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Edeltraud Mathis Itm7: - TK Erzählende Literatur der Romantik - ETA Hoffmann: „Der Sandmann“ ETA Hoffmann: „Der Sandmann“ Abb. Paul Klee: Märchen nach ETA Hoffmann 1

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Edeltraud Mathis 2016

Itm7: - TK Erzählende Literatur der Romantik - ETA Hoffmann: „Der Sandmann“

ETA Hoffmann: „Der Sandmann“

Abb. Paul Klee: Märchen nach ETA Hoffmann

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Itm7: - TK Erzählende Literatur der Romantik - ETA Hoffmann: „Der Sandmann“

Arbeitsaufgaben zur Erschließung des Textes

Textgrundlage: Teil 1, bis S 12: Brief Nathanael

E1: Fasse den Inhalt des ersten Briefes zusammen. Mache dabei insbesondere deutlich, welche Vorgeschichte die Grundlage für die eigentliche Geschichte ist, die mit dem Brief beginnt.

E2: Im Brief Nathanaels werden grundlegende Themen und Motive, die den Text strukturieren, deutlich. Vor allem sind das das Augen-Motiv (oder: das Motiv des Sehens) und das Tag-Nacht-Motiv. In welcher Form kommen diese Motive schon im ersten Brief vor?

E3: Wer ist der Sandmann? Wie erscheint der Sandmann dem Kind Nathanael? Welches Verhältnis hat die Mutter vermutlich zu ihm? Welches Verhältnis hat der Vater vermutlich zu ihm? Was machen der Vater und der Sandmann in der Nacht im Arbeitszimmer des Vaters vermutlich? Wie erscheint der Sandmann dem Kind Nathanael? Wie sieht ihn (normalerweise) ein Erwachsener? Wie sieht ihn der erwachsene Nathanael?

E4: Mit dem Sandmann verbindet Nathanael zwei belastende Erlebnisse (die Psychologie würde heute von traumatisierenden Erfahrungen sprechen). Welche beiden Erlebnisse sind das? Wie geht man in der Familie mit diesen Erlebnissen um?

E5: Wie lässt sich die Familie Nathanaels beschreiben und charakterisieren? Inwiefern ist es eine geradezu „auffällig normale“ bürgerliche Familie? Inwiefern hat die Familie eine „Schattenseite“

E6: Wodurch kann der Sandmann zu einer derartig bedrohlichen Figur für das Kind Nathanael werden?

E7: Warum // wodurch wird der Sandmann für den erwachsenen Nathanael wieder zu einer bedrohlichen Figur?

Textgrundlage 2: Brief von Clara an Nathanael, Brief von Nathanael an Lothar; Erzähler-Einstieg (bis S. 26)

E8: Charakterisiere die Funktion der Erzählperspektive im Anfangsteil des "Sandmanns". (Drei Briefe; kommentierender Einstieg des Erzählers). Wie interpretieren Nathanael, Klara und der Erzähler jeweils das Geschehen? Was erfahren wir dadurch über die Situation? Was erfahren wir in den Briefen indirekt über die Figuren, insbesondere über Nathanael und Clara?

E9: Wie gestaltet der Erzähler seine eigene Rolle als Erzähler? Wie (inwiefern) reflektiert er sie und macht er sie zum Thema? Wo wird in seinem Erzählen Ironie deutlich?

E10: Wie deutet Clara die Sandmann-Geschichte des Nathanael? Wie deutet sie die Figur des Sandmanns / des Coppelius

E11: Vergleiche die Figuren Nathanael und Clara und untersuche ihr Verhältnis zueinander. Was verbindet Clara und Nathanael miteinander? Inwiefern sind sie als "Gegenfiguren" angelegt?

E12: Nach Nathanaels Rückkehr kommt es zu einer heftigen Auseinandersetzung zwischen Clara und Nathanael. Wodurch entsteht dieser Konflikt? Was können wir daraus über die Beziehung zwischen Nathanael und Clara sehen? Was ist mit Nathanael los? Inwiefern ist er „auffällig“?

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E13: Welche Rolle spielt das Schweigen / Verschweigen in dieser Familie?

Textgrundlage 3: Gesamter Text, Schwerpunkt auf Teil 2 (nach der Rückkehr Nathanaels nach G.)

E14: Was passiert in der Szene, in der Coppola zum zweiten Mal auftaucht? Inwiefern ist es eine Schlüssel-Szene? Welche Folgen hat das Auftauchen Coppolas? Welche Bedeutung hat das Fernrohr in diesem Zusammenhang?

E15: Wie entwickelt sich das Augen-Motiv / das Motiv des Sehens / das Blindheitsmotiv im zweiten Teil der Handlung? Wo kommt es vor? In welcher Funktion kommt es jeweils vor? Welche Gegenstände / Attribute sind mit ihm verbunden? Welche Figuren haben einen ganz spezifischen Blick? Welche Figuren haben die Macht, Nathanaels Blickwinkel / Perspektive zu verändern?

E16: Nathanael zwischen Clara und Olimpia: An welchen Stellen im Text taucht Olimpia auf? Wie nimmt Nathanael sie jeweils wahr? Wie unterscheidet sich die Wahrnehmung Nathanaels von der der anderen Personen (v. a. beim Ball)? Welche Dynamik entwickelt die Beziehung zwischen Nathanael und Olimpia? Inwiefern ist Olimpia eine Gegenfigur zu Clara?

E17: Nathanael als Grenzgänger-Figur zwischen Tag-Welt und Nacht-Welt: Inwiefern lässt sich Nathanael als Grenzgänger zwischen Tag- und Nachtwelt beschreiben? Welche Figuren gehören zur Nachtwelt? Welche Lebensbereiche gehören zu ihr? Welche Figuren gehören zur Tagwelt? Welche Lebensbereiche gehören zu ihr? An welchen Stellen "kippt" Nathanael von der einen Welt in die andere?

E18: Nathanael als Grenzgänger-Figur zwischen Tag-Welt und Nacht-Welt. Tag- und Nachtwelt werden im Text als Gegenpole aufgebaut. Beide Welten sind - wenn sie übermächtig werden - defizitär und bedrohlich. Worin liegt das einseitig-bedrohliche der Tagwelt? Was ist das Faszinierende an der Tagwelt? Worin liegt das einseitig-bedrohliche an der Nachtwelt? Was ist das Faszinierende an der Nachtwelt? Warum scheitert Nathanael? Wie könnte eine Verbindung zwischen beiden Welten (vielleicht) gelingen?

E19: Kritik an der bürgerlichen / spießigen / kleinkarierten Gesellschaft; romantische Ironie: Auch wenn der Erzähler im zweiten Teil insgesamt zurückhaltender ist, tritt er auch hier immer wieder in (direkt oder indirekt) kommentierender Form auf. Ein Beispiel ist die bittere Ironie, in der er sich z. B. über die Teezirkel oder über das kleinbürgerlich-spießige selbstzufriedene Philister-Leben lustig macht. Wo wird der Erzähler im zweiten Text-Teil sichtbar? Inwiefern kritisiert er die gesellschaftlichen Realitäten? In welcher Form macht er das? Was könnte seine Motivation dafür sein?

E20: Ein weiteres wichtiges Motiv im „Sandmann“ ist das Automaten-Motiv. Inwiefern sind alle drei wichtigen Figuren: Olimpia, Clara und Nathanael auf eine jeweils andere Art „Automaten“? Welche Aktualität hat das Automaten-Motiv?

E21: Inwiefern lässt sich Nathanaels Entwicklung als literarische Beschreibung eines psychopathologischen Phänomens, also: einer schizophrenen Erkrankung, deuten / lesen?

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Abb. 1 ETA Hoffmann

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Wer ist ETA Hoffmann? - Lebensskizze

LebenErnst Theodor Amadeus Hoffmann (1776-1822) ist ein wichtiger Vertreter der Literatur der deutschen Romantik. Schriftsteller ist er eigentlich nur im nächtlichen "Nebenberuf". Schon als Kind flieht ETA Hoffmann aus den chaotischen familiären Verhältnissen: Der Vater ist ein alkoholkranker Jurist, der viel lieber Musiker geworden wäre, die Mutter eine verbitterte Pedantin; die Ehe ist gescheitert, die Mutter kehrt in ihre Herkunftsfamilie zurück; in die Welt der Märchen und der Phantasie. Obwohl er lieber Künstler geworden wäre, studiert Hoffmann wie sein Vater Jus. Aber seinen Beruf als Jurist übt er nur sehr widerwillig aus, er hasst ihn geradezu. So hält sich seine Trauer in Grenzen, als er in den napoleonischen Wirren seine Stelle als preußischer Staatsbeamter verliert. Allerdings verschlechtert sich dadurch auch seine materielle Lage massiv. Ab 1809 arbeitet Hoffmann als Komponist und Kapellmeister in Bamberg (heute Polen). Aus Verehrung für Mozart ändert er auch einen seiner Vornamen auf Amadeus um. Und auch als Zeichner betätigt er sich immer wieder, indem er zum Beispiel seine Texte selbst illustriert.In etwa in dieser Zeit beginnt Hoffmann auch mit dem Schreiben. In seinem ersten Text, der phantastischen Novelle "Ritter Gluck", kritisiert er die Aufführungspraxis der Gluckschen Opern in Berlin. Ab 1814 arbeitet Hoffmann wieder als Jurist beim Königlichen Kammergericht in Berlin. Er hasst seinen Beruf immer noch, führt ihn aber dennoch penibel aus. Wie ernst der Dichter seine juristischen Pflichten nimmt, zeigt zum Beispiel sein Eintreten für den als Demagogen inhaftierten "Turnvater" Friedrich Ludwig Jahn, dem er gegen den Widerstand der Obrigkeit einen fairen Prozess verschaffen möchte. Anspielungen auf diesen Prozess finden sich in seiner Novelle "Meister Floh".Hoffmann führt eine anstrengende Doppelexistenz als Jurist und Schriftsteller, der er sehr leidet. Am Tag arbeitet er, in der Nacht schreibt er. Begleitet ist das Schreiben durch durch übermäßigen Alkoholkonsum und durch die Angst, wahnsinnig zu werden, was das Ganze nicht eben erleichtert. In vielen Texten behandelt Hoffmann diese Künstler/"Philister"-Problematik, wobei der Philister der einem geregelten Beruf nachgehende, kleinbürgerliche, biedere und selbstzufriedene Spießer ist, der mit Häuschen und Gärtchen inmitten seiner kleinen Familie sein kleines Lebensglück sucht und findet. Häufig in seinen Werken behandelt Hoffmann die Spannung zwischen Künstler-Identität und den Zwängen einer bürgerlicher Existenz, am prägnantesten in der Figur des Kapellmeisters Kreisler im "Kater Murr" (1821). Diese Figur - die durchaus als Alter-Ego Hoffmanns gesehen werden kann - regt wiederum Robert Schumann zu seinem Klavierzyklus "Kreisleriana" an.LiteraturETA Hoffmann wird in Berlin auch Mitglied der so genannten "Serapionsbrüder", zu denen andere wichtige Romantiker wie z. B. Albert von Chamisso gehören. Bekannt wird Hoffmann vor allem durch seine Fantasiestücke, seine Nachtstücke (1817, zu denen auch der "Sandmann" gehört) und durch die "Serapionsbrüder". Für die Nachtstücke setzt er sich intensiv mit wissenschaftlichen und philosophischen Theorien seiner Zeit, zum Beispiel mit G. H. Schuberts "Ansichten von der Nachtseite der Naturwissenschaft" auseinander. Im Mittelpunk der Fantasie- und Nachtstücken stehen Dämonisches, Wahnsinn und Verbrechen. Hoffmann interessiert sich für die "Nachtseiten" des Menschen: Persönlichkeitsspaltung, Doppelgängertum, Identitätsverlust, Realitätsverlust, Wahnsinn und Verfolgungswahn deuten an, dass die Integration in die Gesellschaft nicht gelungen ist. Das wichtigste Thema in seinen Werken, die Diskrepanz zwischen Künstler und Bürger, der Widerspruch zwischen persönlichen Wünschen und Lebensidealen einerseits und den gesellschaftlichen Ansprüchen und Normen andererseits wird märchenhaft gelöst ("Der goldene Topf") oder endet in Mord ("Das Fräulein von Scuderi") oder Tod ("Sandmann").

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Abb. Die Nacht ist für die Romantiker Sinnbild des Geheimnisvollen, des Fantastischen. Sie steht in Gegensatz zur "vernünftigen Tagwelt" der Aufklärung

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WirkungIn Deutschland spielt Hoffmann nach seinem Tod zunächst keine sehr große Bedeutung mehr. Wesentlich größer ist sein Einfluss auf die französische und englische Literatur, zum Beispiel auf E. A. Poe.Als Musiker ist Hoffmann eher konservativ. Interessant ist eine Oper mit dem Titel "Undine", die er nach einer Erzählung seines Freundes Friedrich de la Motte-Fouqué schreibt und die 1816 in Berlin mit großem Erfolg aufgeführt wird. Sie gilt als Vorbild für den "Freischütz" von Carl Maria von Weber.Die Nachtstücke Hoffmanns regen Jacques Offenbach zu "Hoffmanns Erzählungen" an. Eine zentrale Rolle in diesem Stück spielt die Puppe Olimpia. Auch Stummfilmadaptionen und sogar ein Ballett nach den Nachtstücken gibt es einmal.

Arbeitsaufgabe:A1 Verfasse einen kurzen literarischen Steckbrief // ein MindMap über ETA Hoffmann. Dieser sollte folgendes enthalten: ein paar wichtige biographische Daten Stichworte zum Leben / Lebenslauf Spannung zwischen bürgerlicher Existenz und Künstler-Existenz als Grundthema literarische Bedeutung, Wirkung ein paar bekannte Werke

„Der Sandmann“ und das Nachtmotiv 1

"Der Sandmann" ist eine kurze Erzählung und gehört zu den Texten, die Hoffmann als "Nachtstücke" bezeichnet. Damit setzt er die vorher erschienenen Phantasie-Stücke ("Kunstmärchen") fort, geht aber gleichzeitig auch über diese hinaus. Die Nachtstücke sollen nicht nur das Phantastisch-Zauberhafte beschreiben, sondern das Abgründige des Lebens, das Unheimliche, das aus unbekannten Tiefen und Quellen in der Natur wie in der menschlichen Psyche durchbrechende, durchwegs bedrohliche Irrationale. Damit kann man in den Nachtstücken Hoffmanns getrost eine Art literarischer Vorwegnahme der Tiefenpsychologie - die den Menschen ja ebenfalls als wesentlich von unbewussten irrationalen Triebregungen beherrschtes Wesen begreift - sehen.Die Nacht ist für die Romantiker nicht nur Symbol des Magisch-Zauberhaft-Geheimnisvollen, das sich im Mondlicht und Sternenglanz spiegelt. Ebensosehr ist die Nacht Symbol für das Dunkle, Irrationale, Triebhafte, Unkontrollierbare. Im hellen Sonnenlicht sind alle Gegenstände deutlich und voll scharfer Konturen. Die Nacht aber ist die Zeit der undefinierbaren und mehrdeutigen Wahrnehmungen. In Form von Geistern und Gespenstern ist dieses Unheimlich-Irrationale in der Außenwelt angesiedelt. In Form von Ängsten und Phantasmen ist das Innere, die Psyche Quelle dieses Irrationalen. Inneres und Äußeres können auf eine unauflösbare Weise miteinander verschmelzen. So verwischt die Nacht die Züge eines Menschen, gibt ihnen etwas Schattenhaftes und Maskenhaftes. An dieser Stelle ist es nur noch einen Schritt bis zum "Zerfallen" der Persönlichkeit, zur Entstehung eines Doppel-Ichs, zum (Wieder)erstehen des Vor- oder Nicht-Aufgeklärten, des Irrationalen, das den Menschen aus dem spießbürgerlich-aufgeklärten, vernünftigen Korsett befreit, das ihn aber auch an den Rand der (Selbst-)Zerstörung treibt.Oder sie treibt ihn darüber hinaus in die Selbstzerstörung, wie im "Sandmann". Insofern ist der Student Nathanael eine typische Hoffmannsche Figur, die auf dem extrem

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Itm7: - TK Erzählende Literatur der Romantik - ETA Hoffmann: „Der Sandmann“

schmalen Grat zwischen Tag und Nacht wandelt, hin- und hergerissen zwischen der rationalen Clara und der irrationalen Olimpia, der genau in dem Moment, in dem er sich endlich gerettet glaubt, in den Abgrund gezogen wird.Der Advokat Coppelius (= Sandmann, = Coppola?) ist wesentlicher Auslöser und Antreiber der Handlung. Er ist eine Figur, die ganz wesentlich aus dem Studium der psychiatrischen Schriften eines französischen Arztes namens Pinel entstanden ist.Nathanael spiegelt nicht unwesentlich den Geisteszustand, in dem Hoffmann sich zur Zeit der Entstehung selbst befindet. So wie Nathanael versucht, die ihn umgebenden Spukgestalten zu bannen oder domestizieren, so sieht sich auch Hoffmann meist in nächtlicher Stunde und unter entsprechendem Alkoholeinfluss von allen möglichen und unmöglichen Spukgestalten umgeben, die er durch das Lesen von Fachliteratur und das Schreiben zu bannen und kontrollieren versucht, damit er bei Tagesanbruch wieder seinem "bürgerlichen" Juristen-Leben nachgehen kann.Die Puppe Olimpia (später zentrale Figur in Offenbachs Oper "Hoffmanns Erzählungen") spiegelt Hoffmanns Interesse am Mechanischen. Auch damit zeigt sich in der Erzählung ein "Zeitthema": Im 19. Jahrhundert beginnt man den Menschen wissenschaftlich - und das heißt auch: mechanisch - zu begreifen. Wie schon im 17. Jahrhundert, als der Kosmos ent-göttlicht und als kompliziertes Uhrwerk verstehbar geworden ist, beginnt jetzt die Ent-Mystifizierung des Menschen und der menschlichen Seele. "Der Mensch als Maschine" (von La Mettrie ironisch karikiert) ist das neue Ideal, das das neue Menschenbild spiegelt.

ArbeitsaufgabeA2 Gestalte ein MindMap // ein Blatt zum Thema Bedeutung der Nacht für die Romantiker // Nachtstück. Arbeite mit Stichwörtern und Bildern. Berücksichtige auch folgende Definitionen aus diversen Lexika:Definition 1: Nacht in der Malerei: figürl. oder landschaftl. Darstellung, deren dunkle Farbigkeit von einer oft von oben her einfallenden Lichtquelle (Mondlicht, Lampen, Kerzen, Fackeln) teilweise erhellt wird. Bes. gepflegt wurde das N. unter dem Einfluss der Bilder CARAVAGGIOS und A. ELSHEIMERS im Frühbarock. Es war eine Voraussetzung für die Helldunkelmalerei REMBRANDTS. (Brockhaus)Definition 2: Nacht in der Musik; Nocturne: Lateinisch "nocturnus", Nachtstück. Im allgemeinen Bezeichnung für ein Instrumentalstück (meistens für Blasinstrumente), das seine Verbreitung vom 18. Jhd. an fand und in erster Linie zur abendlichen Aufführung im Freien gedacht war. (...) In der Romantik diente der Begriff "Nocturne" fast ausschließlich der Bezeichnung stimmungshafter, träumerischer Klavierstücke (...). Gleichzeitig verwendete man den Begriff "Nocturne" zur Bezeichnung orchestrierter Musikstücke, mit einer ausdrucksvollen elegisch-träumerischen Grundstimmung. (Neues großes Musiklexikon 1990)Definition 3: Nacht in der Literatur: Nachtstück, in der Malerei die Nachtszene in Helldunkel bei Mond- oder Kunstlicht (CARAVAGGIO, REMBRANDT); danach in der Lit. kurze Erzählform der Romantik (E.T.A. HOFFMANN), die sich teils mit Spuk- und Geistererscheinungen, teils mit seltsamen seelischen Erkrankungen, also den abnormen "Nachtseiten" der Natur und des Menschen befasst, Phantastisches und Realistisches mischt und vielfach ins Groteske mündet. (Wilpert: Sachwörterbuch der Literatur. )

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Abb. C. M. Escher: Auge (1946)

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Abb.: C. D. Friedrich: Mönch am Meer (1810) Abb.: C. D. Friedrich: Mondaufgang am Meer (1822)

„Der Sandmann“ und das Augenmotiv

Was ist ein Motiv?In der Musik, in der Malerei oder in der Literatur versteht man unter einem Motiv eine kleine Sinn-Einheit oder Wahrnehmungs-Einheit, die - in unterschiedlichen Variationen - in einem Werk immer wieder vorkommt. In der Musik ist ein Motiv eine Einheit aus wenigen Takten. In der Malerei ist ein Motiv ein bestimmtes Objekt (z. B. ein Apfel), eine bestimmte Szenerie (Fensterblick) oder eine bestimmte Grundsituation (Mondnacht)Ein zentrales Motiv, das sich "wie ein roter Faden" durch ein Werk durchzieht, ist ein Leit-Motiv.In narrativen Kontexten (Erzählung, Film) sind bestimmte Motive mit bestimmten Figuren verknüpft, sodass die Erwartung von RezipientInnen gezielt gesteuert wird. So spiegelt sich in der Literatur die psychische Stimmungslage oft in der Wettersituation. Im Motiv des bewölkten Himmels spiegelt sich also z. B. eine depressiv-gedrückte Stimmung des Protagonisten. Im sich ankündigenden schwülen Gewitterabend kündigt sich die Eskalation eines schwelenden Konflikts an. Bestimmte Figuren oder bestimmte Situationen (Spannung) können im Spielfilm mit bestimmten musikalischen Motiven verknüpft sein.Modernes Erzählen ist oft weniger zeitlich, als viel mehr assoziativ-leitmotivisch konstruiert. Eine Geschichte wird nicht in der Handlungschronologie, sondern anhand von Motiv-Feldern erzählt. Der Bedeutungshintergrund erschließt sich, wenn wir den zentralen Motiven, ihren Bedeutungsebenen und Bedeutungsverschiebungen folgen.Als Motive eignen sich v. a. Elemente, die den RezipientInnen auch außerhalb des Werk-Kontextes bekannt sind und die mit bestimmten Erwartungen verbunden oder mit bestimmten symbolischen Bedeutungs-Kontexten verknüpft sind.Zentrales Motiv in der romantischen Literatur ist - natürlich - das Motiv der Nacht. Es steht dem Tagmotiv leitmotivisch und leitsymbolisch gegenüber.Ein weiteres zentrales Motiv im Sandmann ist das "Augenmotiv".

Das Augenmotiv im Sandmann: Kontexte7

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Der Mensch ist - biologisch betrachtet - ein "Augentier". Das heißt, er nimmt die physikalische und soziale Umwelt zu einem großen Teil über den Seh-Sinn wahr und sein Blick auf die Welt ist in sehr großem Ausmaß durch das Gesehene bestimmt.Das Auge ist also zunächst unser Fenster in die Welt, also das Sinnesorgan, mit dessen Hilfe wir uns unser Bild von Welt und Wirklichkeit konstruieren. Viele Phrasen deuten darauf hin:

Wir halten uns etwas vor Augen, wenn wir etwas genauer verstehen / erkennen / betrachten wollen

Wir drücken ein Auge (oder manchmal auch beide Augen) zu, wenn wir etwas nicht so genau wissen wollen.

Wir streuen jemandem Sand in die Augen und lenken ihn so ab, wenn wir nicht wollen, dass er irgendetwas zu genau beobachtet oder zu genau hinsieht.

Etwas ist uns ein Dorn im Auge, wenn wir etwas sehen müssen, obwohl wir es lieber nicht sehen würden.

Etwas öffnet uns endlich die Augen, wenn wir etwas - meist Unangenehmes, was wir lieber verdrängen würden - schlussendlich doch noch zur Kenntnis nehmen müssen.

Wir werfen ein Auge auf jemanden oder etwas, der oder das uns begehrenswert erscheint.

Wenn uns etwas besonders wichtig ist, hüten wir es wie unseren eigenen Augapfel.

Wir sind mit einem blauen Auge davongekommen, wenn wir gerade noch einmal Glück gehabt haben.

Das Auge ist für uns aber auch ein Fenster, mit dem wir Zugang zur "Seele" eines Menschen finden. Sie sind ein Spiegelbild der Seele. Nicht zuletzt machen uns das viele Redewendungen uns Phrasen bewusst, wenn wir darauf achten:

Ein Kind bekommt "glänzende Augen" oder "strahlende Augen", wenn es sich über etwas freut.

Wir betrachten die Welt mit einem "vergeistigten Blick", wenn wir unvermutet aus unseren Träume gerissen werden.

Einen Mensch, der dem Wahn zu verfallen droht, meinen wir an seinem "verstörten", "starren", "wirren", "toten" Blick zu erkennen.

Wenn wir unser Leben für immer beendet haben und unser Innenleben "erloschen" ist, dann haben wir "unsere Augen für immer geschlossen".

In der Magie spielen Augen und die mit ihnen verbundene Macht und Kraft immer wieder eine zentrale Rolle (Zauberblick, tödlicher Blick von Hexen u. ä. Gestalten; magisches Auge; drittes Auge; ...)Das Gegenmotiv zum Augenmotiv ist das Motiv der Blindheit (Nacht!) oder der Blendung. So sprechen wir z. B. davon, dass jemand "blind vor Liebe" ist, dass jemand auf einem Auge (oder auf beiden Augen) blind sei, wenn er etwas nicht sehen will oder kann, dass jemand "blind vor Wut" handle, wenn sein Blick durch seien Seelenlage extrem verengt ist, ...In der Psychoanalyse ist das Blindheitsmotiv eng verbunden mit der ödipalen Thematik / der ödipalen Schuld: Der unwissende (=blinde) Ödipus erschlägt seinen Rivalen, ohne zu wissen, dass dieser sein Vater ist, und heiratet seine eigene Mutter. Erst durch den Spruch des Orakels erkennt er, welche große Schuld / Tabuverletzung er begangen hat. Voller Schuldbewusstsein blendet er sich selbst, indem er sich die Augen aussticht.Ergänzend zu erwähnen ist das Konzept des Unbewussten in der Tiefenpsychologie: Sie nimmt an, dass der größte Teil unserer Persönlichkeit uns selbst nicht zugänglich ist, weil er unbewusst ist. Das Unbewusste ist nicht nur die Quelle für Kreativität und schöpferische Kraft, sondern auch für neurotische und psychotische Grenzgänge. Und die psychoanalytische Therapie nimmt für sich in Anspruch, dass sie unbewusste Konflikte so weit dem Bewusstsein zugänglich machen kann, dass sie in die bewusste Persönlichkeit integriert werden können und damit nicht mehr existenzbedrohend sind. ("Wo ES ist, muss ICH werden". Freud)Das Augenmotiv im Sandmann: Elemente

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Das Augenmotiv taucht im "Sandmann" als Leitmotiv auf. Zahlreiche Figuren und Situationen sind unmittelbar mit dem Augenmotiv verbunden.Der Titel "Sandmann" deutet das Augen-Thema zum ersten Mal an, weil er auf die Märchenfigur, die den Kindern Sand in die Augen streut, damit sie besser schlafen können, an. Damit ist das Augenmotiv auch bereits auf dieser Ebene mit dem zweiten zentralen Motiv, dem Motiv der Nacht, verknüpft.Das Ammenmärchen vom Sandmann ist in der Variante, in der die Kinderfrau es erzählt, eine grausliche Schauergeschichte. Hier kippt das Phantastische ins potentiell Tödliche / Bedrohliche. (S. 5)Coppelius / Coppola ist als Figur auf vielfältige Weise mit dem Augen-Motiv verknüpft. "Coppola" heißt auf Italienisch "Augenhöhle". Er hat stechend hervorfunkelnde "grünliche Katzenaugen (S. 7) oder funkelnde Augen (S. 11); Nathanael beobachtet heimlich das nächtliche Treiben seines Vaters und des Sandmanns; er erkennt ( entdeckt, sieht), dass der Sandmann (den er bisher nur gehört hat), Coppelius ist, der bei der Familie öfters zu Mittag isst. "Augen her", hört Nathanael, als C. ihn entdeckt und misshandelt und bevor er ihn eine fiebrige Ohnmacht fällt (S. 9); Nathanael nimmt Coppelius v. a. über dessen bedrohliches Aussehen und Verhalten wahr. In Nathanaels Gedicht berührt Coppelius Claras holde Augen und verwandelt sie in glühende Kohlen; Augen sind glühendes Herzblut Nathanaels (S. 23)Die Brillen, die Coppola auf den Tisch legt (und in denen Nathanael Augen sieht), verändern seine Wahrnehmung. Sie wirken wie ein Spiegel, in dem Nathanael seine eigene vom Zerfall bedrohte Persönlichkeit zu erkennen scheint (S. 27). Und das Taschenperspektiv, das Coppola Nathanael verkauft, verengt und verändert seinen Blick auf Olimpia (S. 27, S. 28, S. 31)Die Art, wie Nathanael Clara wahrnimmt, spiegelt den Seelenzustand Nathanaels; ihre Augen erscheinen ihm starr, tot, verrückt, wenn er selbst "auf die andere Seite kippt" (Gedicht, S. 24; S. 41). Nathanael nimmt Clara mit einem liebevollen, sehnsuchtsvollen, erfüllten Blick wahr, wenn er "erwacht" (S. 25, S. 39)Am deutlichsten zeigt sich die Bedeutung der Augen in der Beziehung zwischen Nathanael und Olimpia. Nathanael ist von Olimpia von Anfang an fasziniert. Aber ihre Augen erscheinen ihm tot und starr (S. 17). Doch das ändert sich in dem Moment, in dem Nathanael das Taschenperspektiv Coppolas auf Olimpia richtet. Im Gegensatz zu den anderen Festteilnehmern, denen Olimpia offensichtlich starr und seelenlos erscheint, sieht Nathanael durch seinen Blick durch das Perspektiv Olimpias Augen lebendig (S. 34). Er verliebt sich unsterblich und hat in der Folge nur noch Augen für sie. Das Perspektiv scheint seinen Blick zu schärfen und fokussieren, sodass er bestimmte Objekte reiner und schärfer sieht. Das Bild von Olimpia übt zudem eine Macht auf Nathanael aus, gegen die er sich nicht wehren kann, als er "wie festgezaubert im Fenster lag". Das Perspektiv ist in diesem Zusammenhang scheinbar Stellvertreter der Vernunft, der Klärung, der Verdeutlichung und dient als Steigerung der Erkenntnisfähigkeit durch das Auge. Es klärt jedoch nicht auf, sondern verdreht die Tatsachen, wie zum Beispiel die Wahrnehmung Olimpias als empathische Idealfrau, was einen Realitätsverlust zur Folge hat. Der Bann zerreißt, als Spalanzani und Coppola Olimpia zerstören und Coppola mit der augenlosen Olimpia das Weite sucht, während Spalanzani mit den blutigen Augen auf Nathanael zielt: "Olimpias toderbleichtes Wachsgesicht hatte keine Augen, statt ihrer schwarze Höhlen; sie war eine leblose Puppe." (S. 37)Nathanaels Kippen in den Wahnsinn (oder: in die Krankheit) ist immer von einem veränderten Blickwinkel / einer veränderten Perspektive ausgelöst.Zum Augen-Motiv gehört auch der gesamte Sandmann-Komplex: die unheimliche Märchen-Figur des Sandmann; die nicht durchschaubare Beziehung zwischen dem Vater und Coppelius; das geheimnisvolle nächtliche Geschehene; die Entdeckung der alchemistischen Versuche / der Identität des Sandmanns als Kind Krankheit; Genesung; Tod des Vaters; TabuisierungZum Augen-Motiv gehört auch das Wiederauftauchen des Coppola (Wetterglashändler, Brillenhändler, Fernglas-Verkäufer), das die ganze Handlung in Gang setzt. Die Augen, die Nathanael anstarren, sind das zentral Bedrohliche. Nathanael befindet sich mehrfach an

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der Grenze, gewinnt schlussendlich aber immer wieder die Kontrolle zurück (Brief an Lothar; Gedicht; Brillen erscheinen als Augen, die ihn anstarren, ...);Olimpia: Nathanaels Blick durchs Taschenperspektiv verengt seine Wahrnehmung und verkehrt sie: Olimpia wird lebendig. Die Zerstörung Olimpias zerreißt den Schleier. Nathanael entdeckt die wahre Identität Olimpias, als Spalanani mit Olimpias blutigen Augen nach ihm wirft WahnClara: Als Nathanael auf dem Turm Blick durchs Taschenperspektiv blickt, vermeint er in der Menge Coppola zu sehen. Clara verwandelt sich für Nathanael in dem Moment in ein "Holzpüppchen"; er schaut Clara "totenbleich" an; Feuerströme glühen und sprühen durch die rollenden Augen (S. 41) Wahn TodIronie in der Wahrnehmung Claras durch den wissenschaftlich-fachkundigen Blick von Apothekern, Architekten, Malern, Dichtern und anderer MeisterIronie in der Wahrnehmung Claras im ländlichen Häuschen mit Gärtchen und kleiner Familie am Ende der Handlung (Philister-Welt)

Auch ist das Augenmotiv für Nathanaels Persönlichkeit zentral: Einerseits wird Nathanaels Wahrnehmung der Welt im Laufe der Handlung - nicht zuletzt unter dem Einfluss von Coppelius / Coppola und dessen Perspektiv - immer wieder "umgekehrt". Sein Blick auf die Welt wird zu einem "verkehrten" Blick. Das Tote erscheint ihm lebendig. Das Lebendinge erscheint ihm tot. Das Verrückte erscheint ihm normal. Das Normale erscheint ihm verrückt. Das Harmlose erscheint ihm gefährlich und bedrohlich. ("... dann wirst du überzeugt sein, dass es nicht meiner Augen Blödigkeit ist, wenn mir nun alles farblos erscheint, sondern dass ein dunkles Verhängnis wirklich einen trüben Wolkenschleier über mein Leben gehängt hat." S 10)Andererseits verändern sich Nathanaels Seelenleben und damit seine Persönlichkeit als Folge der veränderten (verschobenen, auf den Kopf gestellten) Wahrnehmung der (sozialen) Umwelt.

Das Blindheitsmotiv als Gegenmotiv zum AugenmotivVerdrängung / Tabuisierung in der Familie: Um die Figur des Coppelius, der den Vater regelmäßig besucht, obwohl die Kinder ihn nicht mögen, gibt es ein Geheimnis, das in der Familie nicht thematisiert wird. Nathanael fällt das devote Verhalten des Vaters und das unterwürfig-ängstliche Verhalten der Mutter auf. Aber die Rolle des Coppelius wird nicht thematisiert. Ein zweites Familiengeheimnis gibt es um den geheimnisvollen Besucher, der den Vater regelmäßig abends um neun Uhr besucht. Die Mutter wirkt nervös. Die Kinder müssen ins Bett. Nathanael ist einerseits verängstigt, andererseits auch neugierig-fasziniert. Als Nathanael das Geheimnis um den Besucher entdeckt, wird er selbst entdeckt und von Coppelius misshandelt. Coppelius kommt in der Folge nicht mehr; das Ereignis wird in der Familie nicht besprochen. Bis auf einmal. Und das führt zum Tod des Vaters. Aus der Fantasie-Perspektive Nathanaels hat der Tod des Vaters etwas Übernatürlich-Gespenstisch-Bedrohliches. Und das fratzenhaft verzerrte Gesicht des Vaters wirkt traumatisierend auf Nathanael. Aus der erwachsenen Vernunft-Perspektive stirbt der Vater vermutlich bei ein Unfall, an dem wahrscheinlich Coppelius beteiligt ist. Über den Tod des Vaters wird in der Familie aber jedenfalls nicht gesprochen (Clara weiß nicht, wie Nathanaels Vater ums Leben gekommen ist!)Das Auftauchen Coppolas führt zur Wiedererinnerung und zur Reaktivierung des Traumas.

Nathanaels Blindheit für die Realität

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Zumindest in den Phasen, in denen Nathanael von seinen Phantasien und Gefühlen (Ängste, Leidenschaft / Liebe) beherrscht wird (Auftauchen des Coppola; Heimkehr / Gedicht; Liebe zu Olimpia; Blick durchs Perspektiv auf dem Turm), ist er blind für die rationale Perspektive auf die Wirklichkeit. Claras Blindheit für das Geheimnisvolle: Clara charakterisiert sich in ihrem Brief an Nathanael (ironisierenderweise) selbst als eine Person, die den geheimnisvoll-mystischen Phänomenen der Wirklichkeit verständnislos und damit blind gegenübersteht: "... du wirst sagen: in dieses kalte Gemüt dringt kein Strahl geheimnisvollen, das den Menschen oft mit unsichtbaren Armen umfasst; sie erschaut nur die bunte Oberfläche der Welt ..." (S. 14)

„Der Sandmann“ und das Nachtmotiv. Teil 2

Wie wir bereits gesehen haben, ist das Motiv der Nacht eines der zentralen Motive der romantischen Literatur überhaupt.Die Nacht ist die Gegenwelt zum Tag. Und insofern der Tag auch symbolisch für eine aufgeklärte, vernünftige, rationale, wissenschaftlich orientierte Welt ist, in der für Gespenster und Aberglaube kein Platz bleibt, ist die Nacht auch Symbol für alles Nicht-Aufgeklärte, das heißt: für das Irrationale, Geheimnisvolle, Dunkle, Mystische, rational nicht Erfassbare. Diese nächtliche Welt ist durchwegs ambivalent: Sie ist faszinierend insofern, als dass das Fantastische, Emotionale und "Verrückte" unser Leben oft erst bereichert und lebenswert macht. Sie ist bedrohlich insofern und dort, wo das Irrationale und Emotionale unser Leben zu beherrschen beginnt und das Ich diesen Kräften schutzlos ausgeliefert ist. Dann kippt das Faszinierende in das Bedrohlich-Wahnhafte.Tag und Nacht als Grundmotive lassen sich schematisch gegenüberstellen:

Tag Nacht

Abbildung 2 C Spitzweg "Sonntagsspaziergang Abbildung 3 H J Füssli: "Nachtmahr" (1790)

Aufklärung als philosophische Strömung; Sonne als zentrales Symbol

Romantik als Gegenbewegung zur Aufklärung; Mond als zentrales Symbol;

klares und hartes Licht der Sonne diffuses, geheimnisvolles, "magisches" Licht des Mondes; Licht und Schatten-Spiele;

Männlichkeit WeiblichkeitMenschenbild: Vernunft und Rationalität als zentrales Merkmal des Menschen; der vernunftgeleitete Mensch überwindet irrationale Ängste und Aberglauben; der einseitig emotional orientierte Mensch ist defizitär und abhängig von äußeren (Gott, Geister, Dämonen, ...) und inneren

Menschenbild: Emotionalität und Fantasiebegabung / Kreativität als zentrales Merkmal des Menschen;Ein einseitig rational orientierter Mensch ist ein "entseelter" und defizitärer Mensch, der einer berechenbaren und

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(Ängste, Phantasmen) rational nicht begründbaren Kräften.

konstruierbaren Maschine ähnlich wird.

Wissenschaft als Schlüssel zur Erkenntnis; Experiment als ideale Methode; Ideal der Objektivität

Phantasie als Schlüssel zur Erkenntnis; Ideal der Subjektivität; Traum und Kunst (Musik, Poesie, ...) als ideale Methoden der Wirklichkeitserschließung

Welt der Bürgerlichkeit / Kleinbürgerlichkeit / Spießbürgerlichkeit (Philister); Welt der kleinbürgerlichen Ordnung, der kleinbürgerlichen Karriere, des kleinbürgerlichen Idylls und der kleinbürgerlichen Selbstzufriedenheit (Familie, Beruf, Haus mit Garten, Biedermeierlichkeit);

Welt der Künstler, Alchemisten, zwielichtigen GestaltenWelt der verbotenen Liebe; Welt der gefährlichen Leidenschaften; Welt des Rausches und der Ekstase

positive Seite: Ordnung, Struktur, Klarheitnegative Seite: Zwang, Enge, Spießigkeit, Begrenztheit

positive Seite: Kreativität, Phantasie, Entgrenzung, Ekstase; Traumnegative Seite: Destruktivität, Verlorenheit in einer existentiellen Angst; Wahn; Alptraum

„Sandmann“ bürgerliches Familienleben; Tagleben

des Vaters bürgerliche Existenz Nathanaels

(Verlobung, Studium, ...) Phasen der (scheinbaren) Genesung und

Ruhe Clara, Lothar, Siegmund

„Sandmann“ Nachtleben des Vaters; Alchemistische

Versuche; Ammenmärchen, ... irrationale / künstlerische Seite

Nathanaels (Fantasie, Dichter, Olimpia, ...)

Phasen der Krankheit und des Wahns Coppelius / Coppola; Spalanzani; Olimpia

Vor diesem Hintergrund erscheint Nathanael als … Figur, die die Nachtseite gleichermaßen als faszinierend und als bedrohlich erlebt Figur, die die Tagseite als einerseits verlockend, andererseits als langweilig, monoton,

"prosaisch" und kalt erlebt Figur, die versucht, Tag- und Nachtseite gleichermaßen Raum im Leben zu geben Grenzgänger zwischen Tag- und Nachtwelt, der an den unüberbrückbaren

Spannungen schlussendlich zerbricht.

ArbeitsaufgabenA3 Schreibe einen argumentativen Dialog zu folgendem Textkern: Die Tagseite und die Nachtseite streiten miteinander, wer von beiden die wichtigere / die richtigere Sichtweise der Wirklichkeit ist. Beziehe dich dabei in der Argumentation und in den Beispielen ausdrücklich auf die Erzählung "Der Sandmann".A4 Du bist RedakteurIn einer Jugendzeitung, die für die nächste Ausgabe den Themenschwerpunkt Nacht vorbereitet. Erkläre in einer Stellungnahme, welche Bedeutung das Thema Nacht in der Erzählung „Der Sandmann“ spielt. Portraitiere in diesem Zusammenhang den Protagonisten Nathanael als Grenzgänger zwischen Tag- und Nachtwelt.

„Der Sandmann“ und das Automatenmotiv

Allgemeines

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Am 10. Oktober 1813 besichtigt ETA Hoffmann die Musikautomaten von Johann Georg und Friedrich Kaufmann, darunter einen Trompeter und eine Klavier spielende Figur.Die Faszination für Marionetten und Automaten, die Hoffmann mit seinen Zeitgenossen teilt, gilt dabei keinem neuen Phänomen. Bereits seit der Mitte des 18. Jh. interessiert sich die europäische Öffentlichkeit für die Werke der Automatenkonstrukteure Vaucanson, Droz, von Kepelen. Man begeistert sich für die sprechenden, singenden, tanzenden Holzpuppen und bewunderte die Orakel- und Schachspielautomaten.Die literarische Darstellung des Automatenmenschen bei Jean Paul und ETA Hoffmann zeigen den Automaten aber nicht als nettes Spielzeug, sondern als eine Bedrohung des Menschen und der menschlichen Identität. Das passiert nicht in dem Sinn, dass die Automaten sich gewaltsam gegen die Menschen wenden. Vielmehr werden am Künstlichen menschliche Züge sichtbar, die denen der natürlichen Menschen erschreckend ähnlich sind. Das Motiv der Puppe oder des Automaten macht in diesem Kontext also deutlich, wie mechanisch und fremd gesteuert das menschliche Leben selbst geworden ist beziehungsweise wie es der selbsttätigen Kontrolle entgleitet.Nathanael handelt selbst wie ein Automat, und so ist es nur von grauslicher Folgerichtigkeit, dass er sich nur noch vom künstlichen Menschen, der Puppe Olimpia, verstanden fühlt. Sie erscheint ihm echter, wahrhafter, ihm selbst verwandter als die wirkliche Frau, Clara. Die Liebe Nathanaels zum Automaten Olimpia ist insofern auch Ausdruck menschlicher Selbst-Entfremdung und Liebesunfähigkeit.Menschenbild des 18. und 19. JhTextauszug aus La Metrie: "Der Mensch als Maschine"Gibt man mir nur zu, dass die organisierte Materie mit einem Bewegungsprinzip begabt ist, welches sie allein von der nicht organisierten Materie unterscheidet (...), so genügt das um das Rätsel der Substanzen und des Menschen zu erraten. Man sieht, dass es überhaupt nur eine Substanz auf der Welt gibt und dass der Mensch ihr vollkommenster ist. Er ist im Vergleich zu den Affen und den klügsten Tieren, was die Planetenuhr von Huygens im Vergleich zu einer Uhr des Königs Julianus ist. Ebenso war es nötig, dass die Natur mehr Kunst und Technik aufwandte, um eine Maschine herzustellen und zu unterhalten, die ein ganzes Jahrhundert lang alles Bewegungen des Herzens und des Geistes anzeigen sollte. Denn wenn man am Puls auch nicht die Stunden abzählen kann, so ist er doch ein Barometer für die Wärme und Lebhaftigkeit, aus der man auf die Natur der Seele schließen kann. Von zwei Ärzten ist, nebenbei bemerkt, meiner Ansicht nach immer derjenige der bessere und vertrauenswürdigere, der in der Physik oder Mechanik des menschlichen Körpers bewanderter ist und die Seele und alle Besorgnisse, die dieses Hirngespinst den Narren und Nichtwissern einflößt, beiseite liegen lässt und sich nur um die reinen Naturwissenschaften kümmert. (...) Braucht es noch mehr (...), um zu beweisen, dass der Mensch nichts als ein Tier ist oder ein Bündel mechanischer Federn, die sich gegenseitig in einer Weise aufziehen, dass man nicht sagen kann, an welchem Punkt des menschlichen Triebwerkes die Natur begonnen hat? In der Tat, ich irre mich nicht; der menschliche Körper ist ein Uhrwerk, jedoch ein riesiges und mit solchem Einfallsreichtum und Geschick konstruiert, dass, wenn der Sekundenzeiger stehen bleibt, der Minutenzeiger sich weiterdreht und seinen Lauf fortsetzt. (La Mettrie, 1709 - 1789: "L'homme machine")Das mechanistische Menschenbild setzt sich durch:Mechanismus und Materialismus bilden die Grundlage wissenschaftlichen und medizinischen Denkens: „ (...) Ich akzeptiere keineswegs die Meinung, dass die Vorgänge des Geistes nicht physio-chemikalischer Beschreibung zugänglich wird. Alles, war wir jemals wissenschaftlich von ihnen wissen werden, wird mechanistisch sein. (...) Für die

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Abb.: Robot im Film "Metropolis" von Fritz Lang

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Wissenschaft ist der Mensch eine Maschine; sollte er es nicht sein, dann ist er überhaupt nichts." (J. Needham: Man a Machine, 1928)

Das Motiv des künstlichen Menschen in der Literatur:Die Darstellung von Nathanaels Liebe zu einer Puppe erinnert nicht nur an das Unbehagen vieler Zeitgenossen gegenüber dem Versuch, „den Menschen zu begreifen wie ein x-beliebiges Ding“.Die Idee des künstlichen Menschen ist viel älter, und schon in der griechischen Mythologie finden sich Beispiele für "künstliche Menschen".Dazu zählt beispielsweise die Sage von Pygmalion: Der Künstler Pygmalion schafft eine weibliche Statue. Er verliebt sich in sein eigenes Werk und bittet schließlich die Göttin Aphrodite, die Statue zum Leben zu erwecken. Aphrodite gewährt Pygmalion diesen Wunsch. Schließlich kommt es zur Ehe zwischen Schöpfer und Geschöpf. Doch glücklich wird Pygmalion nicht. [George Bernard Shaw verarbeitet den Stoff zu Beginn des 20. Jahrhunderts in einem Theaterstück namens "Pygmalion", das wiederum die Grundlage für das Musical "My Fair Lady" ist, in dem Prof. Higgins aus dem Blumenmädchen Eliza Doolittle eine richtige Dame machen will.]Ein weiteres Beispiel ist die Sage von Narkissos (Narziss). Weil Narkissos - Sohn des Flussgottes Kephissos - die Liebe der Bergnymphe Echo zurückgewiesen hat, wird er von der erzürnten Liebesgöttin Aphrodite mit unstillbarer Selbstliebe bestraft. Als er sich zum Trinken über einen Quell beugt, verliebt er sich in sein Spiegelbild, leidet alle Qualen einer nie zu befriedigenden Sehnsucht und wird schließlich in die nach ihm benannte Blume verwandelt. In der Psychologie bezeichnet man als „Narzissmus“ die (krankhafte) Selbstbezogenheit / Selbstliebe eines Menschen, die Ersatz für eine nicht mögliche Liebe zu anderen Menschen ist und die oft mit Empathie-Unfähigkeit einhergeht.

Arbeitsaufgaben:A5: Welche Funktion erfüllt das Automaten-Motiv in Hoffmanns "Sandmann" Inwiefern haben verschiedene Figuren (Olimpia, Nathanael, Clara, Teegesellschaften) etwas Automatenhaftes? Formuliere zirka 5 Thesen und suche dazu passende TextstellenA6: Verfasse einen umfangreicheren Zeitungskommentar (Leitartikel, zirka 600 Wörter) zur Frage, ob Maschinen-Menschen für die Welt ein Segen oder ein Fluch sind. Baue in deinen Kommentar Bezüge zu antiken Mythen und zur Erzählung „Der Sandmann“ ein.

Das Thema "Wahnsinn" im "Sandmann"

Der Begriff "Wahn" - Schizophrenien "Wahn" ist ein alter Begriff für Psychosen, vor allem für Erkrankungen mit schizophrenen Zügen. Der Begriff "Schizophrenie" stammt vom Schweizer Psychiater Eugen Bleuler. Er bedeutet eigentlich "Seelenspaltung". Das ist aber missverständlich, weil keine Persönlichkeitsspaltung vorliegt. Menschen mit einer schizophrenen Psychose leiden vielmehr darunter, dass ihre Wahrnehmung, ihr Denken, ihre Emotionalität verändert sind.Weil "jede Psychose anders ist", sollte besser von "Schizophrenien" oder "Erkrankungen aus dem schizophrenen Formenkreis" gesprochen werden.Die Symptomatik, die für schizophrene Erkankungen typisch ist, unterscheidet man oft in Plus-Symptomatik und Minus-Symptomatik.PLUS-Symptome: Plus-Symptome sind die Symptome, die - im Vergleich zu einem psychischen Normalzustand - zusätzlich auftreten. Zu den Plus-Symptomen zählen üblicherweise

Veränderungen der in Wahrnehmung und Verengung der Wahrnehmung auf bestimmte Objekte: Am einfachsten kann man sich vorstellen, dass Menschen, die an einer schizophrenen Psychose leiden, oft eine zwanghaft veränderte

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Wahrnehmung haben und ihre Umwelt als auf eine meist bedrohliche Art verändert erleben; Objekte, die anderen Menschen unwichtig erscheinen, werden für sie "überwertig" und werden neu interpretiert (Steckdose, die verwanzt ist; alles wird auf die eigene Person bezogen erlebt, es gibt keinen Zufall, ...)

Trugwahrnehmungen (Halluzinationen): Häufig hören Menschen mit einer schizophrenen Psychose (nicht reale Stimmen), die sie bedrohen oder ihnen Befehle erteilen; sie fühlen sich körperlich verändert, manchmal von fremden Mächten gesteuert oder verfolgt, von denen sie glauben, dass sie ihre Gedanken lesen können, die Identität kann sich (ganz oder teilweise ändern ) ...

Weil ihre Wahrnehmungen nicht geteilt werden, fühlen Menschen mit einer schizophrenen Psychose sich von den Menschen in ihrem Umfeld oft im Stich gelassen. Sie reagieren mit Angst, Rückzug und Isolation

Stimmungsschwankungen: Menschen mit schizophrenen Psychosen erleben oft starke Ängste, fühlen sich verfolgt, fühlen sich unverstanden,...

Diese Symptome, die sich gegenseitig verstärken, können zu einem Realitätsverlust führen. Der an einer Psychose erkrankte Mensch "lebt in seiner eigenen subjektiven Realtiät", die anderen Menschen fremd bleibt und zu der andere Menschen keinen Zugang haben.Minus-Symptome: Minus-Symptome sind Symptome des Mangels, umfassen also das, was betroffenen Menschen im Vergleich zu nicht-betroffenen Menschen typischerweise fehlt. Dazu zählen beispielsweise Müdigkeit, Erschöpfung, keine Belastbarkeit, eine Verarmung des Gefühlsspektrums ("emotionale Verflachung", enges Gefühlsspektrum).

UrsachentheorienDie genauen Ursachen für schizophrene Erkankungen sind nicht bekannt. Heute geht man davon aus, dass mehrere Ursachen zusammenwirken (Vulnerabilitätsmodell):Körperliche Faktoren scheinen eine Rolle zu spielen. Dafür spricht, dass die Symptome durch Medikamente (= Neuroleptika) beeinflusst werden können; auch können z. B Drogen eine Psychose auslösen; außerdem spricht dafür, dass Schizophrenien in allen Kulturen ungefähr ein Prozent der Bevölkerung betreffenUmwelteinflüsse (z. B. Stress, Traumatisierung) können eine Psychose zumindest auslösen. Dazu zählen singuläre potentiell traumatisierende Situationen, die durch ihr plötzliches und unvorhersehbares Eintreten, durch Überforderung und Hilflosigkeit und durch die Erfahrung von Lebensbesdrohung gekennzeichnet sind. Dazu zählen aber auch über einen längeren Zeitraum andauernde Stress-Situationen, in denen Menschen in einen Zustand der Überforderung geraten, wo alle Energien für das körpleriche oder psychische Überleben mobilisiert werden müssen und deswegen keine Ressourcen für eine Integration von Erfahrungen mehr vorhanden sind. Je früher ein Mensch traumatisierenden Umwelteinflüssen ausgesetzt ist, desto schwieriger ist eine Aufarbeitung und Integration und desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass es zu einer "psychotischen Abspaltung" dieser Erlebnisse kommt. Biographische Faktoren scheinen ebenfalls eine wichtige Rolle zu spielen. Dazu zählen Persönlichkeitsmerkmale wie eine bestimmte Verletzlichkeit ("Vulnerabilität", "Dünnhäutigkeit"), eine besondere Sensibilität u. a. m. Leben mit dem WahnDer Krankheitsverlauf ist individuell sehr unterschiedlich. Typisch ist ein phasenhafter Verlauf, das heißt: psychotische Schübe treten relativ plötzlich (über Nacht) auf, dauern eine bestimmte Zeit (Wochen) an, klingen dann wieder ab, es folgt eine "normale" Phase, und in den meisten Fällen kommt es nach mehr oder weniger längerer Zeit wieder erneut zu einem "Schub" (bei ca. 30 Prozent: einmalige psychotische Phase; bei ca. 70 Prozent: ohne medizinische Therapie: Chronifizierung).Erkrankte verlieren "den selbstverständlichen Bezug zur Realität"; Vertrautes wird plötzlich fremd und bedrohlich; das gesamte Leben ist durch bestimmte Wahn-Ideen beherrscht

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Während der psychotischen Phasen fehlt jede Distanz zur Krankheit. Rückzug und Isolation sind typische Reaktionen auf Reizüberflutung und die Erfahrung, mit dem eigenen Erlebten auf Verständnislosigkeit in der sozialen Umgebung zu stoßen.

Thema "Wahn" im "Sandmann"HintergrundETA Hoffmann kennt den Begriff "Schizophrenie" und das entsprechende Krankheitsbild natürlich nicht; was er aber schon aus eigenen Erfahrungen kennt, sind die typischen Symptome der Schizophrenie. Schließlich wandelt er als ein dem Alkohol zusprechender Grenzgänger zwischen biederer Bürgerlichkeit einerseits und eigentlicher Identität als Künstler, der fürchtet wahnsinnig zu werden, immer wieder an der Grenze zwischen Wahn und Normalität entlang.Auch ist der "Wahn" um 1800 Jahrhundert eine Art Modethema. Hoffmann selbst verspottet in den "Serapions-Brüdern" die "wahnsinnige Lust am Wahnsinn".Viele Figuren ETA Hoffmanns wandeln an der Grenze zwischen Realität und Wahn. Oder in der Sprache der Romantiker formuliert: Sie sind Grenzgänger zwischen Tag- und Nachtwelt.Teilweise beginnt man das Thema "Wahnsinn" als Nervenkrankheit zu begreifen (vgl. Maschinenmodell Mensch). Teilweise gibt es Theorien, die Elemente der Psychoanalyse vorwegnehmen; das auffällige Verhalten und Erleben wird auf traumatisierende Erfahrungen zurückgeführt (Arzt Philippe Pinel). Diese Theorien sind Hoffmann bekannt.

„Der Sandmann“ und das Thema "Wahnsinn"Zunächst einmal erlebt Nathanael, wahrscheinlich ein sensibles und empfindsames Kind, ein Kindheitstrauma, das sich aus mehreren Elementen zusammensetzt und einen so genannten "Komplex" bildet.Zu diesem Komplex gehören

die unheimliche und geheimnisvolle Figur des Coppelius, der in der Nacht kommt und mit dem Vater geheimnisvolle Aktivitäten – aus der Vernunfterspektive wahrscheinlich alchemistische Versuche - unternimmt

die eigenartige Reaktion der Erwachsenen (Ängstlichkeit der Mutter, Devotheit des Vaters), die dem Kind auffällt, die es aber nicht deuten kann

die Misshandlung Nathanaels, nachdem er von Coppelius beim heimlichen Zuschauen erwischt worden ist

die Fantasie (?), dass Coppelius Nathanael die Augen stehlen wolle ("Augen her") die schwere Erkrankung Nathanaels nach dem nächtlichen Ausflug in das

Arbeitszimmer des Vaters das Ammenmärchen vom Sandmann, der den Kindern die Augen stiehlt und sie an

seine Kinder im Mond verfüttert der Tod des Vaters, wahrscheinlich durch einen Unfall bei alchemistischen

Versuchen, bei denen auch Coppelius zugegen ist (= Kern des Traumas) das Schweigen über den Tod des Vaters das geheimnisvolle Verschwinden Coppelius nach dem Tod des Vaters

Das verschwiegene und verdrängte - und deshalb auch nicht aufgearbeitete - Trauma schlummert in Nathanael über viele Jahre. Er hat die Ereignisse um den Tod des Vaters vergessen. Reaktiviert wird es, als Nathanael meint, im Wetterglashändler Coppola Coppelius wiederzuerkennen; - bezeichnenderweise, als es einen neuen Lebensabschnitt als Student in einer ihm unbekannten Stadt beginnt, was immer mit Verletzlichkeit und besonderer Sensibilität verknüpft ist. Er fühlt sich von Coppola verfolgt und bedroht.Nathanael lebt von da an im Spannungsfeld zwischen rationaler Tagwelt und irrationaler Nachtwelt. Immer wieder "kippt" er in die einerseits schreckliche, andererseits aber auch faszinierende Welt der Nacht. Zentrale Szenen des "Umschlagens" sind …

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das erste Auftauchen Coppolas: erstes Auslösen der Erinnerungen an das Kindheitstrauma Nathanael reagiert mit dem Brief an Lothar, den er aber irrtümlich an Clara schickt. Er kehrt nach Hause zurück

Claras verständnislose Reaktion auf das Gedicht: Nathanael reagiert empört und bezeichnet Clara als "verdammtes, lebloses Automat" Er flieht in die Studienstadt

das zweite Auftauchen Coppolas: Brillenszene: Kippen der Wahrnehmung Nathanael reißt sich zusammen und kauft Coppola ein Taschenperspektiv ab

der Blick durchs Taschenperspektiv: Nathanel erblickt durch das Perspektiv Olimpia und ist von ihr fasziniert; es fällt ihm aber auch ihr "lebloser Blick" auf; Nathanael bleibt vorerst auf der rationalen Seite des Lebens

Begegnung mit Olimpia: Nathanael lernt Olimpia auf dem Fest Spalanzanis kennen. Er verliebt sich in Olimpia und "hat nur noch Augen für sie"; Nathanael registriert nicht mehr, dass die anderen Festteilnehmer hinter seinem Rücken den Kopf schütteln und sich über sein Verhalten amüsieren. Verengung des Blicks auf Olimpia: Nathanaels Leben verengt sich auf sein Zusammensein mit Olimpia; er vergisst sein Studium; er vergisst Clara; er verliert den Kontakt zu allen anderen Menschen; er nimmt nicht mehr wahr, dass Olimpia nicht wirklich mit ihm kommuniziert; er projiziert seine eigenen Gefühle, Gedanken, Sehnsüchte auf sie; er realisiert nicht, dass er sich in eine leblose Puppe verliebt hat; erst als Olimpia im Streit zwischen Spalanzani und Coppola zerbricht, zerreißt der Vorhang und Nathanael findet in die Realität zurück

Rückkehr zu Clara: Ziel einer Zukunft einer bürgerlichen (philisterhaften?) Existenz an der Seite Claras

Turmszene am Schluss: Nathanael besteigt einen Turm, er schaut durch Coppolas Perspektiv und nimmt in der Menschenmenge Coppelius wahr Clara erscheint ihm als "verdammtes, lebloses Automat"; er will sie in die Tiefe stürzen. Lothar rettet Clara im letzten Moment, Nathanael stürzt in den Tod.

Insgesamt kann man Nathanael als eine Grenzgänger-Figur zwischen bürgerlicher Tagwelt (Student, Clara, Rationalität) und fantastischer Nachtwelt (Olimpia, Coppola/Coppelius, Irrationalität) verstehen. Er erlebt - im Unterschied zu anderen Figuren Hoffmanns - vor allem die destruktiven Seiten der Nachtwelt (Bedrohung, Angst, Tod).

Arbeitsaufgaben:A7: In der Psychologie und der Medizin bringt man psychische Erkrankungen heute meistens mit einem Konzept von Vulnerabilität (Verletzlichkeit) in Verbindung. Verfasse eine Stellungnahme, in der du dich mit der Frage auseinandersetzt, inwiefern der Protagonist Nathanael in „Der Sandmann“ eine Figur ist, die aufgrund ihrer Persönlichkeitsstruktur, aber auch aufgrund ihrer lebensgeschichtlichen Erfahrungen in besonderem Maß „vulnerabel“ ist.A8: Inwiefern könnte man Nathanaels Erleben und Erfahrungen in der Begegnung mit Coppelius / Coppola / Olimpia mithilfe des Symptomkatalogs, mit dem Schizophrenien definiert werden, in Beziehung bringen? Überlege insbesondere, inwiefern Nathanaels Wahrnehmung, seine Gefühle / Emotionen und sein Denken verändert (ver-rückt) sind. Verfasse auf dieser Grundlage eine Stellungnahme, in der du dich mit der Persönlichkeit des Protagonisten Nathanael auseinandersetzt. A9: Inwiefern sieht man an der Figur Nathanaels, dass sowohl die "normale" als auch die "ver-rückte" Perspektive, mit der Menschen die Welt und sich selbst betrachten, einseitig und verzerrt ist? Was wäre eventuell ein Ausweg aus diesem Dilemma? Verfasse dazu eine Stellungnahme.

„Der Sandmann“ und die Romantische Ironie

Beispiel Teegesellschaften

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Abb.: Teezirkel im 19 Jh.

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Heinrich Heine äußert sich so über die so genannten Tee-Gesellschaften:Sie saßen und tranken am Teetisch,Und sprachen von Liebe viel.Die Herren, die waren ästhetisch,Die Damen von zartem Gefühl.Die Liebe muss sein platonisch,Der dürre Hofrat sprach.Die Hofrätin lächelt ironisch,Und dennoch seufzet sie: Ach!Der Domherr öffnet den Mund weit:Die Liebe sei nicht zu roh,Sie schadet sonst der Gesundheit.Das Fräulein lispelt: Wieso?Die Gräfin spricht wehmütig:Die Liebe ist eine Passion!Und präsentieret gütigDie Tasse dem Herren Baron.Am Tische war noch ein Plätzchen;Mein Liebchen, da hast du gefehlt.Du hättest so hübsch, mein Schätzchen,Von deiner Liebe erzählt.

Für die Darstellung der "vernünftigen Teezirkel" (S 38f), in denen Olimpia zum „Rolemodel“ wird, gibt es einen historischen Hintergrund. Es geht um die Salons oder Teegesellschaften, die im 18. und 19. Jahrhundert eine wichtige gesellschaftliche Institution des städtischen Bürgertums sind.Im 18. und 19. Jahrhundert sind die Teegesellschaften, meist von (emanzipierten, oft jüdischen) Frauen aus dem Bürgertum geführte Salons; Orte, wo sich Menschen ungezwungen und in einem ansprechenden Ambiente mit Literatur und Musik (Kammermusik), Wissenschaft, Politik etc. auseinandersetzen können. Vor allem für Frauen, denen der Zugang zu jeder öffentlichen Form höherer Bildung versperrt ist, sind die Salons die einzige Möglichkeit zu einer differenzierteren geistigen Auseinandersetzung mit geisteswissenschaftlichen Fragen und Themen. Aber mit der Zeit "verkommt" die Salonkultur teilweise zu einem oberflächlichen gesellschaftlichen Event, wo Tratsch und Klatsch, Small-Talk und oberflächliche Unterhaltung wichtiger sind als eine ernsthafte Auseinandersetzung mit künstlerischen oder politischen Fragestellungen. Den zu den Teegesellschaften eingeladenen Künstlern kommt nicht selten in etwa die Funktion der früheren Hofnarren zu. Vor allem Künstler wie ETA Hoffmann sind über die Oberflächlichkeit, mit der ihre Werke rezipiert werden, immer wieder erbost.In der Kritik, die Künstler an den Salons üben, spiegelt sich auch die Art, wie die Künstler ihre eigene Rolle in der bürgerlichen Gesellschaft erleben: einerseits brauchen sie ein Publikum und damit die Anerkennung ihres Schaffens, andererseits ist das Kunstverständnis dieses Publikums oft ziemlich frustrierend und oberflächlich. Literatur wird für gesellig-unterhaltende Zwecke nutzbar gemacht, eine wirkliche Auseinandersetzung im Publikum findet nicht statt.Ein Biograph ETA Hoffmanns schreibt über dessen Beziehung zu diesen Teezirkeln: "Hoffmann schien nun für Zirkel dieser Gattung ein unerhörter Fund. Was konnte der Mann nicht alles! Bücher schreiben, die in ganz Deutschland von sich reden machten, auf dem Piano fantasieren, Opern komponieren, Karikaturen zeichnen, Witze sprudeln, wie er

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den Mund öffnete, der Ruf war ihm vorangegangen, und mit Recht erwartete man nun von ihm, dass er, dankbar für die gütigen Einladungen, erst der Gesellschaft ein noch ungedrucktes Manuskript vorlesen, dann die Tochter vom Hause akkompagnieren, dann eine alte Großmutter oder einen vornehmen Beschützer der Künste mit schöner Redensart unterhalten würde u. s. w., worauf man Gäste genug gebeten und vorbereitet hatte. Aber wie sah man sich getäuscht, wenn er die furchtbarsten Gesichter zu schneiden anfing, sobald er sich langweilte, und dies geschah immer, wenn sich nicht wenigstens ein ihn anregendes Prinzip in der Gesellschaft entdecken ließ" (Hitzing; Biograph Hoffmanns)So werden die Teegesellschaften selbst gerne Zielscheibe romantischer Ironie und bitterbösen Spotts. Nicht nur ETA Hoffmann macht sich über die spießig-steifen Tee-Zirkel lustig.

Die Figur des PhilistersZiel des romantischen Spotts ist auch die Figur des Philisters. Er ist der kleinbürgerliche, selbstzufriedene Spießer, ein Mensch "ohne geistige Bedürfnisse" (Schopenhauer). Grenzgänge und Abenteuer sind ihm ebenso fremd, wie ihm Leidenschaft zu anstrengend und zu aufwühlend wäre. Sein Lebensziele sind eine kleine überschaubare Karriere - am besten in einer beamteten Position, wo keinerlei Überraschungen warten und alles berechenbar ist -, eine kleine überschaubare Familie mit einer "braven", am besten strickenden und stickenden Ehefrau, die ansonsten ruhig etwas dumm und unbedarft sein darf, und einer Schar braver, sittsamer Kinderlein sowieein kleines gemütliches Häuschen mit Gärtchen irgendwo im Grünen. Sein größtes Glück ist es, am Sonntag Nachmittag auf dem Bänkchen im Gärtchen alles, was er im Leben erreicht hat, still und bescheiden zu genießen.Emotionalen Grenzgängern wie ETA Hoffmann ist die Lebensphilosophie, die in der Figur des Philisters karikiert wird, einerseits ein absolutes Gräuel. Andererseits würden sie sich teilweise wohl auch nach der Ruhe und Verwurzeltheit, die einem solchen Leben zugrunde liegen, sehnen (was sie aber meistens nicht zugeben).Im "Sandmann" trägt vor allem Clara philisterhafte Züge. Schon die ironisch gefärbte Schilderung ihres Äußeren und iher Persönlichkeit durch den Erzähler in einem Einschub (S. 20) macht deutlich, dass der Erzähler Clara nicht wirklich über den Weg traut und dass er sie nicht ernst zu nehmen vermag. Ihre "Holdheit" und "Lieblichkeit" und "Freundlichkeit" (S. 3) erscheint als Ergebnis mangelnder Empfindungsfähigkeit und mangelnder Leiden-schaftlichkeit. "Clara wurde von vielen kalt, gefühllos, prosaisch gescholten" (S. 21). Ihr ist "mystische Schwärmerei im höchsten Grade zuwider" (S. 21). Nathanael künstlerische Tätigkeit bleibt ihr als strickender und stickender Zuhörerin, die sich allenfalls für ein nett-harmloses Gedichtchen zu begeistern vermöchte, ebenso fremd wie seine emotionalen Grenzgängereien. Ihr Hang, alles rational zu deuten, ist für sie selbst einerseits entlastend. Andererseits bleibt ihr genau dadurch Nathanaels eigentliches Empfinden auch völlig fremd. Nach dem Tod Nathanaels scheint Clara ihr kleines philisterhaftes Familien-Glück doch noch zu finden (S. 42)Aber auch die Familie Nathanaels ist - zumindest bei Tage betrachtet - eine Karikatur einer kleinbürgerlichen Familienidylle. Wenn nur dieser unheimliche und unsympathische Coppelius nicht wäre, wäre das Familienglück (Pfeife rauchender, erzählender Vater; dabeisitzende, vermutlich strickende Mutter, brave, gehorsame, zuhörende Kinder) wohl perfekt.Philisterhafte Züge haben auch Lothar und Siegmund.

Begriff IronieDer Begriff "Ironie" kommt vom Griechischen "eironeia" und bedeutet so viel wie Verstellung. Eine ironische Äußerung ist mit einem Koffer mit einem doppelten Boden vergleichbar. Es gibt eine auf den ersten Blick sichtbare, konkrete, direkte Aussage. Aber nur wer den zweiten Boden entdeckt und hebt, findet die eigentliche, versteckte Botschaft. Sie steht in einem Spannungsverhältnis zur konkreten Aussage, kann sogar das Gegenteil dieser Aussage sein.

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Ob eine Aussage konkret oder ironisch intendiert wird, lässt sich oft nur aus dem Kontext erschließen. Und es ist immer eine Leistung des Rezipienten, Ironie zu erkennen. Hilfreich dabei sind allenfalls ironische Signale.Ironische Signale in einer konkreten Sprechsituation sind oft im Bereich der Mimik oder der Gestik (also eine Art Augenzwinkern) angesiedelt. In der Literatur muss dieses Augenzwinkern natürlich in einer indirekten Art erfolgen. Eine Möglichkeit ist die der Übertreibung und der Zuspitzung bis zu dem Punkt, an dem ein Rezipient fast erkennen muss, dass das Gesagte nicht mehr ernst gemeint sein kann.

Ironie bei ETA HoffmannIronie ist immer ein Spiel mit Doppeldeutigkeit und Doppelbödigkeit. Und gerade diese "Verdoppelung von Wirklichkeit" und diesen doppelten Blick scheint ETA Hoffmann zu mögen. Tragik und Ironie überlagern sich nicht selten im Tragisch-Komischen. Zumindest ironisch angehaucht sind sehr viele Aspekte im "Sandmann":Nathanael selbst trägt neben tragischen durchaus auch ironische Züge. Er kommt zu einer Überlagerung von Tragischem und Ironischem in ein-und-derselben Situation (Schwanken zwischen Entsetzen und Vernunft angesichts der Begegnung mit Coppola; Nathanaels Selbstinszenierung als Dichter; Duell zwischen Nathanael und Lothar; Liebe Nathanaels zu Olimpia; Wahrnehmungsverlust in der Liebe zu Olimpia; ...)Clara wird nicht nur im Einleitungsteil ironisierend beschrieben und vorgestellt; ihre Vernünftigkeit, ihre Lieblichkeit, ihre Helligkeit, ihre Nettigkeit wird in einer derart pauschalierenden Art dargestellt, dass alle diese Eigenschaften fast zwangsläufig als ironisch-zugespitzt verstanden werden müssenOlimpia ist in ihrer Steifheit und ihrer Automatenhaftigkeit die Karikatur einer "gesitteten" jungen bürgerlichen Frau, die weiß, wie sie sich in der Öffentlichkeit zu benehmen hat, die darüber aber jegliche Lebendigkeit, Spontanität und Kreativität verliert; nicht zuletzt haben auch Clara und Nathanael etwas "Automatenhaftes" an sich (wenn auch vor unterschiedlichen Hintergründen)Nathanaels Familie erscheint auf den ersten (oberflächlichen) Blick als Ideal einer kleinbürgerlich-biedermeierlichen Familienidylle mit einem Pfeife rauchenden, Geschichten erzählenden und die Kinder damit in Bann ziehenden Vater, einer liebevollen und sich der väterlichen Autorität unterordnenden Mutter, einer Kinderfrau, die den Kindern vor dem Zu-Bett-Gehen Gute-Nacht-Geschichten erzählt, die liebevolle Versorgung, die Nathanael während seiner Krankheit erfährt, ... Die Verlogenheit dieses Idylls zeigt sich aber sehr schnell beim zweiten Blick: Da gibt es den unheimlichen Besucher Coppelius, der regelmäßig das Familienidyll stört, das heimliche nächtliche Treiben des Vaters, die Brutalität der Märchen, mit denen die Kinder ins Bett geschickt werden, die Tabuisierung der Misshandlung Nathanaels, die Tabuisierung des väterlichen Tods. Erst in der Spannung zwischen diesen beiden Elementen wird deutlich, dass die familiäre Idylle nur ironisch-gebrochen verstanden werden kannSelbstironisierung des Erzählers: Nicht zuletzt ist es auch der Erzähler, der sich selbst und seine Rolle ironisch bricht. Dazu gehört, dass er sich ausdrücklich über die vergebliche Suche nach einem idealen und passenden Anfang für die Geschichte äußert (S17ff. S 20: Beschreibung Claras), dass er sich immer wieder als verlässlicher Erzähler selbst in Frage stellt (S. 18, S. 19, S. 34, S. 38, S. 42) und dass er sich stellenweise selbst vom dem, was er erzählt, wieder distanziert.Begriff Romantische IronieDie Autoren der Romantik entwickeln eine sehr differenzierte Literaturtheorie. Das heißt, sie machen das Schreiben selbst zum Gegenstand der Reflexion und zum Gegenstand des Schreibens. Dies ist der Hintergrund für die kommentierenden Erzähler-Einschübe, die in romantischen Texten immer zu finden sind.Protagonisten in den Werken ETA Hoffmanns sind sehr häufig Schriftsteller und Künstler, die ihre eigene Künstler-Existenz und ihr Scheitern an ihren eigenen künstlerischen Ansprüchen zum Thema machen. So gesehen ist Nathanael, der seine eigenen innersten

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Empfindungen in seinen Gedichten zum Ausdruck bringen möchte, der sein ganzes "Herzblut" in diese Gedichte legt und dann feststellen muss, dass die anderen sie für "wirres Zeug" halten, eine typische Hoffmannsche Figur.Die Romantische Ironie entsteht in der Spannung zwischen dem, was romantische Künstler wollen, und dem zwangsläufigen Scheitern an diesem Anspruch.Der Anspruch, den die Romantiker an Kunst stellen, ist die Thematisierung der Romantischen Sehnsucht und die Suche nach der Erfüllung dieser Sehnsucht.Sinnbild für die Romantische Sehnsucht ist die Blaue Blume, die man suchen, aber niemals finden kann. Sie symbolisiert einen Zustand, in dem ein Individuum völlig eins mit sich selbst und der Umwelt und damit glücklich ist. Eine religiöse Metapher für diesen Zustand wäre wohl das Paradies. Eine philosophische Umschreibung wäre Rousseaus Bild eines gesellschaftlichen "Urzustands", in dem es seiner Meinung nach keine Konflikte, Rivalitäten, kein Streben und damit auch kein Scheitern gibt. Der Mensch ist mit sich selbst und in sich selbst vollkommen erfüllt und zufrieden.Der moderne Mensch ist sich - in vielen historischen Stufen - seiner selbst bewusst geworden. Er kann und muss sich als Subjekt einer objektivierten Umwelt gegenüber stellen, also Subjekt und Objekt als etwas Getrenntes erfahren. Der von ihm unterschiedenen Umwelt begegnet er mit einer wissenschaftlich-distanzierten Anspruchshaltung, die ihm zwar Erkenntnis, aber keinesfalls Glück und Zufriedenheit ermöglicht. Der moderne Mensch ist ein Getriebener, der sich nach Sehnsucht, Ruhe, Aufgehobenheit sehnt. Im Unterschied zum normalen Menschen und vor allem zum Philister ist dem sensiblen Künstler die Zerrissenheit und die Heimatlosigkeitkeit des modernen Menschen schmerzlich bewusst. Liebe und Kunst sind Versuche, diese Spaltung zu überwinden und die verloren gegangene Einheitlichkeit (zumindest für die in einem Augenblick erfüllt scheinende Liebe oder für den Augenblick des absoluten Aufgehens in der Kunstrezeption) wieder herzustellen. (Andere Vertreter der Romantik, vor allem der späte Friedrich Wilhelm Schlegel, glauben - ironischerweise - ausgerechnet in einem idealisierten "einheitlichen Mittelalter" und im Katholizismus diese Einheitlichkeit wiederzufinden).Die philosophischen Grundlagen für diese Philosophie des subjektiven Ichs entwickeln G. F. W. Hegel und J. G. Fichte („Das Ich setzt die Welt“). Ähnliche philosophische Gedanken entwickeln (etwa zur gleichen Zeit) der Philosoph Arthur Schopenhauer und (etwas später) der Philosoph Friedrich Nietzsche.Zunächst einmal ist es dem Menschen prinzipiell nicht möglich, die eigene "Gespaltenheit" zu überwinden. Verschärft wird dieser Zustand aber zusätzlich durch gesellschaftliche Zwänge, die das Erreichen eines wunschlos-glücklichen und zufriedenen Seelen-Zustandes prinzipiell unmöglich machen. Viele Menschen geben sich jedoch mit einer selbstzufrieden-oberflächlichen Kleinbürger-Idylle zufrieden.Für einen Künstler ist dieser Weg unmöglich. Er kann allenfalls versuchen, mithilfe seiner Kunst (Literatur, Musik, ...) für einen Augenblick eine Tür zu öffnen, hinter der das, worum es eigentlich geht, sichtbar wird.Die Spannung, die durch das Streben nach einem Ziel, das prinzipiell nicht erreichbar ist, entsteht, ist nur über den Weg der Ironie erträglich zu machen. Das ist der Kern der romantischen Ironie.Typische Elemente romantischer Ironie sind ...

Kritik am kleinbürgerlichen Philister und seiner Lebensphilosophie (Clara, literarische Teezirkel, Kater Murr)

tragisch-komische Scheitern der Figuren, die sich in der kleinbürgerlichen Gemütlichkeit nicht einrichten können (Nathanael, Kapellmeister Kreisler, ...)

auf die Spitze getriebene Spannung zwischen der unerfüllbaren Sehnsucht nach einer bürgerlichen Existenz und dem Scheitern einer authentischen Künstler-Existenz (Nathanael, Kreisler)

relbstreferentielles Einmischen des Erzählers in die Geschichte; das Erzählen wird zum Gegenstand des Erzählens

Arbeitsaufgaben:

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A10: Vergleiche die Beschreibung der Tee-Gesellschaften durch Heine und durch Hoffmann (S. 38f). Wodurch wird jeweils der ironische Grundton sichtbar? Was sind "ironische Signale"? Welche Phänomene / Eigenheiten der Zirkel und der TeilnehmerInnen an den Zirkeln wird Ziel des Spottes? A11: Erkläre (z. B. in einem MindMap), was Romantische Ironie ist und welche Funktion sie hat. Erkläre auch die Begriffe Philister, Blaue Blume, Romantische Sehnsucht.A12: Was wäre eine moderne Variante eines Philisters? Gibt es diesen überhaupt noch? Was wäre eine moderne Variante eines Teezirkels? Versuche eine ironsich-karikierende Beschreibung in Form eines Zeitungskommentars. A13: Gibt es die von den Romantikern beschriebene Spannung zwischen einem erfüllten / sinnerfüllten / glücklichen Leben einerseits und dem ständigen Scheitern an diesem Ziel auch heute noch? Was wären Indizien dafür? Woran ist die Spannung sichtbar? Woran wird das Scheitern sichtbar? Verfasse dazu eine Stellungnahme.

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