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DIE WELT IM KOPF UNIMAGAZIN GESÜNDER LEBEN Warum Bauernkinder weniger Allergien haben MEDIALER PHILOSOPH Georg Kohler auf dem Marktplatz der Meinungen UNTER DRUCK Weshalb wir gestresst sind und was wir dagegen tun können DIE ZEITSCHRIFT DER UNIVERSITÄT ZÜRICH 14. JAHRGANG NUMMER 1 FEBRUAR 2005

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DIE WELT IM KOPF

UNIMAGAZIN

GESÜNDER LEBEN Warum Bauernkinder weniger Allergien haben

MEDIALER PHILOSOPH Georg Kohler auf dem Marktplatz der Meinungen

UNTER DRUCK Weshalb wir gestresst sind und was wir dagegen tun können

DIE ZEITSCHRIFT DER UNIVERSITÄT ZÜRICH 14. JAHRGANG NUMMER 1 FEBRUAR 2005

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IM NETZ DERNEURONENHirnforschung ist en vogue. In der Öffentlich-keit werden die Neurowissenschaften alspotenzielle Leitwissenschaften des 21. Jahr-hunderts gehandelt. Namhafte Forscherinnenund Forscher wecken grosse Erwartungen.Unlängst veröffentlichten elf führende deutscheNeurowissenschaftler in der Zeitschrift «Gehirn&Geist» ein Manifest, in dem sie die Potenzialeder Hirnforschung ausloteten. Was macht denMenschen aus? Wie entsteht unser Bewusstsein?Haben wir einen freien Willen? Vom Blick unterdie Schädeldecke versprechen wir uns Antwor-ten auf fundamentale Fragen. Doch das ist Zu-kunftsmusik. Der Grossteil der Hirnforscher vonheute verfolgt bescheidenere, aber nicht weni-ger wichtige Ziele. Sie suchen etwa Mittel gegenneurodegenerative Krankheiten wie Alzheimeroder Parkinson. Oder arbeiten an der Entwick-lung von Medikamenten gegen psychischeLeiden wie Depressionen oder Angststörungen.

Mit dem Zentrum für NeurowissenschaftenZürich (ZNZ), das von der Universität und derETH getragen wird, verfügt Zürich über einesder weltweit besten Netzwerke auf diesemGebiet. Das neue unimagazin gibt Einblicke indie aktuelle Forschung am ZNZ und stelltForscherinnen und Forscher vor. Am rundenTisch diskutieren der Neuropsychologe LutzJäncke, der Pharmakologe Hanns Möhler undder Wissenschaftshistoriker Michael Hagnerüber die Perspektiven der Hirnforschung.

Am Rande des Nervenzusammenbruchs? –Was können wir tun, wenn wir gestresst sind?«Ein Nachmittag im Liegestuhl tut gut», sagtUlrike Ehlert im grossen Interview. Die Psycho-login untersucht die Auswirkungen von Stressbei Studierenden, Schwangeren, HIV-Patientenund Menschen, die am Burn-out leiden. Weiterin diesem Heft: Weniger Allergien: WeshalbBauernkinder gesünder sind. Auf dem medialenMarktplatz: Weshalb sich der Philosoph GeorgKohler oft und gerne in öffentliche Debatteneinmischt. Lob der Langsamkeit: Ilma Rakusa plädiert für Weile ohne Eile. Viel Spass bei derLektüre. Ihre unimagazin-Redaktion

EDITORIAL DOSSIER HIRNFORSCHUNG – DIE WELT IM KOPF

BLICK UNTER DIE SCHÄDELDECKE Eine visuelle Reise durch den Kopfmit Illustrator Pierre Thomé.

23 ENTHEMMTE TRIEBE Hirnverletzungen könnten für Drogensucht,Spielsucht oder Kleptomanie verantwortlich sein. Von Ruth Jahn

27 ZERFALLENDES GEHIRN Wie kann das Absterben der Nervenzellen beiAlzheimer und Parkinson gestoppt werden? Von Felix Straumann

30 TERRA INCOGNITA Sie ergründen die Geheimnisse des Gehirns: Wastreibt Neurowissenschaftler an? Fünf Porträts von Sascha Renner

34 DER GEIST FÄLLT NICHT VOM HIMMEL Was die Hirnforschung kann –und was noch nicht. Eine Debatte. Von Roger Nickl und Thomas Gull

41 FITNESS FÜR GRAUE ZELLEN Das Gehirn ist lernfähiger und flexibler,als wir bislang dachten – ein Leben lang. Von Carole Enz

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TITELBILD/BILD OBEN: Pierre Thomé

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LANDLUFT MACHT GESUNDBauernkinder haben weniger Allergien

8 JUSTITIAS GEHEIMNISSEWie das Recht in die Welt kommt

11 VERSEUCHTE MILCHEinem tückischen Erreger auf der Spur

16 ZUCKERBROT UND PEITSCHEAnreize zur militärischen Abrüstung

18 EMOTIONALE ANLEGERInvestoren sind keine Rechenmaschinen

INTERVIEWPsychologin Ulrike Ehlert über Stress

6 LEUTE /STANDPUNKT

44 REPORTAGEDoppelrolle: Professoren als Unternehmer

48 ESSAYIlma Rakusa – Lob der Langsamkeit

50 PORTRÄTGeorg Kohler auf dem medialen Marktplatz

56 BÜCHER

58 SCHLUSSPUNKT

HERAUSGEBERINUniversitätsleitung der Universität Zürich durch unicommunication

LEITUNGDr. Heini Ringger, [email protected]

VERANTWORTLICHE REDAKTIONThomas Gull, [email protected] Nickl, [email protected]

AUTORINNEN UND AUTOREN DIESER AUSGABEDr. Carole Enz, [email protected] | MaritaFuchs, [email protected] | Michael T.Ganz, [email protected] | Ruth Jahn, [email protected] | Helga Kessler, [email protected] |Paula Lanfranconi, [email protected] | SaschaRenner, [email protected] | SimonaRyser, [email protected] | Jost Schmid,[email protected] | Antoinette Schwab, [email protected] | Felix Straumann, [email protected] | Pierre Thomé (Illustration),[email protected] | Klaus Wassermann,[email protected] | Christine Weder,[email protected] | David Werner,[email protected] |

FOTOGRAFINNEN UND FOTOGRAFENMarc Latzel, [email protected] | UrsulaMeisser, [email protected] | Meinrad Schade, [email protected] | Jos Schmid, [email protected]

GESTALTUNG/DTPHinderSchlatterFeuz, Zü[email protected]

DRUCK UND LITHOSNZZ Fretz AG, Schlieren

ADRESSEunicommunicationSchönberggasse 15a8001 Zürich Tel. 01 634 44 30Fax 01 634 43 [email protected]

INSERATEKretz AGGeneral Wille-Strasse 1478706 Feldmeilen Tel. 01 925 50 60Fax 01 925 50 [email protected]

AUFLAGE22000 Exemplare. Erscheint viermal jährlich

ABONNENTENDas unimagazin kann abonniert werden unter [email protected]

Alle Reche vorbehalten. Nachdruck von Artikelnmit Genehmigung der Redaktion.

UNIMAGAZIN 1/05

IMPRESSUM FORSCHUNG RUBRIKEN

WEBSITE www.unicom.unizh.ch/unimagazin

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GEGEN GEWALT Die Wegstrecke Zürich-Cambridge ist für ihn schon fast ein Katzen-sprung. Alle zwei bis drei Wochen pendeltManuel Eisner diese rund 1200 km zwischenseinen zwei Arbeitsorten. In Zürich leitet er eingemeinsames Projekt der Stadt und des Päda-gogischen Instituts der Universität Zürich zurGewaltprävention an Schulen. In Cambridge ist Eisner Dozent für Soziologische Krimino-logie. Die Arbeit in Zürich bezeichnet der Sozi-alforscher als europaweit einmalig: Im Projekt«z-proso» werden rund 1700 Schulanfängersowie ihre Eltern über drei Jahre hinweg in

jährlichem Abstand befragt. Das Ziel ist es,Erkenntnisse über die soziale Entwicklung derKinder zu gewinnen. Der Sozialwissenschaftler,der früher an der Universität und der ETHZürich lehrte, richtete bei der Planung derLangzeitstudie den Fokus auf die frühe Kindheit.Denn Aggressivität und Gewalt hätten, so Eisner,eine hohe biographische Kontinuität: Wer alsKind nicht mit seinen Emotionen umzugehenlerne, sei auch in späteren Jahren eher gewalt-bereit. Die Auseinandersetzung mit abwei-chendem Verhalten und Gewalt zieht sichdurch Manuel Eisners Leben. In seiner Stu-dienzeit lebte er in einer Wohngemeinschaft mitStrafentlassenen. Auch seine Lizentiatsarbeitwidmete er dem Thema. Die Faszination desForschers scheint beiderseits des Ärmelkanalsansteckend zu wirken: Verschiedene Disserta-tionsprojekte zur Gewaltprävention, die mitder Studie in Zürich zusammenhängen, sindbereits in Planung. «Es wäre schön, wenn es ver-mehrt zur Zusammenarbeit und zu Austausch-projekten käme», sagt Eisner. Marita Fuchs

Manuel Eisner

LEUTE STANDPUNKT von Ulrich Klöti

«Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr.» Diese Maxime prägte noch den Erzie-hungsstil unserer Eltern. Heute müssen wir zurKenntnis nehmen, dass Lernen auch in späte-ren Lebensphasen immer wichtiger wird: DieHalbwertszeit des Wissens nimmt laufend ab.Wer den Anschluss an die Entwicklung von

neuen Theorien, Methoden und Erkenntnissenverpasst, kann im internationalen Wettbewerbnicht mehr mithalten. Zudem haben sich Wirt-schaft und Gesellschaft stark verändert. Derherkömmliche Lebensplan von Schule, Stu-dium, Beruf und Rente hat seine Gültigkeit ver-loren. Die meisten Menschen wechseln meh-rere Male im Leben den Beruf. Phasen desLernens, Arbeitens und der Familienbetreuungfolgen sich rasch.

Auf diese neue Situation muss sich dashöhere Bildungswesen mit flexiblen Formendes lebenslangen Lernens einstellen. DieBologna-Reform gibt dank der Gliederung desStudiums in einen Bachelor- und Masterstu-diengang mehr Spielraum für die individuelle

Gestaltung von Lern- und Arbeitsphasen. Sokann nach einem Bachelor-Abschluss einigeJahre Praxiserfahrung gesammelt werden,bevor das Studium für das Master-Diplom fort-gesetzt wird. Spezialisierte Master-Studien-gänge erlauben es, gezielt die Bedürfnisse derBerufstätigkeit und der Wissenschaft zu berück-sichtigen. Auf der Doktoratsstufe ist die Uni-versität gefordert, ihre Bildungsangebote stär-ker zu strukturieren und flexibler zu gestalten.

Für spätere Lebensphasen stellt die Univer-sität vermehrt Studiengänge auf der Weiter-bildungsstufe bereit. Neben dem bekannten«Executive MBA» werden neue fachspezifi-sche Studien angeboten, die zu einem «Masterof Advanced Studies» führen. Weniger zeit-intensive Angebote mit einem Zertifikats- odereinem Diplomabschluss können zur Auffri-schung der Fachkenntnisse und zur Reflexiondes neuesten Standes der Forschung beitragen.

Die wachsende Zahl der nicht mehr Berufs-tätigen hat ebenfalls Bildungsbedürfnisse.Allein der grosse Zuspruch zur Seniorenuni-versität beweist dies. Bildung kann aber auchden Übergang von der Berufstätigkeit in dasPensionsalter erleichtern und wirtschaftlich interessante Mischformen von Rente und Er-werbstätigkeit fördern. Das Konzept des lebens-langen Lernens fordert schliesslich einenintensiveren Kontakt der Universität zu ihrenEhemaligen. Alumni können am besten beur-teilen, wie die Universität ihre Bildungs- undWeiterbildungsangebote optimal auf die Be-dürfnisse von Zielgruppen abstimmen kann.Lebenslanges Lernen stellt somit eine grosseHerausforderung an die universitäre Lehre dar.Die Universität Zürich hat dank der Vielfaltihres Angebots die besten Voraussetzungen, umdiese Herausforderung anzunehmen.

Ulrich Klöti ist Prorektor Lehre und Professor für Poli-tologie an der Universität Zürich.

ZUM LERNEN VERURTEILT:LEBENSLANG

«Lebenslanges Lernen ist einegrosse Herausforderung: Dankihrer Vielfalt ist die UniversitätZürich bereit, sie anzunehmen.»

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MOLEKULARES LEGO «Mit dieser Firmamöchte ich in Pension gehen», sagt der jungeBiochemiker Patrik Forrer und meint damit seineben gegründetes Spin-off-Unternehmen Mole-cular Partners. Für seine Firmenidee wurden er und sein Team mit dem ersten Preis des Venture 2004 Awards ausgezeichnet. Nochforscht Forrers Team am Biochemischen Insti-tut der Universität Zürich, in spätestens zweiJahren wollen sie selbständig wirtschaften. DasRevolutionäre an ihrer Idee: Sie entwickelteneine Technologie, mit der sie erstmals das gros-se Bindungspotenzial der natürlich vorkom-

menden Repeat Proteine nutzen können.«Diese Moleküle sind modular, wie aus Lego-Bausteinen, aufgebaut: Einzelne Module lassensich mit anderen austauschen», erklärt Forrer,«das Prinzip können wir nun im Reagenzglasnachbilden.» Die so erzeugten DARPine (Desi-gned Antibody-like Repeat Proteins) funktionie-ren zwar wie Antikörper und können eine ande-re Substanz zielgenau erkennen und daran an-docken, sind jedoch viel beständiger und billigerin der Produktion. Die eigentliche Geschäftsideebesteht darin, eine «Bibliothek» anzulegen, ausder bei Bedarf die erwünschten Moleküle raus-gezupft werden können. Anwendungsmöglich-keiten bieten sich in der Diagnostik oder The-rapie, etwa der Krebsbekämpfung. Derzeit sinddie Molecular Partners auf Erfolgskurs, der Ven-ture 2004 Award wirkte wie ein Katalysator. Aufdie Frage, ob er nicht gerne an der Universitätbleiben würde, antwortet Forrer selbstbewusst:«Ich will zwar weiterforschen, aber unsererTechnologie – auch wirtschaftlich – zum Durch-bruch verhelfen.» Michèle Büttner

Patrik Forrer

EXOTISCH «In Zürich gehen die Studieren-den in den Seminaren nicht aufeinander los.‹Wie kannst du nur so etwas Blödes sagen›,würden sie einander nie an den Kopf werfen.»Der andere Umgangston, «auch unter den Kol-legen», gehört zu den ersten Eindrücken, dieKatia Saporiti als frisch berufene Professorin amPhilosophischen Seminar gesammelt hat. Dasssie aus Deutschland kommt, wo sie an der Hum-boldt-Universität in Berlin sowie in Bielefeldgelehrt und geforscht hat, braucht da wohl nichtangefügt zu werden. Dass es ein positiver Ein-druck ist, hingegen schon (angesichts einhei-

mischer Komplexe wegen einer nicht existen-ten universitären «Streitkultur»). Eine andereDifferenz sieht Saporiti in den demokratische-ren Strukturen. Eine Institution wie die Fakul-tätssitzung, «bei der dann alle abstimmen»,kannte sie bisher nicht. Obwohl sie eigentlichSchweizerin ist, fühlt sie sich «als Ausländerin»,da sie nur gerade ihre ersten drei Lebensjahrein Bern verbracht hat. Als Frau in einer solchenPosition, zumal mit theoretischer Ausrichtungund Forschungsschwerpunkten wie Philosophiedes Geistes, Sprach- oder Erkenntnistheorie, istsie zudem eine Ausnahmeerscheinung. «Nichtdass dies für mich im Vordergrund stehenwürde, ich mache ja nicht einmal feministischePhilosophie – aber es wäre schon schön, weni-ger Exotin zu sein.» Ohne weibliche Vorbilderkämen Studentinnen nicht leicht auf die Idee,einen solchen Weg einzuschlagen. Das sei wiemit den Lokomotivführern in den (früheren)Kinderbüchern. Was sie selber nicht sagenwürde: Gut, dass Zürich nun eine Lokomotiv-führerin mehr hat. Christine Weder

Katia Saporiti

MULTITALENT Schon als Kind war er vonZahlen fasziniert. Als Student der Mathematik,Betriebswirtschaft, Musik und Pädagogik bau-te er das Marketing beim damaligen Startupwizoo.com auf. Daneben fand er noch Zeit, alswissenschaftlicher Mitarbeiter für Computer-musik tätig zu sein und für eine Musikzeitschriftzu schreiben. Nach Forschungsaufenthalten inMainz, Houston und St. Gallen trat René Alges-heimer im September dieses Jahres seine neueStelle als Assistenzprofessor für Marketing an.Für die, wie er sagt, universale Sprache derMathematik und erhabene Ästhetik der Logik

kann er sich auch heute noch begeistern. Schonwährend seines Studiums wurde ihm jedochklar, dass er die abstrakte Welt mathematischerSätze und logischer Kalküle mit angewandterForschung kombinieren würde. In seiner trans-disziplinär ausgerichteten Arbeit stellt er denMenschen mit seinen Emotionen und Motiva-tionen in den Mittelpunkt. Algesheimer unter-sucht die Interaktionen von Menschen in sozi-alen Netzwerken wie etwa Markenclubs oderOnline Communities. Besonders interessierenihn die wechselseitigen Einflüsse zwischendiesen Netzwerken und ihren einzelnen Mit-gliedern. In seinen bewusst auf aktive Teilnah-me ausgelegten Lehrveranstaltungen erwerbendie Studierenden beim Erarbeiten konkreterProjekte die Fähigkeit zur praktischen Anwen-dung von theoretischem Wissen. Gerade ist derfrischgebackene Assistenzprofessor für Marke-ting in sein neues Büro eingezogen. Bei der Fülleseiner Zukunftspläne darf man auf Neuigkeitenaus der Zürcher Marketingforschung gespanntsein. Klaus Wassermann

René Algesheimer

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DIE ERFINDUNG DER ZUKUNFT

Eine Schöpfung ohne Schöpfer: Mit dem Aufkommen des Konsensualvertrages än-derte sich die Welt der Antike. Marie Theres Fögen ist solchen Rätseln der römischenRechtsgeschichte auf der Spur – mit ungewöhnlichen Mitteln. Von David Werner

Im Laufe des zweiten Jahrhunderts v. Chr. voll-zog sich im römischen Rechtswesen ein bedeu-tungsvoller Wandel. Von den damaligen Zeitge-nossen nahezu unbemerkt entstand eine neueRechtsfigur: der Konsensualvertrag. Zwei odermehr Personen treffen eine Übereinkunft – inder Erwartung, bei Nichteinhalten durch dieeine Partei diese vor einer Rechtsinstanz einkla-gen zu können.

Das klingt zunächst völlig unspektakulär.Und doch zeitigte die «Erfindung» des Vertragesgewaltige Folgen für das Recht und damit für diegesamte Gesellschaft – bis heute. Eine regel-rechte Möglichkeits-Explosion fand statt: Mankonnte auf einmal Dinge tun, die uns heutevöllig selbstverständlich erscheinen, vor derVerbreitung des Konsensualvertrages aberundenkbar gewesen wären. Man konnte Wirt-schaftsbetriebe mit ruhigem Gewissen in Pachtgeben, Arbeitsverhältnisse auf Dauer festlegen,konnte zeit- und ortsungebundenen Handeltreiben; man hatte auf einmal eine gewisseSicherheit bei der Wohnraummiete, und mankonnte davon ausgehen, dass Schäden ersetztund Schuldzinsen auch beglichen würden.Kurzum: Die Möglichkeiten, die Zukunft zuplanen, weiteten sich enorm aus.

AUS DEM NICHTS ENTSTANDEN

Das Erstaunliche dabei war: Der Konsensual-vertrag entstand wie aus dem Nichts. Nichts warda, was ihn vorbereitet oder auch nur ange-kündigt hätte. Von «Entwicklung» im Sinne ei-nes organischen Wachstums- und Reifeprozes-ses kann keine Rede sein. Mit dem Auftauchendes Konsensualvertrages macht das Recht viel-mehr einen Sprung. Dieser Sprung ist ideenge-schichtlich nicht zu erklären: Es gibt keinengenialen Kopf, keinen Juristen, keinen Politiker,der ihn erfunden hätte. Er war irgendwann da,als habe er sich selbst in die Welt gesetzt.

Diesem und anderen Rätseln der römischenRechtsgeschichte ist Marie Theres Fögen, Pro-fessorin für Römisches Recht, Privatrecht undRechtsvergleichung an der Universität Zürich,auf der Spur. Sie bedient sich dabei einer Sicht-weise, die für ihr Fachgebiet ungewöhnlich ist:Sie betrachtet Rechtsgeschichte als evolutionä-ren Prozess, als einen Prozess, der von keinemzentralen Ort aus gesteuert wird, der keinemverborgenen Ziel entgegenstrebt, der über-haupt keinerlei Idee und/oder Absicht verfolgt;als einen Prozess, der nicht auf linear-kausalerEntwicklung, sondern auf einer unkontrollier-baren Eigendynamik beruht, die sich immer erstim Nachhinein beobachten lässt und die immerauch anderswo hätte hinführen können.

Evolution ist ein Wandlungsvorgang, derallein durch die selektive Nutzung von spontansich ergebenden Möglichkeiten, durch Ein-speisung bestimmter kommunikativer Zufalls-ergebnisse ins soziale Gedächtnis angetriebenwird. Variation, Selektion und Restabilisierung– in diesem ständig sich wiederholenden Drei-schritt vollzieht sich die Evolution sozialerSysteme, sagt der Soziologe Niklas Luhmann.Und Luhmanns System- und Evolutionstheorieist es denn auch, die Fögen als Grundlage ihrerfaszinierenden rechtshistorischen Denkexperi-mente gewählt hat.

«Ich lese schon seit dreissig Jahren Luhmann.Das hat mir immer wieder kleine Kicks ver-mittelt», sagt Fögen, «ich hätte es aber niegewagt, ein Forschungsprojekt ganz aufSystemtheorie auszurichten.» Doch dann, imSeptember 1999 – Fögen hatte gerade ihren ein-jährigen Aufenthalt am Wissenschaftskolleg zuBerlin begonnen – nahm die Neugier Überhand:«Was passiert, wenn ich das rechtshistorischeWissen, das mir in den letzten dreissig Jahrenantrainiert worden ist, unter den Prämissen derEvolutionstheorie sichte?», wollte sie wissen.

FORSCHUNG

Justitia in neuem Licht: Die Systemtheorie von Niklas

WEBSITE www.rwi.unizh.ch/foegen/home.htm BILD Jos Schmid

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Luhmann macht unerwartete Einblicke in die Rechtsgeschichte möglich.

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sallogische Erklärung nach dem Schema: weildie Umwelt des Rechts – also die Gesamtge-sellschaft – sich verändert, verändert sich auchdas Recht. Das Verhältnis von Fremd- undSelbstbestimmung des Rechts ist in system- undevolutionstheoretischer Sicht viel schwieriger,aber dafür auch viel präziser zu fassen als insozialhistorischer Perspektive.»

Die Schwierigkeit stellt sich wie folgt: Wie hatman sich eine «Anpassung» des Rechts an dieübrige Gesellschaft vorzustellen, wenn doch dasRecht seine Umwelt ohnehin nur durch die«eigene Brille», das heisst nach Massgabe dereigenen Relevanzkriterien wahrnimmt? Wiekonnte im Speziellen dieses althergebrachterömische Recht, das sich ja in ganz besonderemMasse gegen zu viel Ausseneinflüsse abschotte-te, indem es nur Dinge an sich herantreten liess,die der eigenen Struktur kompatibel waren –wie konnte ein solch hermetisch in sich selbstruhendes, ganz auf Strukturerhalt ausgerichte-tes, in seiner Evolution blockiertes Recht sich aneine Umwelt anpassen, die es ja unmittelbar garnicht wahrnahm – nicht wahrnehmen durfte?

RECHT WIRD SCHLÜSSEL ZUM ERFOLG

Das Recht wurde keiner «Strukturreform» unter-worfen. Niemand plante, niemand sah voraus,was kommen würde. Der evolutionäre Sprungkam – aus der Sicht des Rechtes – durch Zufall:Der Schreiber und Archivar Gnaeus Flavius,heisst es in der römischen Rechtsgeschichts-schreibung, plünderte das Priesterarchiv,durchbrach die Geheimhaltung, brachte Kalen-der und Rechtsformeln unters Volk. Er wollte amFormelbestand des Rechtes nichts ändern, erwollte ihn nur für alle einsehbar machen undden Plebejern ermöglichen, an den Segnungendes Rechts teilzuhaben.

Doch, was dann geschah, ging weit über alleshinaus, was Gnaeus – was irgendwer sichdamals hätte ausmalen können: Durch seineVeröffentlichung wurde das Recht diskutabel.Plötzlich konnte die Allgemeinheit überblicken,wofür Formeln bestanden und wofür nicht.Formeln erwiesen sich als anpassungs-, verän-derungs- und vor allem interpretationsbedürf-tig. Es wurde notwendig, über Recht zu debat-tieren. Juristisches Know-how wurde zumBestandteil der Allgemeinbildung, wurde zu

Rechtsfall werden konnte, war entsprechendeng gezogen – so eng, wie man sich das heute,wo Gesetze praktisch jeden Lebensbereich er-fassen, kaum mehr vorstellen kann: Das Fällenfremder Bäume zum Beispiel konnte eingeklagtwerden, dafür gab es eine Rechtsformel; für dasAbschneiden fremder Weinstöcke gab es einesolche Formel nicht. Weinstöcke waren demRecht egal; sie existierten für das Recht nicht.

Wer das nicht wusste und seinen geschä-digten Weinstock vor Gericht nicht als Baumbezeichnete, hatte keine Chance, überhaupterhört zu werden. Rigide wurde durch Formelnder Kreis dessen, wofür Recht zuständig war,eingegrenzt. Das in seinen Ressourcen nochsehr schwache Rechtssystem schützte sich aufdiese Weise davor, überrannt, mit Rechtsgesu-chen überhäuft und damit überfordert zu wer-den. Das Recht wurde immunisiert gegen allzuviele Umwelteinwirkungen – und konnte dafürin geschütztem Rahmen eine grosse Autonomie,Autorität und Stabilität entwickeln.

Lange Zeit kamen die Römer mit diesemRechtssystem zurande. Dann, um 300 v.Chr.,nach eineinhalb Jahrhunderten behäbigenGleichschrittes, wurde Rom auf einmal vonDynamik erfasst: Münzgeld wurde eingeführt,Süditalien erobert, Strassen gebaut; Handelund Herrschaft expandierten, das Staatsgefügewurde komplexer und unübersichtlicher. Undauch ins Recht kam Bewegung. Unter anderemwurden die erwähnten Konsensualverträgezum Mittel der Rechtsgestaltung. Man wurdeunabhängiger vom starren Formelapparat desGerichtes – und konnte sich zugleich in einemerweiterten Umkreis sicherer fühlen, da vielmehr Lebensbereiche in Genuss von Rechts-garantien kamen. Das Recht wurde variabler,ohne an Stabilität und Autorität einzubüssen.

DIFFUSE ERKLÄRUNGEN

Wie konnte es dazu kommen? Sozialgeschicht-ler würden wohl sagen: Die Änderungen fandenunter Einfluss eines allgemeinen sozialen Wan-dels statt. Fögen sind solche Erklärungenjedoch zu diffus: «Wer das Recht systemtheore-tisch betrachtet, der hat ein Auge für die gros-se Autonomie, die grosse Selbstbezüglichkeit,die in Rom das Rechtssystem schon früh hatte.Angesichts dessen verbietet sich eine rein kau-

Fögens Buch «Römische Rechtsgeschichten.Über Ursprung und Evolution eines sozialenSystems» (2002) war das erste Resultat dieserselbstgestellten Aufgabe. Es markiert denAnfang eines Forschungsprojektes, das inzwi-schen immer weitere Kreise zieht. Fögen istüberzeugt: «Ohne die Initialzündung durch dasKolleg, ohne diese belebenden Diskussionenüber die Fachgrenzen hinweg, wäre das Buch sonie entstanden.»

Vorbehalte gegenüber der Systemtheorie – ja,auch die kennt sie inzwischen. Gerade unterRechtshistorikern, überhaupt unter Historikernsei die Skepsis sehr gross. «Dabei ist Evolutions-theorie doch reine Geschichtstheorie! Aberviele denken eben, sie sei ein Angriff auf dieabendländische Kultur.» Fögen pflegt dagegenschlicht einzuwenden: Warum nicht mal wasNeues ausprobieren? «Ich bin ja nicht dazu da,zu beweisen, wie Recht Luhmann hat. Ichbenutze seine Theorie einfach, versuche, siefruchtbar zu machen. Falsifizieren oder veri-fizieren kann man Theorien dieses Kaliberssowieso nicht. Theorien erlauben, wenn manGlück hat, einmal alles ganz anders zu be-trachten.» Fögens Motto: «Ich sehe was, was dunicht siehst.»

WENN WEINSTÖCKE BÄUME SIND

Was sieht Fögen in Bezug auf die Entstehung desKonsensualvertrages? Zunächst einmal stelltesie die Fragen um – von der Kausalität auf Kon-tingenz, vom Ursprung auf Emergenz: NichtUrsachen werden in der Evolutionstheorieerfragt, sondern die Bedingungen der Möglich-keit, die gegeben sein mussten, damit aus derzufallsbedingten Rekombination bestehenderElemente etwas Neues entstehen konnte.

Und so sah das althergebrachte römischeRecht bis ins dritte vorchristliche Jahrhundertaus: Es war gekennzeichnet durch einen stren-gen Formalismus und extreme Ritualisierung.Ohne die richtige Formel («legis actio», wie dieRömer sagten) zur richtigen Zeit am vorgegebe-nen Ort, verbunden mit der richtig durchgeführ-ten rituellen Handlung, ging gar nichts. Spruch-formeln und Kalender, die über die GerichtstageAufschluss gaben, wurden im Tempel auf-bewahrt, und nur Priester hatten Zugriff dar-auf. Der Bereich dessen, was überhaupt zum

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einem Schlüssel des Erfolges. Ansprücheans Recht konnten von immer mehr Leutenrechtskonform formuliert werden, der For-melkanon wurde erweitert, es wurden neue,flexiblere Formeln geschaffen – bald auchFormeln für den erwähnten Konsensualver-trag. Die Formeln, so drückt es Fögen aus,«lernten laufen».

DYNAMIK DURCH STRUKTURERHALT

Die interessante Pointe dieses rechtsge-schichtlichen Vorgangs liegt für Fögen darin,dass gerade das starre, archaische, ganz aufStrukturerhalt eingerichtete Instrument derSpruchformel zum Vehikel einer neuartigen,flexiblen Rechtsfigur wurde. Niemand dach-te daran, die Form der Formel zu eliminie-ren – sie war und blieb eine Garantin fürAutorität und Durchsetzungsfähigkeit desRechtes. Unter dem Schutz der Priesterauf-sicht war ihr so viel an Stabilität und Autoritätzugewachsen, dass sie unter verändertenUmständen, die das Rechtssystem ungleichstärkeren Belastungen aussetzten, eineungeahnte Variabilität von Rechtsinhalten insich aufnehmen konnte.

Die Bedingung der Möglichkeit des evolu-tionären Sprungs, den das römische Rechts-system im 3. Jahrhundert vor Christus voll-zog, ist also just in jenem Bollwerk zu suchen,welches die Hüter des Rechts errichtet hatten,um Veränderungen möglichst zu unterbinden– dem strikten, höchst selektiven Formelka-non. Stabilität als Voraussetzung von Varia-bilität: Das Beispiel zeigt, welch faszinieren-de Wendungen Rechtsgeschichte vollzieht,beobachtet man sie einmal evolutionstheo-retisch. Sie sei, sagt Fögen, noch auf einigeÜberraschungen dieser Art gespannt.

KONTAKT Prof. Dr. Marie Theres Fögen, Rechts-wissenschaftliches Institut der Universität Zü[email protected]

ZUSAMMENARBEIT Netzwerk u.a. Universitä-ten Luzern, Freiburg/CH, Dresden, Frankfurt amMain

FINANZIERUNG Universität Zürich; Max-Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte, Frank-furt am Main

WENN MILCH KRANK MACHT

Ein Bazillus, der vor allem in der Milch zu finden ist, könnte für die Darmkrank-heit Morbus Crohn verantwortlich sein. Forscher am Institut für Lebensmittel-sicherheit und -hygiene sind dem Erreger auf der Spur. Von Helga Kessler

FORSCHUNG

WEBSITE www.ils.unizh.chUNIMAGAZIN 1/05

Wie verseucht ist unsere Milch? Lebensmittelanalysen geben darüber Aufschluss.

rium paratuberculosis sein. Der Bazillus löst beiRindern, Schafen und Ziegen eine chronischeDarmentzündung aus. Die erkrankten Tiereleiden unter ständigem Durchfall, sie magernmassiv ab und trocknen aus. «Für das Tier ist dasein Todesurteil», sagt Stephan. Schon seit mehrals 90 Jahren kennt man auch beim Menscheneine chronisch verlaufende entzündliche Er-krankung des Darms, den Morbus Crohn, dermöglicherweise ebenfalls durch Mycobacte-rium paratuberculosis verursacht wird.

Ist die Sicherheit von Lebensmitteln bedroht,schalten bei Roger Stephan die Alarmlampen aufOrange. Stephan und sein Team vom Institut fürLebensmittelsicherheit und -hygiene sind aufder Suche nach Erregern, die über tierische Pro-dukte zum Menschen gelangen können. Seineprimäre Aufgabe ist es, mögliche Gefahren zuerkennen, Probleme zu identifizieren undLösungen zu entwickeln.

Ein solcher, möglicherweise für den Men-schen gefährlicher Erreger könnte Mycobacte-

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Roger Stephan schildert, wie der Verdacht auf-kam: «Die Veränderungen im Darm von Mor-bus-Crohn-Patienten sehen genauso aus wie diedurch Paratuberkulose verursachten Verände-rungen beim Tier.» Zudem kann der Erreger im Darmgewebe von vielen Morbus-Crohn-Patienten nachgewiesen werden. Ausserdemscheint eine Therapie mit speziellen, gegendiesen Erregertyp gerichteten Antibiotika beider Mehrzahl der Erkrankten zu fruchten.Sollte Mycobacterium paratuberculosis an derEntstehung von Morbus Crohn beteiligt sein,könnten Patienten mit dieser schweren Er-krankung auf Heilung hoffen. Derzeit bleibttherapeutisch häufig kein anderer Ausweg, alsstark entzündete Teile des Darms chirurgisch zu entfernen.

VERSEUCHTE MILCH

«Weil wir die wissenschaftliche Literatur lesen,wussten wir natürlich von diesem Verdacht»,sagt Stephan. Die Alarmlampe begann zuleuchten, als eine am Institut für Lebensmittel-sicherheit und -hygiene durchgeführte Studievor zwei Jahren zum Ergebnis kam, dass in rund20 Prozent der Milchproben von Kuhbeständenin der Schweiz Mycobacterium paratuberculo-sis nachgewiesen werden konnte. Dann fandeine zweite Studie des Instituts in der Milch vonZiegen und Schafen den Erreger ebenfalls in 20Prozent der Proben. Stephan brachte der Befundins Grübeln: «Ist die Situation in der Schweiztatsächlich so schlimm oder war womöglich derErreger nicht sauber diagnostiziert?» Dennwenn der Erreger so häufig in Milch gefundenwird, müsste dann nicht auch die Zahl der anMorbus Crohn Erkrankten höher sein? «DieserGedanke gab den Ausschlag, die Methodik zuüberdenken», sagt Stephan.

Die Diagnose beim Tier erfolgt über dieSymptome, die jedoch erst in der Endphase derErkrankung auftreten. Nun weiss man aber,dass zwischen Infektion und Ausbruch der Er-krankung bis zu 15 Jahre verstreichen können.Im Tierbestand können sich also auch Tieretummeln, die den Erreger in sich tragen, ohnekrank zu sein – der Veterinärmediziner nenntdas eine «latente Zoonose». Die Tiere scheidenMycobacterium paratuberculosis über den Kotin grossen Mengen aus – ein Gramm Kot kann Sorgen für Lebensmittelsicherheit: die beiden Veterinärmediziner Taurai Tasara und Roger Stephan.

BILDER Jos Schmid

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bis zu 100 Millionen Keime enthalten – undkönnen so andere Tiere infizieren. Meist wer-den bereits die Kälber angesteckt. «Gefragt istalso eine Methode, mit der man den Erreger auch bei den Tieren nachweisen kann, dienoch nicht erkrankt sind», sagt Stephan. Dannkönnte man Massnahmen treffen, um die Aus-breitung des Erregers in einem Tierbestand zu unterbinden.

Mindestens genauso wichtig ist es für denFachmann zu verhindern, dass Lebensmittelden gefährlichen Keim enthalten. Da diesernicht nur über den Kot ausgeschieden wird, son-dern auch über die Milch, ist diese das «Haupt-risikolebensmittel». Wenn der Erreger aber imKörper eines infizierten Tieres zirkuliert, dannmüsste er eigentlich auch im Fleisch zu findensein. «Man hat keine Ahnung, ob das so ist», sagt Stephan. Genauso unbekannt sei, ob auchdas Trinkwasser das Mycobacterium enthalte.Die Wahrscheinlichkeit dafür scheint hoch:Englische Forscher fanden den Erreger imTrinkwasser – offenbar überlebte der Keim dieChlorierung. Schliesslich könnte der Erregerauch auf Gemüse zu finden sein, falls dieses mitGülle gedüngt wurde. Auch darüber ist lautStephan derzeit nichts bekannt. All diese Fragenliessen sich lösen, gäbe es einen einfachen undeindeutigen Nachweis für den Erreger. Er-wünscht wäre ein Test, der zudem die Mengeder Keime verrät.

KNIFFLIGER NACHWEIS

Beim Menschen weist man das Bakteriumnach, indem man eine Gewebeprobe aus demDarm entnimmt und den Keim in einer Kulturvermehrt. Der Test gilt als «Goldstandard» undist eindeutig, aber, so Stephan: «Bis die Bestä-tigung vorliegt, verstreichen bis zu sechs Mo-nate». Für die Überprüfung von Tierbeständenist das Verfahren daher ungeeignet. Neuere Me-thoden setzen auf die Erbsubstanz des Erregers.Der molekulargenetische Nachweis basiert aufeinem bestimmten Abschnitt im Genom, derdarin mehrfach vorkommt. Über die so genann-te Polymerase-Ketten-Reaktion lässt sich diespezielle Sequenz vervielfältigen und so nach-weisen. «Die Methode war sehr viel verspre-chend, sie wurde auch häufig angewandt, um Träger bei Tieren zu erkennen und den

Keim bei Morbus-Crohn-Patienten nachzuwei-sen», sagt Roger Stephan.

Doch dann hat sein Mitarbeiter Taurai Tasaraherausgefunden, dass auch verwandte Myco-bacterien die zum Nachweis genutzte Zielse-quenz enthielten. Damit erwies sich der Test alsweniger spezifisch als nötig. Tasara suchtedeshalb nach Teilbereichen innerhalb der Se-quenz, die nur bei Mycobacterium paratuber-culosis vorkommen. «Wir sind seit einem Jahrdran und versuchen nun, in einem Aufwaschgleich mehrere Zielsequenzen anzusprechen.Wir glauben, dass wir einen grossen Schritt wei-ter gekommen sind», sagt Stephan.

Ganz zufrieden ist er noch nicht. Denn dieMethode verrät derzeit nur, ob der Erreger inder Probe enthalten ist, sie sagt jedoch nicht, wieviel davon vorhanden ist. Das zu wissen, wäreaber wichtig. «Bei Salmonellen braucht es eineMillion Zellen, um eine Erkrankung auszulö-sen», erläutert Stephan. Noch ist unbekannt, wiedie Situation bei Mycobacterium paratuber-culosis ist, ob es auch Millionen von Zellenbraucht oder nur wenige. Ebenfalls unzufriedenist Stephan mit der Sensitivität des Tests. «Der-zeit kommen wir auf 10 Zellen pro Milliliter.»Für eine molekulare Methode sei diese Nach-weisgrenze jedoch relativ schlecht.

Dennoch kann er bereits heute erste Schluss-folgerungen ziehen. Weil frühere Tests auch aufandere Mycobacterien ansprachen, geht erdavon aus, dass die Durchseuchung der Rin-derbestände «viel tiefer» liegt, als frühere Stu-dien vermuten lassen. Wenn das allerdings sowäre und wenn sich dies auch an Milchprobenbestätigen würde, dann, so Stephan, «wäre dieThese, dass es einen Zusammenhang zwischenMycobacterium paratuberculosis und MorbusCrohn gibt, wieder besser gestützt». Denn dieErkrankungszahlen sind mit geschätzten 50 Fäl-len pro 100000 Einwohner eher niedrig. GenaueZahlen sind nicht bekannt, da die Erkrankungin der Schweiz nicht meldepflichtig ist.

KEINE TIERE TÖTEN

Noch ist es zu früh, um aus diesen ersten For-schungsergebnissen Konsequenzen für die Le-bensmittelsicherheit abzuleiten. Stephan hältwenig davon, die Ausbreitung der Krankheitbeim Tier zu unterbinden, indem man ganze

Tierbestände tötet, wie das in den USA gemachtwird. «Auch in Europa denkt man über solchradikale Massnahmen nach», weiss der Fach-mann. Doch eine Entscheidung sei erst dannvernünftig möglich, wenn eine saubere Dia-gnostik vorliege. Auch über eine prophylakti-sche Impfung von Tierbeständen könne manerst dann diskutieren, wenn der Durchseu-chungsgrad bekannt sei.

Ob Milch eine andere Aufbereitung braucht,als sie derzeit üblich ist, lässt sich zum momen-tanen Zeitpunkt ebenfalls nicht beantworten.Bekannt ist jedoch, dass Mycobacterium para-tuberculosis hitzestabiler ist als der Erreger vonTuberkulose, auf den die Pasteurisierung vonMilch – 71,7 Grad, 15 Sekunden lang – abgezieltwar. «Man muss davon ausgehen, dass Myco-bacterium paratuberculosis auch in der erhitz-ten Milch noch vorhanden sein kann», sagtStephan. Möglicherweise müsse man künftig die Pasteurisierung anpassen. Mit einer Erhö-hung der Temperatur scheint es jedoch nichtgetan. «Selbst wenn man 10 Grad höher geht,findet man immer noch überlebende Zellen»,sagt Stephan.

MILCH LÄNGER ERHITZEN?

Die Milch muss also womöglich nicht nur stär-ker, sondern auch länger erhitzt werden. Docheine derartige Umstellung der Pasteurisierungwürde andere Prozessabläufe erfordern undwäre mit hohen Kosten verbunden. Zudemhätte eine stärkere Erhitzung weitere negativeEffekte auf die Milch, etwa auf die darin ent-haltenen Eiweisse. «Wir müssen deshalb dieTemperatur-Zeit-Faktoren finden, die eineInaktivierung der Mycobacterien auf so gerin-ge Mengen zulassen, dass man davon ausgehenkann, dass sie nicht mehr infektiös sind», sagt Stephan. Die an seinem Institut derzeit ent-wickelte Methode soll helfen, auch diese For-schungsfrage zu klären.

KONTAKT Prof. Roger Stephan, Dr. Taurai Tasara, Insti-tut für Lebensmittelsicherheit und -hygiene der Uni-versität Zürich, [email protected]

ZUSAMMENARBEIT Institut für Veterinärbakteriolo-gie der Universität Zürich; Department of Surgery, St George’s Medical School, UK

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BAUERNKINDER SINDGESÜNDER

Bauernkinder leiden viel seltener unter Heuschnupfen und Asthma als andere Kin-der. Roger Lauener, Allergologe am Kinderspital Zürich, untersucht zusammen mitinternationalen Forschungsteams, warum das so ist. Von Paula Lanfranconi

Wenn Ende Januar die Haselstauden blühen,beginnt für viele Kinder eine leidvolle Zeit. IhreAugen sind rot und tränen, die Nase ist verstopft.Schon nach ein bisschen Herumrennen aufder Wiese müssen sie nach Atem ringen: ZumHeuschnupfen ist noch Asthma dazugekommen.Im Spitalalltag fällt Roger Lauener auf, dass diebetroffenen Kinder immer jünger werden. Vorallem werden es immer mehr: «Noch vor 80 Jah-ren litten in der Schweiz weniger als zwei Pro-zent der Bevölkerung unter Pollenallergien,heute ist fast schon jeder Fünfte betroffen.»

Woher kommt diese enorme Zunahme? DieUrsachen können nicht genetisch bedingt sein– dafür sind 80 Jahre zu kurz. Auch die Umwelt-verschmutzung durch die Industrie und denAutoverkehr scheint nicht direkt schuld daranzu sein. Denn Studien zeigen, dass Kinder inhoch industrialisierten Gebieten zwar mehrhusten, aber sie entwickeln nicht häufigerAllergien als Kinder in wenig belasteten Gegen-den. Neuere Untersuchungen weisen daraufhin, dass es Mikroben sind, die bei der Entste-hung von Allergien eine wichtige Rolle spielen:Kinder zum Beispiel, die in Krippen häufig mitschniefenden Gspänli in Kontakt kamen, rea-gieren weniger oft allergisch als Kinder, die vorInfekten abgeschirmt aufwachsen. Ihr Immun-system scheint besser trainiert zu sein.

SCHÜTZENDE BAKTERIEN

Erste konkrete Hinweise auf diese Mechanis-men lieferte Ende der 90er-Jahre eine Schwei-zer Studie. Sie zeigte, dass das Risiko, Heu-schnupfen zu kriegen, bei Bauernkindern drei-mal geringer ist als bei Kindern, die im gleichenDorf lebten und dieselbe Schule besuchten, abernicht auf einem Bauernhof wohnten. Diesen«Bauernhofeffekt» konnten die Forschenden

seither in einer Anschlussstudie mit über 900Kindern aus der Schweiz, Deutschland undÖsterreich bestätigen: Kinder, die Milch vom Hoftranken und sich oft im Stall aufhielten, littenweniger an Heuschnupfen. Besonders wirksamwar der Schutz, wenn die Kinder schon imersten Lebensjahr so aufwuchsen. Aber was istdenn so gesund an der Stallluft? «Man vermutetschon länger», sagt Roger Lauener, «dass ge-wisse Bakterien zum Schutz vor Allergien bei-tragen.» Die Wissenschaftler stellten fest: Jemehr Endotoxin, ein Bestandteil bestimmterBakterien, in der Umgebung der Kinder vorkam,desto weniger litten sie an Asthma oder Heu-schnupfen. Und auf einem Bauernhof gibt esnun einmal mehr solche Mikroben als in einerblankgescheuerten Stadtwohnung.

Das Besondere an Roger Laueners Arbeit, fürdie er 2003 mit dem Pfizer-Forschungspreis aus-gezeichnet wurde: Ihm und seinem Team ge-lang zum ersten Mal der Nachweis, dass Mikro-ben in der Umwelt tatsächlich das Immun-system der Kinder beeinflussen. Auf den weis-sen Blutkörperchen der Bauernkinder fandendie Forschenden nämlich eine erhöhte Anzahlbestimmter Eiweissmoleküle, so genannterToll-like Rezeptoren. Mit Hilfe dieser Rezepto-ren erkennt das Immunsystem Bestandteilevon Mikroben als fremd und löst eine Immun-antwort aus. Die nächste grosse Frage lautetjetzt: Gibt es Feedback-Mechanismen, die dafürsorgen, dass die Immunzellen weniger starkreagieren und dadurch vor allergischen Erkran-kungen schützen? Und: Werden solche Feed-back-Mechanismen durch die Dauerexpositionmit den betreffenden Mikroben aktiviert?

Aufgrund der Bauernhofstudie muss RogerLauener auch immer wieder Missverständnis-se klären. An Elternabenden hört er manchmal

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Gesünder als eine blankgescheuerte Stadtwohnung:

BILD Jos Schmid

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den Einwand, dass Dreck gesund mache, hättenschon die Grossmütter gewusst. «Das mag zwarsein», sagt Lauener dann, «aber die bessereHygiene und Antibiotika gehören zu den gröss-ten medizinischen Fortschritten der letztenhundert Jahre und reduzierten die Säuglings-sterblichkeit massiv.» Heute gehe es eher da-rum, von übertriebenen Hygienevorstellungenwegzukommen.

MILCH VOM BAUERNHOF?

Doch Eltern möchten alles tun, um das Leidenihrer Kinder zu lindern. Sollen sie ihnen nunMilch vom Bauernhof beschaffen? Lauenerwinkt ab, denn ernährungsphysiologisch istKuhmilch für Säuglinge nicht geeignet. Könnteman aber nicht wenigstens Bauernhofferien ma-chen? «Das», lacht Kinderarzt Lauener, «würdemanchen Kindern sicher gut gefallen, dochwer bereits einen Heuschnupfen hat, den wirdein Aufenthalt auf dem Bauernhof nicht heilen.»Studien zeigten nämlich bisher nur eine vor-beugende, nicht aber eine therapeutische Wir-kung bei bereits bestehenden Allergien.

Was fasziniert den Allergologen an seinerTätigkeit? «Dass man die Methoden und Erkenntnisse der Grundlagenforschung nutz-bringend in die patientennahe Forschung ein-bringen kann.» Und, fügt Lauener mit spitz-bübischem Lächeln bei, dass die Forschungallergologische Dogmen in Frage stelle. ZumBeispiel, dass es das Beste sei, Kinder ins Glas-haus zu stecken, um sie vor Allergien zu schüt-zen. «Ziel jedes Kinderarztes muss es sein,Kinder möglichst normal aufwachsen zu lassen– so, dass sie ihr Leben geniessen können.»

KONTAKT PD Dr. Roger Lauener, Leiter Allergologie,Universitäts-Kinderspital Zürich, [email protected]

ZUSAMMENARBEIT Institut für Sozial- und Präven-tivmedizin der Universität Basel; Schweiz. Institut fürAllergie- und Asthmaforschung, Davos; EU-Partner:Dr. von Haunersches Kinderspital der Ludwig-Maxi-milians-Universität München, Karolinska Institut,Stockholm, Landeskrankenhaus Salzburg, Univer-sitäten Bochum, Kuopio, Marburg und Utrecht

FINANZIERUNG Schweizerischer Nationalfonds, Bun-desamt für Bildung und Wissenschaft, EuropäischeUnion, Kühne-StiftungBakterien, die auf Bauernhöfen vermehrt vorkommen, schützen vor Allergien.

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beitet haben. Auf die eine oder andere Art be-droht fühlen sich auch Indien (von Pakistan),Pakistan (von Indien), und die zurzeit virulen-ten Problemfälle Iran und Nordkorea (beideunter anderem von den USA).

Weder beim Iran noch bei Nordkorea scheinteine Politik, die in erster Linie auf Drohgebär-den basiert, Erfolg zu versprechen: «Mit Gewaltallein Interessen durchzusetzen funktioniertnicht», stellt Ruloff klar. Das zeige der Irakkrieg,in dem sich die Amerikaner wie der sprich-wörtliche Elefant-im-Porzellanlanden verhaltenhätten und jetzt die Konsequenzen tragen müs-sen, nach dem Motto: «You break it, you own it– wer’s kaputt macht, dem gehört’s».

WAHRNEHMUNGSDIFFERENZEN

Zur Elefant-im-Porzellanladen-Strategie gibt esAlternativen. Beispiele sind Weissrussland, Ka-sachstan und die Ukraine. Alle drei wurden mitder Unabhängigkeit über Nacht zu Nuklear-mächten. «Die Frage lautete: Was machen wirmit denen? Man wollte sie im NPT haben, abernatürlich nicht auf der Seite der Nuklearstaaten,weil man dann Indien und Pakistan auch hätteaufnehmen müssen.» Nachdem die ehemaligenSowjetrepubliken anfänglich mit ihrem nuklea-ren Potenzial kokettierten, gelang es, ihnen klarzu machen, dass ihre «Atommacht» innerhalbvon kurzer Zeit zu Atommüll degenerierenwürde. Den zu entsorgen hätte die Staaten vorgrosse logistische und finanzielle Problemegestellt. Deshalb schlug man ihnen ein Geschäftvor: Sie wurden bei der Entsorgung der Atom-waffen unterstützt, und es gab finanzielle Ent-schädigungen. Allerdings in weit bescheide-nerem Umfang, als sich die drei Länder ursprünglich erhofft hatten. Am Schluss gab estrotzdem nur Gewinner, und die drei nuklearenProblemherde waren elegant beseitigt.

Vertrackter ist die Situation in den Fällen desIrans und Nordkoreas. Mit den Nordkoreanernkönnte man zwar durchaus ein «Geschäft»machen, wie sie in den 1990er-Jahren zur Ver-blüffung der damaligen amerikanischen Unter-händler selbst vorschlugen. Das Verhältnis zuden USA und den anderen Verhandlungspart-nern ist jedoch geprägt von einem fundamen-talen Misstrauen und Wahrnehmungsdifferen-zen. «Aus der Sicht der Amerikaner wird das Ver-

ZUCKERBROT UND PEITSCHE

Die internationale Rüstungskontrolle lässt sich mit Drohungen und Sanktionen alleinnicht durchsetzen. Dafür wirken positive Anreize manchmal Wunder, wie der Zür-cher Politologe Dieter Ruloff herausgefunden hat. Von Thomas Gull

Was haben der Iran, Nordkorea, Pakistan,Indien und Israel gemeinsam? Diese Staatenverfügen bereits über Atomwaffen oder siewerden verdächtigt, solche zu entwickeln. Iranund Nordkorea gehören zudem zum exklusivenKlub der von den USA gebrandmarkten «Schur-kenstaaten». Die Verbreitung atomarer Waffenist seit Jahrzehnten eines der drängendsten Pro-bleme der internationalen Politik. Dem Nuklea-ren Nichtverbreitungsvertrag (Treaty on theNon-proliferation of Nuclear Weapons NPT), derseit 1970 in Kraft ist, sind mittlerweile 187Staaten beigetreten, dazu gehören auch die fünfAtommächte. Trotzdem versuchen einzelneLänder, ein eigenes Atomwaffenprogramm aufdie Beine zu stellen. Die internationale Gemein-schaft reagiert in der Regel mit Drohungen undSanktionen, um die unbotmässigen Staaten zurRäson zu bringen. Als Höchststrafe gilt dabei diemilitärische Intervention, wie sie im Falle desIraks vollstreckt wurde.

Wie der Fall des Iraks jedoch auch zeigt, er-weisen sich Drohungen und Sanktionen inschwierigen Fällen vielfach als unzulänglicheMittel, davon ist Dieter Ruloff überzeugt. DerPolitologe ist Professor für Internationale Be-ziehungen an der Universität Zürich und be-schäftigt sich seit Jahren mit Abrüstungsfragen.Zusammen mit Thomas Bernauer, seinem ehe-maligen Oberassistenten, der heute Professorfür internationale Beziehungen an der ETHZürich ist, hat er das Buch «The Politics of Posi-tive Incentives in Arms Control» herausgegeben.Darin entwickeln Bernauer und Ruloff Alter-nativen zur traditionellen Abrüstungspolitik,die auf Drohungen und Bestrafung basiert.

BESTECHEN STATT BESTRAFEN

«Theoretisch gesprochen haben wir es miteinem Problem des kollektiven Handelns zu tun»doziert Ruloff: «Wie bringt man Staaten dazu, bei

einem Projekt mitzumachen, das im Grundegenommen nur das Allgemeinwohl fördert,dessen Nutzen für den Einzelnen jedoch nichtunmittelbar einsichtig ist?» Im Gegenteil: wenndie meisten Staaten auf die Entwicklung vonMassenvernichtungswaffen verzichten, habenjene einen Vorteil, die über solche verfügen. DiePolitologen haben ein gewisses Verständnis fürStaaten, die an eigenen Atomwaffenprogram-men werkeln: «Es gibt gute Gründe, weshalbsich bestimmte Länder nicht an Abrüstungs-projekten beteiligen wollen», konstatiert Ruloff,«um sie zu überzeugen, trotzdem mitzumachen,kann man auch Alternativen zu den gängigenDrohgebärden und Strafen in Betracht ziehen.Weshalb offeriert man ihnen nicht positiveAnreize?» Denn Staaten verhalten sich in derRegel rational. Sie optimieren ihren Nutzen: «Siefragen sich, was bringt es, wenn wir mitmachen,was bekommen wir dafür?»

Deshalb enthalten Abkommen in der Regelbereits gewisse Anreize. Im Fall des 1968 auf-gesetzten NPT etwa wurde den Ländern, die bei-traten, versprochen, sie bei der zivilen Nutzungder Atomenergie zu unterstützen. Ein weitererAnreiz war die Verpflichtung der Nuklear-mächte, abzurüsten. Weder das eine noch dasandere sei jedoch bis heute im erhofften Aus-mass geschehen, bilanziert Ruloff. ReguläreAnreize sind jedoch nicht in jedem Fall attrak-tiv genug. Selbst die Schweiz wollte sich 1968 dieOption offen halten, Nuklearwaffen zu ent-wickeln. Erst als ihr die USA und Kanada klarmachten, dass diese Haltung den Nachschubvon nuklearem Brennstoff gefährden könnte,unterschrieb sie den Vertrag. Bei anderen Staa-ten ist die Lage weit komplexer, weil viel mehrauf dem Spiel steht. Ruloff nennt Israel, dasumgeben ist von feindlich gesinnten Nach-barn, die zum Teil selbst an der Entwicklung vonMassenvernichtungswaffen arbeiten oder gear-

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Trotz internationaler Verträge lässt sich die Verbreitung von Atomwaffen kaum verhindern.

halten Nordkoreas als Erpressung gedeutet, fürdie Nordkoreaner ist es eher ‹explanation›.» Als«explanation» bezeichnet Ruloff eine Situation, inder der eine Verhandlungspartner dem anderenzu erklären versucht, dass der Verzicht auf Waf-fen für ihn Folgen hat, die er nicht alleine tra-gen kann und will. Die nordkoreanischen Des-poten haben ein Sicherheitsdilemma: Wenn siedas Pfand der Atomwaffen aus der Hand geben,müssen sie damit rechnen, gestürzt zu werden.Um bei einer solchen Konstellation Lösungen zufinden, die von beiden Seiten akzeptiert werden,brauche es Empathie: «Man muss sich zu einerPosition durchringen, die darauf basiert, dassman nicht alleine auf der Welt ist und es ande-re Länder gibt, die andere Sitten und eigeneInteressen haben. Die Amerikaner sind in die-ser Hinsicht im Moment überfordert.»

«NICHT NUR DROHEN»

Die Europäer haben im Fall des Irans gezeigt,dass man auch mit Verhandlungsgeschick ansZiel kommen kann. Sie brachten das Mullah-Regime dazu, einem Moratorium für die Anrei-cherung von waffenfähigem Uran zuzustimmen.«Dies ermöglichte den Mullahs, ihr Gesicht zuwahren.» Gleichzeitig winkte als positiver Anreizder vereinfachte Zugang zum europäischenMarkt. Der amerikanische Präsident George W.Bush reagierte auf den Erfolg mit der Forde-rung, ein Moratorium genüge nicht, Iran müssegänzlich auf sein Atomwaffenprogramm ver-zichten. Grundsätzlich, ist Ruloff überzeugt,brauche es beides: Machtmittel, um die Bestra-fung unkooperativer Regierungen durchzuset-zen, und positive Anreize. «Man sollte nicht nurdrohen, sondern auch auf die andere Waag-schale etwas drauflegen.» Frei nach TheodoreRoosevelt: «Speak softly and carry a big stick.»

KONTAKT Prof. Dieter Ruloff, Institut für Politikwissen-schaft, Universität Zürich, [email protected]

ZUSAMMENARBEIT Prof. Thomas Bernauer, ETHZürich

FINANZIERUNG Anschubfinanzierung durch das VBS,Institut für Politikwissenschaft, Universität Zürich

LITERATUR Thomas Bernauer, Dieter Ruloff (Hg.): ThePolitics of Positive Incentives in Arms Control.

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DIE VERRÜCKTHEITEN DER MENSCHEN

Investoren sind keine Rechenmaschinen: Auch sie lassen sich von Euphorie, Angstund Gier leiten. Thorsten Hens, Professor für Finanzmarktökonomie, weist nach,wie Gefühle die Börsenkurse beeinflussen. Von Paula Lanfranconi

Vor Professor Hens’ Bürofenstern baumelt einPutzkran, der Mann im blauen Overall stellt dieklare Sicht wieder her. Ähnlichen Durchblickversprach bis vor etwa zwanzig Jahren auch dietraditionelle Finanzmarkttheorie: Sie sah denInvestor als Wesen, das seine Entscheide reinrational, also unbeeinflusst von früheren Er-folgen oder Misserfolgen, fällt. Spätestens seitder Börsenblase der 1990er-Jahre musste indesdiese These der Behavioral Finance weichenund damit dem Blick auf höchst menschlicheFaktoren wie Gier und Euphorie, Panik undAngst. Im IT-Bubble hatten die Investoren zwei,drei Jahre hintereinander tolle Gewinne einge-fahren – kurze Sequenzen, die rein statistischzufällig sein konnten. «Doch diese Erfolgserleb-nisse», sagt Thorsten Hens, «machten sie über-mütig, Investoren glaubten, die grundlegendenGesetze der Ökonomie seien überwunden undein neues Zeitalter angebrochen.» Der irratio-nale Überschwang löste einen selbstverstär-kenden Mechanismus aus – bis eine natürlicheObergrenze der Kurse überschritten war und dieAktienpreise abstürzten und mit ihnen vieleInvestoren – wie eine Herde Lemminge.

Im Labor weisen Thorsten Hens und seinTeam mit statistischen Methoden nach, dassKursprozesse nicht rein zufällig ablaufen unddass es typische Muster gibt. «Aktienkurse», sagtHens, «sind in dem Sinne vorhersagbar, dass einPortfolio aus Gewinneraktien kurzfristig – dreibis neun Monate – eine höhere Rendite bringt alseines aus Verliereraktien. Und dass sich dieserTrend langfristig – über drei bis vier Jahre –genau umkehrt.» Die Börsenpsychologie zeigtklar, dass Anleger keineswegs rational handeln.«Sie überschätzen sehr kleine Wahrscheinlich-keiten», sagt Hens, «und unterschätzen sehrgrosse.» Ob jedoch ein Ereignis 100 Prozent oder

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nur 99 Prozent sicher ist, sei rechnerisch gese-hen unwichtig, psychologisch mache es abereinen Riesenunterschied.

NEWTONS VERZWEIFLUNG

Ein anderes Phänomen ist die Selbstüberschät-zung: Drei Viertel der Anleger, ganz besondersdie Unerfahrenen, glauben, sie könnten denMarkt schlagen, seien also besser als derDurchschnitt aller Anleger. Profis wie GeorgeSoros oder Paine Webber hingegen sind schonzufrieden, wenn sie langfristig drei Prozentbesser abschneiden als der Markt. Studien zei-gen zudem: Besonders Kleinanleger erliegeneinem so genannten Home Bias – deutsche In-vestoren zum Beispiel legen 88 Prozent ihrerAktien in heimischen Titeln an, in der Schweizist es nicht anders. Diese Voreingenommenheitist einfach zu erklären: Kleinanleger betrachtenausländische Aktien als Lotterie mit ungewis-serem Ausgang als inländische Papiere. In derRealität hingegen rentieren gut diversifiziertePortfolios besser und sind weniger risikobehaf-tet als solche mit Home Bias.

«Behavioral Finance», schmunzelt Hens, «hatetwas geschafft, woran Isaac Newton scheiterte– nämlich die ‹Verrücktheiten› der Menschen zuberechnen.» Newton hatte 1720 im berühmtenSouth Sea Bubble, sein ganzes Vermögen ver-loren, weil die Aktienkurse zusammenbrachen,als die Direktoren der South Sea Company ihreAnteile zu verkaufen begannen. Newtons Kom-mentar: «I can calculate the movements of hea-venly bodies, but not the madness of people.»

Die Forschung indes hat Behavioral Financebereits hinter sich gelassen: Sie greift zu kurz.«Die Finanzmärkte», sagt Thorsten Hens, «sindein lebendes System mit einer grossen Vielfaltvon Strategien. Wir fragen uns: Wie interagieren

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Alles andere als vernünftig: Börsenkurse werden von

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diese Strategien? Wie gross ist ihre Selektions-kraft?» Die Finanzmarktökonomen nehmensich nun die Biologen zum Vorbild: Evolutiona-ry Finance heisst ihr aktuelles Forschungs-modell. Es basiert nicht mehr auf den schwerbeobachtbaren Erwartungen der Investoren,sondern auf der Beobachtung ihrer Handlungen,also auf Fakten. Und da zeigt sich: Wenn einebestimmte Strategie im letzten Jahr erfolgreichwar, wird sie im nächsten Jahr mehr Vermögenanziehen. Vorteil: Mit diesem handlungsba-sierten Modell lassen sich auch mittelfristigePrognosen erstellen.

FITTER FÜR DEN WETTBEWERB

Hens’ Forschung, vor allem der Wissenstrans-fer in die Praxis, ist für den Finanzplatz Schweizwichtig. In den letzten zwei Jahrzehnten fehltees in Zürich an universitär ausgebildeten Fi-nanzmarktspezialisten. So wanderten grosseDienstleistungsbereiche der Banken ins Auslandab. Als Thorsten Hens 1999 nach Zürich kam,hatte man hier den Zwischenschritt von der Tra-ditional zur Behavioral Finance noch nichtgemacht. «Jetzt», sagt Hens lachend, «darf ichden Schweizer Bankern auch von EvolutionaryFinance erzählen.» Und sie damit fitter machenfür den globalen Wettbewerb.

Wie legt der junge Professor sein eigenesGeld an? «Ich kaufe Fonds von der DeutschenBank. Ich bin auch nicht frei von Home Bias»,meint er lachend. Natürlich handelt er damitaktiv. Er überlegt sich: Ist der Markt im Momentübertrieben oder untertrieben? Und setzt dannsein Wissen ein. Fünf Prozent Gewinn hat er inden letzten acht Jahren jeweils gemacht, auchin schlechten Zeiten. Doch er rät selten jeman-dem, wie er sein Geld anlegen soll: «Das ist einesehr undankbare Aufgabe.»

KONTAKT Prof. Thorsten Hens, Institut für EmpirischeWirtschaftsforschung, Universität Zürich [email protected]

ZUSAMMENARBEIT Stanford University, University ofCalifornia, Ohio State University, Universitäten ParisIX und VI, Universität Lausanne, Universität Genf

FINANZIERUNG Schweizerischer Nationalfonds,Universität Zürich, NCCR Financial Valuation and Risk Managementden Emotionen der Anleger beeinflusst.

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Die Welt im KopfThemen in diesem Dossier: Ob Klepto-manie, Spiel- oder Drogensucht –Schädigungen bestimmter Hirnregio-nen können unser Verhalten verän-dern. Das zeigen Untersuchungen vonNeuropsychologen am Zürcher Uni-versitätsspital. Unser Gehirn kann sichbis ins hohe Alter verändern. Des-halb sind wir in der Lage, ein Lebenlang zu lernen. Doch damit unser

Hirn fit bleibt, müssen wir es kontinu-ierlich trainieren.

Vor allem ältere Menschen erkran-ken an Alzheimer oder Parkinson. For-scher an der Universität Zürich suchen nach den Ursachen dieser neurode-generativen Krankheiten und nachTherapien, die das allmähliche Abster-ben der Nervenzellen verhindern. Wo steht die Hirnforschung heute? Was

wird sie in Zukunft leisten können?Darüber diskutieren der Wissen-schaftshistoriker Michael Hagner, derNeuropsychologe Lutz Jäncke und derPharmakologe Hanns Möhler amrunden Tisch. Der Illustrator PierreThomé hat sich in einer visuellenRecherche künstlerisch mit der Hirn-forschung auseinandergesetzt. SeineBilder begleiten dieses Dossier.

DOSSIER HIRNFORSCHUNG

23 Das Bremspedal im Hirn 27 Wenn das Hirn zerfällt 30 Der unbekannte Kontinent 34 Der Geist fällt nicht vom Himmel 41 Fitness für graue Zellen

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Die Welt im Kopf I Pierre Thomé

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Wie reagieren Sie, wenn Ihnen im Tramjemand auf den Fuss tritt? Und was tun Sie,wenn Ihrem Gegenüber beim förmlichen Busi-ness-Lunch ein Stückchen Spaghetti am Kinnkleben bleibt? – Spontan würden Sie den stö-renden Essensrest schnell mit Ihrer Serviettewegwischen oder angeekelt vom Tisch auf-stehen. Und an einem schlechten Tag hätten Sievielleicht grosse Lust, dem Rüpel im Tram einsin die Nieren zu boxen. Aber nicht alle un-willkürlichen Anwandlungen werden gleich indie Tat umgesetzt – dem inneren Bremspedal imHirn sei Dank. «Impulskontrolle ist ein Grund-prinzip des menschlichen Sozialverhaltens.Und vielleicht sogar der bedeutendste Unter-schied zwischen Mensch und Affe», sagt Mari-

anne Regard, Neuropsychologin am Universi-tätsspital Zürich. Regard erforscht seit Jahrenden Zusammenhang von Gehirn und Verhalten.

Im täglichen Leben, im Umgang mit anderen,müssen aufflammende Impulse fast perma-nent kontrolliert werden: Wer gesellschafts-tauglich sein will, drosselt unwillkürliche Auf-wallungen und Gefühlsausbrüche und gleichtsein Verhalten mit gesellschaftlichen Konven-tionen und persönlichen Wertvorstellungen ab.Je nach Temperament drückt die Impulskon-trolle mehr oder weniger durch: So werden bei-spielsweise auch Risikofreudigkeit, kognitiveReaktionsgeschwindigkeit oder Lebendigkeiteines Menschen dadurch beeinflusst, wie starkjemand seine Impulsivität zügelt oder ihr freienLauf lässt. Kindern fällt es noch schwer, ihrenTatendrang, ihre Neugier oder ihre Aggressionim Zaum zu halten. «Die Impulskontrolle reift

BREMSPEDAL IM HIRN

Bestimmte Hirnareale kontrollieren unsere heimlichen Wünsche und Regungen:Verletzungen dieser Regionen machen gierig und triebhaft und scheinen etwa fürKleptomanie und Spielsucht verantwortlich zu sein. Von Ruth Jahn

relativ langsam und bildet sich meist erst in der Adoleszenz voll aus», sagt Hans-ChristophSteinhausen, ärztlicher Direktor des Zentrumsfür Kinder- und Jugendpsychiatrie der Univer-sität Zürich (KJPD).

HANDELN OHNE ZU DENKEN

Die Psychopathologie beschreibt impulsivesVerhalten als ungehemmt und unkontrolliert,als Tendenz zu schnellem Reagieren ohne zudenken und ohne die Konsequenzen abzu-schätzen. Impulskontrollstörungen gelten alsUnvermögen, Trieben oder Versuchungen zuwiderstehen, die für den Betroffenen oder fürandere schädlich sind. Besonders dann, wenn eskeine vernünftige Motivation für das exzessive

Verhalten gibt. Die Klassifikation der psychi-schen Störungen ICD 10 führt unter Impuls-kontrollstörungen konkret auf: pathologischesSpielen, Brandstiften, Stehlen, Haare-Ausreissenund «andere abnorme Gewohnheiten». Zurzeitwird diskutiert, ob nicht auch Zwangsstörungen(wie etwa der Zwang, sich dauernd zu waschen)oder Tic-Störungen (mit plötzlich auftretendenMuskelzuckungen) dazu gezählt werden sollten.Denn auch zwanghaftes Verhalten ist gekenn-zeichnet durch das Versagen, einem Hand-lungsimpuls zu widerstehen, der selbstschädi-gend sein kann.

Für Patienten mit einer gestörten Impuls-kontrolle interessiert sich aber nicht nur die Psy-chiatrie. Wie die Kontrolle der Impulsivität imDetail funktioniert, ist Gegenstand von mehre-ren Forschungsprojekten an der UniversitätZürich. Hirnforscher wie Marianne Regard und

ihre Kolleginnen und Kollegen von der Neuro-logischen Universitätsklinik wollen die neuro-nalen Grundlagen und Regulationsmechanis-men der Impulskontrolle verstehen – eine For-schung, die bei vielen andere Disziplinen wieden Sozialwissenschaften, der Forensik oder derÖkonomie auf zunehmendes Interesse stösst.Eine neue Forschungsrichtung, die «SozialenNeurowissenschaften», wagt sich auf das Terrainder sozialen Interaktionen. Sie beschäftigt sichmit neuronalen Prozessen bei sozialen Emo-tionen wie Neid oder Stolz oder damit, was imGehirn abläuft, wenn ein Mensch ein sozialesZeichen wie etwa einen Gesichtsausdruckwahrnimmt.

Krankengeschichten von Personen, dieeinen Hirnschaden erlitten und sich fortanbesonders impulsiv verhielten, gaben ersteHinweise darauf, dass es im Gehirn eine Art zen-trale Impulskontrolle geben muss. Eine solchehirnorganische Störung kann beispielsweisedurch einen Geburtsschaden, einen Tumoroder einen epileptischen Anfall ausgelöst wer-den. Oder durch einen Unfall, wie im tragischenFall des Eisenbahners Phineas Gage, der in dieAnnalen der Neurowissenschaften eingegan-genen ist. Der Arbeiter erlitt im Jahr 1848 beimSchienenverlegen im US-Bundesstaat Vermonteinen schweren Unfall, bei dem sich eine langeEisenstange durch seinen Schädel bohrte. Gageüberlebte die Verletzung, mutierte aber voneinem besonnenen zu einem launischen undleichtsinnigen Mann, der sich nicht im Gerings-ten um gesellschaftliche Normen scherte.

DAS GOURMAND-SYNDROM

Die Forschungsgruppe um die ProfessorinMarianne Regard hat in der Klinik auch weni-ger krasse Verhaltensänderungen mit einemVerlust der Impulskontrolle nach Hirnschädi-gungen beobachtet: Zum Beispiel im Fall einesJungen, der sich einige Wochen nach einerHirntumor-Operation zum Kleptomanen ent-wickelte. Oder das «Gourmand-Syndrom», eineEssstörung, bei der die Betroffenen unvermittelt

DOSSIER HIRNFORSCHUNG

«Die Impulskontrolle ist vielleicht der bedeutendste Unterschied zwischenMensch und Affe.» Marianne Regard, Neuropsychologin

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eine ausgeprägte Vorliebe für gutes Essen ent-wickelten, obwohl ihnen gutes Essen bis anhinmeist keinen Pfifferling wert war. In einer Stu-die mit 36 «Gourmands» stellten die Forscherfest, dass fast alle diese obsessiven Fein-schmecker einen Hirnschlag, einen Hirntu-mor, einen Epilepsieanfall oder einen andernhirnorganischen Schaden erlitten hatten. «DasGemeinsame an der plötzlichen Leidenschaft angutem Essen und dem impulsartigen Stehlen isteine Schädigung von fronto-limbischen Hirn-regionen», erklärt Marianne Regard. Betroffensind verschiedene Neuronen-Netzwerke in derStirnhirnrinde und im limbischen System. DasStirnhirn gilt als die Struktur, die Informationenkognitiv bewertet und Handlungen vorbereitetund überwacht, während das limbische Systemeher für Gefühle zuständig ist. «Der Hirnscha-den scheint demnach die Impulskontrolle zumindern und somit auch das Risiko für die Ent-wicklung eines Suchtverhaltens zu erhöhen»,sagt Regard. Ein Risiko, das Ärzten und Sucht-fachleuten leider zu wenig bekannt sei.

Drogenabhängige, Spielsüchtige, Kleptoma-nen und Menschen mit anderen stofflichen

oder nichtstofflichen Süchten haben demnachmöglicherweise eine unerkannte Hirnschädi-gung in solchen fronto-limbischen Hirnarealen.Und zwar scheinen diese Areale bereits vor derSucht aus dem Lot geraten sein, und die Abhän-gigkeit ist dann eine Folge der Hirnschädigung.Zur Prüfung ihrer Sucht-Hypothese habenRegard und ihr Team auch Spielsüchtige, diesonst psychisch unauffällig waren, untersuchtund herausgefunden, dass über 80 Prozent derpathologischen Spieler tatsächlich funktionelleStörungen in fronto-limbischen Hirnarealenaufwiesen.

In vielen Fällen konnte als Ursache ein in derKindheit erworbenes Schädel-Hirn-Traumaoder eine zerebrale Geburtskomplikation aus-gemacht werden. Weil diese klinischen Beob-achtungen ausserdem eine asymmetrischeSteuerung der Impulskontrolle nahe legen,

geht die Neurowissenschaftlerin Daria Knocham Universitätsspital Zürich nun im Rahmeneines grösseren Nationalfondsprojektes derFrage nach, ob rechte und linke Hemisphäreunterschiedlich an der Regulation der Impuls-kontrolle beteiligt sind.

DRAHTSPULE AM KOPF

Inzwischen haben andere Forschungsgruppennämlich anhand von bildgebenden Verfahrenwie der Magnet-Resonanz (MRI) oder der Posi-tronen-Emissions-Tomographie (PET) nach-gewiesen, dass sich die Impulskontrolle vorallem in fronto-limbischen Regelkreisen voll-zieht. Zur genauen Untersuchung dieser Kon-trollareale machen Wissenschaftler auch neu-ropsychologische Studien mit Gesunden. Solegen sich Probanden derzeit für die Neurowis-senschaftlerin Daria Knoch in die PET-Röhreund lassen sich sozusagen während des Kon-trollierens ihrer Impulse ins Gehirn schauen.Die Forscherin will wissen, welche Hirnarealebei der Impulskontrolle involviert sind und wiedie verschiedenen neuronalen Netzwerke imGehirn zusammenspannen. Um den hirnana-

tomischen Grundlagen des Impulsverhaltensauf die Schliche zu kommen, benutzt DariaKnoch auch die so genannte repetitive trans-kranielle Magnetstimulation (rTMS), eine vor 20Jahren entwickelte Technik, bei der man eineDrahtspule an den Kopf der Versuchspersonhält, um in die Hirnareale dicht unter der Schä-deldecke kurze Magnetpulse zu senden. «Diesenicht-invasive Technik ermöglicht entwedereine kurzfristige Stimulation bestimmter Hirn-regionen oder eine vorübergehende Unterbre-chung der neuronalen Aktivität, je nach Stärkedes Magnetfelds und dem Ort der Stimulation»,erläutert Knoch. Mit der Magnetstimulationgelingt es der Forscherin, bei gesunden Perso-nen ein im Alltag automatisiertes, impulshaftesVerhaltensmuster zu verändern. «Das gibt unsweiteren Aufschluss darüber, wie unser innererZensor arbeitet», sagt Daria Knoch.

Weltweit studieren derzeit rTMS-Forscher-gruppen verschiedenste Grundfunktionen desGehirns wie Sprechen oder räumliche Wahr-nehmung. Andere Forscher testen rTMS als neu-artige Therapie gegen Depressionen, Zwangs-störungen oder Parkinson. Und Arbeitsgruppen,die vom US-Verteidigungsministerium finanziertwerden, erproben gar, ob sich mit rTMS womög-lich auch die Hirnleistung des Menschen unddas Gedächtnis verbessern liesse.

Mühe, ihre Impulsivität zu zügeln, habenauch Kinder mit Aufmerksamkeitsdefizit-Hyper-aktivitätsstörungen (ADHS). Dieses Krankheits-bild mit vornehmlich neurobiologischen Ursa-chen im Hirnstoffwechsel wird am Zentrum fürKinder- und Jugendpsychiatrie (KJPD) in derArbeitsgruppe von Hans-Christoph Steinhausenschwerpunktmässig erforscht. Der Neurophy-siologe Daniel Brandeis hat zusammen mitGöttinger Kollegen in einem so genannten Go-NoGo-Test etwa demonstriert, dass bestimmteADHS-Kinder – solche, die auch ein gestörtes So-zialverhalten zeigen – Mühe haben, ihre Reak-tion auf ein erwartetes Ereignis zu hemmen: DieHirnstromaufzeichnungen bei den Kindern mitADHS zeigen folgendes: Die für das «NoGo»-Ver-halten typische Hirnaktivität ist vermindert.«Diese Kontrollschwäche betrifft unter anderemRegionen der Stirnhirnrinde», sagt Brandeis,allerdings nicht fronto-limbische Netzwerke,sondern benachbarte Regionen.

Auch amerikanischen Kinderpsychiaterinnenund Radiologen haben bei einer detailliertenmorphologischen Gehirnuntersuchung beiADHS-Kindern abweichende Strukturen aufbeiden Seiten der Stirnhirnrinde und in anderenHirnregionen entdeckt. Die Ergebnisse derGehirnuntersuchungen sollen nun helfen, dieWirkorte der bei ADHS eingesetzten Medika-mente zu verstehen. Und sie könnten zur Ent-wicklung neuer Arzneien beitragen.

KONTAKT PD Dr. Daniel Brandeis, [email protected]; Dr. Daria Knoch, [email protected]; Prof.Marianne Regard, [email protected]; Prof.Hans-Christoph Steinhausen, [email protected]

Vom «Gourmand-Syndrom» Betroffene entwickeln sich zu Feinschmeckern,obwohl ihnen gutes Essen bisher keinen Pfifferling wert war.

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Die Welt im Kopf II Pierre Thomé

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Die Welt im Kopf III Pierre Thomé

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Auf den ersten Blick ist Anna Roth* ihre Krank-heit nicht anzumerken. Nur kleine Zeichen ver-raten die 72-Jährige. Beispielsweise der unsi-chere Tritt auf dem Weg von der Bushaltestellenach Hause. Oder später die Beobachtung, dasssie in der Küche die Milchpackung mit beidenHänden hält, um nichts neben die Tasse zuschütten. Als sie dann ihre Leidensgeschichteerzählt, spricht sie klar und deutlich, erinnertsich an viele Details – wer sie nicht kennt, be-merkt nicht auf Anhieb, dass dabei ihre Mimiknicht mehr so funktioniert wie früher.

Anna Roth hat Parkinson – eine neurodege-nerative Krankheit wie Alzheimer, die Hun-tington-Krankheit, die amyotrophe Lateralskle-rose oder die Creutzfeld-Jakob-Krankheit. Par-kinson ist die zweithäufigste Erkrankung dieserArt. Etwa ein Prozent der über 60-Jährigen istdavon betroffen. Ab siebzig sind es bereits dop-pelt so viele. Alzheimer ist häufiger: Darunterleiden acht Prozent der über 65-Jährigen.

SCHLEICHENDER ZERFALL

Das Wort «neurodegenerativ» bezeichnet dieGemeinsamkeit dieser Krankheiten: Das Gehirnzerfällt. Äusserlich bemerkt man den Zerfalllange Zeit nicht, denn die Nervenzellen sterbenschleichend. Die betroffenen Stellen unter-scheiden sich je nach Krankheit. Bei Parkinsonliegen sie tief im Gehirn im so genannten«schwarzen Kern», der «Substantia nigra». Dortproduzieren Zellen den Botenstoff Dopamin, deran einer anderen Stelle im Gehirn bei der Be-wegungssteuerung eine wichtige Rolle spielt.Sind 70 bis 80 Prozent dieser Zellen abgestor-ben, fehlt dieser Botenstoff, und es zeigen sichdie ersten Beschwerden: Verlangsamung der Be-wegungen, Versteifung von Muskeln und Zit-tern. Bei Alzheimer-Patienten betrifft der Auf-lösungsprozess vor allem Hirnregionen, die fürdas Erinnern zuständig sind. Je weiter die Zer-

WENN DAS HIRN ZERFÄLLT

Versteifte Muskeln oder allmählicher Erinnnerungsverlust: Auch wenn die Aus-wirkungen von Alzheimer und Parkinson sehr unterschiedlich sind, im Innern desGehirns lassen sich Gemeinsamkeiten beobachten. Von Felix Straumann

störung fortschreitet, desto mehr vergessen diePatienten. Anfangs sind es Kleinigkeiten wieWörter oder Abmachungen, später kommenNamen oder die Jahreszeit hinzu und schliess-lich verlieren Betroffene die Sprache und er-kennen auch vertraute Personen nicht mehr.

Auch wenn die Auswirkungen von Alzheimerund Parkinson sehr unterschiedlich sind, imInnern des Gehirns gibt es Gemeinsamkeiten:«An den Orten, wo Zellen absterben, beobach-ten wir sowohl bei Parkinson als auch bei Alz-heimer Proteinablagerungen», erklärt der Mo-lekularbiologe und Parkinson-Forscher Hans-ruedi Büeler von der Universität Zürich. BeiParkinson sind dies die so genannten Lewy-Körperchen. Sie bilden sich in den Zellen undbestehen vorwiegend aus den beiden ver-klumpten Eiweissen a-Synuclein und Ubiquitin.In Alzheimer-Gehirnen finden sich ausserhalbder Zellen Ablagerungen aus dem Eiweiss b-Amyloid. Werden diese Eiweisse übermässigproduziert, wie dies bei einigen vererbten For-men der beiden Krankheiten der Fall ist, brichtdie Krankheit aus. Dies kann auch experimen-tell an genetisch veränderten Versuchstierengezeigt werden: Ratten, die zuviel mutiertes a-

Synuclein im «schwarzen Kern» produzierenund Mäuse, welche vermehrt b-Amyloid frei-setzen, entwickeln ebenfalls die entsprechendendegenerativen Hirnveränderungen. WelcheRolle die Ablagerungen bei der Krankheit spie-len, versucht Forscher Büeler herauszufinden.

Anna Roth konnte anfangs nicht viel mit ihrerParkinson-Diagnose anfangen: «Ich kannte die-se Krankheit nicht, und auch in meinem

Umfeld wusste niemand davon.» Angefangenhat es bei ihr vor über zehn Jahren mit starkerMüdigkeit und Händezittern. Die Diagnoseselbst erhielt sie erst nach einer umfangreichenneurologischen Abklärung am Universitätsspi-tal Zürich. Denn genauso wie Alzheimer, lässtsich Parkinson nicht direkt nachweisen. Viel-mehr müssen alle anderen Möglichkeiten – einHirntumor beispielsweise – ausgeschlossenwerden. Anna Roth informierte sich bei derSchweizerischen Parkinson-Vereinigung undbesuchte deren Jahresversammlung. Dabei sahsie zum ersten Mal Menschen in verschiedenenStadien der Parkinson-Erkrankung: «So vieleBehinderte auf einmal zu sehen war einSchock. Einige konnten kaum reden, anderewaren im Rollstuhl oder mussten über Röhrchenversorgt werden», erinnert sich Anna Roth. Siehatte von da an immer ihre mögliche Zukunftvor Augen.

EINE FRAGE DER RICHTIGEN FORM

Das Fortschreiten der Krankheit von Anna Rothlässt sich nicht stoppen. Zu wenig weiss die Wis-senschaft noch über die genauen Hintergründeund Mechanismen, die der Parkinson-Krankheitzugrunde liegen. Hansruedi Büeler gehört zudenen, die dem auf die Schliche kommen wol-len. In seinem kleinen, verwinkelten Büro, dasnur durch ein vollgestelltes Labor erreichbar ist,

kommt der Molekularbiologe und Parkinson-Forscher gleich zur Sache: Mit Proteinkaskaden,Gensequenzen und schematischen Hirnschnit-ten erklärt er die aktuellen Forschungsarbeitenseiner Gruppe. Als er nach einem Forschungs-aufenthalt in den USA zurückkam, versuchteBüeler mit Hilfe von Viren Gene ins Gehirn vonRatten einzuschleusen. Die Gene sollten dasAbsterben der Dopamin produzierenden Zellen

DOSSIER HIRNFORSCHUNG

«Wie bei Alzheimer spielen bei Parkinson Proteine mit einer falschendreidimensionalen Struktur eine Rolle.» Hansruedi Büeler, Molekularbiologe

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verlangsamen oder stoppen. Trotz grosserAnstrengungen kam er jedoch nicht weiter: «ImRattenmodell hat es nicht funktioniert.» Inzwi-schen konzentrieren sich Büeler und seineMitarbeiter auch auf die Erforschung grund-legender Mechanismen bei Parkinson. Dabeiarbeiten sie wiederum mit dem System, das eserlaubt, mit Hilfe von Viren Gene ins Gehirn zuschleusen.

Der Molekularbiologe verfolgt jedoch auchProjekte, die direkter zu einer möglichen The-rapie führen könnten. «Ähnlich wie bei Alzhei-mer oder Creutzfeld-Jakob spielt bei Parkinsoneine wichtige Rolle, dass Proteine eine falschedreidimensionale Struktur annehmen», erklärtBüeler. Dies versuchen er und seine Kollegen inExperimenten mit Labormäusen zu verhin-dern. Wiederum mit Hilfe von Viren bringen siedie Zellen des «schwarzen Kerns» dazu, sogenannte Chaperone zu produzieren. Dies sind

Eiweisse, die anderen Eiweissen helfen, dierichtige Form einzunehmen. Danach verab-reicht er den Mäusen eine Substanz, die wie beiParkinson zum Absterben der Dopamin produ-zierenden Nervenzellen führt. Nicht jedoch,wenn zusätzliche Chaperone vorhanden sind.Dann ist die krankmachende Substanz nur halbso wirksam. Ein interessanter Befund – ob dar-aus einmal eine Therapie für Parkinson-Patien-ten entstehen könnte, kann Büeler aber nochnicht sagen.

Einen routinemässigen Einsatz einer solchenBehandlungsmethode wird Anna Roth wohlnicht mehr erleben. Bei ihr nimmt die Krankheitweiter ihren Lauf: «Alles, was von Muskelnbewegt wird, ist betroffen», beschreibt AnnaRoth ihr Leiden, «alles funktioniert immer lang-samer.» In der Anfangsphase konnte sie bei-spielsweise noch regelmässig schwimmen, wasihr sehr gut tat. Doch irgend einmal mussteAnna Roth feststellen, dass sich ihre Muskelnschon nach wenigen Metern so stark versteiften,dass sie kaum noch aus dem Wasser steigenkonnte. Auch ihre ausgedehnten Spaziergänge

musste sie auf eine halbe Stunde täglich redu-zieren – zu gross ist die Anstrengung. Mit demschleichenden Fortschreiten wird die Abhän-gigkeit von pflegenden Menschen immer grös-ser. Besonders belastend empfindet Anna Rothdabei, dass man als Parkinson-Patient diesekomplette Abhängigkeit von Pflege bewussterlebt und wahrnimmt. Alzheimer-Patientenhätten es da etwas besser, glaubt sie, «die neh-men mit der Zeit nicht mehr wahr, was mitihnen passiert».

IMPFUNG GEGEN ALZHEIMER

Wie bei der Parkinsonkrankheit lässt sich auchbei Alzheimer das Fortschreiten des Hirnzerfallsbislang nicht aufhalten. Doch auch hier suchtman an der Universität Zürich nach neuenWegen. Im Gegensatz zum Einzelkämpfer Büe-ler ist unter der Leitung von Roger Nitsch undChristoph Hock fast die ganze Abteilung Psy-

chiatrische Forschung der Psychiatrischen Uni-versitätsklinik in irgendeiner Form mit derErforschung von Alzheimer betraut. Bei einerbreiteren Öffentlichkeit bekannt wurde eineMulticenterstudie, an der auch die Abteilung vonNitsch und Hock beteiligt war. Dabei kam einneues Konzept zum Einsatz, dem eine beste-chend einfache Idee zugrunde liegt: Alzheimersoll mit Impfung bekämpft werden.

Die Patienten sollten dazu gebracht werden,dass sie den Bestandteil der krankhaften Ei-weissablagerungen im Gehirn, das b-Amyloid,selber mit einer Immunreaktion abbauen.Dazu spritzte man Studienteilnehmern daskrankmachende Eiweiss ins Blut, um so dieImmunreaktion anzuheizen. Dank einem neuentwickelten Antikörpertest konnten die Zür-cher Alzheimer-Forscher zeigen, dass Patiententatsächlich Antikörper gegen das Eiweiss bil-deten und sich der geistige Zerfall stabilisierte.Ob durch die Immunreaktion auch die Ablage-rungen weniger zu oder gar abgenommenhaben, konnten die Forscher noch nicht zeigen,da sie dafür direkt ins Gehirn schauen müssten.

Wegen starker Nebenwirkungen, die bei rundsechs Prozent der Patienten auftraten, musstedie internationale Studie aber trotz erstenErfolgen abgebrochen werden.

Die Alzheimer-Impfung ist jedoch nur einStandbein der Arbeiten an der Abteilung Psy-chiatrische Forschung. Mit Blick auf spätereTherapien suchen die Forscher nach neuenWegen, die Krankheit zu bremsen. Beispiels-weise mit Eiweissen, die die Zellen vor demAbsterben schützen. Oder mit Enzymen, die denAufbau der b-Amyloid-Ablagerungen verhin-dern oder deren Abbau ermöglichen. Neben sol-chen angewandten Forschungsprojekten sollenauch grundlegende Mechanismen besser ver-standen werden. Zum Beispiel ist immer nochumstritten, ob die Hirnzellen wegen der b-Amyloid-Ablagerungen absterben oder diesenur ein Teil des ganzen Sterbevorgangs sind.Das Eiweiss könnte auch die Folge eines ver-zweifelten Versuchs der Hirnzellen sein, sich vordem Absterben zu schützen. Unklar ist auch,was die natürliche Funktion der Vorläufer-eiweisse von b-Amyloid sind und wieso dieseplötzlich falsch umgebaut werden.

Anna Roth wird bange, wenn sie an dieZukunft denkt. Verstärkt wird diese Zukunfts-angst in den immer wieder auftretenden Zeitenmit Depression – einem weiteren Symptomvon Parkinson. Ihr Leiden wurde zudem zurBelastungsprobe für ihre Ehe – die daranschliesslich zerbrach: Anna Roth ist seit kurzemgeschieden. «Es gibt aber auch betroffene Part-nerschaften, die diese Belastungsprobe beste-hen und gut funktionieren», betont Anna Roth.«Ich kenne Frauen, die ihre erkrankten Männerfast bis zur Selbstaufgabe pflegen.» Trotz ihresSchicksals versucht sie positiv zu bleiben undsich an dem zu freuen, was sie noch hat. Haltgeben ihr dabei Familienangehörige, Freundeund die Selbsthilfegruppe, die sie regelmässigaufsucht, und nicht zuletzt ihr Hund, den sie voreinem Jahr aus dem Tierheim geholt hat: «Wirhaben uns gefunden, wir brauchen einander.»

*Name geändert

KONTAKT Dr. Hansruedi Büeler, [email protected], Prof. Christoph Hock, [email protected], Prof.Roger Nitsch, [email protected]

«Alzheimer-Patienten haben es etwas besser – sie nehmen mit der Zeitnicht mehr wahr, was mit ihnen passiert.» Anna Roth, Parkinson-Patientin

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MARTIN SCHWABUnermüdlicher Netzwerker

Sein Ziel ist wahrlich ein biblisches: Gelähmtenwieder das Gehen zu ermöglichen. Dafürkämpft Martin Schwab vom Institut für Hirn-forschung (HIFO) seit zwei Jahrzehnten, unddies mit grossem Erfolg. «Noch vor 25 Jahrenwagte kaum jemand zu träumen, Querschnitt-lähmungen mit neuen Therapien angehen zu

DER UNBEKANNTE KONTINENT

Das Gehirn sei eine «last frontier», sagt Hirnforscher Martin Schwab. In fünf Por-träts zeigen wir, was Neurowissenschaftlerinnen und -wissenschaftler der Univer-sität Zürich an ihrer Forschung fasziniert. Von Sascha Renner

können», erinnert sich der mehrfach Preisge-krönte. Nun ist die Utopie zum Greifen nah:Martin Schwab und seiner Arbeitsgruppe gelanges, die Eiweisse, die das Nachwachsen von ver-letzten Nervenfasern verhindern, gezielt aus-zuschalten. Mit dem Ergebnis, dass quer-schnittgelähmte Ratten, Mäuse und sogar Affenihre Bewegungsfähigkeit wiedererlangten. Nunwerden die dafür entwickelten Antikörpersoweit modifiziert, dass sie auch vom mensch-lichen Organismus akzeptiert werden.

«Ein Traum» sei das, ein solches Jahrhun-dertprojekt voranzutreiben – von der erstenInfragestellung der Lehrmeinung bis hin zurEntwicklung einer therapeutischen Anwen-dung, verrät der 55-Jährige. Denn «Sackgassengibt es in der Forschung am Laufmeter», weissSchwab. Seinen Erfolg schreibt er auch den opti-malen Rahmenbedingungen zu – und für diesehat er selbst viel getan. Der unermüdlicheNetzwerker und Lobbyist ist nicht nur Architektdes Zentrums für Neurowissenschaften Zürich(ZNZ), das 70 Forschungsgruppen von Uni undETH am gleichen Strick ziehen lässt. Auch diekooperative Nähe zur Industrie scheut er keineswegs: «Ergebnisse der Grundlagenfor-schung rasch zum Wohl des Patienten nutzbarzu machen, ist unsere Pflicht.»

Martin Schwabs Engagements sind zahl-reich: die Doppelprofessur an Universität undETH, die Leitung des HIFO und ZNZ, dazu dieÖffentlichkeitsarbeit, die er sehr ernst nimmt,demnächst auch mit der Präsentation seinesProjekts an der Weltausstellung in Japan. – Wieregeneriert er sich von alledem? Die Antwortfällt ihm leicht: «Wenn Sie abends mit brillantenjungen Wissenschaftlern ein unerwartetes Er-gebnis diskutieren, dann denken Sie gar nichtdaran, ins Theater zu gehen.» Die Biologie istseine Leidenschaft – schon als Gymnasiastbetrieb er in der Mansarde des Hauses der

Grosseltern ein Labor. Auf diesem Gebiet for-schen zu können sei ein «unerhörtes Privileg»,sagt Schwab. Das Gehirn, eine «last frontier»,einen letzten unbekannten Kontinent zu erkun-den, gebe ihm den grössten «Kick».

PETER BRUGGERHartnäckiger Skeptiker

«Die Aussendung des Astralkörpers» oder«Neue Dimensionen der Selbsterfahrung»:Nicht ohne weiteres deuten die mystisch klin-genden Buchtitel darauf hin, dass wir uns in derNeurologischen Klinik des Universitätsspitals

DOSSIER HIRNFORSCHUNG

BILDER Meinrad Schade

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Zürich befinden, einem verbürgten Bollwerkmaterialistischer Welterklärung. «Seit meinerJugend haben mich paranormale Phänomeneenorm fasziniert», verrät Peter Brugger, in des-sen Büro die Bände stehen. Der Schalk, der ausden wachen Augen unter den buschigen Brau-en funkelt, verrät ihn als einen, der auch vorkontroversen Themen nicht halt macht. «Ichwollte herausfinden, wie Telepathie und Hell-sehen funktionieren; so kam ich hierher»,erklärt der einstige Adept. Heute ist er ein hart-näckiger Skeptiker, der unablässig nach denneurophysiologischen Ursprüngen aussersinn-licher Wahrnehmung im Gehirn forscht.

Dass er damit für manchen Esoteriker einrotes Tuch ist, stört ihn nicht. Wittert er Selbst-betrug oder gar Scharlatanerie, geht er auf dieBarrikaden – auch wenn ihm das schon einmaleinen Rausschmiss beschert hat: An einerDemonstration paranormaler Fähigkeiten hatteer mit lästigen Fragen für Unmut gesorgt. Aberauch in der Fachgemeinde herrsche Aufklä-rungsbedarf. «Interesse für paranormale Phä-nomene bedeutet keine Absage an die Wissen-schaft», muss der Leiter der Neuropsycholo-gischen Abteilung bisweilen klarstellen. «ImGegenteil: Sie sind wissenschaftliche Goldgru-ben und haben grossen Wert für die Normal-psychologie.» Man könne dabei neue Einsichtenüber die Funktionsweise des Hirns erhalten.Und etwa erklären, warum Genie und Wahnsinntatsächlich nahe beieinander liegen.

MICHAELA THALLMAIRBayrisches Energiebündel

Exakt 64 Kilometer sind es von Niederurnen imKanton Glarus bis ans Institut für Hirnfor-schung auf dem Irchel. Michaela Thallmairweiss es genau, denn sie legt die Strecke zwi-schen ihrem Wohn- und ihrem Arbeitsort zwei-mal täglich zurück – am liebsten aus eigenerKraft, per Rennrad. Ausdauer und Hartnäckig-keit sind Eigenschaften, wie sie nicht nur imSport, sondern auch in der Grundlagenfor-schung gefragt sind. Das bayrische Energie-bündel erhielt deshalb im Januar 2004 den Rufnach Zürich, wo Michaela Thallmair seither eineeigene Forschungsgruppe am Lehrstuhl vonProfessor Martin Schwab aufbaut. Die Neuro-

biologin arbeitet mit adulten Stammzellen ausdem Rückenmark von Ratten. Sie will die nochundifferenzierten Zellen dazu bringen, dass siesich zu Nervenhüllzellen entwickeln. Diesesind nämlich bei Erkrankungen wie MultipleSklerose oder bei Verletzungen der Wirbelsäu-le geschädigt. «Ein kleines bisschen zur Heilungdieser schweren Krankheiten beizutragen», istMichaela Thallmairs Antrieb. Beharrlichkeitlegt sie aber auch in der Lehre an den Tag. DieOberassistentin am Institut für Hirnforschungversteht es, komplexe Inhalte auf packende Artzu vermitteln. Sei es an Studierende, die sie fürdie Neurobiologie gewinnen möchte, sei es andie Öffentlichkeit. Der sprichwörtliche Elfen-beinturm – für die 35-Jährige scheint er nicht zuexistieren. Das bewies sie auch im vergangenenNovember, als die Schweiz über das Stamm-zellenforschungsgesetz abstimmte. Michaela

Thallmair gab an verschiedenen Parteiver-sammlungen und gegenüber den Medien Aus-kunft. Um die Fakten in einer emotionalgeführten Debatte klarzustellen, wie sie betont.Auf ihre eigene Forschung habe das neueGesetz zwar keinen Einfluss. Wenn falscheInformationen kursierten, stehe jedoch dieEhre der gesamten Wissenschaft auf dem Spiel.Dagegen setzt sie sich mit der ihr eigenenLeidenschaft zur Wehr.

FUMIYA IIDATüftler im Kreativlabor

«It’s chaos!» warnt Fumiya Iida mit einem ver-schmitzten Lächeln. Und tatsächlich: Im Raum2.05 des Artificial Intelligence Lab (AI Lab) derUniversität Zürich sind sämtliche Tischflächenmit elektronischen Wunderlichkeiten übersät.

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GEHIRNE STUDIERENExzellente Forschung beginnt bei der Nach-wuchsförderung: Seit 1998 koordiniert dasZentrum für Neurowissenschaften Zürich(ZNZ) die Doktoratsstudien an Universitätund ETH Zürich. Schnell wandelte es sichvon einem europäischen Pionierprojekt zu ei-nem weltweit anerkannten Ausbildungspro-gramm in den Wissenschaften vom Gehirn.

Zürich ist in den letzten Jahre zu einemregelrechten Ballungszentrum in den Neu-rowissenschaften geworden, und das aufhöchstem internationalem Niveau. Dass inZürich erstrangige Forschung betriebenwird, spricht sich herum. So kommen immermehr Nachwuchsforscher aus der ganzenWelt nach Zürich. Die Bandbreite der im ZNZvertretenen Disziplinen reicht von der Psy-chologie über Medizin und Biologie bis hin zuInformatik und Robotik. Auf den ersten Blickhaben diese Forschungsfelder wenig mit-einander zu tun, doch die Forschung amGehirn ist ein interdisziplinäres Unterneh-men. Entsprechend anspruchsvoll ist dieAusbildung.

«1998 waren wir einer der ersten Anbietereines Doktoratsprogramms in Neurowissen-schaften in ganz Europa», sagt WolfgangKnecht, Geschäftsleiter des Zentrums fürNeurowissenschaften Zürich. Vorbild warendie USA, wo damals schon verschiedeneneurowissenschaftliche Doktoratsprogram-me angeboten wurden. Beim Zusammen-stellen der Studienpläne holte man sichdaher von dort die nötige Inspiration. Derzeitpromovieren 195 Studierende im ZNZ-Dok-toratsprogramm. Mehr als die Hälfte vonihnen kommt aus dem Ausland. Die Zahl derDoktoranden am ZNZ steigt jährlich an.Auch immer mehr Studierende aus den USAund Kanada beginnen ihr Neurowissen-schafts-Doktorat in Zürich. «Viele unsererAbsolventen gehen für ein Postdoc in die USA.Die andere Hälfte der jungen Neurowissen-schaftler findet den Weg in die Industrie»,schätzt Knecht. Klaus Wassermann

KONTAKT Dr. Wolfgang Knecht, [email protected]

In einer Ecke strampelt ein Hündchen aufeinem Laufband, anderswo hopst ein drahtigerGeselle vor und zurück – und das mit nur zweiGelenken und einer Konstruktion, die im We-sentlichen aus zwei Stangen besteht. Gemeinhindenkt man beim Stichwort «Künstliche Intelli-genz» an riesige Elektronenhirne mit beein-druckender Rechenleistung. Eine veraltete Vor-stellung, wie der Blick in Fumiya Iidas Kreativ-labor zeigt. Dem Doktoranden geht es geradedarum, möglichst aufs Hirn zu verzichten – nichtaber aufs Köpfchen: «Warum komplizierte elek-tronische Steuerungen entwickeln, wenn dieNatur einfache, aber hoch effiziente Konzeptebereit hält?», habe er sich gefragt. «Cheapdesign» nennt sich dieser bestechende Ansatz,mit dem sich das Zürcher AI Lab unter Profes-sor Rolf Pfeifer weltweit einen Namen gemachthat. Das Ziel: mit wenig Aufwand grosse Wir-kung erzielen. Auf diesem Grundsatz beruhenFumiya Iidas ausgeklügelte Züchtungen. ZumBeispiel «Stumpy», ein H-förmiger Gehroboter,der auf verschiedene Arten tanzen und hüpfenkann, oder «Geoff», der Roboterhund. Beide wur-den dazu erkoren, die Schweiz Ende März ander Weltausstellung im japanischen Aichi zurepräsentieren – «eine besondere Ehre», wie der30-Jährige findet, sei doch Japan immer nochdas Mekka der Robotik. Gerade eben ist er ausseiner Heimatstadt Tokio zurückgekehrt: Part-ner mussten dafür gewonnen werden, die Zür-cher Prototypen zu produzieren und vor Ort imSchweizer Pavillon zu warten. «Schliesslichsteht ein echter Härtetest bevor: 185 Ausstel-lungstage im Dauerbetrieb.»

BIGNA LENGGENHAGERBüffeln im Lernbiotop

Hier sind die Wege zum Wissen kurz: Unzähli-ge Aktenordner auf Pult, Bett und Fussbodenverwandeln die Mansarde von Bigna Lenggen-hager in ein gedankenschweres Lernbiotop.Noch zwei Monate bis zu den Lizentiatsprüfun-gen. Seit dem April 2002 kann Neuropsycholo-gie an der Universität Zürich auch im Hauptfachstudiert werden. Die 24-Jährige gehört zumersten Jahrgang, der darin abschliesst. EineLehrtafel mit bunten anatomischen Illustratio-nen verrät, dass sich hier alles ums Gehirn

dreht. Woher die Faszination? «Dass eine orga-nische Masse etwas so Komplexes wie Verhaltenund Bewusstsein hervorbringen kann, verblüfftmich», gesteht Bigna Lenggenhager. Die Ein-tönigkeit der kommenden Wochen – lernen, lernen, lernen – scheint ihrer Begeisterungkeinen Abbruch zu tun. Trotzdem macht sichgelegentlich Ernüchterung breit: Oft kommeman nämlich über das reine Messen undBeschreiben von Hirnaktivitäten nicht hinaus.«Was aber wirklich passiert, bleibt im Dunkeln.»Zürich habe sie ganz bewusst gewählt, weil mitdem Zentrum für Neurowissenschaften, demUniversitätsspital und der Psychiatrischen Uni-versitätsklinik eine ausserordentliche Bünde-lung von Kompetenzen im Bereich der Hirnfor-schung bestehe. Trotzdem: Eine Diss anderswowürde ihr Spass machen. Aber das ist imMoment keine vordringliche Sorge.

NACHWUCHSFÖRDERUNG

WEBSITE www.neuroscience.unizh.ch

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Die Welt im Kopf V Pierre Thomé

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Herr Jäncke, wie beurteilen Sie den aktuellenBrain-Hype in der Öffentlichkeit? Verdient dieHirnforschung diese Beachtung?

LUTZ JÄNCKE: In gewisser Weise bin ichselbst erstaunt über das Interesse, dass demGehirn entgegengebracht wird. Natürlich freutes mich, denn erstmals in der Geschichte derPsychologie und der Neurologie rückt dasGehirn in einen zentralen Fokus. Allerdings binich auch skeptisch gegenüber obskuren Ent-wicklungen, die sich in diesem Zusammenhangabzeichnen. Es wird teilweise sehr schnellversucht, neue Fragestellungen mit Gehirnpro-zessen zu lösen. Neuro-Pädagogik ist ein solchesBeispiel oder Neuro-Marketing. Da schüttelt esmich zuweilen. Ein bisschen mehr Ruhe würdeich der Wissenschaft, die sich mit dem Gehirnauseinandersetzt, schon gönnen.

Herr Möhler, die 1990er-Jahre wurden alsJahrzehnt des Gehirns bezeichnet; die Hirn-forschung wird allenthalben als Leitwissen-schaft des 21.Jahrhunderts gehandelt. Teilen Sie diese Einschätzung?

HANNS MÖHLER: Häufig wird die Biologie alsLeitwissenschaft bezeichnet, weil sie im letztenJahrhundert den Bauplan des biologischenUniversums aufgeklärt hat. Die Neurowissen-schaften üben innerhalb der Biologie eine spe-zielle Faszination aus, weil unsere Persönlich-keit, Intelligenz, Kreativität, Sprache, Emotionenund unser soziales Verhalten, kurz, was uns alsPerson ausmacht, an Gehirnfunktionen gebun-den ist. Ganz generell werden die Neurowis-senschaften mit einem reduktionistischen For-schungsansatz weiterhin grosse Erfolge erzie-len. Die Entdeckung neuer molekularer undzellulärer Funktionskomponenten und dieEntschlüsselung ihres Zusammenspiels werdennicht nur die Grundlagen der Informationsver-arbeitung klären, sondern insbesondere in der

«DER GEIST FÄLLT NICHT VOM HIMMEL»

Wissen wir bald, wie Bewusstsein entsteht? Und wird der freie Wille zu Grabe getra-gen? Wird die Hirnforschung zur Leitwissenschaft des 21. Jahrhunderts? Drei Exper-ten im Gespräch. Von Roger Nickl und Thomas Gull

Beschreibung von Krankheitsprozessen desGehirns und ihrer Therapie direkt spürbareBedeutung erlangen. Schwieriger zu beant-worten ist die Frage, wie aus dem Zusammen-spiel von Nervenzellen geistige Phänomenehervorgehen, die uns den Übergang von der bio-logischen zur kulturellen Evolution ermöglich-ten – wenn also letztlich erklärt werden soll, wie das Bewusstsein in die Welt kommt. DieHirnforschung steht vor einem klassischenStruktur-Funktionsproblem. Auf der einen Seitesteht das Gehirn als Organ mit hoch verschal-teten elektrochemischen Signalprozessen, aufder anderen Seite stehen die Funktionen desGehirns, die durch eine andere Ebene derBeschreibung erfasst werden. Zur Lösung die-ser Dichotomie ist jedoch bisher kein theoreti-scher Ansatz erkennbar.

Herr Hagner, wie man in Ihrem neuen Buch «Geniale Gehirne» erfährt, hatte die Faszination für unser Denkorgan schon öfters Konjunktur. Woher kommt diese Faszination?

MICHAEL HAGNER: Einer der Gründe liegtsicherlich darin, dass ab dem späten 18. Jahr-hundert eigentlich niemand mehr wirklichdaran glaubte, dass der Geist vom Himmelfällt. Deshalb hat man verschiedene rationale,psychologische, physiologische, medizinischeWege gesucht, um die Einzigartigkeit desMenschen zu erklären. Das hatte gar nichtimmer etwas mit Hirnforschung zu tun. Einespezielle Faszination für das Gehirn ergab sich jeweils, wenn zwei Dinge zusammen-kamen: zum einen eine theoretische oder me-thodische Innovation in der Neuroanatomieoder der Hirnforschung im Allgemeinen, zumanderen eine Verschiebung von politischen,kulturellen, sozialen, ökonomischen Koordi-naten. Das führte jeweils zu einem Schub –

sowohl bei den Hirnforschern als auch in deröffentlichen Diskussion.

Was sagen Sie zur These der Hirnforschungals Leitwissenschaft?

HAGNER: Das ist tatsächlich ein Hype – dawird mir immer ein wenig unwohl. Was heisstschon Leitwissenschaft? Physik war die Leitwis-senschaft des 20.Jahrhunderts, weil sie mit derRelativitäts- und der Quantentheorie und allem,was daraus folgte, theoretische Modelle zur Ver-fügung gestellt hat, die unser wissenschaftlichesVerständnis erheblich beeinflusst haben. Mitdem Bau der Atombombe wurde dann gleich-sam die Dialektik von Wohl und Wehe dieserwissenschaftlichen Entwicklung dargelegt.Leitwissenschaft war die Physik deshalb, weilsie theoretisch am meisten entwickelt war,weil sie am weitesten vorgestossen war in derErklärung der Materie und des Universums. Ichselbst habe 1993 sehr tentativ geschrieben, dieBiologie könnte die neue Leitwissenschaft wer-den. Die theoretischen Durchbrüche, die sie mitder Physik vergleichbar machen würden, seheich im Moment allerdings nicht – weder in derMolekularbiologie noch in der Hirnforschung.Was ich jedoch sehe, sind Forschungsbemühun-gen, die in absehbarer Zeit zu einer ganzenReihe praktischer Veränderungen führen kön-nen. Ein Abonnement auf Weltbild- oder Men-schenbild-Dominanz folgt daraus jedoch nicht.

JÄNCKE: A propos Hype – lassen Sie michdazu als Psychologe etwas sagen. Durch dasAbrücken von Werten, die beispielsweise dieReligion vermittelt hat, müssen sich die Men-schen immer mehr fragen: Weshalb fühle,denke, bewege ich mich so, wie ich es tue? DieMenschen suchen also vermehrt nach neuenLeitbildern – dies könnte ein Grund sein, wes-halb das Gehirn für viele so interessant ist. Es istreizvoll, Verhalten mit naturwissenschaftlichenMethoden zu erklären.

Herr Jäncke, Herr Hagner hat die Elitehirn-forschung aus historischer Perspektive

DOSSIER HIRNFORSCHUNG

BILDER Marc Latzel

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Übrigen das klassische Beispiel für ein sogenanntes Genie. Es gibt wohl keine andere Bio-graphie, die so fixiert ist auf Musik – Mozart istmit Musik aufgewachsen, hat den ganzen TagMusik gehört und gemacht. Alles andere hat erdagegen nicht trainiert: Etwa soziale Fähig-keiten. Mozart war quasi autistisch und sozialungeschickt.

Doch was den Künstler und KomponistenMozart letztlich ausmacht, seine Kreativität,lässt sich damit nicht ergründen.

JÄNCKE: Nein, Kreativität lässt sich mit Trai-ning nicht erklären – zu viel Training kann Kre-ativität sogar manchmal verhindern. Das heisstaber nicht, dass Fehlen von Wissen und Trainingautomatisch kreativer macht.

MÖHLER: Die Frage nach den Grundlagen derKreativität verdeutlicht das erwähnte Struktur-Funktionsproblem der Hirnforschung. Philoso-phen und Wissenschaftler haben sich gleicher-massen über Jahrhunderte dem Problem derGeist-Gehirn-Beziehung gewidmet, insbeson-dere in Bezug auf das Bewusstsein. In den bio-logischen Neurowissenschaften wird versucht,solche komplexen Phänomene auf ein neuro-nales Korrelat zurückzuführen. So verfolgen

kritisch beleuchtet. Sie selber betreiben dieseArt von Forschung, indem Sie die Gehirnevon Spitzenmusikern untersuchen. Was ver-sprechen Sie sich davon?

JÄNCKE: Ich bin kein Elitehirnforscher, son-dern benutze die Musiker als Modell für Plasti-zität. Als ich damit angefangen habe, hat mangar noch nicht gewagt zu denken, dass sich dasGehirn von Erwachsenen aufgrund einer exter-nen Stimulation anatomisch verändert. Wirdachten, wenn wir das überhaupt nachweisenkönnen, dann nur bei Menschen, die schon seitder frühen Kindheit bis ins Erwachsenenalterganz intensiv trainieren. Gerade dank dieserForschung habe ich jedoch gelernt, wie enormplastisch unser Gehirn ist – bis ins hohe Alter.

Welche Konsequenzen lassen sich aus dieserErkenntnis ableiten?

JÄNCKE: Wir können heute den MenschenMut machen, im hohen Alter zu trainieren, da-mit sie kognitiv leistungsfähiger bleiben. DieseErkenntnis widerspricht den klassischen Abbau-prozessmodellen. Sie besagen, dass die Leis-tungsfähigkeit des Gehirns ab 40, 45 kontinu-ierlich abnimmt. Das stimmt so alles nicht. DasFunktionieren des Gehirns im Alter lässt sich

vielmehr mit «use it or lose it» beschreiben. Ichkann mir durchaus vorstellen, dass sich unsereGesellschaft so verändern muss, dass 50-, 55-Jährige nochmals an die Universität gehen, fünfJahre studieren und dann anschliessend noch 20Jahre arbeiten. Es muss aber ein Umdenkenstattfinden. In diesem Zusammenhang ist dieForschung auch wichtig, um bei den Men-schen etwas auszulösen.

Sie postulieren unter anderem, Übung macheden Meister – konkret, dass die Zahl derÜbungsstunden darüber entscheidet, objemand Konzertpianist oder nur Musiklehrerwird. Ist das nicht arg reduktionistisch?

JÄNCKE: Auch vor diesem Trainingsmodellgab es reduktionistische Vorstellungen. Dawaren Musiker unantastbare Personen, dieirgendwie zu dem geworden sind, was siewaren. Ich füge dem nur einen weiteren Aspekthinzu, denn diese Genies, sind keine Genies vonGottes Gnaden, sondern sie sind es nur inKombination mit hartem Training. In den letz-ten 14 Jahren habe ich exzellente Musiker un-tersucht, die sicherlich grosses Talent hatten be-ziehungsweise haben, die grossen Leistungenaber nicht vollbracht haben. Mozart ist im

Was uns als Personen ausmacht, ist an Hirnfunktionen gebunden: Lutz Jäncke, Michael Hagner und Hanns Möhler (von links) debattieren.

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viert sind und welche neuronalen Grundbedin-gungen zugrunde liegen müssen. Diese Expe-rimente kann man natürlich benutzen, umphilosophisch weiterzudenken. Das ist abermomentan nicht meine primäre Absicht.

HAGNER: Ich finde das sehr spannend. DieFrage ist nur, ob das aus dem 18. Jahrhundertstammende Paradigma – die Eins-zu-eins-Kor-respondenz zwischen lebensweltlich erkenn-barem Verhalten auf der einen und der cere-bralen Repräsentation auf der anderen Seite –zutrifft.

Da spielen heute die bildgebenden Verfahreneine zentrale Rolle. Sie suggerieren, abstrakteund komplexe Phänomene des menschlichenVerhaltens liessen sich im Gehirn lokalisieren.Werden damit nicht übertriebene Erwartun-gen geweckt?

HAGNER: Das habe ich als Cyberphrenologiebezeichnet. Plötzlich scheint es so, als ob manNächstenliebe, Altruismus, Gottesglaube und soweiter im Hirn lokalisieren könne. Das habenwir schon vor 200 Jahren gehabt. Das Problemist, dass bestimmte Eigenschaften des Men-schen, deren Zuschreibung sich historisch ge-prägt hat, um bestimmte Phänomene besser er-klären zu können, im Gehirn lokalisiert werden.Die Frage ist nun: Bringt diese Art von Transferuns weiter?

MÖHLER: Man muss hier differenzieren.Wenn Sie unter Verhalten die von MichaelHagner genannten Fragestellungen verstehen,dann stimme ich zu, dass die bildgebenden Ver-fahren sich unkritisch missbrauchen lassen. Beiklar umschreibbaren Formen wie emotionalem,sensorischem oder motorischem Verhaltensind diese Verfahren als Mittel zur Analyse vonGehirnprozessen unerlässlich. Auch zur Abklä-rung pathophysiologischen Verhaltens, zur kli-nischen Diagnose und zum Einfluss einer The-rapie auf das Verhalten bei Gehirnstörungensind die bildgebenden Verfahren weder aus derGrundlagenforschung noch aus der Klinik weg-zudenken.

JÄNCKE: Ein amerikanischer Kollege vonmir hat das Problem so formuliert: «If Brain-Imaging is the answer, what is the question?» Esmuss alles mit einer guten Frage anfangen undnicht umgekehrt. Die Suggestionskraft der Bil-

nige die Musikalität vermuten. Die so genannn-te Geniegehirnforschung ging oftmals Hand inHand mit neurowissenschaftlichen Innovatio-nen, auch wenn Grundannahmen und Deutungder Untersuchungsergebnisse weitgehend kul-turell geprägt waren. Das habe ich in meinemBuch anhand vieler empirischer Beispielegezeigt. Heute wird zuweilen gesagt, das sei Ver-gangenheit, die Neurowissenschaften stündenan einem anderen Ort – das ist durchaus legitim.Doch wenn das die ganze Wahrheit wäre, hät-ten wir nicht die anhaltenden Diskussionen umdie anthropologischen und philosophischenKonsequenzen der Neurowissenschaften.

Herr Jäncke, Sie beschäftigen sich in IhrerForschung auch mit Fragen des «Selbst-bewusstseins». Was untersuchen Sie genau?

JÄNCKE: Es gibt eine ganze Reihe klinischerFälle in der Neuropsychologie, bei denen As-pekte des Selbstbewusstseins verloren gehen –beispielsweise die Wahrnehmung der Körper-grenzen. Bestimmte solcher Out-of-Body-Phä-nomene können wir nun mit TranskranialerMagnet-Stimulation auslösen. Mich interes-siert dabei, wie so eine Erfahrung zustandekommt, und welche Hirnregionen dabei invol-

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«Die Menschen suchen vermehrtnach neuen Leitbildern – dieskönnte ein Grund sein, weshalbdas Gehirn für viele so interessantist.» Lutz Jäncke, Neuropsychologe

beispielsweise Christoph Koch und FrancisCrick einen pragmatischen und empirischenZugang. Sie versuchen die minimalen neuro-nalen Ereignisse und Mechanismen zu entde-cken, die hinreichend sind für eine bewussteWahrnehmung. Es geht bei diesem neurobio-logischen Ansatz weniger darum, das Bewusst-sein als solches zu beschreiben, sondern um dieDefinition seines neuronalen Korrelates. Nobel-preisträger Francis Crick formulierte: «If youwant to understand function, study structure.»Dies ist der reduktionistische Forschungsansatz,der das Problem des Bewusstseins nicht löstaber doch auf der biologischen Seite einenwichtigen Schritt weiter bringt.

HAGNER: Nun gab es in der Wissenschafts-geschichte aber auch immer wieder bedeuten-de Hirnforscher, die in der Frage der Kreativitätund des Selbstbewusstseins sehr weit gegangensind. Das war teilweise sogar Motivation fürneue Forschung. Die ganze Anatomie zur Klas-sifikation der Hirnwindungen beispielsweiseführte dazu, dass eine Hirnwindung als Organgalt, in dem bestimmte Funktionen lokalisiertwurden. Das gelang beim motorischen undsensorischen Sprachzentrum – schwieriger wares bei der ersten Temporalwindung, in der ei-

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der Pharma-Industrie auch genutzt, umPräparate zu entwickeln, die es uns allenerlauben, besser und unbeschwerter durchden Alltag zu kommen. Pillen, die unspotenter, gescheiter, leistungsfähiger,entspannter machen sollen. Wo führt das hin?Werden wir künftig in einer Neurodoping-Gesellschaft leben, in der jeder und jedemorgens ein Paar Tabletten einwirft, um dieeigenen Schwächen zu überspielen?

MÖHLER: Wenn Sie Kaffeetrinken als Neuro-doping bezeichnen, dann trifft Ihr Szenarioweitgehend zu. Medikamente hingegen werdenfür spezifische therapeutische Indikationenentwickelt. Aldous Huxley’s Vision einer BraveNew World bleibt eine negative Utopie, auchwenn die Trennlinie zwischen medizinischerIndikation und gesellschaftlicher Anwendungvon Medikamenten in einigen Fällen nichtscharf ist. Ein Beispiel: Die Gabe von Ritalin anKinder mit Lern- und Konzentrationsschwächenist in den letzten Jahren stark angestiegen. Dieswiderspiegelt jedoch weniger ein medizini-sches als vielmehr ein gesellschaftliches Pro-blem. Der Preis für dieses Vorgehen ist die mög-liche Stigmatisierung der Kinder. Sie werden fürkrank erklärt und zur «Reparatur» medika-mentös behandelt. Hier ist das Individuum unddie Gesellschaft aufgefordert, zwischen Zeitgeistund Krankheit zu unterscheiden. Die Medika-mentierung ist kein Mittel für die Zukunft. Fürdiese Entwicklung kann jedoch nicht einseitigdie Pharmaindustrie verantwortlich gemachtwerden. Ritalin ist bei geeigneter Indikation einhilfreiches Medikament.

HAGNER: Ich würde es eher als holistischenProzess beschreiben, an dem verschiedene Ak-teure beteiligt sind – Wissenschaftler und Ärzte,Pharmaindustrie und Medien, Patienten undKonsumenten. Das ergibt eine komplexe Situa-tion, bei der medizinisches Können, Bedürfnisseund Profitinteressen Hand in Hand gehen. Klarist, dass hier Diskussionen zwischen den ver-schiedenen Beteiligten notwendig sind, um dieKonsequenzen von Glücksdrogen oder ähn-lichem richtig einzuschätzen. Mit einseitigenSchuldzuweisungen kommt man nicht weiter.

JÄNCKE: Ich sehe das nicht ganz so positiv.Die Psychologie der letzten Zeit hat gezeigt, wieeng verquickt Kognition und Emotionen sind.

der hat in den letzten zehn Jahren auch zu vielschlechter Forschung geführt. In den ersten fünfJahren der Bildgebung stand der Nachweis imZentrum, dass das Verfahren überhaupt funk-tioniert. Jetzt kommt es zu einer Wende. GuteExperimente werden gefordert, die richtigenFragen werden gestellt, und angemesseneMethoden und Designs werden gewählt. Damitwird es eigentlich erst richtig interessant.

Herr Möhler, Sie forschen als Pharmakologenach den neurobiologischen Grundlagen fürdie Entwicklung effektiver Medikamentegegen Angsterkrankungen. Was bringt unsdas Wissen darüber, welche Hirnrezeptorenbei Angstzuständen eine Rolle spielen?

MÖHLER: Angst ist eine Grundemotion desMenschen, die sein Überleben jeden Tag zusichern hilft. Wenn jedoch wie bei Panik-Patien-ten ohne äusseren Anlass im Büro, zuhause, imTram plötzlich Todesängste auftreten oder einePerson aus Angst das Haus nicht mehr verlässt,dann liegen Angsterkrankungen vor. Um diesenpathologischen Fehlalarm des Gehirns aufzu-klären, zeigen uns die entsprechenden Hirnre-zeptoren wie Leuchtpunkte die Schaltkreise imGehirn, welche das Angstverhalten regulieren.

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«Theoretische Durchbrüche wie in der Physik des vergangenenJahrhunderts sehe ich in derHirnforschung im Moment nicht.»Michael Hagner, Wissenschaftshistoriker

Zur Fehlsteuerung dieser Schaltkreise, die mitAngstzuständen verbunden sind, kann es aufverschiedene Weise kommen. Durch ein trau-matisches Erlebnis kann ein falsches Reak-tionsmuster erlernt worden sein. Dieses falschgelernte Muster kann verhaltenstherapeutischkorrigiert und wieder «ver-lernt» werden. Es istauch bekannt, dass eine leidvolle Kindheit dasRisiko für Angsterkrankungen (und Depression)erhöht. Auch chronischer Stress oder familiäreVeranlagung kann zu einer generalisiertenAngsterkrankung führen. Zur Behandlung bie-ten sich neben der Psychotherapie auch der Ein-satz von angstlösenden Medikamenten an. Indiesem Fall ist es hilfreich, wenn mit höchsterPräzision bekannt ist, über welche Schaltkreisedas Angstverhalten gesteuert wird. Von einemangstlösenden Medikament wird erwartet, dasses über hoch-spezifische Rezeptoren selektivnur die Angst-Schaltkreise im Gehirn beeinflusstund damit seine Wirkung ohne Beeinflussunganderer Hirnfunktionen entfaltet.

Es ist durchaus segensreich, dass immermehr Medikamente ganz gezielt für dieTherapie von Krankheiten entwickelt werdenkönnen. Dieses Wissen wird allerdings von

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Emotionen sind für unser Verhalten ganz zen-tral; und die Kognition steht sozusagen imDienst der Emotion. Das heisst, die Emotionenwerden wir wahrscheinlich nie besiegen kön-nen. Sie werden uns beherrschen und nichtumgekehrt. Wenn es nun die Pille gäbe, die unsfür die nächsten zehn Jahre glücklich macht,dann würden sie viele von uns wahrscheinlichauch nehmen. Ich glaube im Übrigen, dass dasGehirn nicht so konstruiert ist, uns jahrzehnte-lang in der Realität zu halten, sondern uns eineRealität vorzugaukeln.

Sportler dopen sich heute, obwohl Sie wissen,dass die gespritzten Substanzen späternegative Konsequenzen zeitigen. Das Gleichegilt wohl auch für die Medikamente, die uns im Beruf leistungsfähiger machen. Manmuss wohl davon ausgehen, dass auch indiesem Bereich der kurzfristige Nutzenvielfach zuungunsten der Gesundheit dasRennen machen wird.

MÖHLER: Den Missbrauch wird man nicht völ-lig ausschliessen können. Deshalb baut die Ge-sellschaft auch bestimmte Vorsichtsmass-nahmen ein für den Vertrieb, die Verwendungund Verschreibung solcher Medikamente. Dass

man die Kontrollen umgehen kann, ist natürlicheine andere Sache.

HAGNER: Im Umgang mit solchen Substanzenhaben wir auch Erfahrung – man denke etwa andie Rauschmittel. Die nächste Innovationen, diewir in der Hirnforschung zu erwarten haben –Medikamente, die das Vergessen beeinflussenoder Neurochips –, das sind alles enorme Neu-erungen. Für sie brauchen wir allerdings keinneues Menschenbild, sondern neue Gesetze undaufmerksame gesellschaftliche Kontrolle.

Teilweise hitzig geführt wird die Debatte umden freien Willen und ein neues Menschen-bild, das durch die Erkenntnisse der Neuro-wissenschaft im Entstehen begriffen sein soll.Hintergrund sind Experimente, die gezeigthaben, dass unserem bewussten Handelnimmer schon eine unbewussten Entscheidungim Gehirn vorangeht. Das heisst: UnserGehirn entscheidet quasi für uns. Kann damitdie Frage nach dem freien Willen mit Hilfeoder gar im Alleingang durch die Neurowis-senschaften beantwortet werden?

HAGNER: Der freie Wille ist ein intersubjek-tives, historisches Phänomen, das sich übereinen langen Zeitraum hinweg entwickelt hat.

Es ist doch absurd zu sagen, irgendwann warhomo sapiens so weit, dass er zu sich oder sei-nem Nachbarn sagte: Ich habe einen freienWillen. Die Idee des freien Willens hatte deshalbgrossen Erfolg, weil sie unser eigenes Lebenund unseren Zugang zur Welt besser koordi-nieren und erklären half. Ich habe den Ein-druck, dass wir uns keinen Gefallen tun, wennwir ein kulturelles Phänomen, das sich teilweisebewährt hat, teilweise aber auch problematischist, per «ordre mufti» und legitimiert durcheinige Experimente, die teilweise schon vor 20Jahren gemacht wurden, verabschieden wollen.

JÄNCKE: Wenn man die Verschmelzung vonEmotion und Kognition ernst nimmt, dann fragtsich, was das für Konsequenzen hat. Nehmen wirdas Beispiel Gericht: Können wir dann denUnterschied zwischen Totschlag und Mord nochaufrechterhalten? Und kann ich noch unter-scheiden, wann ich Herr meiner Sinne bin? Wirwissen im Übrigen ja mittlerweile auch, dassunser Gehirn nicht wie ein Nürnberger Trichterfunktioniert, in dem die Gedächtnisinhalteabgelegt werden – unser Gehirn ist die ganzeZeit damit beschäftigt, Dinge zu interpretieren.Können wir folglich einer Zeugenaussage dengleichen Wert beimessen wie einer Fotografie?Diesen Teil der Veränderung unseres Men-schenbildes würde ich schon gerne diskutiertsehen. Da würde ich mir auch etwas mehrgesellschaftliche Reflexion wünschen.

HAGNER: Einverstanden. Doch die Juristensind sich des Problems bewusst. Dass Zeugenunzuverlässig sind, wissen sie seit mindestens100 Jahren. Die Frage der Zurechnungsfähigkeitist allerdings nicht mit Emotionen gleichzuset-zen. Entscheidend scheinen hier Motiv und Pla-nung zu sein. Und man kann sehr wohl mitEmotionen planen.

JÄNCKE: Das hat grosse Konsequenzen für dieNeurowissenschaft. Es gibt zurzeit in den USAden Fall eines jugendlichen Mörders, der angeb-lich einen degenerierten Frontalkortex habensoll. Nun wird von der Verteidigung tatsächlichbehauptet, mit dieser Degeneration könne er fürdie Tat gar nicht verantwortlich gemacht wer-den. In diese Diskussion sind auch Neurowis-senschaftler, vor allem Psychiater, involviert.

MÖHLER: Die Diskussion geht teilweise nochweiter: Es gibt Forscher, die den Standpunkt ver-

«Wenn es gelingt, den neuronalenCode für mentale und kognitiveLeistungen zu entschlüsseln, wirddie Neurowissenschaft doch zurLeitwissenschaft.»Hanns Möhler, Pharmakologe

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ZU DEN GESPRÄCHSTEILNEHMERN

Michael Hagner (44) ist Professor für Wis-senschaftsforschung an der ETH Zürich.Forschungsschwerpunkte: Historische Epis-temologie der Humanwissenschaften; Visua-lisierungsstrategien in den Lebenswissen-schaften; Geschichte der Kybernetik. Kürzlichist sein neuestes Buch «Geniale Gehirne. ZurGeschichte der Elitegehirnforschung» imWallstein-Verlag erschienen. KONTAKT [email protected]

Lutz Jäncke (47) ist ordentlicher Professor fürNeuropsychologie an der Universität Zürich.Forschungsschwerpunkte: funktionelle Plas-tizität des menschlichen Gehirns, Musik undGehirn, funktionelle Neuranatomie, funktio-nelle Bildgebung.KONTAKT [email protected]

Hanns Möhler (64) ist ordentlicher Professorfür Pharmakologie an der Universität und derETH Zürich, Direktor des Nationalen For-schungsschwerpunkts «Neural Plasticity andRepair» und Fellow am Collegium Helveti-cum. Forschungsschwerpunkte: Angst-Regu-lation, Epilepsie, Schizophrenie. KONTAKT [email protected]

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treten, dass selbst dann, wenn keine Gehirnde-generation vorliegt, die Tatabsicht vor der Tat imGehirn schon vorgebildet ist. Den Delinquententreffe daher keine Schuld. Der Mensch wird indieser Argumentation entpersonalisiert. Sein Ge-hirn «denkt» für ihn. Juristisch gesehen würdeeine Bestrafung des Täters nur verhängt alsMittel, das die Gesellschaft braucht, um das Ver-gehen zu ahnden – aber eigentlich treffe denTäter kein eigenes Verschulden. Hier geratendie Neurowissenschaftler und die Juristen aufschwieriges Gelände, denn der freie Wille wirdzur Disposition gestellt.

HAGNER: Die Protagonisten solcher Aussagenmüssten dann aber daraus schliessen, dass wirin keiner Situation mehr über einen freienWillen verfügen, auch nicht in der Diskussion,die wir gerade hier führen. Warum sollten wireinander dann noch ernst nehmen? All das führtzu einem heillosen Durcheinander. Für einvernünftiges und verantwortungsvolles Zusam-menleben müssen wir aber einander gegensei-tig vertrauen können.

Herr Hagner, sie sind der Ansicht, die Hirn-forschung, die sich bislang vor allem durch Fortschritte auf einzelnen Gebietenauszeichnet, brauche eine neue Theorie derHirnfunktionen, die in der Lage ist, diedisparaten Erkenntnisse zu einem grossenGanzen zusammenzufügen. Halten Sie dasfür realistisch?

HAGNER: Nein. Ich verlange keine neue Theo-rie. Ich sage nur, wenn Hirnforscher bestimm-te soziale, kulturelle, politische Aussagenmachen, sollte das auf der Basis einer neuenTheorie geschehen.

Was müsste eine solche Theorie leisten?HAGNER: Diese Theorie müsste das Zusam-

menspiel erklären von all dem, was wir als «Ge-hirn», und all dem, was wir als «Geist» beschrei-ben. Wir sind im Moment aber nicht an demPunkt, an dem wir diesen Zusammenhang her-stellen könnten.

MÖHLER: Das ist eine der grossen Heraus-forderungen des 21. Jahrhunderts. Zwischen derFunktion und der Struktur des Gehirns gibt eseben keine Abbildungsbeschreibung. Da brau-chen wir in der Tat einen völlig neuen theore-

tischen Ansatz, um diese zwei Phänomene inBeziehung zu bringen. Der neuronale Code fürmentale und kognitive Leistungen muss nochentschlüsselt werden. Wenn das im 21. Jahr-hundert erreicht wird, wird die Neurowissen-schaft doch noch zur Leitwissenschaft.

JÄNCKE: Wenn eine solche Transformationbesteht, setzt das voraus, dass es überhaupt eineBeziehung gibt zwischen Neuronen und Geist –das wird ja noch von vielen Wissenschaftlern inFrage gestellt. Für mich ist es schon ein Gewinnder letzten zwanzig Jahre, dass überhaupt dar-über nachgedacht wird, ob dieser Zusammen-hang wirklich besteht.

Kommen wir zum Schluss: Welche Zielemöchten Sie mit Ihrer Forschung in dennächsten Jahren erreichen?

MÖHLER: Das Ziel ist Innovation auf verschie-denen Ebenen: Zum einen gilt es die Grund-lagenforschung voranzutreiben. Ein Schwer-punkt ist hier die Stammzellenforschung imBereich Epilepsie. Zweitens geht es um Innova-tionen bei der Umsetzung der Grundlagenfor-schung zur klinischen Entwicklung von Thera-pien insbesondere bei Angsterkrankungen undGedächtnisstörungen. Innovativ sein müssenwir auch bei der Ausbildung von Studierenden,wie dies beispielsweise im Zentrum für Neu-rowissenschaften Zürich erfolgt. Wir müssenaber auch einen Beitrag leisten zur ökono-mischen Innovation – Stichwort Spin-offs. Vonüberragender Bedeutung für die Neurowissen-schaften ist jedoch die Netzwerk-Kollaborationzwischen experimenteller und klinischer For-schung, wie dies im Nationalen Forschungs-schwerpunkt «Neuronale Plastizität und Repa-ratur» exemplarisch gelingt.

JÄNCKE: Ich werde weiterhin die Lernpsy-chologie mit der Plastizität des Gehirns in Ver-bindung bringen, wobei es für mich wichtig ist,mich nicht mehr nur in den klassischen Alters-bereichen der Lernforschung – dem jungenAlter – zu bewegen, sondern mich auch mit demalten Alter zu beschäftigen. Wie lernfähig sindältere Menschen? Ab wann tauchen Problemeauf? Wie kann man aus dieser Forschung Rat-schläge ableiten? Ich möchte also auch Freudeam Lernen im Alter wecken und zeigen, dass esauch dann noch möglich ist zu lernen.

Herr Hagner, wo wird die Hirnforschung inzwanzig, dreissig Jahren stehen?

HAGNER: Ich könnte mir durchaus vorstellen,dass in dreissig Jahren wieder mehr über dieGrenzen der Formbarkeit des Gehirns diskutiertwird. Momentan heisst es, wir können vielmehr, als wir uns zugetraut haben, weil unserGehirn so plastisch ist. Das ist schon richtig. Man könnte aber auch wieder an den Punkt ge-langen, wo man die Gegenfrage stellt. Gibt esnicht vielleicht Fähigkeiten, die ich mit 20 nochnicht und mit 70 nicht mehr besitze? Das antizyklische Denken, das sich um keinen For-schungstrend kümmert und eine kritischeReflexion über das einschliesst, was man gerademacht, hat sich in der Wissenschaft oftmals alsproduktiv erwiesen.

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Die Welt im Kopf VI Pierre Thomé

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Ein herannahendes Auto ist für alle Menschenein herannahendes Auto, doch seine Bewegungschätzen Heranwachsende und Erwachseneunterschiedlich ein. Kinder sind im Strassen-verkehr besonders gefährdet, weil sie zum Bei-spiel den Bremsweg eines Autos nicht richtigabschätzen können. Selbst mit 15 Jahren ist dasBewegungssehen noch keineswegs ganz aus-gereift – doch für den Laien ist dies nicht er-kennbar. Das menschliche Gehirn entwickeltsich in den ersten Lebensjahren enorm. Es ver-ändert seine Struktur, spezialisiert sich, gewinntan Routine und passt sich der Umwelt an.Durch Training erlangt unser Gehirn seineReife. Möglich macht dies seine enorme Plasti-zität, sozusagen eine biologische Flexibilität, diedazu führt, dass Nervenzellen untereinanderimmer neue Verknüpfungen herstellen.

Doch wie genau funktioniert diese Hirnpla-stizität? Sehen Kinder dasselbe wie Erwachse-ne? Wie entwickeln sich die verschiedenenHirnfunktionen, die wir so selbstverständlichjeden Tag einsetzen? Was geschieht im Gehirn,wenn Kinder lesen lernen, wenn also abstrak-te Formen plötzlich eine Bedeutung erhalten?Und was geht schief, wenn Lesen fast zur Qualwird? Wie ändern sich Hirnfunktionen beiexzessivem Training wie etwa bei Profimusi-kern? Diese Fragen können nur beantwortetwerden, wenn Forscher sozusagen dem Gehirnbei der Arbeit zuschauen.

Der Nationale Forschungsschwerpunkt «Neu-ral Plasticity and Repair» will solche Fragenbeantworten. Der Forschungsschwerpunkt ist inacht Teilprojekte gegliedert. Ernst Martin, Pro-fessor an der Universitäts-Kinderklinik Zürich,leitet das Teilprojekt 8, das Funktionsanalysender Gehirnplastizität bei Kindern und beiErwachsenen durchführt. Martin arbeitet engzusammen mit Daniel Brandeis vom Zentrumfür Kinder- und Jugendpsychiatrie der Univer-

FITNESS FÜR GRAUE ZELLEN

Lebenslanges Lernen: das menschliche Gehirn ist darauf vorbereitet. Denn unserDenkorgan ist form- und veränderbarer, als bislang angenommen. Dies zeigen Stu-dien von Neurowissenschaftlern der Universität Zürich. Von Carole Enz

sität Zürich und Spyros Kollias vom Universi-tätsspital Zürich. Die Forscher haben unter-sucht, wo, wie und wann im Gehirn Informa-tionen verarbeitet und Reaktionen ausgelöstwerden. Erfasst werden die Kurzzeitplastizität,die Lernen in wenigen Minuten oder Stundenmöglich macht, und die Langzeitplastizität, diezu einem Reifungsprozess und einer Speziali-sierung des Gehirns führt. Von den Erkennt-nissen über normale Lern- und Reifungspro-zesse menschlicher Gehirne versprechen sichdie Wissenschaftler in einer zweiten PhaseDiagnose- und Trainingsmethoden für ent-wicklungsgestörte oder hirnverletzte Perso-nen. Mit deren Hilfe soll das Gehirn dazugebracht werden, die Defizite auszugleichen.

MIT BADEKAPPE IM MAGNETFELD

Diese Forschung ist nicht nur neurobiologisch,sondern auch technisch einmalig, weil erstmalsHirnfunktionen beim Menschen mittels Elek-troenzephalogramm (EEG) und funktionellerMagnetresonanz-Tomographie (fMRI) gleich-zeitig gemessen werden. Ein Kraftakt der Tech-nik, denn ein EEG misst die schwachen elek-

trischen Impulse der Nervenzellen, das fMRIaber verursacht elektromagnetische Störun-gen, die um ein Tausendfaches höher sind unddie schwachen EEG-Signale überdecken. DerTrick ist, technisch und rechnerisch die Stör-signale herauszufiltern, um die normalen EEG-Kurven und -Karten zu erhalten. Die Untersu-chungsmethoden ergänzen sich perfekt: Mitdem EEG können die zeitlichen Abläufe und mitdem fMRI die Aktivitätsbereiche im Gehirn

erforscht werden. Die Versuchsperson liegtdabei im Tomographen und trägt eine Art Bade-kappe mit Elektroden, die die Hirnströme aufder Kopfhaut messen.

Wie die Forscher herausgefunden haben, ent-wickelt sich das Gehirn in zwei Stufen: In einerersten Stufe reift das Hirn strukturell, dasheisst, das Kindergehirn optimiert zunächsteinmal seine Netzwerke aus Gehirnregionen,die für bestimmte Aufgaben benötigt werden.Dies bedeutet, dass unsere Gehirn-Strukturenbereits im Kindesalter weitgehend entwickeltsind. Die zweite Entwicklungsstufe ist demge-genüber eine funktionelle Reifung – das Gehirnerlangt Routine.

WORTE ZERLEGEN

Diese Erkenntnisse liefern wertvolle Anhalts-punkte, was bei einem entwicklungsgestörtenoder verletzten Gehirn anders ist – erst dadurchwird eine präzise Diagnose und eine ange-messene Therapie möglich. Am Zentrum fürKinder- und Jugendpsychiatrie steht die Lese-schwäche im Fokus. Die so genannte Dyslexietritt in Familien oft gehäuft auf und betrifft gut fünf Prozent der Menschen. GesprocheneSätze sind kein Problem, doch sobald diese Kinder Lesen lernen sollen, tun sie sich sehrschwer. Lesen bedeutet, Worte zu zerlegen,

bevor sie als Ganzes erfasst und mit einemKlangbild und einer Bedeutung verknüpftwerden. Bei leseschwachen Menschen ge-schieht die Verarbeitung eines Wortes – die gutmit «Bedeutungssehen» zu umschreiben ist – biszu zwei Mal langsamer als bei Nicht-Dyslexi-kern. Neue Worte müssen sie sich sogar fast wie Erstklässler erarbeiten. Die Arbeitsgruppevon Daniel Brandeis geht der Dyslexie miteinem einfachen Test auf den Grund, bei dem

DOSSIER HIRNFORSCHUNG

Das Gehirn entwickelt sich in zwei Stufen – zuerst reift es strukturell,dann funktionell – es erlangt Routine.

WEBSITE www.nccr-neuro.unizh.chUNIMAGAZIN 1/05

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unmittelbar wiederholte Worte oder Symbol-folgen erkannt werden müssen. Wer Wortebesser erfasst als Symbolfolgen, besitzt gute Vor-aussetzungen für rasches «Bedeutungssehen».Dyslexie-Kinder hingegen erkennen zwarbekannte Worte wie eine bekannte Symbolfolge,stehen aber vor jedem neuen Wort wie vor einerunbekannten Ansammlung von Symbolen. LautBrandeis können solche Kinder Fortschrittemachen, wenn sie sich früh darin üben, Worte

zu zerlegen, die Sprachlaute (Phoneme) wahr-zunehmen und die Verbindung zwischen Lautund Schrift zu trainieren. Damit ist schon einerster Schritt zu einer Therapie getan.

KINDER SEHEN ANDERS

Dass Lesen in der Schule erlernt werden muss,ist für uns selbstverständlich. Doch selbst pri-märe Hirnfunktionen wie das Sehen sind beiKindern noch nicht vollständig entwickelt – Kin-der nehmen Bewegungen anders wahr alsErwachsene; das eingangs erwähnte Beispielmit dem herannahenden Auto macht es deut-lich. Auch wenn sich diese späte Reifung für denLaien im Alltag kaum bemerkbar macht, kannsie mit spezifischen Tests nachgewiesen wer-den. Dazu dienen Bilder, auf denen man zunächst nichts erkennt. Erst wenn sich Teiledavon zu bewegen beginnen, tauchen plötzlichFormen auf.

Damit konnte gezeigt werden, dass Kinderund Jugendliche im Bewegungssehen schlech-ter abschneiden als Erwachsene. Ziel der Grup-pe von Ernst Martin ist es nun, herauszufinden,wie sich das Sehen entwickelt. Denn es ist eineder Hirnfunktionen, die sehr früh trainiert wer-den. Zudem sind viele höhere kognitive Funk-tionen von einem intakten Sehsystem abhängig– auch das Lesen. Hier laufen die Fäden des Pro-jekts zusammen: Es ist bekannt, dass bei Dys-lexikern nicht nur der Umgang mit Wortlautenbeeinträchtigt, sondern auch das visuelleBewegungssehen gestört ist. Die Zürcher For-schungsgruppen untersuchen zurzeit die Ent-

wicklung des Bewegungssehens und des Lesensbei denselben Personen – eine weltweit erst-malige Kombination.

TRAINING HEISST DAS ZAUBERWORT

Während die Teams von Martin, Brandeis und Kollias den ersten Lebensabschnitt erfor-schen, arbeitet die Gruppe von Lutz Jäncke,Professor an der Abteilung für Neuropsycho-logie der Universität Zürich, mit älteren Men-

schen: mit gestandenen Profimusikern. Trainingheisst das Zauberwort. Die Gehirne solcherPersonen befinden sich in einem Extremzu-stand. Dadurch sind auch die Resultate extrem,die aus der Forschung an diesen Menschenresultieren – im positiven wie im negativen Sinn.Die fokale Dystonie ist eine der negativenNebenerscheinungen – eine Krankheit, bei derdie Betroffenen keinen einzigen Finger mehreinzeln bewegen können. Die Folge ist oftArbeitsunfähigkeit – ein Drama für die Betrof-fenen. Schätzungsweise 0,2–0,5 Prozent derMusiker leiden unter Dystonie.

Jänckes Theorie zur Erklärung diese Phä-nomens lautet: Stresshormone weichen dieAktivitätsgrenzen im Gehirn auf, bei Finger-bewegungen sind grössere neuronale Netz-werke aktiv als üblicherweise. Gleichzeitigwerden die Erregungsschwellen dieser Neu-ronen herabgesetzt – im Alltag kennen wirdiesen Zustand als Zittern der Hände unterStress. Verursacht wird der verhängnisvolleStress durch den harten Konkurrenzkampfunter den Musikern und die mittlerweile sehr hohen Ansprüche des Publikums. Jänckehat damit begonnen, solche Musiker zu the-rapieren – in einigen Fällen sogar mit Erfolg.Das geht so: ein Finger wird bewegt, währenddie andern in einem Korsett fixiert sind. Weil die Musiker parallel zur Therapie auch nochihre Partituren einüben müssen, bleibt derErfolg jedoch meist bescheiden.

Die Studien mit den Profimusikern widerle-gen die gängige Lehrmeinung, dass Gehirne

altershalber an Leistung verlieren. In Musiker-gehirnen wird die «graue Substanz» mit zuneh-mendem Alter nämlich nur geringfügig oder garnicht abgebaut. Zudem sind Profimusiker imfortgeschrittenen Alter noch bemerkenswertlernfähig, selbst «alte Hasen» üben spielend eineneue Partitur ein. Jäncke vermutet sogar, dassdie Gehirnplastizität noch einen Schritt weitergeht: Derzeit mehren sich die Befunde, wonachsich die Dichte der «grauen Substanz» in gewis-sen Hirngebieten in Abhängigkeit von der Trai-ningsintensität erhöhen kann.

«USE IT OR LOSE IT»

Sollten wir also doch in der Lage sein, neueGehirnzellen zu bilden? Die Lehrmeinung hatdies bisher verneint – wir würden mit einer fixenAnzahl Gehirnzellen geboren, wird vermutlichauch heute noch die Naturwissenschafts- undMedizinstudierenden gelehrt. Weitere For-schungen werden vielleicht bald gesicherteneue Erkenntnisse bringen. Dieses Wissenkönnte dann ein Ansatzpunkt für Therapien,Rehabilitationen und Trainingsmassnahmenfür ältere Menschen sein. Neben Training sindjedoch auch Motivation und eine positiveLebenseinstellung Voraussetzung dafür, dassPensionärinnen und Pensionäre ihre Gehirn-leistung qualitativ erhalten können. Mit zu-nehmendem Alter werden wir zwar etwas lang-samer, doch das Wissen nimmt zu. Das gut trainierte «Wissensnetz» – wie Jäncke es aus-drückt – bekommt mit dem Alter engereMaschen, Neues kann sich besser darin ver-fangen. Allerdings nur, wenn wir unser Gehirnauch wirklich gebrauchen: «Use it or lose it»,bringt es der Neuropsychologe auf den Punkt.

KONTAKT Prof. Ernst Martin, Universitäts-Kinderkli-nik Zürich, [email protected]; Dr. DanielBrandeis, Zentrum für Kinder- und Jugendpsychiatrieder Universität Zürich, [email protected]; Dr.Spyros Kollias, Universitätsspital Zürich, [email protected]; Prof. Lutz Jäncke, Abteilung für Neu-ropsychologie der Universität Zürich, [email protected]

In Musikergehirnen wird die «graue Substanz» mit zunehmendem Alternur geringfügig oder gar nicht abgebaut.

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ZWEI SEELEN IN DER BRUST

Die Gründung einer Start-up-Firma bringt es mit sich, dass Forscher zeitweilig miteinem Bein in der Akademie und mit dem anderen in der Wirtschaft stehen. Pro-fessoren als Unternehmer – keine einfache Doppelrolle. Von Michael T. Ganz

REPORTAGE

Zwischen Ulrich Hübschers Arbeitsplatz alsOrdinarius für Veterinärbiochemie und «seiner»Spin-off-Firma liegen dreihundert Schritte undzwei kurze Liftfahrten. Die Dualsystems BiotechAG ist, genau wie Hübschers Institut, in denGebäuden der Universität Zürich-Irchel zuhau-se. Wer die Firma sucht, wird sie schwerlich fin-den: ein schlichter Laborraum mit zentralemKorpus, Kühlschrank, Zentrifugen, Messgerä-ten, Flaschen und Schläuchen. Nichts unter-scheidet ihn von den vielen anderen Labors, diesich hier Tür an Tür reihen.

Die Dualsystems Biotech AG entstand vor vierJahren. Zwei Mitarbeiter Hübschers hatten dieIdee, ein am Institut entwickeltes Verfahren zurBestimmung von Protein-Interaktionen demfreien Markt zugänglich zu machen. Mit Hilfevon Bierhefekulturen wird bei diesem Verfahrendas pathologische Zusammenwirken mensch-licher Proteine – und damit auch ihrer Gene –identifiziert. Auf diese Weise lassen sich gezieltmedizinische Wirkstoffe entwickeln. «Das Ver-fahren dient vor allem der Krebs- und Alzhei-mer-Forschung», erklärt Ulrich Hübscher. «Eserlaubt aber beispielsweise auch, Ersatz fürAntibiotika zu finden, die ihre Wirkung verlorenhaben. Und all dies ohne Tierversuche. Das istuns sehr wichtig.»

VIER JAHRE SCHONFRIST

Als Institutsleiter war Hübscher von Anfang anim Gründerteam dabei. Er war es auch, der mitUnterstützung eines befreundeten Bankfach-manns geeignete Investoren fand. Mit einer hal-ben Million Franken Startkapital und sechsAngestellten ging das Abenteuer los. «Wennhierzulande jeder aus so wenig Geld so vieleArbeitsplätze machen könnte, wäre die Schwei-zer Wirtschaft besser dran», meint Hübscher miteinem Augenzwinkern, wird aber gleich wiederernst: «Natürlich hat das nur deshalb funktio-

niert, weil die junge Firma an der Mutterbrustder Universität bleiben durfte.»

Vier Jahre ist es einer Spin-off- oder Start-up-Firma laut Universitätsreglement gestattet, anihrem Ursprungsort, der Akademie, zu verwei-len. Für die Dualsystems Biotech AG sind dieTage auf dem Irchel-Campus also gezählt, einneuer Firmensitz ist im Gespräch. Die vierjäh-rige Brutzeit ist für beide Seiten sinnvoll: DieHochschule profitiert von den – durchaus orts-üblichen und deshalb einträglichen – Miet-einnahmen, die Firma von der unmittelbarenNähe zur Forschung und von der Infrastruktur,im Falle von Dualsystems zum Beispiel vomaufwändigen Entsorgungsdienst für biologi-schen Abfall.

Ulrich Hübscher nahm seine neue Aufgabeals Unternehmer ernst. Kurz nach der Firmen-gründung nutzte er ein Sabbatical, um in einemprivaten Unternehmen – einer Spin-off-Firmader Universität Lausanne – als Forschungsleiterzu arbeiten. «Dort habe ich das mitbekommen,was man in der Akademie nicht lernt: dass dieForschung in der freien Marktwirtschaft Pro-dukte hervorbringen muss, die im weltweitenWettbewerb zu bestehen haben.» Während sei-ner Auszeit verzichtete Hübscher bewusst undfreiwillig auf den Grossteil seines Professoren-lohns und liess sich von der Lausanner Firmazahlen. «Ich wollte meine beiden Rollen, jenedes akademischen und jene des unternehmeri-schen Forschers, möglichst voneinander tren-nen», sagt er.

In den Anfangszeiten der Dualsystems Bio-tech AG war Hübscher zeitlich stark für dieFirma engagiert. Die Personalverordnung derUniversität erlaubt Professoren eine Nebenbe-schäftigung von höchstens zwanzig Prozent,«doch», sagt Hübscher, «dieser eine Tag proWoche kann natürlich zwölf oder mehr Stundenlang werden.» Heute amtiert Ulrich Hübscher Heikle Doppelrolle: «Mein Business ist die Forschung,

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nur noch als Verwaltungsratspräsident, einMandat, das ihn pro Monat rund zwei Arbeits-stunden kostet. Mit der Doppelrolle als Profes-sor und Unternehmer hatte und hat Hübscherauf diese Weise nie Probleme: «Schwierig wärees nur geworden, wenn ich meine Arbeit amInstitut zugunsten der Firma vernachlässigthätte. Doch das konnte ich stets vermeiden.»

JACKETT UND LEDERSESSEL

Mehr zu schaffen machte die Doppelrolle Kon-rad Basler, Professor am Institut für Moleku-larbiologie. 1998 gründete Basler zusammen mitdrei Akademikerkollegen The Genetics Com-pany Inc., ein Unternehmen, das ähnlich wieDualsystems in der Vorstufe zur Pharmaindus-trie tätig ist. In der Finanzierungsphase – hierging es um ein Startkapital von sechs MillionenFranken – verhandelte Basler ganz direkt mitInvestoren. «Da musste ich plötzlich ein Jacketanziehen und in ledernen Sesseln sitzen, daswar eine völlig andere Welt, ein krasser Gegen-satz zum Leben an der Universität», erzählt Bas-ler mit sichtlichem Unwohlsein. «An der Aka-demie funktionieren wir mit Understatement,jedes Forschungsergebnis wird relativiert underst einmal mit Vorsicht genossen. In der Wirt-schaft gilt genau das Gegenteil. Für mich wardas ein Dauerkonflikt.»

Zudem fühlte sich Basler hin und her geris-sen zwischen Labor und Firma. «Man ist an bei-den Orten nicht voll präsent und vernachlässigtbeides», sagt er. «Und dann die notorische Fra-ge der Investoren, warum ich mich denn nichtzu hundert Prozent für die neu gegründeteFirma engagiere, wenn ich doch an ihre Zukunftglaube…» Nach rund zwei Jahren stellten dieFirmengründer einen Geschäftsführer ein; dieBelastung nahm sogleich ab. Heute ist KonradBasler nicht einmal mehr im Verwaltungsrat,sondern dient der Genetics Company als wis-senschaftlicher Berater. Tatsächlich führen diemeisten Spin-off-Firmen neben ihrem Verwal-tungsrat auch ein Scientific Advisory Board. Es erlaubt Professoren, ihr Know-how nacherfolgtem Start-up weiterhin in die Firma ein-zubringen, ohne dass sie sich um deren ope-rativen oder Verwaltungsbereich kümmernmüssen. «In dieser Funktion ist mir wesent-lich wohler», sagt Basler.in der Wirtschaft fühle ich mich inkompetent», sagt AI-Forscher und Unternehmensgründer Rolf Pfeifer.

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Auch Rolf Pfeifer, Informatikprofessor und Leiter des Artificial Intelligence Laboratory(AILab) der Universität Zürich, konnte sich nieganz an die Doppelrolle von Forscher undUnternehmer gewöhnen. Dies, obwohl er dieErfahrung schon drei Mal gemacht hat: Vor gutzehn Jahren half er einem seiner Postdocs, dieauf Robotik und neuronale Netze spezialisierteFirma Neuronics zu gründen. Vor fünf Jahrenengagierte er sich stark für die Firma Starseed,die intelligente Überwachungssysteme wie dendigitalen Butler James anbot. Und seit zwei Jah-ren begleitet Pfeifer die Firma DDD: Sie willErkenntnisse, die beim Bau humanoider Robo-ter mit künstlichen Muskeln gewonnen wurden,zur Entwicklung von Trainingsgeräten fürSportler und Fitnessklubs verwenden.

FRAGEN WIE EIN ANFÄNGER

«Die Doppelrolle ist schwierig», sagt Rolf Pfeifer.«Mein Business ist die Forschung, davon ver-stehe ich etwas. In der Wirtschaft fühle ich michinkompetent. Ich verstehe nur schon die Spra-che nicht und stelle Fragen, die vermutlich einKV-Lehrling im ersten Lehrjahr beantwortenkönnte.» Mit Absicht hielt er sich deshalb aus derGeschäftspolitik heraus und machte vor allemTechnologieberatung, Produkteentwicklungund Weiterbildungsseminare. Sein Engage-ment war dabei gross, die Zwanzig-Prozent-Klausel missachtete er indes nicht. «Aber»,meint er, «ich hätte mich nötigenfalls sogar stär-ker investiert. Ich betrachte es als Teil meinerakademischen Aufgabe, die praktische Umset-zung von Forschungserkenntnissen zu fördern.Die Forschergemeinde steht heute unter gros-sem gesellschaftlichem Druck. Man verlangtvon uns mehr als nur Erkenntnisgewinn.»

Nicht immer kommen Professoren mit derDoppelrolle zurecht. Davon weiss Unitectra-Direktor Herbert Reutimann zu berichten. Uni-tectra ist ein von den Universitäten Bern undZürich gegründetes Dienstleistungsunterneh-men mit der Aufgabe, den Technologietransferzu fördern und Start-ups zu begleiten. «Wennwir Spin-off-Firmen in der Gründungsphaseunterstützen, verhandeln wir lieber mit aussen-stehenden Dritten als mit den Professoren undGründern selbst», erklärt Reutimann. «Dennwenn es beispielsweise um Lizenzverträge Bringen Know-how aus der Forschung auf den Markt: der Molekularbiologe Konrad Basler (oben) und

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geht, kann man nicht gleichzeitig auf beidenSeiten des Tisches sitzen, kann nicht gleich-zeitig den Hut des Forschers und jenen desUnternehmers auf haben.» Dass die Universitätbei der Vermarktung von ForschungsresultatenAnspruch auf Lizenzgebühren erhebt, verste-hen Professoren oft nur schwer. Anderseits sindsie der Unitectra wiederum dankbar, wenndiese darauf pocht, dass Patente bei den Er-findern – also bei der Universität – bleiben undnicht im sprichwörtlich freien Markt ver-schwinden.

Als Hochschul-Tochter vertritt die Unitectravorab die Interessen der Universität. «Wir sindaber keine Polizisten», sagt Herbert Reutimann,«wir wollen Professoren, die sich für Firmen-gründungen einsetzen, nur vor Schwierigkeitenmit ihrer Fakultät und mit ihrer direktenUmgebung bewahren.» Reutimann fordert des-halb stets volle Transparenz, zeigt sich dafüraber flexibel, um für das jeweilige Spin-off-Pro-jekt den geeignetsten Weg zu finden. «Bei-spielsweise treffen wir mit der Universitäts-leitung besondere Absprachen, damit sich einProfessor während der Start-up-Phase ver-mehrt für seine Firma betätigen kann.» LautReutimann laufen Professoren in den allerwe-nigsten Fällen zum Unternehmertum über,sondern kehren zur Akademie zurück undübernehmen in ihrer Firma eine Beraterfunk-tion. «Echte Umsteiger finden sich eher unterden Doktoranden und den Postdocs», sagt Reu-timann.

ALS LOHN EIN NACHTESSEN

Und die Gefahr des Missbrauchs? Reutimannwinkt ab. Das Potenzial sei zwar da, doch esgeschehe selten etwas. «Wichtig ist, stets klar zu unterscheiden, was der Universität und was der Firma gehört. Das beginnt bei Bleistiftund Briefpapier und hört bei biologischem Probenmaterial und hochwertigen Messgerätenauf. Aber es ist selten das erklärte Ziel von Professoren, mit einer Spin-off-Firma reich zuwerden. Was sie antreibt, ist das Interesse ander Sache selbst, das Interesse auch, Studen-tinnen und Studenten in ihrer Arbeit zu unter-stützen. Das Beraterhonorar, das ein Professorvon seiner Firma bezieht, besteht anfangs oftnur aus einem Nachtessen dann und wann.»

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Nicht zu vergessen schliesslich der oft gerühm-te Synergie-Effekt – für manche der Beweg-grund, überhaupt eine Spin-off-Firma zu grün-den, für andere bloss eine angenehme Fol-geerscheinung. Konkret: Eine von Ulrich Hüb-schers Doktorandinnen arbeitet bei der Dual-systems Biotech AG und schreibt nebenherihre Dissertation, Hübschers Institut wiederumlässt bei Dualsystems Eiweisse untersuchen, umfür solch langwierige Arbeiten – Hübscher:«Ich hätte ein Jahr gebraucht» – keine For-schungskapazitäten zu binden. Konrad Baslersieht sinnvolle Synergien vor allem im Wis-sensaustausch: Seine Forschung profitiere vonden wissenschaftlichen Kontakten, die sichdurch die Genetics Company ergeben hätten.«Und für mich als Forscher», sagt Basler, «sindSpin-offs eine Gelegenheit, industrielle Pro-zesse kennen zu lernen und sie an meine Stu-dierenden weiterzugeben. Die meisten arbeitenja dann eines Tages in der Industrie. Für Stu-dierende ist es ein Gewinn, wenn ihr Professormit einem Bein in der Wirtschaft steht.»

NEUE DYNAMIK FÜR DIE AKADEMIE

Rolf Pfeifer sieht den Gewinn auch in der Moti-vation. In ihren besten Zeiten beschäftigte Pfei-fers Firma Starseed fünfunddreissig Mitarbei-terinnen und Mitarbeiter. «Da war irre viel los,und auch unsere Forschungsgruppe am AILabbegann sich plötzlich für unternehmerische Fra-gen zu interessieren. Das hat eine regelrechtneue Dynamik in die Akademie hineinge-bracht», erinnert er sich. Worin sich Pfeifer, Bas-ler und Hübscher einig sein: Ziel jeder Spin-off-Firma und deren wichtigster Synergie-Effekt istdie Schaffung von Arbeitsplätzen für Forsche-rinnen und Forscher, die sich auf diese Weiseauch nach der Ausbildung in ihrem ange-stammten Fachgebiet weiter entfalten können.Ein wirksames Mittel, um kostspieligem Know-how-Verlust vorzubeugen.

KONTAKT Prof. Konrad Basler, Institut für Mole-kularbiologie, [email protected]; Prof. UlrichHübscher, Institut für Veterinärbiochemie undMolekularbiologie, [email protected]; Prof.Rolf Pfeifer, Institut für Informatik, [email protected]; Dr. Herbert Reutimann, Unitectra, [email protected] Veterinärbiochemiker Ulrich Hübscher.

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PLÄDOYER FÜR DIELANGSAMKEIT

Die Concorde fliegt nicht mehr. Aber auch oh-ne das bisher schnellste Passagierflugzeug derWelt geht es noch schnell genug. Paris–Berlin re-tour in einem Tag – für Businessleute eine Rou-tinesache. Mittagessen in Zürich, Abendessen inNew York – nichts Besonderes. Während ichmich der Nachtruhe hingebe, fliegt mein Sohnnach Bangkok. Kaum aufgewacht, höre ichdurchs Telefon ein zufriedenes «Ich bin schonda». Wer ist hier der Igel, wer der Hase? Klardoch, der Zurückgebliebene fühlt sich düpiert.

Alles längst bekannt, alles täglich tausendfachpraktiziert. Wir jetten auf Teufel komm raus,schlagen uns die Reisewinde um die Ohren. Wirsind unruhig-ungeduldig, als würden wir gejagt.Während wir uns doch selber antreiben und zuimmer schnelleren Fortbewegungsweisen, im-mer schnelleren Leistungen entschliessen. EineFreundin erzählt von einer Schiffsreise nach Sar-dinien. Du sitzt in einem kapselförmigen Raum,sagt sie, guckst fern und bist in fünf Stunden da,ohne jedes Gefühl für Entfernung und für das,was dich umgibt. Das nächste Mal, sagt sie,werde sie die langsame Variante wählen, dasPassagierschiff, das zehn Stunden braucht.

Als ich vor vielen Jahren nach St. Petersburg,damals noch Leningrad, zum Studium fuhr, habe ich die ganze Strecke mit dem Zug zurück-gelegt: Zürich–Wien, Wien–Warschau, War-schau–Moskau, Moskau–Leningrad. Besonderslebhaft ist mir der Aufenthalt in Brest, dem pol-nisch-russischen Grenzort, in Erinnerung. End-loses Rangieren und Hantieren, da die Waggon-räder der neuen Schienenbreite angepasst wer-den mussten. Der Übergang zur Sowjetunion alssinnlich erfahrbare Zäsur. Ich hätte das Geklop-fe und Gehämmere nicht missen wollen (eherschon das Gerenne der Grenzsoldaten) und – vor-her und nachher – den steten Wechsel der Land-schaften. Bewusstsein und Wahrnehmung liefennicht auseinander, sondern verhielten sich syn-chron. Und alles sagte: du fährst nach Osten,durch die weissrussischen Wälder bis zum Mos-

kauer Weissrussischen Bahnhof, und dannnach Norden, bis zum Finnischen Meerbusen. Alsich nach mehreren Tagen und Nächten ankam,war ich wirklich angekommen. Mein Gefühlhinkte nicht nach. Und mit der Durchquerungdes weiten geographischen Raums hatte auchmein Zeitsinn sich unmerklich umgestellt.

In Leningrad war Geduld angesagt: Warte-schlangen beim Einkaufen, bei bürokratischenErledigungen, beim Arbeiten. In der Saltykow-Schtschedrin-Bibliothek, wo ich für meine Dis-sertation recherchierte, gab es keinen einzigenöffentlichen Kopierer. (Das System sah in sol-chen Geräten eine akute Gefahr, ebenso wie inSchreibmaschinen, die alle registriert waren.) Esblieb mir nichts anderes übrig als Exzerpte an-zufertigen, tagaus, tagein. Eine wichtige Erfah-rung: denn was man eigenhändig abschreibt,prägt sich fast physisch ein. So wie sich das aus-wendig Gelernte einprägt.

*Natürlich kann es nicht darum gehen, nostal-gisch alte (Sowjet-)Verhältnisse zu idealisieren.Aber die Frage ist erlaubt, warum sich eine be-schwerliche Zugreise nach Leningrad und einzehnmonatiger Aufenthalt in der Newa-Stadt oh-ne Komfort und Support als viel nachhaltiger er-wiesen haben als so manche andere Unterneh-mung in meinem Leben. Der Erfahrungsgehalt,ruft eine innere Stimme. Der erlebte Widerstand.Die Nähe zu den Dingen. Keine Eile. Denn ichhatte Zeit, und meine russischen Freunde hat-ten sie auch. Die Küchengespräche dauerten bistief in die Nacht. Sie waren nahrhaft.

Der grosse Reisende Nicolas Bouvier, der inden Fünfzigerjahren mit dem Auto von Genf(über den Balkan, die Türkei und Afghanistan)bis nach Indien fuhr und darüber den faszi-nierenden Bericht «Die Erfahrung der Welt» (L’Usage du monde) verfasste, notierte 1996:«Wenn man sich die Zeit nimmt (oder vielmehrgibt), zu schlendern, abzuschweifen, sich zu

verirren, herumzuschnüffeln und sich an dunk-len Ecken der Welt zu langweilen, da krank zuwerden und danach wieder zu genesen,schlecht aufgenommen und am nächsten Tag vonden gleichen Leuten wieder gut empfangen zuwerden, ohne dass man versteht warum, und diePlackereien des Unterwegsseins erträgt, gibteinem die Reise die Zeit wieder zurück, vollerkomischer Erinnerungen mit pockennarbigenGesichtern, Augen wie Karfunkelsteinen, Talis-manen, die in einer Westentasche Platz haben,oder mit einer neuen Sprache, die man unter-wegs gelernt hat zu radebrechen.» Erfahrungenlassen sich nicht forcieren. Die heutzutage gras-sierende Jagd nach Eindrücken und Eventsgleicht einer Sammelleidenschaft, die ganz aufsQuantitative setzt. Möglichst viel erleben in kur-zer Zeit. Und dies möglichst permanent. DasSchlüsselwort (in Allerweltenglisch) heisst «hy-pe». (Goethe sprach 1825 von «ultra».) Man istüberdreht und verfällt einem grossen (Reklame-)Schwindel. Denn solche «Intensität» trügt. Undehe man sich’s versieht, ist man ausgebrannt.

Illusorisch zu glauben, die Gleichzeitigkeitvon Handlungen sei effizient oder intensitäts-steigernd. Kochen und telefonieren, Auto fahrenund telefonieren, im Internet surfen und telefo-nieren usw. Es ist die Dekonzentration des Verzettelten, der sich im Transitorischen ein-gerichtet hat und seine Energien verschleisst.Weil die Schnelllebigkeit keine Kräftebündelungwhatsoever erlaubt. Wenn «viel los» ist, heisst dasnoch lange nicht, dass es zu Erlebnissen oder garErfahrungen kommt. Und bekanntlich sind dieSegnungen des Informationszeitalters keineGlücksgarantie. Der unaufhaltsame Nachrich-ten- und Daten(über)fluss droht uns zu ersticken,von Wissensverarbeitung kann kaum noch dieRede sein. Lebensqualität hat mit Erfahrung zutun. Aber wie ist sie heute zu haben?

Gewiss nicht durch Kick und Thrill, durch den Kitzel des Schrillen, Gewalttätigen, Gefähr-lichen. Diesbezüglich sind schon Höhen (oderTiefen) erreicht, die zu überbieten schwierigwerden dürfte. Noch ein Super-Horror-Movie,noch eine Risikosportart, noch perverserervirtueller Sex, noch ein Temporekord. DieReizschwelle kann nicht hoch genug sein. Dochdie Gefühle bleiben auf der Strecke. Und derHunger ist ungestillt.

ESSAY von Ilma Rakusa

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Sind wir am Endpunkt der faustisch-veloziferi-schen Entwicklung angelangt? Der ungezügel-te Glaube an Machbarkeit und Effizienz, die rasende Geschwindigkeit der neuen Techno-logien, die allgemeine Mobilmachung zeigenlangsam ihre Kehrseite. Schon spricht man inden USA von einem «speed disease» und produ-ziert – freilich immer noch im Zeichen der Be-schleunigung – Produkte der Verlangsamung(Anrufbeantworter, Airbags usw.), während inEuropa «slow cities» und «slow-food-restau-rants» auf sich aufmerksam machen.

Angesagt ist im Zeitalter der ubiquitärenWandlungsbeschleunigung die «slow motion»und die Suche nach «realer Gegenwart». Goethe,der ahnungsvoll klagte: «Einer eingepacktenWare gleich schiesst der Mensch durch dieschönsten Landschaften. Länder lernt er keinemehr kennen. Der Duft der Pflaume ist weg»,empfahl eine Kultur des «räumlich-gegen-ständlichen Anschauens», die er vor allem auf dieNatur bezog. Nicht Besitzergreifung, sondernachtsame Wahrnehmung lautet die Devise, alsoSensibilität für die Sinnlichkeit dessen, was ist.Man könnte auch japanische Zen-Meister,Adalbert Stifter, Robert Walser, Peter Handkeoder Sten Nadolny («Die Entdeckung der Lang-samkeit») zitieren.

Mir fällt Wolfgang Büscher ein, der im Som-mer und Herbst 2001 drei Monate zu Fuss vonBerlin nach Moskau unterwegs war und überdiese Reise eine ergreifende Reportage ge-schrieben hat. Es ist ein völlig uneitler, unhel-discher Bericht: Büscher geht es weder um einenEgotrip noch um Event-Jagd und Rekordgelüste.Er beobachtet genau, setzt sich ungeschütztEindrücken und Erfahrungen aus und bringt esfertig, den Leser durch seine wachsamen Wan-dereraugen blicken zu lassen. Das ist über-raschend und vielfältig, weil hier einer in der«realen Gegenwart» aufgeht, ganz offen für denMoment. Im Tempo des Gehschritts entfaltet dieWelt einen ungeahnten Reichtum, zeigt ihreSchönheiten und Wunden, ihre Rätsel und Pa-radoxien. Eile gewährt dem Augenblick keineChance, Verfügbarkeit macht ihn zum Fest.Und je interesseloser das Dabeisein, desto grös-ser der mögliche Genuss.

«Reale Gegenwart» meint nicht den Konsum-Hedonismus der Fun-Kultur, sondern zweckun-

gebundenes Schauen und Handeln, das sich denDingen gegenüber mit Respekt verhält. Das Au-ge freut sich – wie bei Nicolas Bouvier – über «ei-nen Sonnenstrahl auf einem Samowar». DieZunge freut sich über ein Essen, das wederSchnell- noch Fertiggericht ist, sondern phanta-sievoll zubereitet. Während die medialenTraumfabriken Spektakuläres anpreisen, sind diewirklichen Entdeckungen im Alltag zu machen.Beim Kochen oder Teetrinken (das auch ohne rituelle Zeremonie Musse verdient), beim Gärt-nern oder Bügeln (das Gelegenheit zum Nach-denken gibt). Zeitverschwendung? Wer masstsich schon an, gewisse Tätigkeiten zu minderenzu degradieren, zumal der weit verbreitete hor-ror vacui nach Aktivismus verlangt? Nur: Aktivitätist nicht gleich Aktivität und Kontemplation mü-helos auch ausserhalb von Yoga-Kursen zu ha-ben. Man gönne sich nur Zeit – und den anderenauch. Jedem Kind gehört täglich eine Gut-enachtgeschichte, ohne Blick auf die Uhr.

*Apropos Geschichten: Erzählen ist langsam, unddas ist gut so. Warum soll uns der (Action-) Filmmit seinen raschen Schnitten, das Fernsehen mitseinen rastlosen Werbespots das Tempo diktie-ren? Es gibt das Mass des menschlichen Atems,der (epische) Erzähler hält sich daran. Aus denAtemeinheiten ergeben sich Rhythmus, Zäsuren,«Takte», ergibt sich eine Dramaturgie. Atemlo-sigkeit taugt nicht zur Schöpfung. Dennoch ist dieHektik längst zum künstlerischen Prinzip avan-ciert und hat den unruhigen Konsumenten-Re-zipienten vollends der Konzentration entwöhnt.Im Theater beispielsweise, das sich modisch, dasheisst motorisch und schwatzhaft beschleunigthat, sind die Entschleuniger seltene Ausnah-men. Regisseur Christoph Marthaler riskiert esein übers andere Mal, seine melancholischen Fi-guren singend ins Bett oder gleich in den Schlafzu schicken, sie mit dem Rücken zum Publikumvor Wänden oder einem Panoptikum endlos lan-ge schweigen zu lassen. Langweilig? Im Gegen-teil, eine Wohltat. Statt der üblichen Hysterie er-lebt man hier befremdliche, schöne, traurige Din-ge, die – mit Verlaub – ans Herz gehen, die Phan-tasie beflügeln, zum Nachdenken anregen, weilsich einer Zeit lässt und uns Verschnaufpausengönnt. Marthaler kommt bezeichnenderweise

ohne Mord und Totschlag aus, aber nicht ohneStille und Musik. Es sei ihm gedankt.

Nebenbei: Je schneller wir agieren, destomehr Lärm produzieren wir. Die rauschhafte Ak-zeleration findet ihren Verbündeten im allge-genwärtigen, Gehör und Psyche strapazierenden«noise». Eine unheilvolle Verquickung. Als derPhilosoph Denis de Rougemont Anfang der Acht-zigerjahre verkündete, die Zukunft gehöre derLangsamkeit und Stille, trug ihm das praktisch einAuftrittsverbot im Fernsehen ein. Nicht auszu-schliessen, dass es heute anders wäre, denn dieEffekte der Übereilung und der Lärmverseu-chung sind allzu evident: sie heissen Stress in al-len möglichen Varianten. Wird am Ende das gu-te alte «Eile mit Weile» wieder salonfähig?

Und noch einmal zur «realen Gegenwart». DerGeschwindigkeitsphilosoph Paul Virilio warntvor der Verwechslung mit ihrem virtuellenGegenpart: «Die Teletechnologien der Echtzeittöten die Gegenwart, indem sie sie von ihremHier und Jetzt isolieren zugunsten eines kom-munikativen Anderswo, das nichts mehr mit un-serer konkreten Gegenwart der Welt, sondernnur noch etwas mit einer vollkommen rätsel-haften, diskreten Telepräsenz zu tun hat.» DieGegenstände verlieren ihr Gewicht, ihre Dich-te, und «mit dem Niedergang der Ausdehnungenund der Weite der Landschaft wird die Realitätsequentiell, und das kinematische Vorbeiziehender Bilder lässt das Statische und die Festigkeitder Materialien hinter sich.»

Was wir brauchen, ist eine neue Beziehung zursinnlichen Dingwelt und damit zu unsererdurchlässig-labilen Identität. Wer wir sind, lässtsich nur sagen, indem wir uns des Elementarenvergewissern. Eine Geste der Bescheidenheit, ei-ne Schule der Wahrnehmung, ein Innehalten.Oder mit den Worten von Odo Marquard: «…eskommt darauf an, in der modernen Welt dieSpannung zwischen Langsamkeit und Schnel-ligkeit auszuhalten, indem wir (…) die Möglich-keit wahren, als Menschen langsam zu leben.»

Ilma Rakusa (geboren 1946) studierte Slavistik und Ro-manistik. Sie lebt als Schriftstellerin, Übersetzerin, Pu-blizistin und Lehrbeauftragte der Universität in Zürich.Beim vorliegenden Text handelt es sich um eine ge-kürzte und leicht revidierte Fassung des gleichnami-gen Essays im Band «Betrifft», Suhrkamp Verlag,Frankfurt a.M. 2004 (edition suhrkamp 2379).

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AUF DER MEDIALEN AGORA

Ob NZZ oder Tele24, ob Kolumne oder Talkrunde: Der Philosoph Georg Kohler denktnicht nur über politische Fragen nach, er mischt auch bei der medialen Meinungs-bildung mit. Aus Überzeugung – und ein wenig aus Eitelkeit. Von Roger Nickl

Er gehört nicht zu den stillen Schaffern im aka-demischen Elfenbeinturm. Im Gegenteil: GeorgKohler mischt mit auf dem medialen Marktplatzder Meinungen – aus Profession und mit Pas-sion. Er schreibt Kolumnen für die Berner Zei-tung, Essays für den Tages-Anzeiger und dieNZZ, gibt Interviews für den SonntagsBlickund ist ein gern gesehener Gast in TV-Talkrun-den. Er ist einer der «Medienstars» der Uni-versität Zürich, kann man mit Fug und Rechtbehaupten. Man könnte, würde ihm der Begriffnicht gänzlich missfallen. «Medienstars: Dassind heute Engerlinge verzehrende Drittklass-sänger und sportliche Eintagsfliegen – damöchte man nicht unbedingt dazugehören», sagtder Professor für politische Philosophie. Da hälter es lieber mit der philosophischen Tradition.«Ich war immer einer, der sich einmischt», sagtKohler, «jemand, der sich für das Leben in derPolis, im Staat, interessiert.»

MARKTPLATZ DER MEINUNGEN

Und schliesslich gehört die öffentliche Stel-lungnahme seiner Ansicht nach auch zur ge-sellschaftlichen Rolle eines Philosophieprofes-sors mit Schwerpunkt Politik. «Zum Politischengehört die Agora, der Marktplatz, auf dem dieMeinungen ausgetauscht werden», sagt er.Und: «Ich bin ein aufklärerischer Optimist. Dieöffentliche Diskussion: das Austragen von Kon-flikten, das Testen von Argumenten, das Auf-decken von Lügen – sie alle sorgen dafür, dassdie Gesellschaft ein kleines Stückchen besserwird.» Die Agora von heute, das sind die Medien,und Georg Kohler ist dort so etwas wie der PeterSloterdijk der Schweiz (ein Vergleich, über den er allerdings nicht besonders begeistertscheint). Und so schreibt und talkt der 59-Jäh-rige zu den unterschiedlichsten Polit-Themen,die die Schweiz und die Welt bewegen: Zur Situ-ation der FDP in der helvetischen Parteien-

landschaft und zum Verhältnis der Schweiz zurEU etwa, zu den Wahlen in den USA oder dar-über, welche Rolle der Fussball für unser Na-tionalgefühl spielt. Auch wissenschaftlich be-schäftigt er sich unter anderem mit der politi-schen Zeitdiagnose: «Scheitert die Schweiz?»fragte er 1998 in einem gleichnamigen Buch, ineinem anderen skizziert er 2003 gemeinsam mitdem Zürcher Philosophen Urs Marti die «Kon-turen der neuen Welt(un)ordnung».

Journalistische Texte geschrieben und ver-öffentlicht hat Georg Kohler schon ganz früh:Bereits als Gymnasiast an der Zürcher Kan-tonsschule Freudenberg machte er – gemein-sam mit dem heutigen Stadtzürcher KulturchefJean-Pierre Hoby – eine Schülerzeitung. Und inder turbulenten Zeit um 68 versuchte er poli-tische Feindbilder zu demontieren, und soschrieb er, der von sich sagt, er sei immer einLiberaler gewesen, als Redaktor des «ZürcherStudent» gegen den Anti-Kommunismus an.

Doch was ist der Motor für all dieses publi-zistische Engagement? «Kommunikatives Ta-lent», sagt Kohler heute, «und wohl auch einePortion Eitelkeit.» Zudem war der Journa-lismus immer ein mögliches Berufsziel, genau-so wie eine Karriere in der Wirtschaft. «Es wargar nicht von Anfang an klar, dass ich Professorwürde», meint der Philosoph, der nach seinerDoktorarbeit noch ein Lizentiat in Rechtswis-senschaft nachlegte.

Brauner Sakko, schwarzer Rollkragenpullo-ver, fein gerandete Brille: Georg Kohler siehtaus, wie man sich einen Intellektuellen vorstellt.Er ist vielseitig interessiert, sozial gut vernetzt

und steht mit beiden Beinen auf dem Boden. DerAbstraktion des Gedankens ist er genausozugetan, wie er die Sinnlichkeit des Lebens nichtgering zu schätzen scheint. Wenn der Zürcherim Hörsaal oder eben am TV-Talk hochdeutschspricht, fällt die tragende Baritonstimme mitdem leichten Wiener Akzent auf. Da spürt mandie Lust an der Sprache, aber auch den Sinn fürdie Inszenierung.

DIE KUNST DER BALANCE

Kein Wunder, dass Kohler von den Medienbegehrt wird: Denn er ist immer gut für einegriffige Formulierung. «Ein Philosophiestu-dium ist eine gute Voraussetzung, um späterBanker zu werden», sagt er etwa im Gespräch,«man lernt genau denken und präzis analysie-ren.» Banker ist er dann zwar nicht geworden,dafür arbeitete er zehn Jahre lang in der Ge-schäftsleitung eines Wiener Buchgrosshandels-hauses. «Ich verschob damals grössere MengenBücher von A nach B, studierte die Buchhaltung,entliess Mitarbeiter und stellte wieder neue ein.»Daneben arbeitete er an seiner Habilitations-schrift, die 1988 unter dem Titel «Handeln undRechtfertigen. Untersuchungen zur Strukturder praktischen Rationalität» erschien.

Handeln und Rechtfertigen – «Was sollen wirtun?», fragt die praktische Philosophie. «Lebenist ein Umgehen mit Alternativen», sagt Georg

Kohler. Dieses Leben in Alternativen wider-spiegelt sich auch in seiner Biographie: die Mut-ter ist sozial engagiert und stammt aus einemlinks-katholischen Milieu, der Vater, ein kleinerUnternehmer, orientiert sich am Liberalismus.Diese familiäre Konstellation scheint auch denSohn geprägt zu haben: Georg Kohler ist einer-seits wirtschaftsfreundlich, andererseits sprichter sich entschieden für den Sozialstaat aus; er istheute Mitglied des einflussreichen Rotary-Clubs Zürich, gleichzeitig gilt er bei den Medienals «Anwalt der kleinen Leute». Für einen Poli-tiker wäre dies ein unmöglicher Spagat, nicht sofür den Philosophen. Er übe sich in der «Kunst

PORTRÄT

«Medienstars: Das sind heute Engerlinge verzehrende Drittklasssängerund sportliche Eintagsfliegen.» Georg Kohler, Philosoph

WEBSITE www.unizh.ch/philosopie BILD Jos Schmid

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der Balance», sagt Kohler, Handlungspro-bleme müssten den Weg zwischen denExtremen finden. Und so sieht er sich als Na-vigationsgehilfen auf der rauen See politi-scher Konflikte: «Ich versuche den richtigenKurs zwischen den Polen ermitteln zu hel-fen.» Die Voraussetzung dafür: Man musseinen Sinn für beiden Seiten haben.

LEIB-SEELE-PROBLEM GELÖST

Doch auf welchen Kurs soll die Weltgemein-schaft gebracht werden? Die Frage, wie dieKlippen der Globalisierung am besten zuumschiffen seien, beschäftigt Georg Kohlermomentan in seiner wissenschaftlichenArbeit. «Global Justice», globale Gerechtig-keit, heisst das interdisziplinäre EU-Projekt,an dem er beteiligt ist. Kohler will vor allemdie Rolle des Staats – «eine der ganz grossenpolitischen Innovationen», wie er sagt – in derglobalisierten Welt untersuchen und auchverteidigen. Ebenso will sich der Philosophauch mit dem Migrationsrecht auseinandersetzen. «Es gibt ein Recht der Einzelstaatenauf Grenzen und es gibt das Recht vonGemeinschaften, sich als solche zu behaup-ten – beides würde ich verteidigen wollen»,meint Kohler, «genauso gibt es aber dasRecht auf Schutz und Rettung.» Wo führt ernun lang, der richtige Kurs zwischen denExtremen? Was sollen wir angesichts zuneh-mender globaler Wanderbewegungen tun?Fragen über Fragen.

Eine der grossen philosophischen Fragen,das Leib-Seele-Problem, scheint GeorgKohler zumindest für sich persönlich bereitsgelöst zu haben. Es gehöre zu den schönenSeiten des Professorendaseins, dass mannicht so in Zwängen stecke. Man könne sozur Leib-Seele-Einheit finden, die den Men-schen so sehr ausmache, sagt Kohler. «Wennes mir hier zu eng wird, kann ich mir einReclam-Bändchen schnappen, ins Auto stei-gen uns ins Grüne fahren – nach Amden oderAppenzell.»

KONTAKT Prof. Georg Kohler, PhilosophischesSeminar der Universität Zürich, [email protected]

INTERVIEW

«STRESS HABEN ALLE»

Weshalb haben wir Stress? Wie wirkt er sich aus? Was können wir dagegen tun? DiePsychologin Ulrike Ehlert erforscht das Phänomen und bietet Trainings für Stress-geplagte an. Interview von Thomas Gull und Roger Nickl

Frau Ehlert, gestern sind Sie aus Thailandzurückgekommen, heute führen wir diesesInterview – in der Mittagspause notabene –fühlen Sie sich gestresst?

ULRIKE EHLERT: Ja (lacht), ein bisschenschon. Doch in der Zwischenzeit kenne ich imUniversitätszyklus die Zeiten, in denen es be-sonders anstrengend ist, im November undDezember und im April und im Mai. Daraufkann man sich vorbereiten.

Was verursacht den Stress?EHLERT: Anfang September habe ich die Di-

rektion des Instituts übernommen, und ichhabe einen Lehrstuhl mit vielen Mitarbeitern,die ihre Forschungsprojekte zwar sehr eigen-ständig durchführen, aber ich will mich daranbeteiligen. Hinzu kommt die Lehre. Der Stressbesteht darin, dass es eine Vielzahl sehr unter-schiedlicher Aufgaben ist und dass ich eineFamilie habe, für die ich auch noch Zeit habenwill.

Wie merken Sie, dass Sie gestresst sind, undwas tun sie dagegen?

EHLERT: Wer macht hier eigentlich die Psycho-therapie? Der Stress macht sich bei mir bemerk-bar, wenn ich mir sehr gut überlegen muss,welche Arbeiten ich in welcher Reihenfolge erle-digen sollte. Wenn ich gestresst bin, habe ich kei-nen Appetit. Um den Stress abzubauen, arbeiteich gerne im Garten. Ich koche sehr gerne undkann mich sehr gut bei den üblichen Hausfrau-enarbeiten entspannen. Ich höre gerne Musik,lese gerne, bin gerne draussen und versucheganz bewusst, dafür Zeit zu haben.

Gestresst sind vielfach auch die Studierenden.Sie haben in einer Studie untersucht, wie sich Stress auf ihre Verdauung auswirkt.Sind Studierende anfälliger als andereBevölkerungsgruppen?

EHLERT: Vor einigen Jahren führten wir einProjekt mit Patienten durch, die an massivenMagen- und Darmbeschwerden litten, ohnedass es dafür eine organische Ursache gab. DieStresshormone bei diesen Patienten wichenauffällig von der Norm ab. Wir haben unsüberlegt: Was sind die Vorstufen solcher Auf-fälligkeiten? Eine der Gruppen, bei der man

WEBSITE www.psychologie.unizh.ch/klpsypt/UNIMAGAZIN 1/05

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solche Vorstufen gut untersuchen kann, sindStudierende. Urs Nader, der bei mir als Postdocarbeitet, hatte die Idee, eine grosse Erhebungdurchzuführen, wie Magen-Darm-Beschwer-den bei Studierenden auftreten. Es stellte sichheraus, dass solche Probleme häufiger sind, alswir erwartet hatten. Bei einem kleinen Anteilder Studierenden haben die BeschwerdenKrankheitswert. Wir haben bei Personen mitleichten und bei solchen mit schwerer aus-geprägten Darmbeschwerden den Hormon-haushalt untersucht. Wie sich zeigte, wirkensich die Beschwerden auf die Stresshormoneaus. Die Gretchenfrage bei der Untersuchunglautet: Weshalb bekommen die einen, wenn sie gestresst sind, Magenbeschwerden undandere Kopfschmerzen, weshalb essen dieeinen zu viel und andere haben Herz-Kreislauf-Beschwerden?

Haben sie bereits eine Vorstellung davon,weshalb sich der Stress auf so unterschiedlicheArt äussern kann?

EHLERT: Wenn man Patienten untersucht, zei-gen sich sowohl auf der psychologischen wieauch auf der biologischen Ebene Unterschiede.So hat Petra Wirtz, die bei uns als Oberas-sistentin arbeitet, festgestellt, dass Patienten miteinem hohen Blutdruck in einer standardisier-

ten Stresssituation den Stress wesentlich emo-tionaler verarbeiten als Personen mit einem normalen Blutdruck. Es gibt tatsächlich unter-schiedliche Bewältigungen von Stress, die dazuführen, dass jeweils unterschiedliche Organsys-teme betroffen sind. Doch wie genau der Mecha-nismus funktioniert, wissen wir noch nicht.

Sie bieten auch Stressmanagement-Trainingsan. Was kann trainiert werden und wie?

EHLERT: Bei Personen, die sehr klar struktu-riert sind, kann es wichtig sein, dass sie in derLage sind, ihre Emotionen auszudrücken. Eswerden deshalb Übungen angeboten, in denenes darum geht, ganz gezielt Emotionen zuerkennen und zu äussern. Das können mancheLeute nicht sehr gut, sie können beispielswei-se nicht sagen, dass es ihnen schlecht geht. Statt-dessen sagen sie: man fühlt sich schlecht. DerIch-Gebrauch und die Emotionsäusserungenwerden im Training vermittelt. Zentral ist auchder veränderte Umgang mit Freizeit. Beim prä-ventiven Stressbewältigungs-Training für Stu-dierende ist es in erster Linie wichtig, Lern- und Selbstkontrolltechniken zu vermitteln. Wiekann ich mich in vernünftiger Zeit auf eine Prü-fung vorbereiten? Wie gehe ich damit um, dassich noch zu wenig weiss, ohne gleich die Nervenzu verlieren? Die Teilnehmer bekommen Kar-

ten, auf denen sie Selbstinstruktionen notierenkönnen. Wenn sie Probleme haben, können siedie Karte aus der Tasche ziehen und sich mitdieser Hilfe neu organisieren. Da steht dann bei-spielsweise: «Normalerweise bin ich in derLage Antworten zu finden.» Sich auf dieseWeise zu vergewissern in einer Situation, in derman sonst die Nerven verliert, hilft.

Sie arbeiten an einer Schnittstelle: einerseitsuntersuchen sie die hormonellen Auswir-kungen von Stress, andererseits machen SieVerhaltenstherapie. Wie greifen diese beidenBereiche ineinander?

EHLERT: Mittlerweile wurde in unterschied-lichsten Studien nachgewiesen, dass kognitiveVerhaltenstherapie wirksam ist. Mit traditionel-len Methoden können wir uns nach der Thera-pie über die Befindlichkeit der Patienten erkun-digen. Dann stellt man fest, dass sich die Befind-lichkeit verbessert hat und die körperlichen Beschwerden nach Angabe des Patienten ab-genommen haben. Das sind aber so genannteweiche Daten. Wenn man sie mit anderen Wis-senschaftlern bespricht, wird man ein bisschenbelächelt. Da heisst es dann etwa: «Gut, eurePatienten behaupten das, aber was hat sich dennnun wirklich geändert?» Ich habe selber lange inKrankenhäusern gearbeitet, und mir war klar: sowird die Psychologie nie richtig akzeptiert wer-den. Wir müssen nachweisen, dass die Entste-hung solcher Störungen mit körperlichen Beson-derheiten einhergeht. Und wir müssen nach-weisen, dass psychologische Therapie nicht nur

«Wir müssen nachweisen, dass sich psychologische Therapie auch auf diekörperliche Gesundheit auswirkt.» Ulrike Ehlert

BILDER Meinrad Schade

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das psychische Wohlbefinden verbessert, son-dern eine körperliche Normalisierung erreichtwerden kann. Genau auf diesem Weg sind wirjetzt. Unsere Untersuchungen sollen nicht nurauf den subjektiven Einschätzungen der Patien-tinnen und Patienten, sondern auch auf hartenFakten basieren.

Sie versuchen mit einer Studie nachzuweisen,dass sich Stresstherapie positiv auf das Befin-den von HIV-Patienten auswirkt.

EHLERT: Genau. Die Patienten in unserer Stu-die werden mit der antiretroviralen HAART-Therapie und dem Stressbewältigungs-Trainingbehandelt. Wir gehen davon aus, dass die Pa-tienten durch das Training stressresistenterwerden und dass sich dies positiv auf dasImmunsystem auswirkt. An der Studie sindZürich, Bern und Basel beteiligt. Die letztenDaten werden im Januar 2005 erhoben. DiePatienten werden nach dem Training einemstandardisierten Stresstest ausgesetzt. In meh-reren Untersuchungen unserer Arbeitsgruppehaben wir bereits nachgewiesen, dass trainier-te Patienten besser auf diesen Test reagieren.

Sie untersuchen auch die Wirkung von Stress bei schwangeren Frauen. Wie wirkt sich Stress auf Schwangere aus?

EHLERT: Je länger ich auf diesem Gebietarbeite, desto klarer wird mir, dass Stress eigent-lich schon sehr früh anfängt. Deshalb interes-sieren wir uns auch für den pränatalen Stress.Wie verhält sich die werdende Mutter – gibt esPhasen in der Schwangerschaft, in der siebesonders stressempfindlich ist, und welchenEffekt hat das auf das Kind? Das war die Aus-gangsüberlegung. Dann untersuchen wir auchden frühkindlichen Stress, wie er etwa beiemotionaler Vernachlässigung entsteht. Esmuss gar nicht immer der grosse Stress sein wieSchläge oder sexueller Missbrauch. Es gibtauch chronischen Stress, wie er etwa durchemotionale Vernachlässigung entsteht. Weltweitgibt es eine Reihe von Forschungsgruppen, diezu ähnlichen Resultaten gekommen sind wiewir. Dazu braucht man jedoch zuerst einmalDaten. Man muss wissen, wie Stress in derSchwangerschaft wirkt. Solche Daten kannman erheben, indem man im Labor Stress beiSchwangeren auslöst und beobachtet, wie sichdas auswirkt.

Sie setzen gesunde schwangere Frauen unterStress. Können Sie das verantworten?

EHLERT: Das ist ein ethisches Problem; manmuss sich überlegen, wie die wissenschaft-lichen Interessen und der Schutz der Schwan-

geren zusammengebracht werden können. Ichhabe viele Studentinnen, die als Schwangereihre Lizentiatsprüfung ablegen, und war selberwährend der Promotion und der Habilitationschwanger. Den psychosozialen Stresstest, denwir einsetzen, haben wir bereits bei einerUntersuchung mit Wöchnerinnen angewen-det. Von den 60 Schwangeren, die sich an derStudie beteiligen, haben wir bislang 57 unter-sucht, es gab keine Komplikationen.

Wie stressen Sie die Frauen?EHLERT: Wir verwenden eine Methode, die

zurzeit weltweit als der potenteste psychosozi-ale Stress gilt: Die Probanden müssen vor einemGremium eine öffentliche Rede halten und danach noch kopfrechnen. Wir wollen heraus-finden, wie sich der Stress im zweiten und imletzten Drittel der Schwangerschaft auswirkt.Wie unsere ersten Auswertungen belegen,kann man Frauen im letzten Drittel ihrerSchwangerschaft kaum mehr stressen. Zudemhaben wir festgestellt, dass Geburtsangst undfrühe depressive Phasen unabhängig von derSchwangerschaft dazu beitragen können, dasses den Schwangeren nach der Entbindungweniger gut geht und sie vielleicht auch über-fordert sind. Als Nächstes wollen wir unter-suchen, ob Stress in bestimmten Phasen derSchwangerschaft einen Effekt auf die Neuge-borenen und die Kinder hat.

In welchem Rahmen wollen Sie dieseForschung fortsetzen?

EHLERT: Dieses Projekt ist Teil eines NFS (Na-tionaler Forschungsschwerpunkt) zur Erfor-schung von Emotionen, das zurzeit beantragt ist.Das NFS-Programm würde über zwölf Jahre lau-fen und wäre eine der wenigen Chancen, umeine solche Langzeitstudie zu finanzieren.

Gibt es eine Disposition, die anfälliger machtauf Stress?

EHLERT: Untersuchungen an mehr als 600Neuseeländern haben beispielsweise gezeigt,dass eine bestimmte genetische Ausprägung desSerotonin-Transportgens dazu führen kann,dass diese Menschen in schwierigen Lebens-phasen eine deutlich höhere Wahrscheinlichkeithaben, eine Depression zu entwickeln.

«Wer seine Gefühle kennt und diese ausdrücken kann, ist besser gegen Stress geschützt.» Ulrike Ehlert

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Es gibt demnach eine biologische Grundlagefür diese Neigung zur Depression?

EHLERT: Genau. Wenn man sich diese Unter-suchungen anschaut, ist das für Psychologenzuerst einmal schockierend, weil man sagt: Oje,das ist ja alles genetisch bedingt. Aber so ist es nicht. Denn es wurde untersucht, wie dieLebensbedingungen dieser Personen als Kinderwaren. Es zeigte sich, dass die Verbindung einerproblematischen Kindheit mit der schlechtengenetischen Ausprägung des Serotinin-Trans-portergens die Wahrscheinlichkeit extremerhöhte, das die Person eine Depression entwi-ckelte. Wenn jedoch die schlechte genetischeAusprägung mit einer durchschnittlichen odereiner guten Kindheit zusammenfielen, wurdendie Betroffenen nicht depressiv. Auch hier gibtes ein Wechselspiel von genetischer Dispositionund Umweltbedingungen. Es wäre unsinnig,wenn wir von der psychologischen Seite her der Genetik keine Aufmerksamkeit schenkenwürden. Und umgekehrt, wenn die Genetikerbehaupten würden, es liesse sich alles nurdurch genetische Ursachen erklären.

Im Zusammenhang mit Stress ist oft vom sogenannten Burn-out die Rede. ProminentesBeispiel ist der ehemalige Präsident der FDPSchweiz, Rolf Schweiger, der mit der Begrün-dung zurücktrat, er sei ausgebrannt. Sieerforschen das Chronische Erschöpfungs-syndrom (Chronic Fatigue Syndrome CFS).Handelt es sich beim Burn-out um eineVariante des CFS?

EHLERT: Der Burn-out geht der chronischenErschöpfung voraus. Wir haben zwei Studiendazu gemacht. Petra Wirtz hat die Mitarbeitereines Flugzeugherstellers untersucht und dieGruppe der Mitarbeiter mit hohem und jene mitgeringem Burn-out verglichen. Das Stress-system bei jener Gruppe mit hohem Burn-outwar viel sensitiver. Die gleiche Untersuchunghat Jens Gaab bei CFS-Patienten durchgeführt.Dort zeigt sich eine Verstärkung dieser Auf-fälligkeit. Deshalb würde ich sagen: der Burn-out kommt zuerst. Ein Teil der Personen miteinem Burn-out entwickelt dann unter Umstän-den Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder eineDepression und eine dritte Gruppe das CFS.Wenn früh genug die Bremse gezogen wird,

lässt sich das unter Umständen auffangen,indem bestimmte Lebensziele und Arbeitsstra-tegien hinterfragt werden. Je länger jemand CFShat, desto schwieriger wird es, diesen Kreislaufzu durchbrechen. Je früher die Leute zu unskommen, umso grösser ist die Wahrscheinlich-keit, dass ein ganzheitlicher Ansatz, zu demPsychotherapie gehört, erfolgreich ist.

Bringt es etwas, über Stress zu reden?EHLERT: Die Leute müssen verstehen, dass

Stress etwas ist, das jeder hat. Man muss indi-viduell lernen zu spüren, wo die eigenen Gren-zen sind. Manche Menschen haben das zwei-felhafte Glück, dass sie sehr viel Stress aushal-ten. Anderen tut es einfach besser, wenn sieetwas früher aufhören und den einen oderanderen ehrgeizigen Plan aufgeben. Ich bin mirauch gar nicht so sicher, ob diese hohe Stress-resistenz und das Ziel, nach den Massstäbenunserer Gesellschaft erfolgreich zu sein, amEnde des Lebens wirklich das ist, was es aus-gemacht hat.

Wie kann man im Alltag dem Stress Parolibieten?

EHLERT: Wir haben Untersuchungen mitHochrisikogruppen für Stress und Traumati-sierung durchgeführt, beispielsweise mit Feu-erwehrleuten. In Deutschland zeigt jeder fünf-te Feuerwehrmann Symptome einer posttrau-matischen Belastungsstörung. Wir fragten uns:Weshalb trifft es jeden fünften und wie verhältes sich mit dem Rest, der davon nicht betroffenist? Aus der Studie mit den Feuerwehrleutenhaben wir folgenden Schluss gezogen: Je grös-ser das Selbstvertrauen und der Glaube in dieWirksamkeit des eigenen Handelns, desto grös-ser ist die Stressresistenz. Wer seine Gefühlekennt und diese ausdrücken kann, ist bessergegen Stress geschützt. Nicht über Probleme zureden und die Emotionen immer unter Kontrollezu halten, tut nicht gut. Das ist das eine Rezept.Ein zweites wäre zu erkennen, dass es Grenzendes Machbaren gibt. Wenn man das akzeptiert,fällt einem vieles leichter. Wir haben hier in derSchweiz die Bergführer untersucht: die sindsuper stressresistent. Sie haben 2,7 ProzentWahrscheinlichkeit, eine posttraumatischeBelastungsstörung zu erleiden. Der Bevölke-

rungsdurchschnitt liegt bei 6 Prozent und jeneder Berufsfeuerwehrleute bei 18 Prozent. DieBergführer scheinen in einem sehr stabilenUmfeld zu leben und ihrem Beruf gegenüber dierichtige Einstellung zu haben. Sie glaubennicht, alles immer managen zu können, sondernhaben einen gewissen Respekt vor ihren Lebensbedingungen. Das dritte Rezept wäre,bewusst auf gewisse Dinge zu verzichten. Dasgrossartige Schlagwort Work-Life-Balance, ver-stehen viele Leute falsch. Manchen hilft essicher, Sport zu treiben. Andere treiben Sport,weil sie glauben, es tue ihnen gut, aber eigent-lich setzen sie sich damit nur dem nächstenStress aus. Das kann ich aus eigener Erfahrungsagen: ich habe mich von meinen Mitarbeiternzweimal zur Teilnahme an der Sola-Stafetteüberreden lassen. Joggen ist für mich etwasganz Schreckliches. Dazu stehe ich mittler-weile: Ich fahre gerne Ski, Snowboard oderSchlittschuh, aber Joggen kommt nicht mehr in Frage. Worauf ich hinaus will: Die selbstbe-wusste Entscheidung, einmal einen Nachmittagin den Liegestuhl zu liegen, tut gut.

Frau Ehlert, wir danken Ihnen für dasGespräch.

ZUR PERSON

Ulrike Ehlert (44) ist Professorin für KlinischePsychologie und Psychotherapie. NebenLehr- und Forschungsaufgaben leitet sie dieVerhaltensmedizinische Ambulanz amPsychologischen Institut und die Postgra-duale Weiterbildung für Psychotherapie mitkognitiv-verhaltenstherapeutischem undverhaltensmedizinischem Schwerpunkt. Ihrbesonderes Interesse gilt der psychobiologi-schen Ätiologie und Therapie stressabhän-giger Erkrankungen.

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SACHLICHE ROMANZEN

Unser Sexleben ist kontrollierter geworden. Gut so, meinen Experten im Sammel-band «Sexualität im Wandel», der sich aus Beiträgen einer interdisziplinären Vor-lesung von Universität und ETH Zürich zusammensetzt. Von David Werner

Die liberale Markwirtschaft hat sich in der glo-balisierten Welt durchgesetzt. Mit ihr hat dieMetapher des Ökonomischen ihren Siegeszugangetreten – als heuristisches Allzweck-Wun-dermittel prägt sie unsere Versuche, die Wirk-lichkeit zu beschreiben. Das Deutungsinstru-ment eignet sich gut, um unterschiedlichsteLebensbereiche probeweise einer semanti-schen Umpoolung zu unterziehen, so auch dieSexualität. In der Konsequenz ist das kulturge-schichtlich überaus zählebige Spannungsver-hältnis von wahrem Sex und der Ware Sex innertKürze nahezu in sich zusammengebrochen.Verblasst ist der von ganzen Dichtergeneratio-nen beschworene Gegensatz zwischen dergeheimnisvoll-unbeherrschbaren Welt derLüste, Triebe und Obsessionen auf der einen –und der Welt des zweckrational-ökonomischenHandelns auf der anderen Seite.

Der französische Autor Michel Houellebecqhat in seinen Romanen mehrfach und auf sehrbreitenwirksame Weise durchexerziert, wie diesexuelle Wirklichkeit aussieht, wenn man sienicht als irrationalen Konterpart, sondern alsTeilbereich eines komplett durchökonomisier-ten, gänzlich auf Tausch und Konsum gestütz-ten Universums betrachtet. Und so präsentiertsich Sex bei Houellebecq: entzaubert, versach-licht, sauber, domestiziert und – trostlos biederund banal.

DEMOKRATISIERTER SEX

Eine ähnliche Tendenz zur Versachlichungwird in mehreren der elf Beiträge des Sam-melbandes «Sexualität im Wandel» konstatiert.Gewertet wird freilich anders als beim ZynikerHouellebecq: Der Hamburger Sexualwissen-schaftler Gunter Schmidt etwa hebt lobend die zunehmende Entdramatisierung, Verfüg-barkeit, Planbarkeit und Verhandelbarkeit –kurzum: die zunehmende «Demokratisierung»

von Sexualität hervor. Demgegenüber blickt er mit «nostalgischem Schaudern» zurück auf das überkommene Konzept der Sexualitätals «unbändiger, tabusprengender und trans-formativer Kraft», als «letztem Hort unver-stellter menschlicher Natur». Sowohl die res-triktiv fundamentalistischen Sittenwächter alsauch die libertären Achtundsechziger, die miteiner sexuell befreiten Menschheit Erlösungs-utopien verbanden, sind seiner Auffassungnach einem mythisch überhöhten Bild derSexualität auf den Leim gekrochen. Dieses seiinzwischen zum Glück «entrümpelt» worden;entrümpelt von religiösen Vorschriften, vonder schwarzen Romantik des Bürgertums und – nicht zuletzt – von psychoanalytischenTheoremen.

MEHR SPASS, MEHR VERANTWORTUNG

Was bleibt nach dieser «Entrümpelung» nochübrig? Das «autonom designte Verlangen»,meint Schmidt. Der spätmoderne, sexuellemanzipierte Mensch ist seiner Auffassungnach ein «Erregungs- und Erlebnissammler», derein Optimum aus der Ressource «Sex» heraus-holen will und die gelegentliche Widerspens-tigkeit dieser Ressource (Impotenzanfälle, Or-gasmusmüdigkeit, sexuelle Wünsche zur Un-zeit) unter Kontrolle zu bringen versucht. Erstrebt danach, sexuelle Regungen zur gegebenenZeit an- und abstellen zu können, unter Um-ständen auch mit Hilfe von Viagra. Besonders po-sitiv hebt Schmidt hervor: Sexuelle Normen undPrivilegien sind am Verschwinden. Was früherals Perversion diskriminiert wurde – Homose-xualität, Sadomaso-Praktiken – darf sich heuteselbstbewusst outen und als Lifestyle darstellen.Erlaubt ist alles, was zwischen mündigen Sexu-alpartnern im Voraus vereinbart wurde. Sexua-lität ist nicht mehr Schicksalsmacht, sondern eine Frage der Konsensfindung.

Aus reproduktionsmedizinischer Perspektivekommt Claus Buddeberg, Professor für Psycho-soziale Medizin am Universitätsspital Zürich, zueinem ganz ähnlichen Befund. Er ergänztjedoch, dass die erhöhte Verfügbarkeit, Plan-barkeit und Verhandelbarkeit in den Berei-chen Sexualität und Fortpflanzung nicht nurmehr Spass, sondern auch mehr Selbstverant-wortung impliziere. Und wo viel Selbstverant-wortung ist, da wächst auch das Bedürfnis nachBeratung.

ERSCHLAFFTE LUST

Deshalb ist es vielleicht kein Zufall, dass dieMehrzahl der Aufsätze des Sammelbandespragmatischen Themenstellungen nachgehen,die sich aus der Beratungspraxis ergeben: VonAstrid Riehl-Emde, Privatdozentin für klinischePsychologie in Zürich, ist beispielsweise zuerfahren, was gegen das Erschlaffen dessexuellen Begehrens in Langzeitbeziehungen zuunternehmen ist. Rainer Hornung und ThomasBucher – beide vom Psychologischen Institut derUniversität Zürich – zeigen, wie es um diesexuelle Zufriedenheit im Alter bestellt ist.

Brunhild Kring wiederum, Psychiaterin inNew York, beschäftigt sich mit der Lösung spe-zifischer sexueller Konflikte zwischen Part-nern aus unterschiedlichen Herkunftsländern.Es sind dies Fragestellungen, die weniger aufvertiefte kultursoziologische Analyse abzielen,sondern – um mit Foucault zu sprechen – demrichtigen «Gebrauch der Lüste» auf der Spursind; der Frage, wie die «Ressource» Sexualitätmöglichst intelligent angezapft und genutztwerden kann.

Rainer Hornung, Claus Buddeberg, Thomas Bucher(Hg.): Sexualität im Wandel, vdf Hochschulverlag,2004, 212 Seiten, 48 Franken

BÜCHER

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KOLLEKTIVE GEWALTVölkermord gab es schon zu biblischen Zeiten.Die wissenschaftliche Auseinandersetzung da-mit begann aber erst 1944, als der Völkerrecht-ler Raphael Lemkin den Begriff Genozid schuf.Bis heute werden Menschen enteignet, vertrie-ben und ermordet, weil sie einer bestimmtensozialen Gruppe angehören. «Enteignet – Ver-trieben – Ermordet» heisst auch der Sammel-band, den die Arbeitsgruppe für Genozidfor-schung herausgegeben hat. Die ursprünglichstudentische Gruppe wurde 1999 im Rahmeneiner Lehrveranstaltung der Universität Zürichgegründet und organisiert seither Veranstal-tungen zum Thema. Dazu lädt sie Gastreferen-ten aus unterschiedlichen Disziplinen ein. Nurinterdisziplinär könne das komplexe PhänomenVölkermord wissenschaftlich erfasst werden,sagt Historiker Dominik J. Schaller. Schallerwollte die Beiträge für die Öffentlichkeit fest-halten und publizierte mit drei weiteren Her-ausgebenden das nun vorliegende Buch.

Herausgekommen ist der im deutschspra-chigen Raum erste interdisziplinär ausgerich-tete Band zum Thema Genozid. Mit den Metho-den ihrer jeweiligen Disziplin erschliessen dieAutorinnen und Autoren unterschiedlicheZugänge zum Phänomen der kollektiven Ge-walt. So untersucht zum Beispiel ein Sozial-psychologe die Motivation von Tätern, und einEthnologe zeichnet Mechanismen der Mobili-sierung von Akteuren kollektiver Gewaltex-zesse auf. Den Schwerpunkt des Bandes bildenfundierte Fallstudien. Diese befassen sich un-ter anderem mit dem Kolonialkrieg im ehema-ligen «Deutsch-Südwestafrika», dem Völker-mord an den Armeniern, dem Holocaust, demGenozid in Kambodscha und der gegenwärtigenVernichtung indigener Lebenswelten. DasWerk spricht auch Laien an: Sie werden in dieBegriffe und Debatten der Genozidforschungeingeführt. Jost Schmid

Enteignet – Vertrieben – Ermordet. Beiträge zur Geno-zidforschung. Dominik J. Schaller, Rupen Boyadjian,Vivianne Berg, Hanno Scholtz (Hrsg.). Chronos-Verlag,2004, 496 Seiten, 68 Franken.

KOMPAKTER SCHLAFVerlässliches Wissen in sachlicher und kom-pakter Form zu bieten, ist das Ziel der Taschen-buchreihe «Fischer Kompakt» mit ihren 35 bis-her erschienenen Bänden zu Themen wie DieBibel, Sozialstaat oder Quantentheorie. Schonauf den ersten Blick zeigt sich auch einer derneuesten Titel dieser Reihe in durchgängignüchterner Aufmachung. Alexander Borbély,Prorektor für den Bereich Forschung an der Uni-versität Zürich, Mediziner und Hirnforscher,führt in «Schlaf», seinem im Herbst 2004 er-schienenen Buch, in die Schlafforschung ein.Borbélys neues Buch bietet eine sachlich klareund naturwissenschaftlich wie wissenschafts-historisch fundierte Sicht auf das Drittel unse-res Lebens, das wir im Bett verbringen. Der thematische Bogen spannt sich dabei vom alt-germanischen Ursprung des Wortes Schlafüber Anfänge und Entwicklung der Schlaffor-schung seit dem neunzehnten Jahrhundert,die Darstellung der Schlafphasen, den Traumund Schlafstörungen bis zu den wichtigstenSchlafmitteln und Stimulanzien. Auch demSchlaf von Tieren räumt der Autor viel Platz ein.

Borbély präsentiert in seinem Buch keineendgültigen Wahrheiten, sondern bietet in vie-len Beispielen aus der Schlafforschung Einblickin die Entwicklung von Messmethoden und den parallel dazu verlaufenden Wettstreit derErklärungsversuche. Wichtige Theorien werdenimmer in Verbindung mit deren wissenschaft-lichen Urhebern genannt. Die Darstellung derErgebnisse der aktuellen Forschung geht einhermit einer genauen und dennoch allgemeinverständlichen Erklärung theoretischer Kon-zepte. Wer Interesse an den Naturwissen-schaften mitbringt und sich in die Wissenschaftvom Schlaf einlesen möchte, der findet auf denknapp 130 Seiten von Borbélys Buch eine kon-zentrierte und gut lesbare Einführung in dieGeschichte und den letzten Stand der Schlaf-forschung. Klaus Wassermann

Alexander Borbély: Schlaf. Fischer Taschenbuch Ver-lag, 2004, 128 Seiten, 16.50 Franken

KATZE AUF DER COUCH«Reinigen Sie die Stelle sofort mit einem biolo-gisch abbaubaren, geruchsfreien Putzmittel.»Dennis C. Turner ist sich nicht zu schade für sol-che Tipps. Der Zürcher «Katzen-Papst» zeigt inseinem neuen Buch den «Weg zu einer glück-lichen Beziehung» zwischen Mensch undKatze. Und dazu gehört auch, dass man derKatze abgewöhnt, überall ihr Markenzeichen zuhinterlassen. Schimpfen sollte man allerdingsnicht – das könnte sie als Aufmerksamkeitmissverstehen. Putzen ist besser, aber nicht mitammoniakhaltigen Putzmitteln, denn die ziehenKatzen geradezu an. Katzeneltern glaubenmeist, dass ihre Katze, und besonders ihr Kater,so die Grenzen des eignenen Territoriums mar-kieren wollen. Das stimmt nicht, wie neuereForschungen zeigen. Turner und seine Mit-arbeiter haben festgestellt, dass Katzen ihreMarken zwar im ganzen Gebiet hinterlassen, indem sie herumstreifen, jedoch nicht besondershäufig an dessen Grenzen.

Der Zoologe fordert die Katzenhalter auf, ihrefaszinierenden Hausgenossen nicht einfach nurzu geniessen: «Ich bin der Meinung, dass zurverantwortungsbewussten und verständnisvol-len Heimtierhaltung auch ein Minimum anKenntnissen über das Verhalten und die art-spezifischen Bedürfnisse des Tieres gehören»,schreibt er und bietet im letzten Kapitel desBuches eine kurze Anleitung zur eigenen Kat-zenerforschung. Turners Katzenbuch ist klaraufgebaut. Die erste Hälfte beschäftigt sichvorwiegend mit Geschichte, Biologie und art-spezifischem Verhalten. Der zweite Teil gehtvertieft auf die Beziehung zwischen Mensch undKatze ein. Auch häufige Verhaltensstörungenwerden thematisiert. Dennis C. Turner istGründer und Direktor des Instituts für ange-wandte Ethologie und Tierpsychologie inZürich, ausserdem lehrt er als Privatdozent ander Universität Zürich. Antoinette Schwab

Dennis C. Turner: Turners Katzenbuch. Kosmos-Verlag,Stuttgart, 2004. 188 Seiten, rund 80 Fotos und 30 Zeich-nungen, 33.70 Franken

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REMEMBER ME

Sie kennen die Szene: «Ah ja, hallo, wie geht’s?lange nicht mehr gesehen…» Und dann hängenSie schnell noch ein paar freundliche Sätze andamit es keiner merkt: Den Namen des altenBekannten, den Sie soeben auf der Strassegetroffen haben, haben Sie nämlich längstvergessen. Kann vorkommen, passiert ja vielen.Im Lebensmittelgeschäft allerdings geht esweiter: Da stehe ich sinnierend vor dem Regalmit den Mehlsäcken und versuche mich zu er-innern, was auf der Liste steht, die ich zuhau-se auf dem Küchentisch liegen gelassen habe.Nichts zu machen. In Anbetracht der buntenEinkaufswelt will mir partout nicht mehr ein-fallen, was ich nun alles hätte einkaufen müs-sen. Und in der Folge straft mich die Kassen-dame mit dem entsprechend bösen Blick,nachdem ich – alle Nahrungsmittel schon in dieTüte gepackt – den Betrag mit der Postcardbezahlen muss, weil ich in meinem Geldbeutelsoviel Geld dann doch nicht mit mir herum-trage. Mein zerknirscht grinsendes «GutenAbend» hilft mir auch nur bis zum Ausgang desLadenlokals. Zuhause angekommen wird sichnatürlich herausstellen, was Sie schon längstgeahnt haben (und von sich selber auch ken-nen, geben Sies zu). Dann gibt es halt Kartoffelnohne Butter und den Salat ohne Öl. Soll sowiesogesünder sein.

Lappalien. Synapsen schalten zuweilenfehl. Bei mir zum Beispiel macht das HirnSprünge, wenn es um die Orientierung geht.Bei der Taxifahrt bin ich immer ein bisschengefordert, wenn eine Wegbeschreibung vonNöten ist. Dann sag ich halt mal präventiv früh«vorne links» und wenn die Richtung, die derTaxifahrer einschlagen will, nicht diejenige ist,die ich mir vorgestellt habe, ist noch genug Zeit«rechts» zu sagen. Über die rinks-lechts-Vel-wechsrung haben sich ja schon berühmtere

Zeitgenossen Gedanken gemacht. Doch spätes-tens wenn die Freundin, die an der Bar wartet,vergessen geht, die Mahnungen nach Erhaltunversehens im Altpapier landen und das Win-terwetter einem nicht das Murmeltier-, sonderndas klamme Fischgefühl verschafft, wird esdoch eher unerträglich: ich bin ein neurologi-sches Wrack.

Das freut die Wirtschaft der Zukunft. Diewartet nämlich darauf, mir zu helfen. Meinemiesepetrigen Gefühlsstimmungen könntendurch ein geeignetes Präparat verwandelt werden. «Serotonin Wintersonne» könnte das Medikament zum Beispiel heissen. Gegen dieböswillige Ignoranz gegenüber meinem pri-vaten Rechnungswesen (die könnte ja durch-aus beabsichtigt und nicht zwingend unter die Diagnose Demenz fallen) könnte ich mir ein geeignetes Präparat vorstellen, das den Namen «Super-Pflicht» trägt. Den verschlamp-ten Freundschaften könnte man mit «Remem-ber me» begegnen, die Rinks-Lechts-Vel-wechsrung mit «NeuroErnst» abjandeln und die Vergesslichkeit mit «Neuro Forever»abwenden.

Nicht dass die Welt besser würde, wenn ichmeine Rechnungen wieder richtig bezahle,die alten Bekannten korrekt grüsse und mit denFreundinnen auf die anderen Freundinnenwarte, die vergessen haben, eine Pille zuschlucken. Neugierig wäre ich aber auf dasselige Winterlächeln, das nachmittags um dreidie Dunkelheit überstrahlen würde. Doch wiewürde das aussehen, wenn ich ein perfektesNeuro-Grinsen hätte, aber das Fett nicht abge-saugt, die Nase nicht gerichtet, die Augenlidernicht gekürzt und den Busen nicht aufgepeppthätte? Ganz schön depressiv.

Simona Ryser ist Autorin und freie Journalistin.

SCHLUSSPUNKT von Simona Ryser

UNIMAGAZIN 1/05 ILLUSTRATION Pierre Thomé

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