16
Die Bedeutung öffentlicher Geschichtsdebatten für die Entwick- lung der Erinnerungskultur ist unstrittig, auch wenn sie selten zum wissenschaftlichen Erkenntnisfortschritt beitragen. 1 Die Debatte vom Sommer 2002 in Rostock legte Probleme im Umgang mit der NS-Geschichte offen, stellte die Frage, wie wir uns der NS-Vergan- genheit erinnern. Im öffentlichen Streit wurden die Defizite in der Forschung und Bildungsarbeit offenbar, aber auch die Erinnerungs- strategien unterschiedlicher Gruppen. Die Historiker sollten ihre Au- gen nicht davor verschließen, dass gerade die Zeitgeschichte außer- wissenschaftlichen Ansprüchen und Interessen ausgesetzt ist. Auch dafür gibt es am Rostocker Beispiel mehrere Belege. Einsprüche der Zeitzeugen und Fragen nach der kollektiven Identität machen aus diesen Geschichtsdebatten immer auch öffentliche Diskurse, die ganz eigenen Entwicklungen folgen. Als Mitglied der Geschichts- werkstatt Rostock e. V. war ich an der sehr emotional geführten De- batte beteiligt, was eine rückblickende Reflexion nicht ganz einfach macht. Dennoch werde ich mich um eine notwendige Distanz und ausgewogene Betrachtung bemühen. 1. Zum historischen Geschehen. Die Entscheidung der NS-Führung zum Aufbau einer Luftwaffe bedeutete für die beiden Rostocker Produk- tionsstandorte Heinkel und Arado eine bisher unvorstellbare Aus- weitung ihrer Kapazitäten ab 1933. Diese staatlich induzierte Indu- strialisierung veränderte die Stadt einschneidend 2 . Allerdings führte die Aufrüstung in einen Krieg, der Völkermord, Massenverbrechen, unsägliches Leid und weitflächige Zerstörungen, darunter auch in der Stadt Rostock, zur Folge hatte. Auf einige Aspekte der lokalen Entwicklung soll im Folgenden zum Verständnis der späteren Ge- schichtsdebatte verwiesen werden. Der aus einer württembergischen Handwerkerfamilie stammen- de Ernst Heinkel wurde 1888 geboren und begann als technischer Autodidakt in der jungen Flugzeugindustrie zu arbeiten. 3 Zwischen 1914 und 1919 war er technischer Direktor der Brandenburgischen Flugzeugwerke. 1922 gründete Heinkel sein eigenes Unternehmen in Rostock-Warnemünde, das sich durch ein hohes Entwicklungs- tempo, zahlreiche technische Neuerungen und vielfältige Ausland- saktivitäten auszeichnete. Mit seinen Exportgeschäften gelang es Heinkel, die Wirtschaftskrise relativ unbeschadet zu überstehen. 1933 beschäftigte das Unternehmen ungefähr 400 Arbeiter und An- gestellte. „Auf der grünen Wiese“ ließ Heinkel das neue Stammwerk in Rostock-Marienehe errichten. Die He 111 wurde der Standard- bomber der deutschen Luftwaffe und in großen Stückzahlen gebaut. Bis Kriegsbeginn stieg die Zahl der Beschäftigten auf etwa 18500 Menschen, die seit 1937 auch im Werk Oranienburg arbeiteten. Während des Krieges expandierte das Unternehmen weiter, Produk- tionsstätten in Polen, Österreich und Südwestdeutschland kamen hinzu. Mitte 1944 beschäftigte der mittlerweile zur Ernst-Heinkel- AG fusionierte Konzern über 50000 Beschäftigte, davon annähernd 15000 am Rostocker Standort, dem Sitz des Stammwerks. Vor die- Andreas Wagner: Der Streit um die Geschichte der Heinkel- Flugzeugwerke in Rostock Zum Verhältnis einer ostdeutschen Großstadt zu ihrer NS-Vergangenheit 1 Vgl. Sabrow, Martin/Jessen, Ralph/ Große Kracht, Klaus, Zeitgeschichte als Streitgeschichte. Große Kontroversen seit 1945, München 2003. 2 Aktueller Überblick in: Schröder, Karsten (Hrg.), In deinen Mauern herrsche Ein- tracht und allgemeines Wohlergehen. Eine Geschichte der Stadt Rostock von ihren Ur- sprüngen bis zum Jahre 1990, Rostock 2003, S. 213 ff. 3 Vgl. Erker, Paul, Ernst Heinkel: Die Luft- fahrtindustrie im Spannungsfeld von tech- nologischem Wandel und politischem Um- bruch, in: Erker, Paul/Pierenkemper, Toni (Hrg.), Deutsche Unternehmer zwischen Kriegswirtschaft und Wiederaufbau, München 1999, S. 217-290. Andreas Wagner Der Streit um die Geschichte der Heinkelwerke in Rostock 235 09 Wagner 24.08.2006 22:19 Uhr Seite 235

04 Wieske - Beirat für Geschichte: Startseite...Title: 04 Wieske Author: Michael Plata Created Date: 8/24/2006 10:19:28 PM

  • Upload
    others

  • View
    0

  • Download
    0

Embed Size (px)

Citation preview

Page 1: 04 Wieske - Beirat für Geschichte: Startseite...Title: 04 Wieske Author: Michael Plata Created Date: 8/24/2006 10:19:28 PM

Die Bedeutung öffentlicher Geschichtsdebatten für die Entwick-lung der Erinnerungskultur ist unstrittig, auch wenn sie selten zumwissenschaftlichen Erkenntnisfortschritt beitragen.1 Die Debattevom Sommer 2002 in Rostock legte Probleme im Umgang mit derNS-Geschichte offen, stellte die Frage, wie wir uns der NS-Vergan-genheit erinnern. Im öffentlichen Streit wurden die Defizite in derForschung und Bildungsarbeit offenbar, aber auch die Erinnerungs-strategien unterschiedlicher Gruppen. Die Historiker sollten ihre Au-gen nicht davor verschließen, dass gerade die Zeitgeschichte außer-wissenschaftlichen Ansprüchen und Interessen ausgesetzt ist. Auchdafür gibt es am Rostocker Beispiel mehrere Belege. Einsprüche derZeitzeugen und Fragen nach der kollektiven Identität machen ausdiesen Geschichtsdebatten immer auch öffentliche Diskurse, dieganz eigenen Entwicklungen folgen. Als Mitglied der Geschichts-werkstatt Rostock e. V. war ich an der sehr emotional geführten De-batte beteiligt, was eine rückblickende Reflexion nicht ganz einfachmacht. Dennoch werde ich mich um eine notwendige Distanz undausgewogene Betrachtung bemühen.

1. Zum historischen Geschehen. Die Entscheidung der NS-Führung zumAufbau einer Luftwaffe bedeutete für die beiden Rostocker Produk-tionsstandorte Heinkel und Arado eine bisher unvorstellbare Aus-weitung ihrer Kapazitäten ab 1933. Diese staatlich induzierte Indu-strialisierung veränderte die Stadt einschneidend2. Allerdings führtedie Aufrüstung in einen Krieg, der Völkermord, Massenverbrechen,unsägliches Leid und weitflächige Zerstörungen, darunter auch inder Stadt Rostock, zur Folge hatte. Auf einige Aspekte der lokalenEntwicklung soll im Folgenden zum Verständnis der späteren Ge-schichtsdebatte verwiesen werden.

Der aus einer württembergischen Handwerkerfamilie stammen-de Ernst Heinkel wurde 1888 geboren und begann als technischerAutodidakt in der jungen Flugzeugindustrie zu arbeiten.3 Zwischen1914 und 1919 war er technischer Direktor der BrandenburgischenFlugzeugwerke. 1922 gründete Heinkel sein eigenes Unternehmenin Rostock-Warnemünde, das sich durch ein hohes Entwicklungs-tempo, zahlreiche technische Neuerungen und vielfältige Ausland-saktivitäten auszeichnete. Mit seinen Exportgeschäften gelang esHeinkel, die Wirtschaftskrise relativ unbeschadet zu überstehen.1933 beschäftigte das Unternehmen ungefähr 400 Arbeiter und An-gestellte. „Auf der grünen Wiese“ ließ Heinkel das neue Stammwerkin Rostock-Marienehe errichten. Die He 111 wurde der Standard-bomber der deutschen Luftwaffe und in großen Stückzahlen gebaut.Bis Kriegsbeginn stieg die Zahl der Beschäftigten auf etwa 18500Menschen, die seit 1937 auch im Werk Oranienburg arbeiteten.Während des Krieges expandierte das Unternehmen weiter, Produk-tionsstätten in Polen, Österreich und Südwestdeutschland kamenhinzu. Mitte 1944 beschäftigte der mittlerweile zur Ernst-Heinkel-AG fusionierte Konzern über 50000 Beschäftigte, davon annähernd15000 am Rostocker Standort, dem Sitz des Stammwerks. Vor die-

Andreas Wagner:Der Streit um die Geschichteder Heinkel-Flugzeugwerke in RostockZum Verhältnis einer ostdeutschen Großstadt zu ihrer NS-Vergangenheit

1 Vgl. Sabrow, Martin/Jessen, Ralph/Große Kracht, Klaus, Zeitgeschichte alsStreitgeschichte. Große Kontroversen seit1945, München 2003.2 Aktueller Überblick in: Schröder, Karsten(Hrg.), In deinen Mauern herrsche Ein-tracht und allgemeines Wohlergehen. EineGeschichte der Stadt Rostock von ihren Ur-sprüngen bis zum Jahre 1990, Rostock2003, S. 213 ff.3 Vgl. Erker, Paul, Ernst Heinkel: Die Luft-fahrtindustrie im Spannungsfeld von tech-nologischem Wandel und politischem Um-bruch, in: Erker, Paul/Pierenkemper, Toni(Hrg.), Deutsche Unternehmer zwischenKriegswirtschaft und Wiederaufbau,München 1999, S. 217-290.

Andreas Wagner Der Streit um die Geschichte der Heinkelwerke in Rostock 235

09 Wagner 24.08.2006 22:19 Uhr Seite 235

Page 2: 04 Wieske - Beirat für Geschichte: Startseite...Title: 04 Wieske Author: Michael Plata Created Date: 8/24/2006 10:19:28 PM

ser Entwicklung gerät häufig aus dem Blick, dass in Rostock-War-nemünde ein wichtiges Zweigwerk der Arado-Flugzeugwerke pro-duzierte, die 1937/38 etwa 3500 Arbeitskräfte beschäftigten.

Der atemberaubende Aufstieg der Flugzeugindustrie verändertedie regionale und lokale Wirtschafts- und Sozialstruktur einschnei-dend. Historiker haben auf die „Industrialisierung der Provinz“ ver-wiesen, von einer durch die Rüstungs- und Kriegswirtschaft voran-getriebenen Umschichtung zwischen den alten und neuen Industrie-standorten.4 Die Entscheidung, die neuen Flugzeugindustrien ingrenzfernen Gebieten aufzubauen, brachte Mecklenburg und derStadt Rostock einen bisher ungeahnten industriellen Entwicklungs-schub, der nach dem krisenhaften Niedergang traditioneller Unter-nehmen wie der Werft- oder der Fahrzeugindustrie in der WeimarerRepublik umso deutlicher erstrahlte. 1937 beschäftigten die Flug-zeugwerke in Mecklenburg 18502 Beschäftigte, das waren 30 Pro-zent aller Beschäftigten in der regionalen Industrie. Rostock ent-wickelte sich zu einem überregionalen Zielpunkt von Arbeitskräfte-migration. Das blieb nicht ohne Auswirkungen: Rostock wurde1935 Großstadt, neue Stadtteile mit Infrastruktur entstanden, überre-gionale Aufmerksamkeit richtete sich auf die Stadt. Facharbeiter ausden alten Industrieregionen fanden hier Beschäftigung, wurden aberauch aus ihren alten Milieus herausgelöst und in ein neues, vonTechnikbegeisterung und NS-Ideologie geprägtes Lebensumfeld in-tegriert.

Mit dem Ausbau der Flugzeugindustrie kam eine hochmoderneIndustrie nach Rostock, in der Wissenschaft und technische Innova-

Verwaltungsgebäude der Ernst-Heinkel-Flugzeugwerke in Rostock-Marienehe.(Foto abgedruckt in: Heinkel Werkzeitung.Nummer 1, Januar 1938, S. 19.)

4 Vgl. Mooser, Josef, Einleitung und Aus-wertung: Kontinuität und Diskontinuität inder Arbeitergeschichte des 20. Jahrhun-derts, in: Tenfelde, Klaus, Arbeiter im20. Jahrhundert, Stuttgart 1991, S. 655.

Andreas Wagner Der Streit um die Geschichte der Heinkelwerke in Rostock236

09 Wagner 24.08.2006 22:19 Uhr Seite 236

Page 3: 04 Wieske - Beirat für Geschichte: Startseite...Title: 04 Wieske Author: Michael Plata Created Date: 8/24/2006 10:19:28 PM

tion eine zentrale Rolle spielten und nach fortgeschrittenen Ferti-gungsmethoden produziert wurde. Die Entwicklung des Strahltrieb-werks, des Schleudersitzes oder verschiedene fertigungstechnischeNeuerungen legen davon eindrucksvoll Zeugnis ab. Der Anteil derFacharbeitskräfte war hoch, das Lohnniveau in der Flugzeugindu-strie lag weit über dem Durchschnitt, zumal in einem Niedriglohn-gebiet wie Mecklenburg. Hinzu kam eine umfassende betrieblicheSozialpolitik, die bisherige Risikolagen absicherte und Bestandteilder Personal- und Lohnpolitik des Unternehmens war. Viele Maß-nahmen förderten Berufsstolz und Elitebewusstsein unter der Beleg-schaft der Heinkel-Flugzeugwerke.5

Während des Krieges war der Produktionsumfang nur durch denEinsatz ausländischer Arbeitskräfte aufrecht zu erhalten. Der vonHeinkel verfolgte Expansionskurs zwang das Unternehmen in eineKomplizenschaft mit dem NS-Regime, um durch immer neue Ent-wicklungen und Aufträge die Auslastung der umfangreichen Kapa-zitäten zu sichern. Das Scheitern dieser Unternehmensstrategie zö-gerte der Krieg hinaus. Heinkel ging schnell und skrupellos auf dasAngebot zum Einsatz von Zwangsarbeitern und KZ-Häftlingen ein,ja die Umwandlung des Oranienburger Werkes zu einem „KZ-Werk“ trug Vorbildcharakter für ähnliche Industrieprojekte. Annahezu allen Produktionsstandorten der Heinkel-Flugzeugwerkewurden im unterschiedlichen Ausmaß KZ-Häftlinge zur Zwangsar-beit eingesetzt.

Die Entwicklung Rostocks zu einem Schwerpunkt der Luft-kriegsrüstung rückte die Stadt in das Visier der alliierten Luftkriegs-führung. Zwei Momente verbanden sich in der Entscheidung für denverhängnisvollen britischen Luftangriff auf Rostock vom April1942: die Stadt als ein geeignetes Ziel für die neue Flächenangriffs-strategie und die überregionale Bedeutung der Flugzeugproduktionbei Heinkel in Marienehe und Arado in Warnemünde. Eine Folgedieses Angriffs war die weitflächige Zerstörung des historischenStadtkerns.

Die Geschichte der Rostocker Heinkel-Werke endete mit demSieg der Alliierten über den Hitlerfaschismus und der Besetzung Ro-stocks durch die Rote Armee am 1. Mai 1945. Die Reste des Werkesin Marienehe wurden demontiert. Eine Auseinandersetzung mit derregionalen Geschichte der Flugzeugindustrie und ihren Folgen fürdie Stadt fand im Geschichtskanon des DDR-Antifaschismus keinenPlatz. Sichtbare Spuren dieser Vergangenheit verschwanden fastvollständig. Auf dem Gelände der Arado-Flugzeugwerke baute mandie Warnow-Werft, in Marienehe entstanden der Fischereihafen unddas Fischverarbeitungswerk. Übrig blieben die zahlreichen Fach-arbeitskräfte, die häufig in der entstehenden Werftindustrie und denZulieferbetrieben Beschäftigung fanden. Wir wissen heute kaum et-was darüber, wie die ehemaligen Flugzeugbauer ihre Erfahrungenund ihr erworbenes Wissen aus der Zeit vor 1945 in die Zeit danacheingebracht haben, welche Anknüpfungspunkte sie dafür in Arbeitund Freizeit fanden.6 Auf jeden Fall spielten die ehemals bei Heinkel

Heinkel He 111 beim Verlassen der Mon-tagehalle der Ernst-Heinkel-Flugzeugwerkein Rostock-Marienehe. (Foto abgedrucktbei: Fritz Kleinert: Werkpiloten. Einfliegerund Versuchsingenieure berichten. Berlin1941.)

5 Stutz, Reno, Zur Lage der Arbeiter in denRostocker Ernst-Heinkel-Flugzeug-Werkenwährend des Zweiten Weltkrieges, in:Pelc, Ortwin (Hrg.), 777 Jahre Rostock.Neue Beiträge zur Stadtgeschichte, Ro-stock 1995, S. 245-252.6 Erstaunlich, dass auch neuere Untersu-chungen zur Arbeitergeschichte daraufnicht Bezug nehmen: Alheit, Peter/Haack, Hanna, Die vergessene Autonomieder Arbeiter. Eine Studie zum frühen Schei-tern der DDR am Beispiel der Neptunwerft,Berlin 2004.

Andreas Wagner Der Streit um die Geschichte der Heinkelwerke in Rostock 237

09 Wagner 24.08.2006 22:19 Uhr Seite 237

Page 4: 04 Wieske - Beirat für Geschichte: Startseite...Title: 04 Wieske Author: Michael Plata Created Date: 8/24/2006 10:19:28 PM

oder Arado beschäftigten Fachleute auf den Werften und in der inge-nieurtechnischen Ausbildung an der Universität Rostock eine wich-tige Rolle, hielten Leitungspositionen (Werftdirektor Kurt Dunkel-mann) oder Lehrstühle (Prof. Otto Köhler) inne und bildeten nach-folgende Generationen aus.

2. Der Streit um die Erinnerung. Anlässe für eine öffentliche Debatte umdie Geschichte der Rostocker Flugzeugindustrie boten sich seit demEnde der DDR viele, ja eine öffentliche Auseinandersetzung wurdemit dem Sturz der SED-Herrschaft überhaupt erst möglich, war dochder Blick auf die NS-Vergangenheit bis 1989 weitestgehend durchden DDR-Antifaschismus und seine Faschismus-Interpretation be-stimmt. Erst in den 1980er Jahren begannen Historikerinnen und Hi-storiker vorsichtig neue Fragen an die lokale NS-Geschichte zu stel-len. Untersuchungen zu jüdischen Opfern, zu vergessenen Wider-standskämpfern, zum Lebensalltag der Rostocker während des Krie-ges und zu den Ernst-Heinkel-Flugzeugwerken entstanden.7 Mit derfriedlichen Revolution im Herbst 1989 rückte die Beschäftigung mitder Geschichte nach 1945 in den Mittelpunkt des Interesses, die öf-fentliche Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit in Rostocktrat zurück: Zeitgeschichtliche Ausstellungen in den städtischen Mu-seen gab es kaum, die historischen Vereine in der Stadt beschränktensich auf ihr jeweiliges Spezialgebiet, universitäre Forschung zur lo-kalen NS-Geschichte fand seit Anfang der 1990er Jahre nicht mehrstatt.

Doch begann sich seit Mitte der 1990er Jahre eine lokale Kontro-verse zum angemessenen Umgang mit der NS-Vergangenheit abzu-zeichnen. Bereits Anfang der 1990er Jahre fanden sich Luftfahrtbe-geisterte zusammen, die nach dem Ende der DDR zu einer Erfor-schung und öffentlichen Wahrnehmung der technischen Errungen-schaften des Flugzeugbaus in Mecklenburg beitragen wollten. Dafürsollten öffentliche Zeichen gesetzt und historische Überreste derFlugzeugbaugeschichte in Rostock gesichert werden. Während derAbrissarbeiten auf dem ehemaligen Neptunwerftgelände stellte derspätere Förderkreis für Luft- und Raumfahrt Mecklenburg-Vorpom-mern e. V. 1993 einen Antrag auf Unterschutzstellung einer Gebäu-dewand an der Lübecker Straße. Diese 1934 vom Rostocker Archi-tekten Heinrich Alt entworfene frei stehende 85 Meter lange und ur-sprünglich elf Meter hohe Schauwand verdeckte die Sicht auf dahin-ter liegende ältere Produktionshallen. Dort produzierten die Ernst-Heinkel-Flugzeugwerke Tragflächen, die zur Endmontage in dasStammwerk nach Marienehe kamen. 1994 erneuerte der Verein denAntrag auf Unterschutzstellung für „den letzten Rest der Heinkel-werke“, 1995 wurde im Einvernehmen mit dem Landesamt fürDenkmalpflege dieses Objekt als Beispiel moderner Industriearchi-tektur auf die Denkmalliste gesetzt. Unerwarteter Widerspruch kamvom Eigentümer, der damaligen TLG, deren Rostocker Verwaltung-schef, Eberhard Schmidt, sich öffentlich gegen den Erhalt des„Nazi-Schandmals“ aussprach, jedoch eher wohl die Vermarktungs-

7 Für unser Thema wichtig: Koos, Volker,Zur Geschichte des Flugzeugbaus in Meck-lenburg. Die Entwicklung des ersten Strahl-flugzeuges He 178, in: Rostocker Wissen-schaftshistorische Manuskripte, Heft 13,Rostock 1986, S. 64-69; Wendt, Inge, ZurEntwicklung der Stadt Rostock im zweitenWeltkrieg 1939 bis 1945, Diss. Rostock1989.

Andreas Wagner Der Streit um die Geschichte der Heinkelwerke in Rostock238

09 Wagner 24.08.2006 22:19 Uhr Seite 238

Page 5: 04 Wieske - Beirat für Geschichte: Startseite...Title: 04 Wieske Author: Michael Plata Created Date: 8/24/2006 10:19:28 PM

chancen der Fläche gefährdet sah. Die Auseinandersetzung um denErhalt der „Heinkelwand“ beschäftigten die Presse und die kommu-nale Verwaltung, letztlich konnte sich die Denkmalpflege durchset-zen und der Abriss unterblieb. Unklar blieb allerdings, was zukünf-tig mit dem Denkmal geschehen sollte. Der Förderkreis initiiertePlanungen zum Bau eines Landesluftfahrtmuseums, in das die Wandintegriert werden sollte. Von der Öffentlichkeit relativ unbemerkthatte der Förderkreis am 27. August 1995 einen Gedenkstein zur Er-innerung an den ersten erfolgreichen Start eines Strahltriebwerk-flugzeugs, die He 178, eingeweiht. Kritische Fragen zum Inschrif-tentext wehrten die Organisatoren ab. Man verwies darauf, dass derStein als Privatinitiative auf einem privaten Firmengelände aufge-stellt würde, welches sich auf dem Gelände des ehemaligen Werk-flugplatzes der Heinkelwerke in Rostock-Marienehe befindet. DieInschrift lautet: „27. August 1939/ Start des ersten Strahlflugzeugsder Welt/ der He 178, entwickelt in den/ Ernst-Heinkel-Flugzeug-werken Rostock/ mit dem Hans v. Ohain Triebwerk He S 3b“.„Heinkelwand“ und Gedenkstein verweisen auf ein Dilemma in Ro-stock: Die Auseinandersetzung mit der Geschichte der Flugzeugin-dustrie muss weitgehend ohne bauliche Überreste auskommen.

Bis dahin war die Diskussion auf einen engen Fachkreis oder aufbenachbarte Fragen, wie den Stellenwert der Denkmalpflege, be-schränkt geblieben. Die Situation veränderte sich mit einem Ausstel-lungsprojekt, das unter Federführung des Förderkreises für Luft-und Raumfahrt M-V e. V. Ende 2001 in Angriff genommen wurde.Anlässlich des überregional bedeutsamen Seglertreffens Hanse Sailim Sommer 2002 plante der Verein eine Ausstellung über die Hein-kel-Flugzeugwerke, um auf die Gründung des Unternehmens vor 80Jahren hinzuweisen und den technischen Leistungen der Flugzeug-bauer, allen voran Ernst Heinkel, ihren Respekt zu erweisen. EinSymposium sollte die Ausstellung begleiten. Elf Vereine und städti-sche Einrichtungen konnten zur Mitarbeit gewonnen werden. Auchdie Geschichtswerkstatt Rostock e. V. wurde angesprochen und zurÜbernahme des Kapitels Zwangsarbeit bei Heinkel gebeten. Nachintensiver Diskussion im Vereinsvorstand sagten wir unsere Teilnah-me ab, weil uns die personellen Kräfte für notwendige Recherchenund eine konzeptionelle Grundlage für die Ausstellung fehlten.8

Die Ausstellung sahen während der Hanse Sail vom 8. bis11. August 2002 auf Hohe Düne 1500 Besucher, der Wirtschaftmini-ster von Mecklenburg-Vorpommern und der Finanzsenator der StadtRostock traten auf. Nach der Hanse Sail wechselte die Ausstellungin die Halle 535 auf dem ehemaligen Neptunwerftgelände. Inzwi-schen hatten sich die ersten Kritiker gemeldet und die damalige Se-natorin für Jugend, Schule, Kultur und Sport, die parteilose, von derPDS gestützte Ida Schillen, wurde auf die Ausstellung aufmerksam.Sie informierte den Oberbürgermeister am 15. August darüber, dassnach ihrer Ansicht „die Ausstellung geschichtsverfälschend sei undin Teilen auch der Verdacht auf Volksverhetzung nahe liege“. Damitsetzte eine öffentliche Debatte um die Bewertung der Persönlichkeit

8 Einen Überblick zur Debatte und denStandpunkten geben: Zeitgeschichte regio-nal 2002, Heft 2, S. 90-99; Heinkel inRostock: Bestandsaufnahme und Diskussi-on, Rostock 2002.

Andreas Wagner Der Streit um die Geschichte der Heinkelwerke in Rostock 239

09 Wagner 24.08.2006 22:19 Uhr Seite 239

Page 6: 04 Wieske - Beirat für Geschichte: Startseite...Title: 04 Wieske Author: Michael Plata Created Date: 8/24/2006 10:19:28 PM

Beispiele aus der lokalen und regionalenBerichterstattung auf dem Höhepunkt derDiskussion im September 2002.

NNN 5.9. 2002

Warnow Kurier 1.9. 2002

Andreas Wagner Der Streit um die Geschichte der Heinkelwerke in Rostock240

09 Wagner 24.08.2006 22:19 Uhr Seite 240

Page 7: 04 Wieske - Beirat für Geschichte: Startseite...Title: 04 Wieske Author: Michael Plata Created Date: 8/24/2006 10:19:28 PM

Heinkels und seines Unternehmens ein, die mit dem Bürgerschafts-beschluss zur Schließung der Ausstellung eine zusätzliche politischeDynamik erhielt. Anderthalb Monate füllten Stellungnahmen undLeserbriefe die Spalten der lokalen Presse, fanden öffentliche Dis-kussionen statt, die mehrere Hundert Teilnehmende fanden. Die Be-schlussvorlage zur Schließung der Ausstellung in der Bürgerschaftging von der Prämisse aus, dass die Ausstellung mit städtischen Gel-

NNN 21.9. 2002

Ostseezeitung 5.9.2002

Andreas Wagner Der Streit um die Geschichte der Heinkelwerke in Rostock 241

09 Wagner 24.08.2006 22:19 Uhr Seite 241

Page 8: 04 Wieske - Beirat für Geschichte: Startseite...Title: 04 Wieske Author: Michael Plata Created Date: 8/24/2006 10:19:28 PM

dern und unter Beteiligung städtischer Einrichtungen (Hanse Sail-Büro) entwickelt worden war. Abgeordnete befürchteten durch einenicht ausreichend kritische Darstellung Heinkels einen Imagescha-den für die Stadt – der ausländerfeindliche Pogrom in Lichtenhagenlag genau zehn Jahre zurück. So stand die öffentliche Diskussion inder Halle 535 am 29. August völlig im Zeichen der Schließungsde-batte, nicht aber einer inhaltlichen Auseinandersetzung um die in derAusstellung vorgestellten Themen und ihre Präsentation. Am 4. Sep-tember erklärte der Oberbürgermeister, dass die Stadt (wegen derFörderung durch das Hanse Sail-Büro) für die Ausstellung zuständigsei, die Mehrheit der Bürgerschaft aus Bündnis 90, PDS und SPDbeschloss daraufhin die Schließung der Ausstellung. Medienwirk-sam versperrte am 5. September eine Kette den Zugang zur Ausstel-lung, doch bereits am folgenden Tag entschied das Rostocker Amts-gericht, dass diese Entscheidung unzulässig sei und hob dieSchließung auf. Am 9. September öffnete die Ausstellung erneut und1700 BesucherInnen sahen sie bis zum 15. September.

Die Senatorin beauftragte den Bochumer Historiker Dr. Lutz Bu-draß, einen ausgewiesenen Fachmann zur Geschichte der Flugzeug-industrie in der NS-Zeit, mit einem Gutachten über die Ausstellung.Darin benannte er wichtige Kritikpunkte, stellte aber zugleich dieNotwendigkeit der Auseinandersetzung mit dem Thema heraus.Höhepunkt und Abschluss der mittlerweile emotional aufgeladenenDebatte bildete die Podiumsdiskussion einer Lokalzeitung am25. September. Bezeichnend war die Zusammensetzung des Podi-ums, neben zwei Historikern (Dr. Kathrin Möller – TechnischesLandesmuseum, Dr. Volker Koos – Luftfahrthistoriker) diskutiertender Rektor der Universität, der Wirtschaftssenator, der Präsident derIHK, der Geschäftsführer des Flughafens Rostock-Laage, der Präsi-dent des Unternehmerverbandes und zwei weitere Unternehmer.Letztlich ging es auf dieser Veranstaltung eher um die Rolle vonHeinkel für das Stadt-Marketing und nicht um Geschichtsaufarbei-tung. Nach der Podiumsdiskussion hatten sich die Argumente er-schöpft, die Diskussion endete abrupt, so wie sie begonnen hatte.Eine überregionale Resonanz auf die Rostocker Debatte blieb aus.Persönliche Verletzungen beschäftigten die Justiz noch eine Weile.Eine PDS-Abgeordnete wurde aufgefordert, die Fraktion zu verlas-sen und ihr Mandat niederzulegen, woraufhin sie unabhängige Ab-geordnete wurde.

Das Thema hatte sich jedoch nicht erledigt. In der Folgezeitbemühten sich viele an der Diskussion Beteiligte verstärkt um einegrößere Sachlichkeit in der Auseinandersetzung mit diesem Teil derStadtgeschichte. Am 30. November 2002 veranstalteten der Förder-kreis Luft- und Raumfahrt M-V e. V., das Historische Institut derUniversität Rostock und das Ernst-Alban-Institut Rostock e. V. eineKonferenz unter dem Titel „Kriegswirtschaft und Zwangsarbeit inder Rostocker Industrie in der Zeit des Nationalsozialismus“. Am30. März 2003 führte die Geschichtswerkstatt Rostock e. V. eineIdeenwerkstatt unter dem Titel „Wie weiter mit Heinkel ? Ideen-

Andreas Wagner Der Streit um die Geschichte der Heinkelwerke in Rostock242

09 Wagner 24.08.2006 22:19 Uhr Seite 242

Page 9: 04 Wieske - Beirat für Geschichte: Startseite...Title: 04 Wieske Author: Michael Plata Created Date: 8/24/2006 10:19:28 PM

werkstatt zu möglichen Inhalten und Formen der zukünftigen Aus-einandersetzung mit der Geschichte der Heinkel-Flugzeugwerke“durch. In beiden Veranstaltungen kamen alle Seiten zu Wort. Nachlangem politischem Hin und Her berief der Oberbürgermeister derHansestadt Rostock im Juni 2004 eine Expertenkommission, dieEmpfehlungen erarbeiten sollte, „in welcher Weise die Industrie-und Technikgeschichte, vor allem hinsichtlich der Flugzeugindustrieund der Person Ernst Heinkel zur Zeit des Nationalsozialismus auf-gearbeitet und präsentiert werden kann.“ Am 3. Mai 2005 übergabdie Kommission ihre Empfehlungen an den neu gewählten Oberbür-germeister Roland Methling, die neben einer Zusammenfassung desForschungsstandes konkrete Vorschläge für eine Fortsetzung der öf-fentlichen Selbstverständigung der Einwohner der Stadt über diesenTeil ihrer Geschichte enthalten.

3. Positionen aus der Rostocker Debatte. Die Motive zur Teilnahme andem Ausstellungsprojekt „80 Jahre Ernst-Heinkel-Flugzeugwerke“waren sicher sehr unterschiedlich, so different wie die einzelnenAusstellungsabschnitte. Es verband sich der Wunsch, über ein langeverdrängtes Kapitel der Lokalgeschichte zu informieren, mit demBedürfnis, Ernst Heinkel und sein Unternehmen zu würdigen. ImGutachten des Bochumer Historikers Lutz Budraß über die Ausstel-lung heißt es dazu: „Im Zentrum der Ausstellung stehen Tafeln, dieauf eine Selbststilisierung Heinkels zurückgehen, die er schon in dendreißiger Jahren pflegte. Es geht dabei vordergründig um den sozia-len Unternehmer Heinkel, letztlich aber um die Behauptung, er seiunpolitisch gewesen, allein technischen Fragen und dem Wohlerge-hen seiner Arbeiter verpflichtet. Eine ganze Kaskade von bebilder-ten Texten widmet sich diesem Thema: dem Vertrauensrat, dem be-trieblichen Vorschlagswesen, dem Wohnungsbau, der Kantinenver-pflegung, der sozialen Betriebsarbeiterin und, nicht zuletzt, der Aus-bildung zum Metallflugzeugbauer. …Alles steht in Reih und Glied,junge Männer falzen beflissen Aluminiumbleche, Rostock wächst,alle haben einen Ausbildungsplatz und alle haben Arbeit – der Er-fahrung der Gegenwart schroff entgegengesetzt.“9 Die Person ErnstHeinkel, das Unternehmen sowie die technikhistorische Bedeutungder damaligen Arbeit sollte herausgestellt und für eine gegenwärtigeStandortwerbung zur Wiederansiedlung von Flugzeugbau genutztwerden.

Dabei wurden immer wieder Argumentationsmuster bemüht, dieeine kritische Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit umge-hen, die Kritik an diesem politischen System auf bestimmte Aspektewie Zwangsarbeitereinsatz, KZ-Häftlinge oder die verbrecherischeNS-Führungsclique reduzieren und einer isolierten Betrachtung voningenieurtechnischer Innovationen und technische Objekten folgen.Diese Fragmentierung von Geschichte, das Herauslösen von Er-scheinungen, Ereignissen und Prozessen aus dem historischen Kon-text, tauchten sowohl in der Ausstellung als auch in den zahlreichenMeinungsäußerungen immer wieder auf.

9 Budraß, Lutz, Zur Heinkel-Ausstellung,in: Zeitgeschichte regional 2002, Heft 2,S. 93.

Andreas Wagner Der Streit um die Geschichte der Heinkelwerke in Rostock 243

09 Wagner 24.08.2006 22:19 Uhr Seite 243

Page 10: 04 Wieske - Beirat für Geschichte: Startseite...Title: 04 Wieske Author: Michael Plata Created Date: 8/24/2006 10:19:28 PM

Aber nicht nur der kritische Blick auf die städtische Gesellschaftund das Unternehmen wurden in der Ausstellung vermieden, son-dern man betrieb mit unterschiedlichen Argumenten die Entlastungder Verantwortlichen für ihr Handeln während der NS-Herrschaftund des Krieges. Bereits in der Ausstellung wiederholten die Orga-nisatoren die Rechtfertigungen Heinkels, wie er sie in seiner Auto-biographie von 1953 anführte. Zum einen sind es als Widerstands-handeln stilisierte Konflikte mit Nazigrößen, z. B. mit dem mecklen-burgischen Gauleiter Hildebrandt. Zum anderen wird die Fusion derverschiedenen Heinkel-Gesellschaften zur Ernst-Heinkel-AG imJuni 1943 als Entmachtung Heinkels ausgegeben. Und letztlich zi-tierte man das Spruchkammerverfahren von 1948/ 49 als juristischenBeleg für die moralische Entlastung Heinkels.

Hinzu kamen Argumentationen, die nur vor dem Hintergrund derspezifischen DDR-Erfahrung zu erklären sind. Wie auch in manchanderen Geschichtskontroversen in den ostdeutschen Bundesländernscheinen die umstrittenen Personen „eine Projektionsfläche für allediejenigen zu sein, die meinen, unbeschädigt und anständig durchzwei Diktaturen gegangen zu sein, und dabei immer wieder ihre ei-gene Beteiligung verdrängen (oder gegen reale und vermeintlicheVerdienste aufrechnen)“.10 Mancher verweist auf die Zeitverhältnis-se, in denen man sich gar nicht anders verhalten konnte. Das folgen-de Zitat aus der Debatte vereint mehrere dieser Argumente geradezuparadigmatisch: „Mag es einem Normalbürger noch möglich gewe-sen sein, sich angesichts dieser Entwicklung (die NS-Herrschaft, A.W.) in die Anonymität zurückzuziehen, unterzutauchen, die expo-nierte Stellung Ernst Heinkels als Chef eines der größten deutschenUnternehmen des Flugzeugbaus ließ eine solche Handlungsweisekaum zu. Sich dem Nationalsozialismus zu verweigern hätte nichtnur bedeutet, das bisher Erreichte aufs Spiel zu setzen, eine solcheHaltung hätte auch Gefahren für sein Leben und seine Familie mitsich gebracht, gab es doch damals nur drei Alternativen: Emigration,Widerstand und Anpassung. Wie Millionen anderer Deutscher auch,entschied sich Ernst Heinkel für das letztere. Er wollte Flugzeugebauen, die Politik schien ihm eher gleichgültig. So setzte er unterdem Nationalsozialismus fort, was er in der Weimarer Republik be-gonnen hatte. Erst einmal mitgemacht, kam er in seiner Positionauch kaum herum, Mitglied der NSDAP zu werden. So war er be-reits mitten im Geschehen, noch ehe das Menschenverachtende na-tionalsozialistischer Politik deutlichere Konturen annahm. EinZurück gab es nun jedoch nicht mehr und so nahmen die Dinge ihrenLauf.“11

Hier wird das Handeln von Verantwortlichen aus dem konkretenZeitumständen herausgelöst, pauschalisiert und bagatellisiert. Hand-lungsalternativen gab es nur drei: Emigration, Widerstand und An-passung. Die Gefahr für Leben und Familie muss herhalten, um dasEintreten Heinkels für das NS-Regime von Anfang an zu legitimie-ren. Und dann nahmen die „Dinge ihren Lauf“! Die Wortwahl machtdeutlich, wie man einen genauen Blick und das Thema Verantwor-

10 Reif-Spirek, Peter, Später Abschied voneinem Mythos. Jussuf Ibrahim und dieStadt Jena, in: Leo, Annette/ Reif-Spirek,Peter, Vielstimmiges Schweigen. Neue Stu-dien zum DDR-Antifaschismus, Berlin2001, S. 24.11 Schubert, Peter, Die Ernst HeinkelFlugzeugwerke Rostock – ein Thema, dasdie Stadt bewegt, in: Heinkel in Rostock.Bestandsaufnahme und Diskussion, Ros-tock 2002, S. 66.

Andreas Wagner Der Streit um die Geschichte der Heinkelwerke in Rostock244

09 Wagner 24.08.2006 22:19 Uhr Seite 244

Page 11: 04 Wieske - Beirat für Geschichte: Startseite...Title: 04 Wieske Author: Michael Plata Created Date: 8/24/2006 10:19:28 PM

tung vermeidet, denn daraus könnten sich Fragen an die eigene Bio-graphie und das eigene Handeln ergeben.

Auch die DDR-Geschichte blieb ein Subtext, der die Diskussionbeständig begleitete. Immer wieder wurde die Missbrauchsthesebemüht: „Fähigkeiten und Initiativen zeichneten Ernst Heinkel aus;dass diese innovativen Eigenschaften dann für eine verbrecherischeKriegsführung von den Nationalsozialisten ausgenutzt wurde, istihm nicht anzulasten, ebenso wenig die Beschäftigung der vielenFremdarbeiter. Es gibt zahlreiche Beispiele für humane Kontaktezwischen den Einwohnern und den genannten Fremdarbeitern, ohnedie weder die Industrie noch die Landwirtschaft damals auskommenkonnte.“12

Auf der anderen Seite reduzierten einige VertreterInnen der NS-Opferverbände die Geschichte der Flugzeugindustrie während derNS-Zeit auf den Einsatz von KZ-Häftlingen. Man umging einen dif-ferenzierenden Blick auf das Handeln und die Einflussmöglichkei-ten einzelner Beschäftigter und stellte auch falsche Behauptungenauf, zum Beispiel der Flugzeugingenieur Pabst von Ohain wäre fürdie Zwangsarbeit der KZ-Häftlinge im Barther Zweigwerk zustän-dig gewesen oder dänische Häftlinge aus dem Zuchthaus in Bützowhätten in den Heinkel-Werken arbeiten müssen. Hier war dasBemühen deutlich, Geschichtsaufarbeitung auf die Darstellung desLeids der Opfer zu reduzieren.13

Vertreter der Universität äußerten sich allein zur Schließungs-absicht der Bürgerschaft kritisch und würdigten die Ausstellungsi-nitiative als lange notwendigen Tabubruch zur Aufarbeitung der Ver-gangenheit. Dass universitäre Forschung in Rostock seit 1990 kaumzur Auseinandersetzung mit diesem Teil der lokalen NS-Geschichtebeigetragen hatte, wurde nicht selbstkritisch reflektiert. Der Univer-sitätsrektor Prof. Wendel nahm in der Podiumsdiskussion am25. September 2002 Zuflucht zum Vergleich zwischen Heinkel undGoethe, um zu begründen, dass von Goethe ja heute nur sein Dich-tung erinnert würde und nicht seine Tätigkeit als Staatsminister,ebenso würden von Heinkel die technischen Erfindungen überdau-ern und nicht sein Handeln in der Kriegsrüstung. Dankbar erinnertesich sein Vorgänger im Amt des Rektors, der Mathematiker Prof.Günther Wildenhain, an die Verdienste Heinkels für die Universität-sentwicklung: „Die mathematische Forschung und Lehre an derUniversität Rostock wurde durch die Stiftung Heinkels sehr beför-dert. Durch ihn wurde ein Lehrstuhl für Angewandte Mathematikgeschaffen. Dieser Lehrstuhl wurde nach 1945 zunächst von Prof.Schubert und anschließend von Prof. Adam Schmidt besetzt. AlsNachfolger von Adam Schmidt bin ich heute gewissermaßen derletzte Inhaber dieses ‘Heinkel-Lehrstuhls’. Nach meinem Ausschei-den aus dem Berufsleben soll er leider nicht wieder besetztwerden.“14

Hier wie in vielen anderen Äußerungen klingt ein immer wiedergewählter Bezug zur wirtschaftlich schwierigen Gegenwart inMecklenburg-Vorpommern an. Vor dem Hintergrund der Deindu-

12 Eintrag von Horst Pätzold im Besucher-buch, in: Heinkel in Rostock. Bestandsauf-nahme und Diskussion, Rostock 2002,S. 191.13 Vgl. das zur dritten Sitzung der Exper-tenkommission am 6./7. Februar 2005vorgelegte Material des Rostocker Frie-densbündnisses mit Schreiben verschiede-ner NS-Opferverbände.14 Eintrag von Günther Wildenhain im Be-sucherbuch, in: Heinkel in Rostock. Be-standsaufnahme und Diskussion, Rostock2002, S. 94.

Andreas Wagner Der Streit um die Geschichte der Heinkelwerke in Rostock 245

09 Wagner 24.08.2006 22:19 Uhr Seite 245

Page 12: 04 Wieske - Beirat für Geschichte: Startseite...Title: 04 Wieske Author: Michael Plata Created Date: 8/24/2006 10:19:28 PM

strialisierung und der Abwanderung nach 1990 erscheint der indu-strielle Aufschwung in den 1930er Jahren umso strahlender. Vielesehen in dieser Vergangenheit eine positive Botschaft, die es für dieLösung gegenwärtiger Probleme zu mobilisieren gilt. So fordern ge-rade Unternehmer einen „unverkrampften“ Umgang mit der Ge-schichte, um den Boden für eine Wiederansiedlung des Flugzeug-baus zu bereiten und erhalten von vielen Seiten Unterstützung:„Sicher waren die Leistungen des DDR-Schiffbaus respektabel, aberdiese hätten sich auch mit einem neuen Aufschwung einer vielfälti-gen Luftfahrtindustrie … ‘vertragen’, für die es nach wie vor riesi-ges Interesse hier im Lande gibt und ein großes Potenzial an entspre-chenden Fachleuten bzw. solchen, die dazu bereit wären – eine be-sonders großartige Perspektive für die Jugend des Landes, die dannnicht mehr in Scharen unser schönes Land im Norden verlassenmüsste. Bei allem Für und Wider – eines steht fest: Ernst Heinkel hatbewiesen, wozu der ‘Norden’ fähig ist. Wir sollten daran anknüpfen:unternehmerisch, erfinderisch, wagemutig, unverzagt … !!!“15 Nochdeutlicher sprach der Präsident der IHK Rostock vom Nutzen derVergangenheit für die Gegenwart, sah sie als eine Referenz für dasLeistungsvermögen der Menschen in der Region: „Eine offensiveWerbung mit Persönlichkeiten wie Albert Einstein, Max Planck,Ernst Heinkel und Heinrich Schliemann, die hier (die RostockerUniversität, A. W.) promoviert wurden, findet weltweit Beachtung.Bei der Bewerbung Rostocks um die Airbusansiedlung gab es ersteAnsätze einer offensiven Werbekampagne. Wir benötigen dieseLeuchttürme der Vergangenheit und deren Licht, das auf unsereStadt und unsere Region fällt für die heutige Zeit.“16

Die Kritiker zentraler Inhalte in der Ausstellung blieben in deröffentlichen Diskussion eine Minderheit. Sehr schnell spitzte sichdie öffentliche Diskussion zu, ließ keinen Spielraum mehr für Diffe-renzierungen. Ernst Heinkel war „begnadeter Erfinder oder Kriegs-verbrecher“, in der Diskussion gab es nur noch Befürworter oderGegner einer Schließung der Ausstellung. Diese Polarisierung resul-tierte auch aus den zeitweilig sehr undifferenzierten und unfairenVorwürfen gegen die Ausstellungsmacher, die das überwiegend eh-renamtliche Engagement für eine verdrängte Geschichte der Stadtnicht ernst genug nahmen. Obwohl es Argumente für den Beschlussder Bürgerschaft, die Ausstellung zu schließen, gab, blockierte undpolarisierte diese Entscheidung die folgende Diskussion, statt aufeine offensive Auseinandersetzung in unterschiedlichen Gesprächs-foren zu setzen. Die Senatorin Schillen wurde allerdings mit demErbe von zwölf Jahren unterlassener Auseinandersetzung mit demThema konfrontiert. Sie konnte auf keine Vorarbeiten der Museenoder des Stadtarchivs zurückgreifen. Eine ernsthafte Diskussion voneinzelnen Aspekten der Unternehmensgeschichte der Heinkel-Flug-zeugwerke fand auch deshalb nicht statt, weil zu diesem Thema inRostock bisher kaum geforscht wurde. Erste Ansätze einer sozialhi-storischen Forschung aus der Zeit um 1990 hatten nur in der technik-geschichtlichen Engführung auf die Flugzeugtypengeschichte eine

15 Rackow, Heinz Gerd, Heinkel in Ro-stock – Die Ausstellung – DankenswerteInitiative oder Volksverhetzung, in: Hein-kel in Rostock. Bestandsaufnahme und Dis-kussion, Rostock 2002, S. 27.16 Paarmann, Rolf, Rostock benötigt eineAufarbeitung der Technikgeschichte derVergangenheit für die eigene Zukunft, in:Heinkel in Rostock. Bestandsaufnahmeund Diskussion, Rostock 2002, S. 84.

Andreas Wagner Der Streit um die Geschichte der Heinkelwerke in Rostock246

09 Wagner 24.08.2006 22:19 Uhr Seite 246

Page 13: 04 Wieske - Beirat für Geschichte: Startseite...Title: 04 Wieske Author: Michael Plata Created Date: 8/24/2006 10:19:28 PM

Fortsetzung gefunden oder wiederholten bereits ältere Argumenta-tionen und Vermutungen.

Darüber hinaus diente die Auseinandersetzung einer parteipoliti-schen Profilierung, die sich besonders im Konflikt zwischen derwestdeutsch sozialisierten und durch die PDS getragenen Kulturse-natorin und den zumeist DDR-sozialisierten und politisch unter-schiedlich orientierten Protagonisten einer flugzeugbaugeschichtli-chen Ausstellung in Rostock zeigte. Unausgesprochen begleiteteden Streit die ganze Zeit über eine Debatte um die Bewertung derDDR-Vergangenheit und einen Ost-West-Gegensatz. Was am An-fang wohl kaum einer der Ausstellungskritiker so geahnt hatte: ImKern ging es um die Berechtigung der Lebensgeschichten der Tau-senden deutscher Flugzeugbauer, die in Rostock bei Heinkel undArado gearbeitet und nach 1945 an vielen Stellen die Industrie-,Wirtschafts- und Wissenschaftsentwicklung in Rostock mitbestimmthatten.

4. Der bundesdeutsche Kontext und ostdeutsche Besonderheiten. Die Ro-stocker Debatte aus dem Jahr 2002 bildet keinen Einzelfall. DieAuseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit in Ostdeutschlandist mit mehreren Schwierigkeiten konfrontiert. Einmal war es not-wendig, die Wirkungen der DDR-Geschichtssicht differenziert undkritisch zu reflektieren, und zum anderen trat neben die Auseinan-dersetzung mit der NS-Vergangenheit seit 1990 die Beschäftigungmit der Geschichte der Sowjetischen Besatzungszone und der DDR.Zugleich überlagern bundesweite Trends in der Erinnerungskulturdiese regionale Spezifik. So verbindet sich in den Diskussionen dieAufwertung der deutschen Opfer des Krieges mit einer Rechtferti-gung des Handelns der Zeitgenossen vor dem Hintergrund der eige-nen Lebenserfahrungen in der DDR-Diktatur. Nach den Forschun-gen der Gruppe um den Sozialpsychologen Harald Welzer stehensich im individuellen Geschichtsbewusstsein relativ unvermittelt dasüberwiegend wissensbasierte „Lexion“ (Schulwissen) und die Fami-lienerinnerungen in Gestalt des „Albums“ (individuell erinnerte undfamiliär tradierte Erlebnisse) gegenüber. Das Besondere der DDRist, dass der öffentliche Diskurs über den Faschismus viel stärkervereinheitlicht und reglementiert war, sich abweichenden Erzählun-gen weitgehend auf den privaten Raum, die familiäre Tradierung be-schränkten. Mit dem Sturz der SED-Herrschaft erwies sich die ge-schichtsoffizielle Deutung des DDR-Antifaschismus als in großenTeilen falsch und überholt, hingegen erhielten die lebensgeschichtli-chen Erfahrungen der Großeltern ihre Bestätigung. „Denn das, wasdie Großeltern und Eltern schon zu DDR-Zeiten zu Hause über den‘Faschismus’, den sie selbst erlebt und nicht selten auch mitgetragenhatten, erzählt haben, hat sich als beständiger erwiesen als die DDR-offizielle Lesart der Geschichte.“17 Außerdem schwingt beim Spre-chen über den Nationalsozialismus immer auch die Erfahrung mitautoritärer Politik in der DDR mit, sehen sich ehemalige DDR-Bür-ger zur Rechtfertigung ihres Verhaltens in einer Diktatur herausge-

17 Welzer, Harald/ Moller, Sabine/Tschuggnall, Karoline, „Opa war keinNazi“. Nationalsozialismus und Holocaustim Familiengedächtnis, Frankfurt/M.2002, S. 169.

Andreas Wagner Der Streit um die Geschichte der Heinkelwerke in Rostock 247

09 Wagner 24.08.2006 22:19 Uhr Seite 247

Page 14: 04 Wieske - Beirat für Geschichte: Startseite...Title: 04 Wieske Author: Michael Plata Created Date: 8/24/2006 10:19:28 PM

fordert, auch wenn das gar nicht thematisiert wird. Diese besondereEntwicklung hat zu einer Ungleichzeitigkeit in der gesamtdeutschenErinnerung geführt, die in Westdeutschland bisher nicht mit der not-wendigen Aufmerksamkeit wahrgenommen wird. Der Erinnerungs-diskurs in der Bundesrepublik orientiert sich vornehmlich an einerwestdeutschen Perspektive. Es gelingt kaum, an die Erfahrungen dervielen Menschen in Ostdeutschland anzuknüpfen.

Die Auseinandersetzung um die Rolle von Wissenschaft undTechnik im Nationalsozialismus wird seit Jahren intensiv geführt,erinnert sei an die Untersuchungen von Ernst Klee zur Medizin imNS, die Forschungen über die Verstrickungen der Institute der Kai-ser-Wilhelm-Gesellschaft in die NS-Verbrechen oder die Ausstel-lung im Deutschen Technikmuseum Berlin „Ich diente nur der Tech-nik“ (1995). Auch in Mecklenburg-Vorpommern bildet dieser Ver-gangenheitsaspekt einen wichtigen Teil des öffentlichen Erinnerns:In Peenemünde fand die Auseinandersetzung um die Bewertung derRaketenentwicklung ihren frühen Höhepunkt in dem Versuch, 1992den 50. Jahrestag des ersten erfolgreichen Raketenstarts allein alstechnische Höchstleistung zu feiern. Nach diesem Skandal ent-schloss sich die Landesregierung, stärker Verantwortung in Pee-nemünde zu übernehmen. Im Ergebnis entwickelte sich das Histo-risch-Technische Informationszentrum Peenemünde, das heute wis-senschaftlich angemessen und verantwortungsbewusst über dasgrößte NS-Rüstungsprojekt informiert. An ehemaligen Standortender Flugzeugproduktion und -erprobung entstanden qualitativ sehrunterschiedliche Sonder- und Dauerausstellungen, zum großen Teilauf ehrenamtlicher Grundlage, zum Beispiel zur Geschichte der Er-probungsstelle der Luftwaffe in Rechlin an der Müritz, in Anklam(Arado-Zweigwerk, Luftangriff), Wismar (die norddeutschen Dor-nierwerke) oder eben in Rostock. Allen Projekten ist gemeinsam,dass sie mit einem jahrzehntelangen Tabu brachen und nach histori-schen Spuren zur Verortung des historischen Geschehens suchten.Die historischen Orte waren häufig bis 1990 hinter militärischenSperrgebieten verborgen oder nach 1945 überbaut und umgenutztworden. Der Publikumserfolg der Wismarer Ausstellung zur Ge-schichte der Dornier-Flugzeugwerke zeigt, wie sich eine Stadt ver-antwortungsbewusst, wissenschaftlich fundiert und zugleich multi-perspektivisch diesem Teil ihrer Vergangenheit stellen kann.18 Of-fenbar lassen sich solche Aspekte der NS-Vergangenheit leichter er-zählen, die von wirtschaftlichem Aufschwung, wissenschaftlich-technischen Leistungen oder sozialer Sicherung handeln. Wo alleindie Verbrechen des NS-Regimes zur Diskussion stehen, tut man sichdeutlich schwerer mit dem Erinnern, z. B. bei der Aufarbeitung derNS-Patientenmorde. Verschiedene Klinikstandorte im heutigenMecklenburg-Vorpommern, z. B. in Schwerin, Rostock, Stralsundund Ueckermünde, stehen vor dieser Aufgabe. Doch findet die Auf-arbeitung dieser Vergangenheit und das Gedenken der Opfer oft nurgeringe Resonanz. Bis auf das Klinikum Stralsund fehlen überallGedenkzeichen für die vielen Opfer, in Ueckermünde wurde es so-

18 Vgl. Busjan, Béatrice/ Schubert, Corin-na, Flugzeugbau in Wismar – Erinnerun-gen an die Norddeutschen Dornier-Werke,Wismar 2005 (=Wismarer Studien,Bd. 9).

Andreas Wagner Der Streit um die Geschichte der Heinkelwerke in Rostock248

09 Wagner 24.08.2006 22:19 Uhr Seite 248

Page 15: 04 Wieske - Beirat für Geschichte: Startseite...Title: 04 Wieske Author: Michael Plata Created Date: 8/24/2006 10:19:28 PM

gar wieder abgebaut. Auch die Erinnerung an die Indoktrination desmedizinischen Personals in der Reichsärzteführerschule Alt Rehsebei Neubrandenburg kommt nur schleppend voran.

5. Wie weiter in Rostock? Keineswegs hat die Debatte um die Heinkel-Flugzeugwerke in Rostock der lokalen Erinnerungskultur geschadet,sondern vielmehr die wissenschaftlichen Defizite und die erinne-rungspolitischen Leerstellen sichtbar gemacht. Auf dem Weg, sichder Vergangenheit umfassend zu stellen, war die Arbeit der Exper-tenkommission ein wichtiger Schritt und hat dazu beigetragen, dielokale Aufarbeitung mit dem bundesweiten geschichtswissenschaft-lichen Diskurs zu vernetzen. Die wichtigen überregionalen For-schungsarbeiten von Lutz Budraß19 und anderen wurden erst überdie Diskussion in Rostock zur Kenntnis genommen und haben daslokale Problembewusstsein geschärft. Die Empfehlungen der Kom-mission, die Unternehmensgeschichte in der Stadtgeschichte undder NS-Gesellschaft zu verankern, eine Verengung auf technisch-technologische Entwicklungen zu vermeiden, die Heinkel-Flug-zeugwerke mit allen Produktionsstandorten in den Blick zu nehmen,scheinen mir wichtige Prämissen für die weitere Arbeit. Von großerBedeutung für die weitere Diskussion wird es sein, wie es gelingt,NS-Vergangenheit und DDR-Geschichte miteinander in Beziehungzu setzen. Die Debatte hat überdeutlich gemacht, dass biographischeund berufliche Karrieren über das Jahr 1945 auch für die DDR vonwichtiger Bedeutung gewesen sind. Der Blick auf diese Probleme istdurch das Bild vom scharfen politischen und sozio-ökonomischenBruch in der SBZ bisher verstellt.

Mit den Empfehlungen der Expertenkommission gibt es sowohleinen Versuch der Gesamtbewertung des Komplexes Heinkel in Ro-stock als auch konkrete Vorschläge zur weiteren Auseinanderset-zung und musealen Präsentation des Themas. Die Kommission be-trachtet die Debatte in Rostock als einen Baustein in der Selbstver-ständigung der Einwohner der Stadt über ihre Geschichte. Diesenpositiven Ansatz fortzusetzen und nachhaltig zu verfolgen, wäre einwichtiges Ziel der zukünftigen Arbeit. Dazu bedarf es vielfältigerAktivitäten: einer wissenschaftlichen Forschung als Grundlage, ei-ner vielfältigen Bildungsarbeit zur Vermittlung der Forschungser-gebnisse und zur Moderation von Meinungsbildung, der Bewahrungund Markierung von baulichen Überresten im Stadtbild sowie einermodernen musealen Präsentation. Diese Schritte können nicht alleauf einmal unternommen werden. Dafür werden ein langer Atemund eine städtische Moderation notwendig sein, damit die Debattebei nächster Gelegenheit nicht erneut in eine polarisierende Anfein-dung führt oder aktuellen Werbestrategien untergeordnet wird. Nurin einer sachlich geführten Diskussion sind Lernprozesse möglich.

19 Vgl. Budraß, Lutz, Flugzeugindustrieund Luftrüstung in Deutschland 1918-1945, Düsseldorf 1998.

Andreas Wagner Der Streit um die Geschichte der Heinkelwerke in Rostock 249

09 Wagner 24.08.2006 22:19 Uhr Seite 249

Page 16: 04 Wieske - Beirat für Geschichte: Startseite...Title: 04 Wieske Author: Michael Plata Created Date: 8/24/2006 10:19:28 PM

Andreas Wagner Der Streit um die Geschichte der Heinkelwerke in Rostock250

09 Wagner 24.08.2006 22:19 Uhr Seite 250