02636 Leggewie Meyer Global Pop Korr3 mit AvenirOT a if Global Pop.pdf · Cellier, die kosmopolitischen Visionäre Ry Cooder, Peter Gabriel, und Alan Bern, den musikalischen Weltbürger

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  • InhaltClaus Leggewie / Erik Meyer Einleitung 1

    I. Konzepte und Anschlsse

    Glaucia Peres da Silva 01 Weltmusik: Ein politisch

    umstrittener Begriff 9

    Ulrich Kriest 02 Von Fusion und Crossover zur Weltmusik 2.0: Eine Begriffs- und Ideologie kritik 17

    Ulrich Morgenstern 03 Volksmusik und Folklore 26

    Julio Mendvil 04 Musikethnologie 35

    Christoph Hahn 05 Musik und Religion /

    Spiritualitt 43

    Andreas Langenohl 06 Inter- und Transkultura litt 54

    Ina Kerner 07 Postkolonialismus und

    Orientalismus 60

    Christoph Jacke 08 Popmusikkulturen: Ent wick-

    lung und Verstndnis 67

    Georg Fischer / Erik Meyer 09 Sampling: sthetik der Zitate

    oder Piraterie? 76

    II. Akteure und Projekte

    Claus Leggewie 10 Archive der Musik der Welt 85

    Britta Sweers 11 Marcel Cellier: Ein Vermittler

    der frhen Weltmusik 94

    Peter Kemper 12 Ry Cooder: Sammler, Archivar,

    Visionr 101

    Jean Trouillet 13 A World of Music Arts and

    Dance: Peter Gabriel und Real World Records 109

    Ulrike Klausmann 14 Alan Bern und das Klezmer-

    Revival 117

    Andr Rottgeri 15 Manu Chao: Weltbrger mit

    Attitude 125

    Jens Uthoff 16 Damon Albarn: Netz werker

    des Global Pop 131

    Philipp Rhensius17 Brian Shimkovitz: Awe some

    Tapes from Africa 138

    Manuel Gogos 18 Der Soundtrack der Migration

    oder: Hungrige Vgel singen schner 145

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  • III. Infrastrukturen und Instrumente

    Daniel Bax 19 Weltmusik als Markt und

    Marke 155

    Beate Flath20 Weltmusik: Musikwirt schaft-

    liche Annherungen 165

    Kerstin Klenke21 Messen, Wettbewerbe, Auszeichnungen 171

    Birgit Ellinghaus22 Zwischen Kulturpolitik und

    Kreativwirtschaft: Weltmusik in Deutschland 180

    Erik Meyer23 Wa(h)re Weltmusik:

    Diskurse des Global Pop 188

    Carsten Wergin24 Tourismus 195

    Klaus Numann25 Weltmusikfestivals und

    Festivalisierung der Welt-musik 204

    Peter Kemper26 Die Wiederkehr der

    Ukulele 213

    Hans Neuhoff27 Weltmusik studieren unter-

    richten vermitteln 222

    IV. Sound und Raum

    Susanne Binas-Preisendrfer28 Sounds like World Music:

    Zur klanglichen Konstruktion rumlicher Ordnungen 233

    Christian Rath29 Folk in den USA, Europa und

    Deutschland 242

    Johannes Rhl30 Neue Volksmusik: Alpine

    Klanglabore in Deutschland, sterreich und der Schweiz 251

    Daniel Bax31 Pop, Politik und musikalische

    Peripherie 259

    Matthias Thaden32 Turbofolk:

    Politik und Weltmusik 2.0 268

    Anja Brunner33 Balkanmusik auf dem west-

    europischen World Music-Markt 276

    Christoph Wagner34 Von der Sitar zum Laptop: Indien und der Westen 283

    Markus Coester35 Highlife transnational:

    Moderne westafrikanische Populrmusik 19501965 290

    Hauke Dorsch36 Westafrikanische Musik: Vom Preisgesang zum Pop 299

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  • Inhalt

    Oliver Seibt37 J-Pop: Warum populre Mu-

    sik aus Japan nicht unbedingt japanisch klingt 307

    Katrin Wilke38 Das globale Mestizo-Dorf 315

    Hauke Dorsch/Tom Simmert39 Sdafrikas Musik zwischen Po-

    pularitt und Politisierung 323

    Arian Fariborz40 Das Schweigen brechen vom Ra zum HipHop in Algerien 332

    Olaf Karnik41 Dub Vom Remix zur Produkti-

    onsmethode 340

    Andr Rottgeri42 Neue Formen von Hybriditt

    in der populren Musik Brasiliens 353

    Markus Verne43 Madagassischer Heavy Metal globale oder lokale Praxis? 359

    Anja Brunner44 Bikutsi: Kameruner Popmusik

    abseits der Weltmusik 366

    Die Autorinnen und Autoren 373

    Register 381

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  • 02636_Leggewie_Meyer_Global Pop_Korr3_mit AvenirOT_a_if.indd 8 01.02.17 16:49

  • 1

    Einleitung

    Claus Leggewie / Erik Meyer

    Einleitung

    Mut zur Lcke: Zu diesem BuchWer ein Kompendium zum Global Pop konzipiert, muss radikalen Mut zur Lcke besitzen und ein dickes Fell. Global Pop ist ein gasfrmiges Ph-nomen (Johannes Theurer), das in alle Richtungen ausfranst und schwer zu systematisieren ist. Kundige Leser und Kritikerinnen werden also rasch feststellen, was aus der ungeheuerlichen, ohnehin nie als Ganzes zu do-kumentierenden Flle von Stilrichtungen und Regionalsounds, Interpre-ten und Instrumenten, Impresarios und Investoren alles fehlt. Und sie kn-nen bemngeln, dass auch zentrale Entwicklungen, Weichenstellungen und Cluster nicht (ausreichend) behandelt worden sind. Diesen enzyklopdi-schen Anspruch verfolgt das Buch nicht. Bevor im Anschluss einige grund-stzliche berlegungen zum Phnomen von Global Pop und Weltmusik an-gestellt werden, gilt es also zunchst, die zugrundeliegenden Kriterien von Gliederung und Auswahl zu erlutern.

    Im ersten Abschnitt Konzepte und Anschlsse wird der kulturelle und kulturwissenschaftliche Kontext oder Horizont von Global Pop erffnet, be-ginnend mit definitorischen und konzeptionellen Eintrgen, die berdies auf die Vorlufer oder Quellen von Weltmusik in Gestalt der Volksmusik, des Folk und spiritueller Einflsse sowie auf die im Kern ethnographischen Methoden ihrer Sammlung und Interpretation verweisen. Auch werden hier allgemeine kultursoziologische berlegungen zu Inter- und Transkul-turalitt sowie Postkolonialismus und Orientalismus angestellt.

    Im zweiten Abschnitt werden exemplarische Akteure und Projekte vor-gestellt, die von den Pionieren der Volksmusik und Folk Music wie dem deutschen Aufklrer Johann Gottfried Herder oder den US-amerikanischen Sammlerdynastien Seeger und Lomax ber den frhen Vermittler Marcel Cellier, die kosmopolitischen Visionre Ry Cooder, Peter Gabriel, und Alan Bern, den musikalischen Weltbrger Manu Chao, den Global-Pop-Netzwer-ker Damon Albarn und den Blogger Brian Shimkowitz bis zum kreativen Milieu der Diaspora reichen. Die Auswahl steht aus Sicht der Herausgeber fr relevante Prozesse der Vermittlung und Vermischung (Hybridisierung)

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  • 2

    und vermeidet die die Volks- und Weltmusik-Forschung lange begleitende Fixierung auf Tradition und Stiltreue.

    Im dritten Abschnitt zu Infrastrukturen und Instrumenten breiten die Autoren die politisch-konomische Infrastruktur von Weltmusik / Global Pop aus als Marken und Mrkte, als touristische Attraktion, als politisch-soziale Bewegung und als regelrechtes Studienfach. Hier werden auch Dis-kurse des Global Pop prsentiert, zentrale kulturpolitische sowie musik-wirtschaftliche Instrumente diskutiert und mit der Ukulele ein zunchst unscheinbar und nebenschlich wirkendes Instrument prsentiert, das Weltmusik jedoch auf geradezu symbolische Weise einfngt.

    Der vierte Abschnitt zu Sound und Raum legt den grten Mut zur L-cke an den Tag, denn hier werden aus der Flle des Global Pop nur einige wenige exemplarische Genres, Stile und Interpreten herausgegriffen. Das Auswahlkriterium war wiederum nicht die Verbindung von Klngen mit ei-nem speziellen Territorium oder Raum, sondern die transnationale Grenz-berschreitung und die transkulturelle Mtissage, die sich in ganz unter-schiedlichen Phnomenen rund um den Globus manifestiert. Dazu geh-ren gewissermaen aus historischer Perspektive im World Music-Sektor etablierte Phnomene wie z. B. der westafrikanische Highlife oder der ku-banische Son ebenso wie die regionale und lokale Variation popmusikali-scher Formate des Weltmarkts wie etwa der Heavy Metal aus Madagaskar oder Bikutsi aus Kamerun.

    Global Pop oder The art formerly known as world music

    Der Begriff Weltmusik hat in den 1980er Jahren, als er in Umlauf gesetzt wurde, sehr starke Energien geweckt und gebndelt, bei Musikproduzen-ten wie bei Hrern, im Musikhandel wie bei Festivalbesuchern. Er lag auch diesem Kompendium als Arbeitstitel zugrunde, doch ist er so plakativ nicht mehr zu halten. Zu stark sind die Einwnde, Weltmusik sei entgegen ih-rem Anspruch, weltumspannend zu sein, eher ein koloniales Relikt und ein eurozentrischer Dinosaurier. Einigen Kritikern war Weltmusik im-mer schon suspekt, andere schalteten vor ein paar Jahren um, zum Beispiel die stets informative Beilage der Berliner tageszeitung, dem Multikulturalis-mus ebenso freundlich zugeneigt wie der Pop-Kultur, die 2014 in Global Pop umgetauft wurde.

    Begriff und Sache Weltmusik kann man mittlerweile historisch be-trachten, als Signum einer musikalischen Epoche, die zwischen 1980 und

    Einleitung

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  • 3

    Einleitung

    der Jahrtausendwende anzusetzen ist. Entstanden ist der Terminus bereits Anfang des 20. Jahrhunderts, es folgten eine ganze Reihe von Arbeitsdefi-nitionen, musikwissenschaftlichen Typologien und erste Kritik am Begriff. Die Frage ist nun, was mit der Konversion von Weltmusik in Global Pop an Distinktion und Erkenntnis gewonnen wurde. Weltmusik / Global Pop ist ein Beispiel fr transkulturelle Phnomene, die im musikalischen Bereich noch weniger auseinanderzuhalten sind als bei anderen Verbreitungspro-zessen. Musik ist ein besonders affektiv besetztes Medium menschlicher Kommunikation, das sich einfach hren und erleben lsst, aber auch mu-sikologisch und historisch, kulturanthropologisch und soziologisch analy-sieren lsst. Musik ist eine vielseitige Klang-, Bewegungs- und Gefhlspra-xis, die nicht zuletzt soziale Interaktionen begrndet und als Identittssym-bol sozialer Gruppen und Gemeinschaften fungiert.

    Im Kontext der Globalisierung von Kultur und der damit einhergehenden Superdiversitt, also der fast unendlichen Vielfalt kultureller Ausdrucks-formen, bietet Musik ein gutes Beispiel fr die Koexistenz kultureller Diffe-renzierungen und Standardisierungen. Global Pop ist ein Demonstrations-objekt fr die damit verbundene Auflsung der Trennung von Eigenem und Fremdem beziehungsweise von Zentrum und Peripherie in hybriden, sich mischenden Neubildungen. Zitat, Collage und Sampling sind hier angelegt und nicht erst Errungenschaften des digitalen Zeitalters, denn raumzeitli-che bernahmen und berblendungen solcher Art prgen die Musik im All-gemeinen seit jeher und Weltmusik sozusagen programmatisch.

    World Music oder Global Pop kann demnach dreierlei bezeichnen: eine Sammelkategorie fr alle erdenklichen Stilrichtungen und Regionalur-sprnge nicht-westlicher, speziell nicht-europischer Musik, die man bis-lang als Ethno oder Folk Music rubriziert hat; eine weit offene Rubrik fr populre Volksmusik (im Unterschied zur Opus-Musik speziell abendln-discher Provenienz mit der ihr zugrundeliegenden Hermeneutik von No-tentexten); und eine per se hybride Mischung diverser Stile, die traditionel-le Musik mit westlicher Populrmusik fusioniert.

    Spielarten dieser Sortierungen findet man noch in gut ausgestatteten Musik-Lden und Kulturkaufhusern, die ihren Kunden ein Sortiment an Tontrgern jenseits der etablierten Unterteilung in U- und E-Musik ausstel-len. Dass diese Sortierungen jeweils unterschiedlich ausfallen, zeigt die ra-dikale Verstrkung des Phnomens des Crossover (berschneidung, Kreu-zung, berquerung), wie man einmal die gleichzeitige Platzierung eines Musikstcks in mindestens zwei, nach Musikgenres getrennten Hitparaden bezeichnete. Am Crossover der Weltmusik kann man, vor allem seit ihrer digitalen Verbreitung, illustrieren, wie herkmmliche Dualismen und bi-nre Kodierungen zerbrechen und versagen: Europa und der Rest (und da-mit jede Zentrum-Peripherie-Konstellation), U- und E-Musik (und die damit

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    verbundenen Distinktionsmerkmale), high & low (und damit die Differen-zen von akustisch-elektrisch, Klassik und Pop) sowie die Opposition von sa-kral und skular.

    Global Pop bleibt, vor allem im Bereich seiner kommerziellen Verbrei-tung, in der musikkritischen Rezeption und in den Hrgewohnheiten und Distinktionsritualen gewiss den alten Schemata unterworfen; gerade aus anti- und postkolonialer Sicht handelte es sich bei World Music um einen groen Schwindel, in dem die aus der materiellen Rohstoffextraktion be-kannten Ausbeutungsmechanismen am Werke seien, also um einen klaren Fall von Expropriation (Ausbeutung): Im Zuge dieser Kolonisierung wurde ethnische Musik, ob sie nun aus heimischen Traditionen oder aus fernen Territorien stammte, zum bloen Rohstoff fr die Veredelung in den west-lichen Metropolen, wobei die Fertigprodukte den afficionados und Puristen oft per se als minderwertiger Schund oder Kitsch galt.

    Schematisch lassen sich in diesem Sinne vier Dimensionen musikali-scher Globalisierung unterscheiden: die Verbreitung und Dominanz westlicher, vor allem anglo-amerikani-

    scher Stile, Interpreten und Labels auf dem Weltmarkt, die Aneignung nicht-westlicher Musik durch die westliche Musik- und

    Unterhaltungsindustrie, die Bewahrung und Frderung lokaler Nischen, die Entstehung kreolisierter Musik verschiedenster Provenienz.

    Die ersten beiden Varianten bringen die Vorherrschaft westlicher Musik (-Industrie) zur Geltung. Die beiden anderen erhhen, weiterhin stets in Wechselwirkung mit den westlichen Weltmarktfhrern, den Eigensinn und die Autonomie nicht-westlicher Genres, Produzenten und Hrer. World Music, ber die unter Musikern und ihren Fans ebenso wie in den Kultur-wissenschaften gestritten wird, lotet also Chancen von Akkulturation aus: ob darin eher Wechselwirkung oder Spuren von Enteignung und Ausbeu-tung erkennbar sind. Kulturelle Aneignung (Appropriation) ist dann nicht per se einseitig oder gar ein Gewaltakt, ist doch gerade in der Musik die bernahme von Themen und Techniken, Instrumenten und Arrangements aus anderen, sicher auch exotischen Quellen an der Tagesordnung. Auch wenn die Trennung nur heuristischer Natur ist, sollte man also zwischen den konomischen und sthetischen Aneignungsformen unterscheiden, zu denen, wo Weltmusik zum Politikum wird, auch noch eine politische Di-mension tritt.

    Einleitung

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  • 5

    Einleitung

    AudiotopiaHat Musik berhaupt einen geografischen Ort, sollte sie ihn haben oder bil-det sie selbst einen dritten Ort, den Josh Kun audiotopia genannt hat? Im virtuellen Raum von audiotopia sind die Wurzeln eines Klangs weit weniger interessant als die Routen seines Transfers. Dagegen Authentizitt zu rekla-mieren, wirkt im kulturellen Feld seltsam als knne man Melodien, Kom-ponisten und Interpreten einem Territorium zurechnen und ein Kunstwerk jeweils auf einen Ursprungspunkt Null zurckfhren. Dem ebenso sponta-nen wie unordentlichen musikalischen Austausch lassen sich schwerlich per se politische Ambitionen unterschieben, also weder ein klares Ausbeu-tungs- noch ein ungebrochenes Subversionsszenario. Das heit nicht, dass man Weltmusik romantisieren sollte, denn wie generell im Handel mit Rohstoffen hat man es mit einer Wertschpfungskette zu tun, die den Krea-tiven regelmig weniger briglsst als den primren und sekundren Ver-wertern. Kulturimperialistische Zge weisen vor allem die Unterhaltungs-industrie und das ihr eigentmliche Starsystem auf. Es sind wirtschaftliche, politisch-rechtliche und mediale Rahmenbedingungen, die nicht-westliche Musiker beim Wettbewerb um Aufmerksamkeit und Anerkennung benach-teiligen. Und dennoch: in der affektiv-kommunikativen Atmosphre des globalen Jamming bewhrt sich trotz allem die osmotische Kraft der Musik, die nicht unbedingt Vlker, wohl aber Menschen guten Willens tatschlich verbinden und ihre Abgrenzungsbedrfnisse berwinden kann.

    Damit ergab sich der bergang zur Weltmusik 2.0, wie Thomas Burk-halter, der Schweizer Musikethnologe und Herausgeber der Online-Zeit-schrift Norient, neuere Entwicklungen bezeichnet. The art formely known as Weltmusik ist ein ebenso typisches wie erratisches Phnomen interkulturel-ler Diversitt und transkultureller Hybridisierung. Klassische Dichotomi-en des Eigenen und Anderen versagen daran, und gleichwohl ist eine schlichte bertragung dieser Fusion auf andere sozialstrukturelle und so-ziokulturelle Phnomene in Einwanderungsgesellschaften nicht mglich. Das Besondere ist eben die popkulturelle Ebene, die ber Kontinente hin-weg reicht und dank der digitalen Informations- und Kommunikationstech-nologie ihr volles Potential entfalten kann.

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  • 6

    DanksagungDie Autoren und Autorinnen dieses Bandes sind so vielfltig wie das Phno-men, ber das sie schreiben: eher theoretisch-konzeptionell orientierte Kul-turwissenschaftler, haupt- und nebenberufliche Praktiker, die Global Pop begleiten und frdern, Musik- und Kulturjournalistinnen, die ber Akteure, Kontexte und Entwicklungen berichten und nachdenken, die vor allem in Richtung der Weltmusik 2.0 gehen. Wir danken allen fr die Bereitschaft, ihre Expertise in dieses Vorhaben einzubringen.

    Den Autoren und Autorinnen danken wir ebenso wie all jenen, die uns bei der Konzipierung und Ausfhrung des Bandes kritisch-konstruktiv un-tersttzt haben, vor allem Daniel Bax, Wolfgang Bender, Birgit Ellinghaus, Christoph Jacke und Peter Kemper. In einem vorbereitenden Workshop, den die Bundeszentrale fr Politische Bildung hilfreich untersttzte, berieten uns darber hinaus Theresa Beyer (Norient, Zrich), Jay Rutledge (outhere records), Francis Gay (WDR), Johannes Theurer, Ex-Radio-Multikulti (jetzt European Broadcasting Union), Detlef Diederichsen (Haus der Kulturen der Welt, Berlin). Eine groe Hilfe bei der Fertigstellung des Bandes waren Ina Dabach und Sebastian Sponheuer. Zu danken ist schlielich wie immer dem Kulturwissenschaftlichen Institut, in dessen kreativer Atmosphre auch akademisch unbliche Projekte wie dieses gedeihen knnen.

    Einleitung

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  • I. Konzepte und Anschlsse

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    1 Weltmusikk: Ein politisch umstrittener Begriff

    Glaucia Peres da Silva

    01 Weltmusik: Ein politisch umstrittener BegriffSeit Beginn des 20. Jahrhunderts sind die Begriffe World Music, Weltmu-sik und Musique du Monde in Presse und Fachliteratur zu finden. Erstmals genutzt wurde der Begriff Weltmusik im Jahr 1906, als der Musikologe Ge-org Capellen an der Unerschpflichkeit europischer Melodie, Tonalitt und Rhythmik zweifelte und nach neuen Quellen zur Belebung der kre-ativen Vorstellungskraft (Franzen 2005, 738) auerhalb Europas suchte. Welt musik als neuer Stil sollte so viel als mglich die exotischen Eigenhei-ten reflektieren, ohne dabei die europischen Grundlagen zu verlieren (ebd.). Seitdem prgt die Gegenberstellung des Westens mit dem Rest der Welt die Idee von Weltmusik grundstzlich. Trotz seiner langen Geschich-te wurde der Begriff erst ab den 1970er Jahren hufiger verwendet. Dabei kam die Wahrnehmung der Weltmusik als Teil der Globalisierungsprozes-se hinzu, die als homogenisierende Kraft oder als Mglichkeit fr kulturel-le Vielfalt verstanden wurden. Diese Gegenstze wurden je nach Epoche und Zusammenhang in der Definition von Weltmusik unterschiedlich ge - wichtet.

    Das Verstndnis von Globalisierung als Langzeitprozess prgt die Inter-pretation von Weltmusik in der Musikwissenschaft. Im Bereich Neue Mu-sik definiert Stockhausen (1978) Weltmusik als Erdkultur das Neue, das sich aus der schnellen Auflsung individueller Kulturen und ihrer einheit-lichen Verwandlung ergibt und in der Avantgardemusik zu erahnen ist. Im Vergleich zu der klassischen Musik des 18. Jahrhunderts, die in Zusammen-hang mit dem kapitalistischen Markt in Europa entstand, konzipiert Ling (2003) Weltmusik als erste Stufe eines Wandlungsprozesses des Musikbe-griffs im 20. Jahrhundert, der in einem direkten Zusammenhang mit der Entstehung der globalen konomie steht. Eine hnliche Auffassung vertritt Berendt (1985) in Bezug auf den Bebop von Yusef Lateef, John Coltrane, Don Cherry und Tony Scott im Jazzbereich. Fr ihn ist Weltmusik eine Entde-ckungsreise der Gemeinsamkeiten aller Menschen und ein musikalischer Entwurf einer sozialen Utopie ber das Zusammenleben auf der Erde. Die-se optimistischen Blicke auf Weltmusik wurden jedoch vielfach kritisiert.

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  • 1

    I. Konzepte und Anschlsse

    Sowohl die disziplinre Perspektive als auch die Konzeption von Globalisie-rung wurden in Frage gestellt. Themen wie Macht und Exotismus gewan-nen dabei an Bedeutung.

    Eine Frage von MachtFr viele steht Weltmusik im Kontext der Machtungleichheit, vor allem zwischen dem Westen und dem Rest der Welt. Die vermischten Kulturen in Weltmusik-Projekten werden im Westen aneignet und von dem Nicht-West-lichen enteignet, sodass Flle von Ausbeutung zu erkennen sind. Deutlich wird das in Fragen des Urheberrechts. Kompositionen oder Performances von nicht-westlichen Musikern werden oft nicht anerkannt oder entspre-chend den internationalen Abkommen nicht vergtet. Auerdem wird der ungleiche Zugang zur Aufnahmetechnik in Tonstudios debattiert. In sol-chen Projekten liefert die Dritte Welt die Rohstoffe, whrend der westli-che Partner die Produktionsprozesse kontrolliert. Hinzu kommt, dass der Vertrieb des Endprodukts in westlichen Hnden liegt. Aus diesen Grnden weisen diese Projekte auf eine unreflektierte Reproduktion von kolonialen Verhltnissen hin. Dies ist auch in den Kompositionsprozessen selbst zu fin-den. Dabei werden Klischees anderer Kulturen benutzt, um eine exotische Musik zu produzieren, die auch als exotisch konsumiert wird.

    Um eine Alternative zu Weltmusik zu finden, betrachtet Gruntz (1983) sie als eine Form von interkultureller Kommunikation durch die universelle Sprache der Musik, die im Jazz bereits praktiziert wird. Autoren der Cultu-ral Studies und auch der Postcolonial Studies ziehen hingegen vor, den Ein-fluss von internationalen Institutionen, Techniken, multinationalem Ka-pital sowie globalen Popnormen und -werten auf die populre Musik aller Lnder der Welt zu untersuchen. In Zusammenhang mit Argumenten der Kulturimperialismusdebatte stellen diese Autoren fest, dass die Musik im Zentrum der Unterhaltungsindustrie uniform wird, whrend die Klnge der Peripherie vielfltig werden. Weltmusik wird hiernach als nicht-westli-che Musik betrachtet, die als ein erfolgreiches Popgenre fr westliche Kon-sumenten dargestellt und im Sinne von kultureller Integritt in Gegensatz zu musikindustriellen Marktkrften diskutiert wird.

    In der Musikethnologie (s. Kap. 4) liegt die Machtfrage in der Anwendung des Musikbegriffs der europischen Kunstmusik auf alle klanglichen Ph-nomene der Welt. In Abgrenzung dazu stellen die Musikethnologen den Be-griff von Weltmusik. Ausgehend von den Reaktionen nicht-westlicher Kul-turen auf die Ankunft des Westens entwickelte sich eine Debatte, ob die im Begriff der Weltmusik enthaltene Spaltung zwischen dem Westen und

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  • 11

    1 Weltmusikk: Ein politisch umstrittener Begriff

    den nicht-westlichen Kulturen ein besonderer theoretischer Fall sei. Dabei gab es Bemhungen, die alten, vom Aussterben bedrohten Traditionen von der neuen Fusion Music der tatschlichen Weltmusik zu unterscheiden. Es wurde betont, dass kommerzielle Konzerte keine Grundlage fr einen sinnvollen Dialog zwischen Kulturen bilden, der eher ernste Erforschung voraussetzt. Aus diesen Debatten entstand eine ausgearbeitete Definition von Weltmusik als Forschungsgegenstand der Musikethnologie, die sich auf die Vernderung der alten Traditionen bezieht, wobei sie mit einer dnnen Schicht an Neuem berzogen und damit vielfltiger wurde.

    Die Spannungen zwischen Wissenschaft und dem Musikmarkt

    In den wissenschaftlichen Debatten wurde schnell deutlich, dass Weltmu-sik nicht nur ein Fachbegriff ist, denn der Musikmarkt benutzt sie auch als Kategorie fr die Einordnung von Repertoire. Aus diesem Grund erweiter-te sich der Umfang der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Welt-musik, um diese Komplexitt zu erfassen. In den Cultural Studies wurde das Marktphnomen der Weltmusik als Folge der Rock-Ideologie betrach-tet, denn Werte wie Unmittelbarkeit, Wahrheit und Community, die im Rock als verloren galten, sind in der Weltmusik wiederzuerkennen. Beson-ders in Grobritannien bedeutete Weltmusik eine Rckkehr zu den roots in der Tradition der Romantik, die trotz der Zunahme des musikalischen Kon-takts mit dem westlichen Anderen die Perspektive der ersten Welt beibe-hielt. Das Authentische ersetzte nun im Diskurs das, was davor als exotisch beschrieben wurde.

    In der Musikethnologie rckte die Aneignung nicht-westlicher Kultu-ren durch die Kulturindustrie ins Zentrum der Debatte, die damit wahr-nehmbare Andersartigkeit zu schaffen versuchte. Im Fokus stand dabei der doppelte Charakter der musikalischen Aneignung als Quelle von Kreativi-tt und von Machtasymmetrie in der Zusammenarbeit von westlichen Pop-stars mit nicht-westlichen Musikern, die ab den 1980er Jahren exponentiell wuchs. In diesem Rahmen wurde eine Unterscheidung zwischen World Mu-sic als Entwicklung lokaler Musiken und World Beat als Synthese verschie-dener Kulturen angestrebt, obwohl diese Begriffe auf dem Musikmarkt sy-nonym verwendet werden. Einige Autoren verstehen auch beide Begriffe als Synonym, stellen aber fest, dass World Music eher in Europa und World Beat eher in den USA verwendet wird. Beide werden von anderen Autoren als eine neue, fr die Konsumgesellschaft typische sthetik des Pastiche

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    I. Konzepte und Anschlsse

    betrachtet, die sich aus der Vernderung der technologischen Bedingungen und der sthetischen Formen der Musikproduktion ergibt. Diese sthetik bietet die Ideologie einer globalen kumene (Erlmann 1995, 7) und vereint die Prinzipien der Homogenisierung und der Diversitt.

    Guilbault (1996) interpretiert das Marktphnomen als eine Orientie-rung der Musikindustrie an der musikethnologisch geprgten Perspekti-ve. Auf dem Markt werden unter Weltmusik meistens Musiken verstanden, die nichtnordwesteuropischen bzw. nichtnordamerikanischen Ursprungs sind, exotisch im Sinne des Ungewhnlichen, sinnlich in Bezug auf ihre Tanzbarkeit, mystisch bezglich ihrer Philosophie, anziehend und doch nicht gleichwertig oder wert, dokumentiert zu werden. Demgegenber de-finiert Guilbault Weltmusik als eine Vereinigung mehrdeutiger Referenzen und vielfltiger Bedeutungen der populren Musik, die lokale und globale Aspekte kombiniert und auf dem transnationalen Musikmarkt kommerzi-alisiert. Als Folge bedeutet Weltmusik eine Herausforderung fr das Publi-kum und fr die Machthaber, denn sie bietet die Chance, andere Kulturen besser zu verstehen, anzuerkennen und als Teil der Welt zu akzeptieren.

    Der Widerspruch zwischen dem kleinen Marktanteil der Weltmusik und seiner zunehmenden Sichtbarkeit fhrte Taylor (1997) dazu, eine Ethnogra-phie der Globalisierung durchzufhren, um eine Theorie der Weltmusik zu entwickeln. Die Kluft zwischen dem Westen und dem Rest verbindet sich fr ihn mit der Natur des Kapitalismus, sodass Weltmusik eine instabile Ka-tegorie wird. Ihre hybride Authentizitt stellt westliche Musiker nicht-west-lichen Akteuren gegenber und braucht Musikethnologen als Vermittler zwischen lokalen und globalen Kulturen, um letztendlich eine eher nord-amerikanisch klingende Weltmusik zu produzieren.

    Laut Feld (2000) hat dieser stetige Austausch mit dem Markt zur Folge, dass nun zwei konkurrierende Auffassungen von Weltmusik existieren: eine politisch motivierte Perspektive, die sich auf demokratische Postula-te sttzt, und eine konomische, die sich in globalwirtschaftlichen Zusam-menhngen verankert und mit der Suche nach neuen Mrkten verbindet. Dabei wurden die Dokumentationsprojekte der Musikethnologen eigent-lich als Sinnbild musikalischer Vielfalt gedacht zum Rohmaterial des in-dustrialisierten Neokolonialismus.

    KritikNeue Blicke auf Weltmusik versuchten diese Gegenberstellung zwischen Wissenschaft und Markt zu berwinden, um ihre sozialen Dynamiken zu erhellen. Die ersten Reaktionen kamen von den Popular Music Studies, ei-

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