlung fur ihn (den Horer) sinnvoll machen; er erwartet damit, daü der Sprecher seine Handlung so gemeint hat, wie er sie versteht. Der Beitrag des Horers zum Gelingen einer kommunikativen Interaktion zeigt die gleichen Momente, wie die Handlung des Sprechers. Es mussen die kognitiven Voraussetzungen erfullt sein, deren konkreter Teil als Erwartungen gegenuber dem Sprecher gehabt werden. Der Horer muü ein Handlungskalkul nachvollziehen und re-konstruiert damit einen praktischen Schluü . Der Schluü , der beim Sprecher zum Handlungsvollzug, der Auü erung einer Zeichenfolge, fuhrt, mundet beim Horer in das Verstehen. Beide, Sprecher wie Horer, mussen eine sprachliche Zeichenfolge auf der Grundlage der vorliegenden kognitiven Voraussetzungen sinnvoll machen; der Sprecher in der Annahme, daü der Horer den von ihm intendierten Sinn versteht, der Horer fur sich selbst. Wie Hormann gezeigt hat, ist fur das Verstehen nicht wesentlich, daü der Horer genau denselben Sinn er-schlieü t, wie der Sprecher; es reicht aus, daü der Sinn fur ihn eine Funktion im gegenwa rtigen Kommunikationsspiel hat. Mit dieser Annahme muü aber auch der Begriff des Gelingens einer kommunikativen Interaktion neu be-stimmt werden. Gelungen ist eine kommunikative Interaktion, wenn der Horer die kommunikative Handlung des Sprechers auf der Grundlage der Kenntnis des gegenwa rtigen Interaktions-Spiels (die unhinterfragt als ge-meinsam und identisch unterstellt wird, / bis einer der Beteiligten das Ge-genteil feststellt) mit Sinn fullen kann und dieser Sinn funktional zu dem gegebenen Sinnhorizont (Handlungs-Verlauf) ist. Verstehen ist also eine eigene intentionale Aktivita t. Die intentionale Aus-richtung auf Sinn, das Bemuhen nach Sinnkonstanz, fuhrt den Horer dazu, die gehorte Zeichenfolge, die als solche fur ihn zuna chst nur einen Raum von Sinnmoglichkeiten abgrenzt, unter Bezug auf Sinnhorizont, gegenwa r- 12 Dies betont Rudi Keller (1976 und 1977), der als erster das Verstehen als Rekonstruktion praktischer Schlusse beschrieb. Seine Ausfuhrung dieser Idee unterscheidet sich allerdings in einigen Punkten von der hier vorgelegten.

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    tiges Handlungsspiel (Situation und Kontext), Regelbeherrschung etc, mit Sinn zu fullen. Der Sinnbereich ist also immer schon vorgegeben (ange-deutet); das Verstehen der kommunikativen Einzelhandlung ist dann eine konkrete Aktualisierung von Sinn aus dem ubergeordneten Sinnhorizont heraus. Die (kognitive) intentionale Aktivita t des Horers, deren Resultat das Verstehen ist, ist schon deshalb erforderlich, weil dieser die kommunikative Handlung fu r sich sinnvoll machen muü , weil sie fur ihn eine Funktion ha-ben muü . Sinn ist, wie Hormann zeigte, immer Sinn fu r jemanden; er liegt nicht schon gebrauchsfertig und situationsunabha ngig vor. Was vorliegt, bzw. der einzelnen kommunikativen Interaktion vorausgeht, ist der diskursi-ve Kontext, der Sinnhorizont, der Sprecher und Horer gemeinsam ist (bzw. als gemeinsam unterstellt wird). Wir hatten die kommunikative Handlung als Teil einer Handlungsform be-schrieben, die das Ganze der Voraussetzungen in seiner konkreten Aus-formung umfaü t. Wie der Handlungsvollzug des Sprechers im Rahmen einer solchen Matrix steht, so muü auch das Verstehen des Horers die Handlungsform umschlieü en. Nur als Verstehen einer Handlungsform ist das kommunikative Verstehen moglich. Wegen der Vielzahl und Differen-ziertheit der zu ihr gehorenden Momente ist die vom Horer nachvollzogene Handlungsform, das Verstehen in all seinen kognitiven Bezugen und funk-tionalen Rollen, nicht der Handlungsform des Sprechers identisch. Wir konnten sie, in Analogie zur Handlungsform, als Sinnform13 (bzw. Sinn-Matrix) bezeichnen. Sie unterscheidet sich schon deswegen von der des Sprechers, weil sie eine andere Funktion hat, gema ü der unterschiedlichen Rollen von Sprecher und Horer im Interaktionsspiel. Die Rolle der sprachlichen Formen ist fur das Verstehen derjenigen beim kommunikativen Handeln vergleichbar. Rudi Keller setzt (in seiner Theorie des Verstehens als Rekonstruktion praktischer Schlusse)14 der Sinn-Rekon-struktion des Horers die Kenntnis der Ausdrucksbedeutungen der sprachli-chen Ausdrucke voraus. Hier liegt also wieder die Dichotomisierung von Sprach-Beherrschung und Situations- und Kontextwissen vor, von der wir gesagt hatten, daü sie die wesentliche Bedeutung der uber die Sprach-kenntnis hinausgehenden Voraussetzungen kommunikativer Interaktion verhullt. Selbst wenn Keller das Be- / deutungs-Kennen als Regel-Beherr-schen im Sinne Wittgensteins definiert, und die Rekonstruktion der Aus-drucks-Bedeutung als Resultat des kommunikativen Handlungsverstehens auffaü t, so la ü t die Gegenuberstellung von Verstehen und Bedeutungs-Kennen doch die untrennbare Einheit des Verstehens in Sinnformen ver-kennen. Ebenso wie die sprachliche Regelbeherrschung als die Beherr-schung sozialer Handlungsformen mit den kognitiven Voraussetzungen der kommunikativen Handlung untrennbar verbunden ist, erst im Vollzug von Handlungsformen sich die Beherrschung der Sprache erweist, so ist auch das Verstehen, als das Verstehen in Sinnformen nur als Aktualisierung von

    13 Dieser Begriff (wie der der Handlungsform) bezieht sich naturlich nicht auf die Form/In-halt-Dichotomie. Er ist eher im Sinne von ‘Formativ“ zu verstehen (vergleichbar einer struktu-ralistischen Redeweise), als dessen Abkurzung ich ihn hier verwende. 14 Keller 1977, 21.

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    Handlungsregeln moglich, in denen das sprachliche Regel-Beherrschen von der sozialen Handlungsform nicht zu trennen ist. Die theoretische Abs-traktion auf ‘Ausdrucks-Bedeutungen“, und die analytische Trennung von ‘Bedeutungs-Kennen“ und ‘Auü erung-Verstehen“ ist fur ein Modell der kom-munikativen Interaktion unnotig. Die Abstraktion von Bedeutungen ist eine Abstraktion aus Handlungsformen, die unter Voraussetzung der kognitiven Bedingungen Sinn-Moglichkeiten lexikalisch markiert, und nur fa lschlicher-weise den Anschein erweckt, als sei mit dieser Markierung allein der Sinn schon gegeben. Als Verstehen von Sinnformen, die allgemeines Weltwissen als Hintergrund immer mit einbeziehen, ist kommunikatives Verstehen immer auch Welt-verstehen. Die sprachliche Konstitution von Wissen uber die Welt geschieht also durch die enge Beziehung dieses Wissens zu den Akten kommunikati-ver Versta ndigung, die als Versta ndigung unter sozialen Partnern immer auch Versta ndigung uber die Welt ist. Jeder kommunikative Akt konstituiert so, indem er Sinn realisiert, ein Stuck Welt wieder oder neu. Indem wir un-ser allgemeines und spezielles Wissen als Voraussetzung unseres kommu-nikativen Handlungskalkuls in jede Kommunikation mit einbringen, erneu-ern und besta tigen wir unser Wissen, erweitern es aber auch. Kommunika-tives Handeln ist also der zentrale Ort der Konstitution unserer Wirklich-keitserfahrung, indem der kommunikativ konstituierte und realisierte Sinn unser Wissen uber die Welt mitschwingen la ü t. Die Unterscheidung zwi-schen Sinn-Verstehen und Weltverstehen, oder zwischen Verstehen und Versta ndigung, ist so nur eine der theoretischen Perspektive; der Weg des Verstehens geht immer uber die kommunikative Interaktion. 4. Grenzen und Probleme des Modells

    kommunikativer Interaktion Ist das Praktische Schlieü en wirklich ein zureichendes Grundmodell fur Kommunikation? Zuna chst will ich noch der Frage nachgehen, ob kommu-nikatives Handeln und Verstehen mit diesem Modell identisch beschrieben werden konnen, oder ob es wesentliche Unterschiede gibt. Kommunikati-ves Handeln und Ver- / stehen sind unzweifelhaft zwei verschiedene Akte, die gemeinsam die kommunikative Interaktion ergeben, ein sozialer Vor-gang, in dem sich zwei Partner auf einander beziehen, indem sie gemein-sam Sinn realisieren. Der Sprecher setzt ihn in Szene, und der Horer muü diese Szene interpretieren. Das Verfugen uber die kognitiven Vorausset-zungen verbindet sie, und bildet die Bedingung der Moglichkeit, uberhaupt Versta ndigung herzustellen. Beide Beteiligte benutzen in der Kommunikati-on ihre Kenntnisse, aber sie benutzen sie auf verschiedene Weise. Der Sprecher hat den Sinnhorizont vor Augen und die Moglichkeiten, darin eine kommunikative Handlung zu realisieren, liegen offen vor ihm. Der Horer verfugt (zumindest anna hernd) uber denselben Sinnhorizont, doch liegt das kommunikative Handlungsergebnis fertig vor ihm; ihm sind die Moglichkei-

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    ten, die Zeichenfolge mit Sinn zu fullen, offen. Der Sprecher hat das Kom-munikationsziel antizipiert, und leitet daraus den Handlungsvollzug ab; der Horer registriert den Handlungsvollzug, und muü daraus den Sinn (das Kommunikationsziel des Sprechers) gewinnen. Er rekonstruiert den prakti-schen Schluü , der Sprecher fuhrt ihn aus. Die Aktivita t des Sprechers ist praktisch, er muü handeln; die des Horers ist kognitiv, er muü interpretie-ren. Beider Parts sind also nicht identisch, aber komplementa r. Ihr Bezug auf die kognitiven Voraussetzungen verbindet sie, indem sie diese jeweils wechselseitig voneinander erwarten. Der Sprecher muü diese Erwartungen beim Horer voraussetzen konnen Ü dies meinte Grice mit seiner Rekon-struktion der Sprecher-Intentionen; der Horer muü beim Sprecher ein Handlungskalkul voraussetzen, die Handlung als kommunikativ in einem bestimmten Zusammenhang unterstellen, um sie verstehen zu konnen Ü dies sprach Hormann mit seinem Begriff der Sinnkonstanz an. Beide be-ziehen sich dabei auf ihre kommunikative Handlungserfahrung, ihre Be-herrschung der sprachlichen (sozialen) Regeln, der Sprach-Handlungs-Spiele und Handlungsformen, ihr gesellschaftliches Wissen; sie gebrau-chen die Sprache und verstehen sich, weil sie ihren Gebrauch in vergleich-barer Weise eingeubt haben Ü dies meinte Wittgenstein mit seiner These von der Bedeutung als dem Gebrauch. Der Sprecher hat moglicherweise die groü ere Sicherheit in seinem Hand-lungsvollzug Ü das Handlungsergebnis liegt ja, einmal ausgesprochen, fertig da. Doch hat er noch keine Garantie dafur, daü er damit sein Hand-lungsziel erreicht hat: er kann sich in seinem Sprachgebrauch geirrt haben, oder nicht nachvollziehbare Voraussetzungen angenommen zu haben. Er muü auch nicht der beste Kenner seiner Intentionen sein (wie v. Wright ge-zeigt hat). Der Horer hat die Unwa gbarkeit der Interpretation auszuhalten; zwar kann er ruckfragen, doch ist jede Ruckfrage eine neue kommunikative Handlung mit ihren eigenen Unsicherheiten. Zudem stort zu ha ufiges Nach-fragen den Interaktionsablauf. Fur ihn ist wichtig, daü die kommunikative Handlung in seinem Handlungskontext eine Rolle spielen kann, mit Sinn zu fullen ist. Ihn leitet das Bewuü tsein der Gemeinsamkeit der kognitiven Vo-raussetzungen Ü eine Gemeinsamkeit, die in allta g- / lichen Kommunikati-onen meist unhinterfragt und problemlos als gegeben vorausgesetzt wer-den kann. Die Unwa gbarkeiten und Fehlerquellen liegen also auf beiden Seiten, dies konnte in Code-Theorien der Sprache nicht berucksichtigt wer-den. Verstehen ist ebenso wie kommunikatives Handeln ein eigensta ndiger Akt, der diesem a hnlich ist in der Heranziehung der kognitiven Vorausset-zungen, sich aber im Vollzug von ihm unterscheidet; jener ist aktives Han-deln, dieser ist Interpretation, mit all ihren Eigenschaften. Als Rekonstrukti-on eines Handlungskalkuls, also als Explizit-machen von unterstellten Pra -missen, ist sie nicht objektivierbar, sondern nur auf das eigene Sprach- und Handlungsgefuhl beziehbar. Verstanden ist (fur den Horer), sobald die Ge-fuhle der Sicherheit der Interpretation die der Unsicherheit uberwiegen.

    Man kann sich fragen, ob das Modell des praktischen Schlieü ens ein zu-reichendes Grundmodell fur Kommunikation ist, und ob dieses Modell das

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    Problem der Bedeutung in der Sprache lost, ja, ob es uberhaupt eine Theo-rie der Bedeutung entha lt. Die naheliegendste Irrefuhrung, die dieses Mo-dell hervorrufen konnte, wa re die Annahme, kommunikatives Handeln und Verstehen gescha hen mehr oder weniger bewuü t, der praktische Schluü sei ein in seinen einzelnen Schritten bewuü t vollzogenes Kalkul. Dies ist ganz offensichtlich nicht der Fall. Das Modell ist, wie jede Erkla rungshypo-these, eine Rekonstruktion von Handlungsvorga ngen, die die Bedingungen der Moglichkeiten kommunikativer Handlungen aufdecken und benennen soll. Als Rekonstruktion ist sie immer ein Beschreibungsmodell, das be-stimmten theoretischen Zwecken dient, fur andere Zwecke moglicherweise unzula nglich ist. Wir hatten bei der Erla uterung des Handlungsbegriffs ge-sehen, daü schon das Konzept einer Handlung ein theoretischer Zugriff ist, der aus einer Folge von Ursache-Wirkung-Beziehungen (oder aus einem Komplex von Ziel-Ausfuhrungs-Hierarchien), eine bestimmte Folge, ein ein-zelnes Ziel und den dazugehorigen Handlungsvollzug ausgrenzt. Schon die einzelne ‘Handlung“ ist also eine theoretische Rekonstruktion, die Auf-schlusselung ihres Zustandekommens und ihrer Voraussetzungen um so mehr. Allerdings macht ein Modell ja nur dann Sinn, wenn es einleuchtend und praktikabel ist; es sollte bei Bezug auf konkrete Handlungen nachvollzieh-bar sein, und auch zur Erhellung von Problemen angewendet werden kon-nen. Darin liegt sein ‘Wahrheitsgehalt“. Ich glaube nun, daü ein Modell, das kommunikative Interaktion als praktisches Schlieü en rekonstruiert, diesen ‘Wahrheitsgehalt“ hat. Der ‘praktische Schluü “ ist ja selbst nur ein Modell, das wir zur Beschreibung von Beobachtungen, die wir immer schon im Zu-sammenhang mit Kommunikation gemacht haben, herangezogen haben. Wir beobachten fur gewohnlich unsere Kommunikation erst dann, wenn ihr Ablauf uns nicht selbstversta ndlich ist, wenn Storungen und Miü versta nd-nisse auftreten; dann werden uns mehr und mehr der Bedingungen be-wuü t, die jede fur sich erfullt sein mussen, um das Kommunikationsziel herbeizufuhren. Kommunikatives Handeln geschieht gewohnlich unbewuü t, wir handeln ‘automatisch“, so wie wir etwa beim Auto- / fahren automatisch Kupplung und Bremse bedienen, und doch haben wir diese Handlungen einmal bewuü t gelernt, sind wir eingeubt worden in Handlungsabla ufe. Wenn wir nun einen Fehler machen, dann konnen wir uns nachtra glich ins Bewuü tsein rufen, welche Bedingung fur das Gelingen wir nicht erfullt ha-ben (wenn es beim Schalten im Getriebe kracht, dann wissen wir, daü wir die Kupplung nicht beta tigt haben). Die gewohnlich ‘bewuü tlose“, automati-sche Handlung wird wieder bewuü t gemacht. Nicht anders ist es bei kommunikativen Handlungen. Wir sind als Kinder in den Gebrauch der Sprache eingeubt worden, d.h. wir haben Handlungsab-la ufe erlernt, und so intuitiv mitbekommen, welche Einzelbedingungen wir alle berucksichtigen mussen, damit unsere Kommunikation gelingt. Wenn nun eine Storung eintritt, dann machen wir uns einige dieser Bedingungen bewuü t. Das automatische Handeln wird bewuü t nachzuvollziehen ver-sucht, und dabei werden Voraussetzungen fur sein Gelingen offengelegt. Dies geschieht z.B. in solchen Formulierungen wie: ‚Das (Gegenstand) ist

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    doch nicht lila, sondern rosa— (d.h. die Gebrauchregeln von Ausdrucken werden offengelegt), oder ‚Ich versteh dich nicht, wovon redest du eigent-lich— (die situativen und kontextuellen Voraussetzungen werden bewuü t ge-macht und zu verdeutlichen gefordert, d.h. der Sprecher hat hinsichtlich der Unterstellung von Handlungswissen einen Fehler gemacht); oder ‚Ach was, wir reden ja gar nicht uber dasselbe, fur mich ist Demokratie was ganz an-deres— (das allgemeine Hintergrundwissen, die Einstellung zu bestimmten ideologischen Fragen, das Weltbild werden angesprochen, und deutlich ge-macht, daü dadurch eine Divergenz im Sinnhorizont bei der Verwendung identischer Begriffe auftritt). Diese Beispiele lieü en sich beliebig vermehren; man kann an der Analyse von Diskursen tatsa chlich aufzeigen, daü die oben angefuhrten Vorausset-zungen kommunikativen Handelns als Pra missen in jede einzelne Hand-lung eingehen mussen, und ihre Notwendigkeit bei Miü lingen der Kommu-nikation auch bewuü t gemacht werden kann. Implizit sind viele dieser Be-dingungen bewuü t, sie werden in allta glicher Reflexion uber Kommunikati-on offengelegt; allein die allgemeineren, Weltbild-bezogenen Vorausset-zungen werden nicht immer bewuü t. Vor allem in politischen Diskursen werden die unterschiedlichen Verwendungsweisen von Begriffen, ihre Ideo-logietra chtigkeit, noch akzeptiert. Bei nicht-politischer Alltags-Kommunikati-on ist die Relativita t des Wissens-Hintergrundes, die sprachlich gelenkte Pra gung des Wirklichkeits-Bildes nicht mehr bewuü t. Das Modell des praktischen Schlieü ens rekonstruiert also Voraussetzun-gen fur die Moglichkeit des Gelingens kommunikativer Interaktion, die nor-malerweise unhinterfragt (unbewuü t) berucksichtigt werden, aber bei Sto-rungen im Nachhinein bewuü t gemacht werden konnen. Der Sprecher voll-zieht seine Handlungsformen, ohne sie sich (im Normalfall) im einzelnen aufzuschlusseln. Ob er seine kommunikative Intention verwirklichen konn-te, zeigt sich erst, nachdem / er gesprochen hat; deshalb sind Korrekturen wie ‚nee, das habe ich doch nicht gemeint— bei schwierigeren kommunikati-ven Handlungen auch recht ha ufig. Im Modell des praktischen Schlieü ens schlusseln wir den Handlungsvollzug theoretisch auf, ohne damit schon einen zeitlichen Ablauf oder eine logische Folge beim kognitiven Aspekt des Handlungsvollzugs zu behaupten. Wir geben nur an, ohne welche Be-dingungen kommunikative Handlungen nicht gelingen konnen. Dabei sind diese Bedingungen nicht im logischen Sinne aufzufassen, der-gestalt, daü eine einzelne hier formulierte Voraussetzung als hinreichende oder notwendige Bedingung im logischen Sinn behauptet werden konnte; der rekonstruktive Charakter dieses Modells beinhaltet, daü die hier als ein-zelne Voraussetzungen beschriebenen Faktoren nicht notwendig auch in der konkreten Analyse getrennt voneinander identifiziert werden konnten, daü sozusagen unsere Begriffe Sachverhalte beschrieben, die wir als sol-che nur noch aufzusuchen brauchten. Die Rede von den Handlungsformen, von den Sprachspielen beinhaltet gerade, daü die einzelnen Vorausset-zungen eine nur schwer aufzulosende Verknupfung eingehen. Kognitive Prozesse lassen sich nun einmal nur theoretisch rekonstruieren; jeder em-pirische U berprufungsversuch (etwa in psychologischen Experimenten)

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    steht unter der Anleitung durch ein theoretisches Konzept, beweist also nur, was ohnehin schon vorausgesetzt wurde. Wir konnen nur die praktischen Folgen der Voraussetzungen untersuchen, etwa, wenn wir Kommunikationsstorungen analysieren. Dabei ist unsere Vermutung, diese oder jene Bedingung sei nicht erfullt gewesen, immer nur eine Interpretation, die wir aufgrund unseres theoretischen Modells und unserer eigenen Handlungserfahrung unternehmen. Wir setzen uns damit derselben Unwa gbarkeit aus, wie sie der Verstehende in der kommunikati-ven Interaktion hat. Wir konnen nicht mit logischer Sicherheit sagen, diese oder jene Voraussetzung sei notwendig, andere nur hinreichend. Im einzel-nen Kommunikationsverlauf kann das Nichterfullt-Sein einer Bedingung moglicherweise durch die sichere Kenntnis einer anderen ersetzt werden. Die falsche Verwendung eines Wortes kann z.B. durch das Offenliegen des Sinnes der kommunikativen Handlung ausgeglichen werden. Einzelne Fak-toren, das zeigte Grice mit seinen Konversationsmaximen und der Rekon-struktion der Implikatur, konnen verletzt werden, ohne das Kommunikati-onsziel insgesamt zu gefa hrden. Deshalb sollte eine Rekonstruktion der kommunikativen Interaktion nicht mit logischen Mitteln eine Schein-Exakt-heit suggerieren, sondern den interpretativen Charakter jedes theoreti-schen Modells der Kommunikation offenlegen. Ein Modell nutzt immer nur fur bestimmte theoretische Zwecke, fur andere nicht. Was ist der spezielle Nutzen unseres Modells der kommunikativen Interaktion fur die historische Semantik? In der historischen Semantik, wenn sie als Geschichte der sprachlichen Verarbeitung von historischer Erfahrung gedacht ist, kommt es wesentlich auf die bewuü tseinsma ü igen Implikationen histo- / risch-politischer Diskurse an. Es soll aufgedeckt wer-den, in welcher Weise die Verwendung der Sprache zur Konstitution histo-rischen Wirklichkeits-Bewuü tseins beitra gt bzw. es widerspiegelt. Fur die-ses Ziel ist es wichtig, die Bezuge auf das allgemeine (historische) Welt-Wissen in jeder einzelnen kommunikativen Handlung aufzudecken. Wenn die Bedeutung der Begriffe als ihr Gebrauch in einzelnen kommunikativen Akten definiert wird, dann muü dieser Gebrauch mit Bezug auf die allge-meinen, die einzelne Situation ubergreifenden, Sinnhorizonte, auf die ‘ideo-logischen“ Verknupfungen der jeweiligen Redeweisen untersucht werden. Ein Modell, das diese Bezuge als fur Kommunikation wesentlich in das Mo-dell der kommunikativen Interaktion mit einbezieht, ist deshalb als Grundla-ge der historischen Semantik nutzlicher, als eine Auffassung, die eine si-tuationsunabha ngige ‘Bedeutung“ der Begriffe nachtra glich auf die sprach-unabha ngig rekonstruierten Bewuü tseins-Gehalte zu beziehen versucht. Letztere Methode verbleibt im Bereich reiner Wort- oder Ideen-Geschichte, wa hrend unser Modell der Kommunikation es erlaubt, beides in der Rekon-struktion der bewuü tseinsma ü igen Voraussetzungen kommunikativen Han-delns und der kommunikativen Entstehung des Bewuü tseins zu vereinen.

    Unser Modell zeigt, in Verbindung mit Wittgensteins Auffassung der Be-deutung als Gebrauch, wie die Bedeutsamkeit sprachlicher Ausdrucke aus der einzelnen kommunikativen Handlung erwa chst, die immer schon vielfa l-tige Faktoren des Bewuü tseins allgemeiner und spezieller Art integriert, die

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    allein die Verstehbarkeit sprachlicher Zeichen bedingen. Es ist deshalb eine Theorie der Bedeutung, weil es die Bedingungen, die ein Zeichen erst sinnvoll machen, in die Analyse mit einbezieht, anstatt sie unhinterfragt und unanalysiert vorauszusetzen. Die historische Semantik braucht ein solches Konzept der Bedeutung, wenn sie die Verknupfung von Sprache und Be-wuü tseinsbildung zum Gegenstand hat. Wir decken hier also nur solche Momente auf, die eine so gefaü te historische Semantik ohnehin auf die eine oder andere Weise berucksichtigen muü . Es ist besser, sie tut dies ausdrucklich, als verdeckt, weil nur so die arbitra ren Einflusse auf die Inter-pretation bewuü t und somit durchschaubar gemacht werden konnen. 5. Wort und Begriff im kommunikativen Handeln Die Begriffsgeschichte als vorherrschendes Paradigma der bisherigen his-torischen Semantik will die sprachliche Bewuü tseinskonstitution durch die Analyse von Wortern aufspuren. Welche Rolle spielen (Begriffs-) Worte im kommunikativen Handeln, wie es in unserem Modell rekonstruiert wurde? Zuna chst konnte die Frage gestellt werden, was eine Theorie des Handelns mit den Bedeutungen von Wortern zu tun haben kann. Dahinter versteckt sich die alte bequeme Trennung von Syntax, Semantik und Pragmatik, mit der unterstellt wird, die Mittel der / Sprache wurden mit ihren feststehenden Bedeutungen verwendet, mit Worten wurde gehandelt, indem sie in ihren Bedeutungen benutzt wurden. Einer solchen Position, die Bedeutungshaftigkeit schlicht als gegeben vo-raussetzt, gegenuber bleibt festzuhalten, daü die Rekonstruktion von Spre-chen als Interaktion, wie sie hier vorgeschlagen wird, beinhaltet, daü mit diesem Modell die Bedeutungshaftigkeit von Sprache gerade erst erkla rt werden soll. Ein Unterschied zwischen Semantik und ‘Pragmatik“ besteht also nicht. Handlungserkla rungen von Kommunikation sollen gerade zei-gen, daü die Bedeutungen erst durch den Handlungscharakter von Spra-che zustande kommen. ‘Pragmatische“ Erkla rungen sind deshalb als genu-in semantische aufzufassen.15 Gelegentlich wurde mit der Forderung, Spra-che als Ta tigkeit zu untersuchen, gar der Zeichenbegriff insgesamt verab-schiedet.16 Kann der Begriff des Zeichens, d.h. fur uns, der des Wortes, uberhaupt noch eine Funktion in einem Handlungsmodell haben? Nun ist es ja un-ubersehbar, daü es Worte gibt; schlieü lich werden sie sogar in Worterbu-chern aufgezeichnet. Man sollte dabei allerdings bedenken, daü die Auf-zeichnung von Wortern mit ‘Bedeutungen“ in Lexika eine bestimmte Funkti-

    15 Dies betont auch Wimmer 1977, 167. 16 Die Forderung, Sprache als Ta tigkeit zu untersuchen, ist nicht neu; sie findet sich z.B. schon bei Leont“ev (1971, 26). Er behauptet, daü es bei der Untersuchung der Sprache nur auf den Ta tigkeits-Aspekt ankomme, und will sogar den Zeichenbegriff aus der Linguistik ausschlieü en: ‚Der Begriff des Zeichens ist der Linguistik vollig fremd und in sie von auü en hineingetragen.— (44)

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    on erfullt; es ist im Hinblick auf bestimmte Zwecke nicht sinnlos, ‘Bedeu-tungen“ als Wort-Bedeutungen aufzuzeichnen. Dies kann allerdings nicht davon ablenken, daü diese nur im Gebrauch vollig erlernt werden. Die Be-deutungserkla rung im Worterbuch hat nur deshalb einen Sinn, weil der mogliche Verwendungskontext schon abgesteckt ist. Das Wort hat, wie schon Malinowski bemerkte, keine unabha ngige Existenz: ‚Der Situations-kontext ist fur das Versta ndnis der Worte unerla ü lich.—17 Was alles zum ‘Si-tuationskontext“ hinzugehort, haben wir im vergangenen Abschnitt aufzu-schlusseln versucht. Im Grunde stehen sich hier zwei Erkla rungsmuster gegenuber: Ist ‘Bedeu-tung“ als eine Eigenschaft (von Worten, Sa tzen) oder als ein Vorgang zu beschreiben? Wir sahen, daü Bedeutungen (d.h. Sinn) in kommunikativen Handlungen realisiert werden. Sprachliche Zeichen bekommen einen Sinn nur, indem sie eine Funktion in einer kommunikativen Handlung ausuben; ihre Bedeutungshaftigkeit ist genuin mit dem Vorgang des Kommunizierens verknupft. Der kommunikativ Handelnde (dazu gehort auch der Horer) ver-steht eine Auü erung, indem er die kommunikative Handlung nachvollzieht. Er realisiert den Sinn, indem er die vernommene Zeichenfolge auf den all-gemeinen Sinn- / und Situations-Kontext bezieht, von dem die kommunika-tive Handlung ein Teil ist. Die Feststellung von Teil-Bedeutungen bei Unter-einheiten der gea uü erten Zeichenfolge ist dann eine Abstraktion, die retro-spektiv nach Verstehen der kommunikativen Handlung (und damit nach der Realisierung des Sinns) erfolgt. Sie ist ein Ruckschluü , der den allgemei-nen Sinnhorizont (die Voraussetzungen, welche die kommunikative Hand-lung und ihr Verstehen erst ermoglichten) konstant setzt und aus ihm ein-zelne Momente isoliert und abstrahiert, die zu der Bedeutung der Teil-Ein-heit reifiziert werden. Die Abstraktion von ‘Bedeutungen“ als Eigenschaften sprachlicher Lautein-heiten ist eine Leistung, die unter Verkennung des Prozeü charakters von Sprache erfolgt. Dabei wird, aus einem Miü versta ndnis heraus, der Umfang der fur sprachliches Handeln notwendigen Voraussetzungen unterscha tzt, und lediglich ein kleiner Ausschnitt daraus als differenzierender Faktor der ‘Bedeutungen“ hervorgehoben. Dies ist etwa so, wie wenn man den Wald vor lauter Ba umen nicht sieht.18

    17 Malinowski 1974, 339 f. 18 Man kann dieses Beispiel etwas vertiefen: Wenn wir z.B. eine Bananenplantage sehen, so sehen wir lauter einzelne Bananenba ume aus dem Boden emporragen. Wir isolieren mit unserem auf Einzelgegenstandswahrnehmung gedrillten Wirklichkei tssinn einzelne Ba ume, die fur uns einzelne Gegensta nde darstellen. Dabei ubersehen wir, daü das, was wir als ‘Bananenbaum“ erkennen, nur der an die Oberfla che kommende Teil eines riesigen unterir-dischen Organismus ist, der aus der ganzen Plantage letztlich eine Pflanze mit vielen ober-irdischen Trieben macht. Bei Wortbedeutungen sehen wir nur das, was uns bewuü t wird, was an der ‘Oberfla che“ liegt. Den Laut, den wir mit seinen Bedeutungen gegenstandshaft ausgrenzen. Wir uberse-hen dabei die Wurzeln, und daü die ‘Bedeutung“ nur Teil eines ‘unter der Oberfla che liegen-den“ Sinngeflechts ist, das wir nicht wahrnehmen, weil es uns in der allta glichen Kommuni-kation wie selbstversta ndlich gegeben ist.

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    Die Bedingungen, die Sinn erst ermoglichen, werden von uns in weiten Teilen selbstversta ndlich unterstellt und nicht bewuü t wahrgenommen. Dies bewirkt, daü eine Abkurzung (die die ‘Wortbedeutung“ z.B. in der Lexikon-form darstellt) ausreicht, um uns die Funktion eines Wortes vor Augen zu fuhren. Wir erkennen die funktionalen Moglichkeiten, die ein Wort uns eroff-net, weil wir uns an unsere Wortverwendungserfahrungen erinnern. Die als ‘Bedeutung“ apostrophierten Marken sind nur der Anlaü fur uns, Sinnmog-lichkeiten zu realisieren, nicht dieser Sinn selbst. Das Begriffswort fungiert nur, wie S. J. Schmidt angemerkt hat, als ‘allge-meiner Titel fur mogliche Verwendungsgeschichten“.19 Es fungiert als analy-tische Kategorie, die als Knotenpunkt von Sinnmoglichkeiten im Netz des kommunikativen Handlungswissens dient. Die Vieldeutigkeit des allgemei-nen Titels, welcher das abstrakt gesehene Wort ist, kontrastiert zur Eindeu-tigkeit, der es sich in der konkreten Verwendung zumindest na hert. Es kon-trastiert also das / Allgemeine des Abstraktums zur Konkretheit kommuni-kativ vollzogenen Sinns. Macht es Sinn, Wortbedeutung und kommunikati-ve Verwendung entlang der Linie Allgemeingultigkeit Ü konkrete Realisie-rung zu unterscheiden? Fur Hormann war das Verha ltnis von Allgemeinem zu Besonderem aufge-hoben im allgemeinen Sinnhorizont des Kommunizierens und der konkre-ten Sinnrealisierung in der einzelnen kommunikativen Handlung. So etwas wie Wortbedeutungen als allgemeine Sinnmoglichkeit einer konkreten Sinn-realisierung in der Wortverwendung gegenuberzustellen heiü t, daü so et-was wie ‘allgemeiner Sinn“ uberhaupt unabha ngig von konkreten Situatio-nen ausgegrenzt werden kann. Es wird dabei unterstellt, daü die ‘analyti-sche Abstraktion“, als die Schmidt die ‘Bedeutung“ beschrieben hat, eine im Alltagsbewuü tsein tatsa chlich vorgenommene Abstraktion ist. Aber was ist z.B. ‘Freiheit“, von der Anwendung dieses Begriffes abstrahiert? Konnen wir uns darunter etwas vorstellen? Oder denken wir eher an die Erfahrungen, die wir in Diskursen mit der Verwendung dieses Wortes gemacht haben? Es scheint, als verfielen wir immer wieder dem Irrtum, ‘Bedeutung“ oder ‘Sinn“ als etwas Gegensta ndliches, identisch Faü bares aufzufassen. Der allgemeine ‘Sinn“ ist nicht etwas, das uns einfach so vorschwebt, wie uns etwa ein Bild vorschwebt (sagt Wittgenstein). Der ‘Sinn“ eines Wortes be-steht fur uns in den kommunikativen Handlungsmoglichkeiten, die es uns eroffnet; und diese Moglichkeiten eroffnet es uns als funktionabler Teil von situationsgebundenen und kontextbezogenen kommunikativen Auü erun-gen. ‘Sinn“ fur uns heiü t Verwendungsmoglichkeit. Abstrakter Sinn ist eine Ahnung von Verwendungsmoglichkeiten, bei des-sen Vorstellung wir uns an erlebte Diskurse erinnern, die als allgemeiner, nicht individualisierter Erinnerungskontext unhinterfragt vorausgesetzt wer-den. Was uns Anlaü der Erinnerung ist, das Wortzeichen, wird als Einziges bewuü t, und so als Sinn-Tra ger miü verstanden. Das Wort ist aber nicht mehr als Erinnerungszeichen, als der Mittler, der unsere Sinn-Bezuge mit-einander zu verbinden erlaubt. Als Allgemeines ist das Wort leer, ‘todte

    19 Schmidt 1969, 152.

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    Abstraction“ bei Humboldt; es lebt nur, indem wir es auf unseren Sinn-Hori-zont beziehen. Die Dichotomie der Allgemeinheit des Zeichens und seiner konkreten An-wendung wird nun vielfach mit anderen Konzepten verknupft. Aus dem All-gemeinen wird dann eine Allgemeingultigkeit von Sinn, die der situations-gebundenen Gultigkeit der kommunikativen Handlungs-Bedeutung gegen-ubergestellt wird. Fur diese Dichotomie werden auch die Ausdruckspaare objektiv/subjektiv und intersubjektiv/subjektiv gebraucht. Der Begriff ‘objek-tiv“ spielt offensichtlich auf das Konzept einer allgemeinen, situationsent-bundenen Ausdrucksbedeutung an. ‘Objektiv“ seien Begriffsinhalte, weil sie das von allen Akzeptierte des Sinnhorizontes bezeichneten. In diesem Sin-ne unterscheidet etwa K. O. Erdmann den ‘objektiven“ Begriffsinhalt vom ‘subjektiven“ Nebensinn.20 / Die ‘Geltung fur jemanden“ wird einer ‘Geltung an sich“ gegenubergestellt. Nach Cherubim21 stehen hinter dieser Unter-scheidung zwei vollig verschiedene Sprachbetrachtungsweisen, die Spra-che einmal unter dem Aspekt der Individualita t zum anderen unter dem der Pluralita t der Sprachbenutzer betrachten. Dieser Dualita t korrespondiert die der Beziehung von Sprache auf die sie sprechenden Menschen bzw. die Ablosung der Sprache von den Benutzern. Ich habe Zweifel, ob diese Trennungen durchzuhalten sind, wenngleich offensichtlich ist, daü Schwer-punktsetzungen gemacht werden. Selbst wenn in dem hier vorgeschlage-nen Modell der kommunikativen Interaktion der Focus eindeutig auf den Sprachbenutzern liegt, muü dennoch der Aspekt der Pluralita t bzw. Inter-subjektivita t genuiner Bestandteil jeder Kommunikations- und Bedeutungs-theorie sein. In der sprachlichen Kommunikation kommen Individualita t des Sinnverstehens und intersubjektive Erzeugung von Sinn ja gerade zur Ver-mittlung. Die Perspektive der Erkla rung kommunikativen Handelns auf die einzelnen Handlungen und die daran Beteiligten ist keine der Individualita t; vielmehr verbindet das Konzept der kommunikativen Interaktion, das sich eben nicht auf entweder den Sprecher oder den Horer beschra nkt, die Be-teiligten in der Intersubjektivita t ihrer Sinn-Realisierung. Erst indem durch den Bezug auf die intersubjektiv als gultig zu unterstellenden kognitiven Vo-raussetzungen der Kommunikation alle Beteiligten in ihren Rollen aufein-ander bezogen werden, wird die notwendige Bindung des individuellen Ver-stehens an uberindividuelle kognitive Momente deutlich herausgestellt.

    Intersubjektiver Sinn stellt sich erst dann her, wenn die Lautzeichen der Sprache in ihrer Verwendung, die immer eine konkrete, situations- und kon-textbezogene ist, bewuü t werden. Erst wenn durch vielfa ltige Kommunika-tionserfahrungen sich Verwendungsmoglichkeiten herauskristallisiert ha-ben, konkrete Situations-Bedeutungen sich zu einer Gebrauchs-Geschichte verdichtet haben, entsteht so etwas wie intersubjektive Gultigkeit, uberindi-vidueller Sinn. Dieser Sinn stellt aber nicht eine abstrakte, identische, an ein Lautzeichen fest geknupfte ‘Bedeutung“ dar, sondern beha lt als Ver-wendungsgeschichte immer Moglichkeitscharakter, der auf eine Vielfalt

    20 Nach der Interpretation von Dieckmann 1979, 90. 21 Cherubim 1974, 366.

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    kommunikativer Handlungsrollen verweist, die das Zeichen spielen kann, und in denen erst der ‘Sinn“ realisiert wird. ‘Allgemeingultigkeit“, ‘Intersubjektivita t“, ‘Objektivita t“ sind Konzepte, die sich auf die Notwendigkeit der Verla ü lichkeit von Sinnrealisierungen in der Kommunikation beziehen. Sie stellen das Grundproblem der Sprachbe-trachtung (des Verha ltnisses von individueller Realisierung bei uberindivi-dueller Verbindlichkeit von Sinn), aber sie stellen es falsch, wenn hinter ihnen die Auffassung steht, daü die Objektivita t eines Begriffs mit der si-cheren Kenntnis seiner ‘Bedeutung“ als Teil eines ‘Lexikons“ schon gege-ben ist. Allgemeingultigkeit heiü t / vielmehr, daü im intersubjektiven Prozeü der kommunikativen Interaktion die beteiligten Individuen sich aufgrund der Wissens-Voraussetzungen, die sie als Mitglieder einer Sprach- und Kultur-gemeinschaft teilen, darauf verlassen konnen, daü der Partner seinen prak-tischen kommunikativen Schluü in der gleichen Weise vollziehen wird, wie man selbst. Die Intersubjektivita t der Realisierung von Sinn ergibt sich aus dem unhinterfragt vorausgesetzten Sinnhorizont, dem alle Beteiligten unter-liegen. Das Wissen von der Verwendung eines Wortes ist das Wissen von seiner kommunikativen Geltung, welches mit dem Wissen der ‘Bedeutung“ iden-tisch ist (und nicht von ihr unterschieden, wie Dieckmann annimmt).22 Die Geltung bezieht sich immer auf den Gesamtzusammenhang kognitiver Be-dingungen, die fur das Gelingen der Kommunikation Voraussetzungen sind. Worte ohne diese Bedingungen betrachtet abstrahieren einige Momente des Wissens um die Verwendungsmoglichkeiten vor dem Hintergrund der nicht-bewuü ten Voraussetzung des jeweils zu aktivierenden allgemeinen und Kontext-Wissens. Abstrahierte Begriffe spielen auf Erfahrungsraster an, die abgefragt werden mussen, will man eine Auü erung, in der die mit den Begriffen verknupften Worter verwendet werden, verstehen. Diese Rasterbefragung ist, individuell gesehen, das Abfragen einer Wortverwen-dungsgeschichte Ü mit allen dazugehorigen Momenten. Der Umfang der zu realisierenden Sinnbezuge kann von Begriff zu Begriff schwanken, nicht die Anzahl der heranzuziehenden Aspekte. Wenn, wie bei Koselleck, zwi-schen ‘puren Worten“ und ‘Begriffen“ hinsichtlich der Bedeutungshaftigkeit zu unterscheiden versucht wird, scheint mir dahinter zu stehen, daü bei einigen Begriffen die abzufragende Verwendungsgeschichte einen groü e-ren Umfang annimmt, als bei anderen. Dies a ndert nichts daran, daü der Prozeü der Sinnrealisierung in der kommunikativen Interaktion prinzipiell in der gleichen Weise als Vollzug eines Handlungskalkuls abla uft. Nur werden z.B. bei einem historischen abstrakten Begriff Momente vergangenen dis-kursiv erzeugten Wissens mehr im Vordergrund stehen, wa hrend z.B. bei einem Wort, das sich auf ein Werkzeug bezieht, die sprachunabha ngige Arbeitserfahrung mit dem Gera t wichtiger wird. Der Gesamtzusammenhang der notwendigen Bedingungen und damit der Prozeü der Sinn-Realisierung

    22 Dieckmann 1979, 123.

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    unterscheidet sich hingegen nicht. Ein Unterschied in der Bedeutungshaf-tigkeit kann deshalb nicht angenommen werden. Die einzelnen Worte, die ja nie isoliert vorkommen, fungieren als Erinne-rungszeichen, die die Rasterbefragung in Gang setzen. Es sind nicht die einzelnen Worte, die in der kommunikativen Handlung Sinn konstituieren, sondern auf dem Hintergrund des Sinnkontextes der gesamten Handlung kann die Wortverwendungserfahrung in der richtigen Richtung aktiviert wer-den. Das Verha ltnis von Allgemeinem und Besonderem (im Sinne Hormanns), von / Sinnhorizont der Gesamta uü erung und aktivierter Wort-Verwen-dungserfahrung, gleicht damit der Frage nach der Henne und dem Ei. Es ist falsch, danach zu fragen, was dem anderen vorausgeht. Allgemeiner Sinn und konkrete Realisierung stehen in einem Wechselverha ltnis, das nur theoretisch aufgeschlusselt werden kann. Sowohl leitet die Sinnkon-stanz das Wortverstehen, als auch die Wort-Beherrschung die Sinnrealisie-rung. Erst das Gesamte des Zusammenhangs, erst die Handlungsform in all ihrer Breite macht Kommunikation moglich. Die Frage nach Wortbedeu-tungen stellt demgegenuber eine Verkurzung der Perspektive dar, indem sie einem einzelnen Aspekt die Sinn-Leistung zuschreibt, die erst vom Ge-samten der Voraussetzungen erbracht wird. Wenn wir diese Zusammenha nge auf Schlagworter bringen wollten, konnte man sagen, daü das Modell kommunikativer Interaktion den Prozeü charak-ter von Bedeutung gegenuber dem Formaspekt (bei Begriffen, Wortern) hervorhebt. Diese Unterscheidung ist nicht als ausschlieü end zu verstehen. Es handelt sich um unterschiedliche Beschreibungsweisen, die unter-schiedliche Funktionen erfullen. Beide lassen sich auch verbinden, wenn z.B. in allgemeinsprachlichen Worterbuchern Lemmatisierung (d.h. Aus-grenzung einzelner Worter und Zuschreibung von Bedeutungen) mit Ver-wendungserkla rungen in Form von Beispielen kombiniert wird. Es gibt Be-schreibungsziele, bei denen der Prozeü charakter von Bedeutung nur schwer zur Darstellung gebracht werden kann. Dies ist (neben der schein-baren Selbstversta ndlichkeit der kognitiven Voraussetzungen des Bedeu-tungsverstehens) der eigentliche Grund dafur, weshalb der Form-Aspekt in der Sprachwissenschaft zeitweise den Vorrang bekommen hat. Fur die wissenschaftlichen Zwecke, die hier zur Diskussion stehen (die historische Semantik), kann der Bezug auf vermeintlich feststehende (iden-tische) Formen nicht genugen. Geschichtlichkeit von kommunikativ (v)er-mitteltem Sinn und ihr Zusammenhang mit allgemeiner Sinnbildung (qua Wirklichkeitsversta ndnis) kann nur erkla rt werden, wenn die im kommunika-tiven Handeln prozeü haft zur Anwendung kommenden Faktoren als solche aufgedeckt werden. Begriffsgeschichte als Formgeschichte bleibt bei reiner Semasiologie stehen; fur Lautzeichen, die als abgrenzbare und identifizier-bare Bedeutungstra ger aufgefaü t werden, werden die passenden Bedeu-tungen gesucht. Der Ruckgriff auf die Onomasiologie zeigt schon, daü der Prozeü aspekt irgendwie eingeholt werden muü . M.E. kann dies nur geleis-tet werden, wenn uber die Beschreibung der kommunikativen Handlungen als Ort der Sinnrealisierung die im Handlungskalkul als Voraussetzungen

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    fungierenden kognitiven Faktoren in ihrem Bedingungsverha ltnis fur die Entstehung kommunikativen Sinnes (und damit auch allgemeinen Wirklich-keitssinnes) eingeholt werden. Gerade vor dem Hintergrund eines Modell kommunikativen Handelns wird die Unterscheidung von Wort und Begriff, wie sie fur die Begriffsgeschichte vorgeschlagen wurde, als uberflussig erkenntlich. In Begriffsbeschreibun-gen herkommlichen Stils werden immer schon Aspekte thematisiert, die hier als Vor- / aussetzungen kommunikativen Handlungskalkuls und Teil ei-ner umfassenden Handlungsform bezeichnet werden. Allerdings durfen die Aspekte nicht unhinterfragt angefuhrt werden, sondern mussen in ihrer Funktion deutlich erkla rt werden. Nur so konnen Bewuü tseinsbildungspro-zesse und unterschwellige Ideologisierungen, wie sie uber sprachliche Kommunikation laufen, in ihrer Subtilita t und ihrem Einfluü offengelegt wer-den. Dies ist gerade bei historischen und politischen Diskursen von heraus-ragender Bedeutung. Als ‘ge