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    Z EITGESCHEHEN / C URRENT E VENTS

    Karl Heinz Roth

    Griechenland und die Euro-Krise

    In den vergangenen Wochen hat sich die Euro-Krise extrem zuge-spitzt. Ihren Mittelpunkt bildet Griechenland, das sich seit Beginnder Weltwirtschaftskrise 2008 in einer schweren Rezession befindet.Von ihrem Ausgang ist nicht nur das Land, sondern ganz Europa undsogar die gesamte Weltkonomie betroffen. Es ist daher dringend er-forderlich, dass wir uns mit den Hintergrnden der Krise, den seitMai 2010 diktierten Sanierungsprogrammen der Troika EU-Kommission, Europische Zentralbank und Internationaler Wh-rungsfonds und den mglichen Gegenperspektiven auseinander-setzen.

    Bemerkungen zur Vorgeschichte

    Im Jahr 1981 trat Griechenland in die Europische Gemeinschaftein. Das Land befand sich in einer ausgesprochenen Aufbruch-strimmung. Die aus der Panhellenischen Widerstandsbewegung ge-gen die Militrdiktatur von 1967 bis 1974 hervorgegangene Sozia-listische Partei (PASOK) hatte erstmalig die Parlamentswahlengewonnen und schwamm mit ihrer wohlfahrtsstaatlichen Program-matik auf einer Popularittswelle. Nach der Ablsung der konser-vativen Karamanlis-Regierung begann eine ra des sozialen, kultu-rellen, wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Fortschritts. DieserEntwicklung konnten die geldpolitischen Restriktionen, die dasseit 1979 in der Europischen Gemeinschaft eingefhrte Europi-sche Whrungssystem (EWS)1 mit sich brachte, zunchst nichts

    1 Das EWS bestand aus einem Whrungskorb der wichtigsten Whrungen derEuropischen Gemeinschaft (ECU) und beschrnkte die Wechselkursschwankun-gen der Whrungen der Mitgliedslnder auf eine bestimmte Bandbreite.

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    anhaben, denn Griechenland schloss sich ihm erst 1993 an. Die

    Drachme blieb genauso wie die Whrungen der brigen sdeuro-pischen Beitrittslnder Portugal und Spanien auerhalb des Wh-rungsverbunds. Die griechische Regierung konnte die sich aus dembinneneuropischen Entwicklungsgeflle ergebenden Wettbewerbs-verzerrungen durch periodische Abwertungsoperationen ausglei-chen und die wirtschaftspolitischen Anpassungszwnge an dieKernlnder der Europischen Gemeinschaft in Grenzen halten. Inden Jahren 1979 bis 1992 wurde die Drachme um insgesamt 86Prozent abgewertet. Die griechischen Exporte in die europischeKernzone wurden dadurch fast um die Hlfte verbilligt, whrendsich umgekehrt die westdeutschen und franzsischen Exporte nachGriechenland um fast das Doppelte verteuerten.

    Diese fr Griechenland und die brige europische Peripheriegnstigen whrungs- und wirtschaftspolitischen Rahmenbedingun-gen neigten sich 1992 dem Ende zu. In diesem Jahr setzten die Regie-rungen der europischen Kernzone unter dem Druck der krisenhaftenEntwicklung ihrer Nationalkonomien neue Rahmenbedingungen

    durch, die als Maastricht-Vertrag in die Wirtschaftsgeschichte ein-gingen und die vertraglichen Voraussetzungen fr den bergangder Europischen Gemeinschaft in die Europische Union schaffensollten. Den Kern des Vertrags bildeten sogenannte Konvergenz-Kriterien, die Referenzdaten fr die Parameter Inflation, Staats-haushalt, Wechselkurse und Zinsstze festlegten und mit ihren Vor-gaben zur Budgetdisziplin und zur Begrenzung der jhrlichen Neu-verschuldung auf drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts die Weichenfr die Einfhrung der Einheitswhrung Euro stellten.

    Nun wurde es fr die Wirtschaftspolitiker und Planungsexpertender im Jahr 1993 erneut in die Regierung gewhlten PASOK eng.Die Umsetzung der Maastricht-Kriterien verlangte auch von Grie-chenland eine Kehrtwende von der sozialstaatlich abgesichertenVollbeschftigungspolitik zur Flexibilisierung der Arbeitsverhlt-nisse und zur Deregulierung des ffentlichen Sektors. Offiziellmachte denn auch die griechische Regierung gute Miene zum b-

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    sen Spiel und bemhte sich um die Verbesserung der Leistungsf-

    higkeit des ffentlichen Sektors. Eine wirksame Deregulierung undSenkung der Masseneinkommen kam jedoch unter dem Druck derstarken Gewerkschaftsbewegung nicht in Frage. Erst als im Jahr1996 der Neoliberale Kostas Sinitis an Stelle des verstorbenen An-dreas Papandreou die Regierungsgeschfte bernahm und den bisdahin dominierenden linken Flgel der PASOK ausbremste, wurdeder sozialstaatliche Konsens tatschlich in Frage gestellt. Da sichnun aber eine stabile parlamentarische Linksopposition herausbil-dete, die sich in wichtigen Entscheidungssituationen mit dem tradi-tionell starken kommunistischen Block abstimmte, kam es auchjetzt noch nicht zum Dammbruch. Im Ergebnis massiver Streikbe-wegungen und sozialer Kmpfe konnte der Sozial- und Lohnabbauin Grenzen gehalten werden. Da sich die binneneuropische Wett-bewerbsfhigkeit Griechenlands jedoch fortlaufend verschlechter-te, drehte die bis dahin positive Leistungsbilanz ins Minus, und dieBudgetdefizite stiegen steil an. Ihr jhrlicher Zuwachs belief sichschon vor Ende der 1990er Jahre auf ber fnf Prozent des Brutto-

    inlandsprodukts (BIP), und die Gesamtverschuldung berschrittbald den Umfang der jhrlichen Wirtschaftsleistung. Dies wider-sprach den Maastricht-Kriterien eklatant. Deshalb wurde das sichherausbildende berschuldungsszenario durch statistische Mani-pulationen verschleiert. Bis gegen Ende der 1990er Jahre hatte sichGriechenland deutlich von dem seit Beginn der 1980er Jahre inEngland, Frankreich, Italien und zunehmend auch in Deutschlandsowie den Benelux-Lndern in Gang gekommenen neoliberalenStrukturwandel abgekoppelt.

    Trotzdem wurde Griechenland im Jahr 2001 in die inzwischeninnerhalb der Europischen Union geschaffene Gruppe der Euro-Lnder (Euro-Zone) aufgenommen. Zwar verschleierten die nachBrssel gelieferten statistischen Grunddaten das Ausma der natio-nalkonomischen Schieflage. Es war jedoch allen Akteuren be-wusst, dass Griechenland die im Maastricht-Vertrag festgelegtenKriterien nicht erfllte. Vor allem die haushaltspolitischen Parame-

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    ter2 sprachen entschieden dagegen. Warum dessen ungeachtet die

    Weichen zum Beitritt gestellt wurden, werden wir erst mit Sicher-heit wissen, wenn die einschlgigen Akten zugnglich gewordensind. Wir knnen jedoch schon jetzt davon ausgehen, dass dabeivor allem geostrategische und tagespolitische Grnde ausschlagge-bend waren. Zwei Jahre nach der Zerschlagung Jugoslawiens bilde-te Griechenland einerseits ein entscheidendes Glacis fr die begin-nende EU-Integration des Balkans, und andererseits sicherte es diesdstliche Flanke der ins Auge gefassten sogenannten Osterwei-terung der Europischen Union ab. Aber auch die Tagespolitikspielte eine wichtige Rolle. Der griechische Oberste Gerichtshof hatte gerade einer Entschdigungsklage von Opfern der deutschenOkkupation whrend des zweiten Weltkriegs stattgegeben und dieKonfiskation deutscher Vermgenswerte in Griechenland fr rech-tens erklrt.3 Nur die griechische Regierung konnte das Verfahrennoch aussetzen. Sie tat dies, nachdem ihr die deutsche Bundesregie-rung die Untersttzung ihres Antrags zur Aufnahme in die Euro-Zone zugesagt hatte.

    Aus der damaligen Perspektive der griechischen Machteliten wardie Aufnahme in die Euro-Zone attraktiv. Sie konnten nun mit ei-nem Schlag ihre extrem abgewertete Landeswhrung loswerdenund erlangten den Zugriff auf den harten Euro, der ihnen ber-aus billige Refinanzierungsmglichkeiten erffnete. Es kam zu ei-nem rasanten Wirtschaftswachstum mit jhrlichen Wachstumsratenzwischen 3,7 und 5,2 Prozent, das bis zum Jahr 2007 anhielt. Diemaritime Logistik, der Tourismus, die Bauwirtschaft und die Ban-ken boomten. Hinzu kamen massive Importe franzsischen, deut-schen und schweizerischen Kapitals zum Ausbau der Infrastruktur,

    2 Im Maastricht-Vertrag ist die Obergrenze der ffentlichen Gesamtverschul-dung mit 60 Prozent des BIP festgelegt, und die Obergrenze der jhrlichen Neuver-schuldung soll drei Prozent des BIP nicht berschreiten.

    3 Vgl. zu den Hintergrnden der griechischen Reparations- und Entschdigungs-ansprche aus dem Zweiten Weltkrieg Karl Heinz Roth, Die offene Reparationsfra-ge. Die Profiteure des Raubzugs mssen zahlen!, in: lunapark 21, 15 (2011), S. 5155.

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    die aufgrund der gestiegenen geostrategischen Bedeutung Grie-

    chenlands als sichere langfristige Anlage galten. Jedem und jeder,der / die Griechenland noch aus dem vergangenen Jahrhundertkennt, fallen die gewaltigen Infrastrukturinvestitionen des vergan-genen Jahrzehnts ins Auge: die Nord-Sd-Autobahn von Thessalo-niki nach Athen, die militrisch besonders wichtige West-Ost-Au-tobahn vom Ionischen Meer bis zur trkischen Grenze in West-Thrakien, die Hngebrcke bei Patras, die die Peloponnes mit demwestlichen Griechenland verbindet, der internationale FlughafenAthen, die Attika-Ringbahn, die Metro von Athen, der Container-hafen von Pirus und die neuen athenischen Vorortbahnen. Hinzukamen die gewaltigen Bauvorhaben zur Olympiade 2004, die denImmobilienboom auf die Spitze trieben.

    Parallel dazu leistete sich die griechische Wirtschaftsnation einegewaltige Aufrstung. Zwischen 1992 und 2008 wurden Kriegswaf-fen im Wert von 75 Milliarden Euro importiert, und zwar insbeson-dere Fregatten aus Frankreich und Panzer sowie U-Boote ausDeutschland. Die Militrausgaben stiegen auf jhrlich 4,3 Prozent

    des BIP und lagen damit relativ zur jeweiligen Wirtschaftsleistung mehr als doppelt so hoch wie in Deutschland. Die Legitimations-basis fr diese Hochrstung bildete der Erbfeind Trkei wieGriechenland ein Mitgliedsland der NATO , der 1974 einen TeilZyperns erobert und annektiert hatte und die griechischen militri-schen Anstrengungen in dieser Periode sogar noch bertrumpfte.Als lachende Dritte und Profiteure dieses Regionalkonflikts ms-sen die fhrenden franzsischen und deutschen Rstungskonzernegelten. Zu Beginn der aktuellen Weltwirtschaftskrise belegten diebeiden Kontrahenten der stlichen Mittelmeerregion die Spitzen-pltze der deutschen Rstungsexporte: Mit 15,2 Prozent lag dieTrkei auf Platz eins, gefolgt von Griechenland mit 12,9 Prozent.4

    4 Vgl. Winfried Wolf, Dritter Staatsbankrott? Griechische Schulden, deutschePanzer, Euro-Diktat und eine Fakelaki-konomie made by Siemens, MS o. J.(2010), S. 7.

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    Die Profiteure des kurzlebigen Euro-Booms sind leicht auszu-

    machen. Es handelte sich im Wesentlichen um drei eng miteinanderverflochtene Gruppen der herrschenden Eliten, die den Kuchen un-ter sich aufteilten. An erster Stelle standen die fhrenden Familien-clans des griechischen Reederei- und Bankkapitals. In der ra Simi-tis wurden die von ihnen zu entrichtenden Unternehmenssteuernauf 25 Prozent gesenkt, und das hatte zur Folge, dass sie sich imBoom extrem bereicherten. Je reicher sie wurden, desto strker ver-loren sie die Neigung, berhaupt Steuern zu zahlen, und dies fhrteauch bei den konservativen oberen Mittelschichten rzte, Immo-bilienhndler und Anwaltskanzleien zu einem bemerkenswertenVerfall der Steuermoral. Vor Beginn der Weltwirtschaftskrise verfg-ten die oberen 30.000 Familien des Landes ber ein Kapitalverm-gen von ber 250 Milliarden Euro, von denen allein 100 Milliardenals Bankguthaben angelegt und mindestens weitere 100 Milliardenins Ausland transferiert waren.

    Die zweite Gruppe war in den Spitzenkonzernen der europi-schen Investitionsgter-, Bau- und Rstungsindustrie sowie im euro-

    pischen Finanzsektor verortet. Diese Segmente des europischenKapitals sind traditionell eng mit den groen Familien-Holdingsdes griechischen Reederei- und Bankkapitals verflochten, so etwader in der Schweiz domizilierende Latsis-Clan mit der DeutschenBank AG und den beiden fhrenden schweizerischen Grobanken,ThyssenKrupp mit der griechischen Werftindustrie, die fhrendenfranzsischen und deutschen Baukonzerne mit dem griechischenImmobiliensektor. Die franzsischen beziehungsweise franzsisch-belgischen Grobanken Socit Gnrale, Crdit Agricole und De-xia kontrollieren mit ihren Beteiligungs- und Tochtergesellschaftenerhebliche Teile des griechischen Finanzsektors. Im Kontext dieserVerflechtungen wurden die groen Infrastrukturinvestitionen desvergangenen Jahrzehnts geplant und abgewickelt, fr deren Refi-nanzierung und Absicherung der Staatshaushalt geradzustehen hat-te. Erst im Gefolge des Infrastrukturbooms erreichte die Begebungder zwei-, fnf- und zehnjhrigen Staatsanleihen einen Umfang,

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    der ber die analogen Verschuldungspraktiken der brigen Periphe-

    rielnder der Euro-Zone hinausging.Der dritte Gewinner des Euro-Booms war die politische KlasseGriechenlands, die seit dem Ende der Militrdiktatur durch die bei-den Volksparteien PASOK und Nea Dimokratia (ND) reprsentiertwird. Seit dem durch Kostas Simitis im Jahr 1996 erzwungenen wirt-schaftspolitischen Paradigmenwechsel und der Ausschaltung ihreslinken Flgels waren auch innerhalb der PASOK die Vorbehalte ge-genber den groen Unternehmerdynastien, der orthodoxen Staats-kirche und dem militrisch-industriellen Komplex beiseite gerumt.Es kam auch bei ihr zu einer uneingeschrnkten Symbiose mit denherrschenden Eliten, und zwar vor allem bei der Vergabe der Infra-strukturinvestitionen, der Rstungsauftrge und den in deren Ge-folge erforderlich werdenden Refinanzierungsgarantien. Allein Sie-mens mobilisierte in der Boom-Phase jhrlich Schmiergelder imVolumen von 15 Millionen Euro, um die griechische Telefongesell-schaft OTE unter seine Kontrolle zu bringen, die Rstungsgeschf-te des Verteidigungsministeriums zu steuern und sich die wichtigs-

    ten Investitionsprojekte der Olympiade zu sichern.5

    Das war abernur die Spitze des Eisbergs. Die einmaligen Zahlungen der europi-schen Investoren auf die Konten der fhrenden Politiker der bei-den Volksparteien wurden durch langfristige Bankendarlehen fun-diert, mit denen die PASOK und die Nea Dimokratia ihrenFunktionrsapparat alimentierten und ihre Wahlkmpfe finanzier-ten. Der systematische Kauf der Politiker und ihrer Macht- undPropagandaapparate wurde zu einem integralen Bestandteil derBoom-Phase. Als die PASOK im Jahr 2004 die Wahlen verlor undder ND-Politiker Kostas Karamanlis die Regierungsgeschfte ber-nahm, handelte es sich deshalb um einen reinen Schilderwechsel,bei dem sich lediglich das Spektrum der begnstigten Klientele ver-nderte.

    Dieses ausuferndeenrichez-vousder herrschenden Klassen hattejedoch schon vor Krisenbeginn eine gravierende Kehrseite. Die

    5 Vgl. ebd., S. 8.

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    Leistungsbilanz drehte zu Beginn des neuen Millenniums dauerhaft

    ins Minus. Die Haushaltsdefizite liefen aufgrund der steigenden Re-finanzierungskosten der Infrastrukturinvestitionen endgltig ausdem Ruder. Eine schleichende De-Industrialisierung setzte ein, weildie relativ hohen Lohnstckkosten und die sich weiter verschlech-ternde Wettbewerbsfhigkeit nicht mehr durch die Abwertung derNationalwhrung ausgeglichen werden konnten. Entsprechend re-duzierten sich die Exporte in den europischen Binnenmarkt. EinAusgleich durch eine Umsteuerung des Auenhandels in die auer-halb der EU gelegenen Schwellen- und Entwicklungslnder wurdeebenfalls immer schwieriger, weil diese inzwischen ihrerseits als ex-portorientierte Billiglohnlnder aktiv waren und die griechischenProdukte und Dienstleistungen niederkonkurrierten. So beseitigteder Wegfall der nationalen Whrungssouvernitt nicht nur diekompensatorischen Hebel der ueren Abwertung, sondern kon-frontierte die griechische Nationalkonomie darber hinaus mit ei-ner auenhandelspolitischen Scherensituation. Sie drohte zwischendem Exportdruck der technologisch und arbeitsorganisatorisch hoch

    entwickelten europischen Kernzone und der Auenhandelsoffen-sive der Niedriglohnlnder der globalen Peripherie zerrieben zuwerden. Die Erwerbslosigkeit stieg markant an. Besonders betrof-fen waren die jugendlichen Schul- und Hochschulabgnger, dienoch nicht in festen Arbeitsverhltnissen beschftigt waren. Siemussten zunehmend auf sozial ungeschtzte, zeitlich befristeteund schlecht entlohnte Verhltnisse ausweichen. Diese fr Grie-chenland neuartige Situation wurde in sozialwissenschaftlichenUntersuchungen als Menetekel gedeutet, das die Entstehung einer700 Euro-Generation ankndige. Von den allmhlich in Schwungkommenden neuen Sozialbewegungen der jugendlichen Prekrenund der zunehmend illegal ins Land strmenden Immigrantinnenund Immigranten wurde dieser Terminus rasch angeeignet und ineinen identittsstiftenden Slogan umgewandelt.

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    Im Sog der Krise: Die Entwicklung seit 2008 / 2009

    Im Verlauf des Jahrs 2008 erreichten die Schockwellen der Welt-wirtschaftskrise auch Griechenland. Die maritime Logistik brachein, und die in dieser Branche aktiven Reedereien, Handelskonzer-ne und Hafenbetriebe verloren ber ein Viertel ihrer Umstze.Hinzu kam ein drastischer Rckgang im Tourismussektor: In den Jahren 2008 und 2009 verringerte sich die Zahl der Urlaubs- undKulturreisenden um etwa 20 Prozent. Diese Effekte schlugen un-mittelbar auf die griechischen Banken durch. Auch der griechischeFinanzsektor musste im Frhjahr 2009 durch Staatsgarantien ge-sttzt werden.

    Die Kontraktion der Schlsselsektoren der griechischen Natio-nalkonomie hatte weitreichende strukturelle Folgen. Da die Ex-porte auf den Primr- und Sekundrmrkten gleichermaen zu-rckgingen, beschleunigte sich der De-Industrialisierungsprozess.Die Arbeitslosenquote berschritt die Zehn-Prozent-Marge, und nurnoch zwei Drittel der nachrckenden Berufsanfnger konnten

    trotz deutlich verschlechterter Einstiegsbedingungen mit einem Job rechnen. Das hatte Folgen fr den Massenkonsum. Die griechi-sche Nationalkonomie verlor nun auch ihre binnenwirtschaftlicheSttze und geriet in eine lang anhaltende Rezession, die bis heuteandauert und sich laufend verschrft. Lag der Rckgang der jhrli-chen Wirtschaftsleistung bis 2010 noch knapp unter fnf Prozentdes Bruttoinlandsprodukts, so drfte diese Marge in diesem und imkommenden Jahr deutlich berschritten werden.

    Durch die Sttzungsoperationen zugunsten des Finanzsektors,die sinkenden Steuereinnahmen und die rasch ansteigenden Sozial-transfers wurden die Budgetdefizite der ffentlichen Haushalteweiter vergrert. Das volle Ausma der Schieflage wurde erstmalsgegen Ende des Jahrs 2009 sichtbar, denn die inzwischen wieder indie Regierung gewhlte PASOK war unter dem wachsenden euro-pischen Druck nicht mehr in der Lage, mit geschnten Statistikenaufzuwarten. Aus den nach und nach verffentlichten bereinigten

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    Daten ging nun hervor, dass das jhrliche Haushaltsdefizit im Jahr

    2008 einen Umfang von 9,8 Prozent des BIP erreicht hatte und bisEnde 2009 auf 15,4 Prozent gestiegen war.6 Im Folgejahr verringer-te sich die Neuverschuldung zwar wieder auf 10,5 Prozent, aber dieGesamtverschuldung stieg nun ungebremst von knapp 111 Prozentdes BIP im Jahr 2008 auf 127 beziehungsweise 148 Prozent in denbeiden Folgejahren. Im Jahr 2010 stand Griechenland schlielichmit einem Betrag von etwa 240 Milliarden Euro in der Kreide, unddaraus ergab sich eine Zinsen- und Tilgungsbelastung, die fr dieZeit bis 2015 ein geschtztes Gesamtvolumen von etwa 150 Milliar-den Euro erreichen wird. Da sich die Wirtschaftslage stndig ver-dsterte und eine kurzfristige Rckkehr zu einem ausreichenden Wachstum ausschloss, war schon zu Beginn des Jahrs 2010 klar,dass die griechische Nationalkonomie nur durch einen radikalenSchuldenschnitt stabilisiert werden konnte, bei dem die Glubigerauf mindestens zwei Drittel ihrer Forderungen wrden verzichtenmssen.

    Die Reaktion der globalen und europischen Glubiger fiel denn

    auch entsprechend drastisch aus. Vor allem die Vorstnde der euro-pischen Grobanken versuchten, ihre griechischen Anleihepaketeso rasch wie mglich los zu werden, whrend die Versicherungsun-ternehmen die Risikoprmien fortschreitend erhhten. Dieser Pro-zess durchlief seit dem Frhjahr 2010 mehrere Phasen und erinner-te schlielich immer mehr an den bekannten Wettlauf zwischenHase und Igel. Immer wieder erreichten die zweijhrigen griechi-schen Staatsanleihen auf den freien Obligationsmrkten Zinsstzebis zu 40 Prozent, und fr die zehnjhrigen Obligationen wurdenunter dem Druck der steigenden Risikoprmien in immer krzerenAbstnden Zinsstze bis zu 16 Prozent verlangt. Unter derartigenKonditionen konnte die griechische Staatsschuld nicht mehr auf den freien Obligationsmrkten refinanziert werden. Wenn sie sich

    6 Diese und die folgenden Zahlen sind der laufenden Berichterstattung der EU-Kommission, des Europischen Statistischen Amts (Eurostat), der EuropischenZentralbank und der Webseite des griechischen Finanzministeriums entnommen.

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    nicht geschlagen geben und den Staatsbankrott proklamieren woll-

    ten, mussten die politischen Klassen Griechenlands und der Euro-Zone jetzt Ersatz suchen. Da die Papandreou-Regierung ber keine Whrungssouvernitt mehr verfgte, war ihr der Weg in eine Hy-perinflation zur geruschlosen monetren Schuldenentlastung oderin einen Mix aus Inflation und Schuldenmoratorium mit einem sichdaran anschlieenden internationalen Schlichtungsverfahren zurberwlzung der Hauptlast auf die Glubiger verbaut. Ihr bliebnur der Gang nach Canossa brig zur EU-Kommission, zur Eu-ropischen Zentralbank (EZB) und zu den Entscheidungszentrender Euro-Gruppe. Da die Zentralen des Euro-Blocks zustzlichauch den Internationalen Whrungsfonds (IMF) mit ins Boot hol-ten, kam es im Mai 2010 zur Installierung einer global abgestimm-ten De facto-Zwangsverwaltung, fr die sich alsbald der Begriff Troika einbrgerte.

    Griechenland unter Zwangsverwaltung: Vom Austerittsprogramm zur Strukturanpassungund zum Staatsbankrott auf Raten

    Im Frhjahr 2010 fanden in Athen, Brssel, Berlin und Paris hekti-sche Verhandlungen zwischen der Papandreou-Regierung und denExpertengruppen der Troika statt. Ihre Ergebnisse wurden AnfangMai in einem ersten Abkommen festgeschrieben, dessen Deal darinbestand, dass die EU-Gremien und der IMF Gelder zur weiterenBedienung der griechischen Staatsschulden auerhalb der freien

    Kapitalmrkte bereit stellten, whrend sich die PASOK-Regierungim Gegenzug bereit erklrte, die Budgetdefizite mit Hilfe einerumfassenden inneren Abwertung abzubauen. Zur Absicherungdieses radikalen Deflationskurses wurden 110 Milliarden Euro be-reitgestellt, zu denen die EU-Gremien 80 Milliarden und der IMF30 Milliarden Euro beisteuerten. Interessanterweise lagen die dabeivereinbarten Zinsstze nur knapp unter dem Durchschnitt derZinsstze der Kapitalmrkte; das waren die Daumenschrauben der

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    nun in Gang kommenden Zwangsverwaltung. Die in den kommen-

    den Jahren aufzubringenden Mittel konnten nur dann mobilisiertwerden, wenn es zu raschen und markanten Lohn-, Einkommens-und Preissenkungen kam, und wenn gleichzeitig auf der Ausga-benseite der ffentlichen Haushalte die Sozialtransfers deutlich ge-krzt und die Einnahmen durch drastische Steuererhhungen ge-steigert wurden.

    Dieses Austerittsprogramm sollte der griechischen Nationalko-nomie innerhalb von drei Jahren 30 Milliarden entziehen, als Ein-sparungen und Zusatzeinnahmen ins Staatsbudget transferierenund zur Bedienung der laufenden Tilgungs- und Zinsverpflichtun-gen eingesetzt werden. Die griechische Gesetzgebungsmaschineriemachte sich entsprechend an die Arbeit und peitschte das Vertrags-werk unter Missachtung elementarer verfassungsrechtlicher Prinzipi-en durch das Parlament. Die Verbrauchssteuern wurden auf 23 Pro-zent angehoben. Die im ffentlichen Dienst Beschftigten musstenLohnkrzungen bis zu 30 Prozent hinnehmen; hinzu kam die Er-hhung der Lohn- und Einkommensteuern. Da die Akteure in die-

    ser ersten Phase ihrer Austerittspolitik noch von einer raschenBesserung der globalen konomischen Rahmenbedingungen und ei-ner dadurch stimulierten Erholung der griechischen Nationalkono-mie ausgingen, glaubten sie allen Ernstes, das griechische Staatsbud-get innerhalb von zwei Jahren auf das in den Maastricht-Vertrgenfestgelegte Neuverschuldungslimit von drei Prozent des Bruttoin-landprodukts zurckfahren zu knnen. Auch der Gipfel der Ge-samtverschuldung inzwischen ber 250 Milliarden Euro sollteschon ab 2013 nach einer bis dahin auf 160 Prozent des BIP ge-schtzten Steigerungsrate unterschritten werden und in den Folge-jahren deutlich absinken.

    Innerhalb der Entscheidungszentren der Euro-Zone und der Eu-ropischen Union war dieses Abkommen umstritten, denn es schienden als unausweichlich geltenden griechischen Staatsbankrott unterder Inkaufnahme erheblicher Transfer-Risiken nur hinauszuzgern.Fr seine Ratifizierung setzte sich vor allem die franzsisch-deut-

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    sche Rstungsindustrie ein, die als Gegenleistung fr die Gewh-

    rung des Darlehenspakets zuvor stornierte Projektauftrge frKriegsschiffe, U-Boote und Panzer im Umfang von knapp dreiMilliarden Euro garantiert erhielt. Fr die Grobanken stand hin-gegen noch mehr auf dem Spiel: In ihren Vorstandsetagen wurdedie Hinauszgerung des Staatsbankrotts um mindestens ein biszwei Jahre als existenzwichtig eingeschtzt. Die griechischen Fi-nanzinstitute hielten zum Zeitpunkt des Abkommens griechischeStaatsanleihen im Umfang von ber 40 Milliarden Euro und wrenschon bei einem dem Marktwert der griechischen Anleihen ent-sprechenden Schuldenschnitt von 60 Prozent sofort bankrottge-gangen. Auch bei den in Griechenland involvierten franzsischen,schweizerischen und deutschen Finanzkonzernen war die Lage kri-tisch. Die griechischen Auslandsschulden summierten sich im Frh-jahr 2010 auf etwa 210 Milliarden Euro (umgerechnet etwa 300Milliarden US-Dollar). Sie verteilten sich zu fast zwei Dritteln auf franzsische, schweizerische und deutsche Kreditinstitute, deren je-weilige Anteile auf 25 Prozent (Frankreich), 21 Prozent (Schweiz)

    und 14,3 Prozent (Deutschland) geschtzt wurden. Die Abschrei-bungs- und Abstoungsoperationen setzten erst nach dem Abschlussdes Zwangsverwaltungsvertrags ein. Bei einem kurzfristig angesetz-ten haircut des griechischen Staatsdefizits wre deshalb auch derZusammenbruch des kerneuropischen Finanzkapitals nur durcheine neuerliche gigantische Sttzungsoperation seitens der europi-schen Institutionen und der jeweiligen nationalen Regierungen zuverhindern gewesen.

    Zumindest den europischen und internationalen Akteurendrfte schon im Mai 2010 die Aussichtslosigkeit der mit dem Troi-ka-Vertrag verknpften Sanierungsziele klar gewesen sein. Aus ih-rer Interessensperspektive war nur die Verzgerung des griechi-schen Staatsbankrotts entscheidend. Darber hinaus sollte am FallGriechenland aber auch ein Beispiel exekutiert werden, um die b-rigen Regierungen der berschuldeten europischen Peripherieln-der von der Notwendigkeit eines selbst verantworteten rigorosen

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    Austerittskurses zu berzeugen, wenn sie die Einsetzung einer

    Zwangsverwaltung la Troika vermeiden wollten. Dagegen scheintdie griechische Regierung zunchst an die Sanierungsziele geglaubtzu haben. Die martialisch-patriotische Rechtfertigung ihres hartenDeflationskurses war zumindest teilweise ernst gemeint. Das Kabi-nett des PASOK-Ministerprsidenten Giorgos Papandreou wolltenicht nur auf Zeit spielen, sondern auch die hrteste Variante desStaatsbankrotts Schuldenmoratorium, Austritt aus der Euro-Zoneund schlagartige Pauperisierung der griechischen Gesellschaft durcheine Whrungsreform vermeiden. Das war auch der Grund, wes-halb die Kader der ehemals sozialistischen Regierungspartei denharten sozial- und wirtschaftspolitischen Austerittskurs hinnah-men. Entgegen den anders lautenden Prognosen vieler frherer Ak-tivisten ihres linken Flgels ist die PASOK bis heute nicht daranzerbrochen.

    Dass die im Troika-Vertrag festgelegten Zielvorgaben tatschlichillusorisch waren, zeigte sich in den folgenden Monaten. Genausowie Japan und die USA bekam auch die Euro-Zone nur wenig von

    der weltwirtschaftlichen Erholung ab, so dass die ueren Stabili-sierungsimpulse ausblieben. Stattdessen geriet Griechenland imGefolge der Umsetzung des Deflationskurses immer tiefer in dieRezession. Im ersten Halbjahr 2011 schrumpfte die Wirtschafts-leistung um weitere 7,5 Prozent. Die offiziell registrierte Arbeitslo-sigkeit stieg auf 16 Prozent und berschritt bei den Jugendlichenbis zu 25 Jahren die 35 Prozent-Marge. Die Einzelhandelsumstzeschrumpften landesweit um ein Viertel, in den Grostdten sogarum 40 Prozent. Es entwickelten sich soziale Zustnde, die immermehr an die Groe Depression der 1930er Jahre erinnerten. Dassoziale Sicherungssystem wurde lcherig, die traditionellen famili-ren Hilfsnetze gewannen wieder an Bedeutung. Achtzig Prozentaller Jugendlichen kehrten in die Familienhaushalte ihrer Eltern zu-rck. Junge Hochschulabsolventen und Informatiker fanden in denvterlichen Kleinbetrieben Einzelhandel, Fischereigewerbe, Ta-vernen, Taxiunternehmen und so weiter Unterschlupf.

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    Im Mai 2011 kehrten die Leiter der Troika-Kommission nach

    Athen zurck, um zusammen mit ihren vor Ort verbliebenen St-ben den Stand der Umsetzung des Beistands- und Austerittspro-gramms zu berprfen. Dabei hatten sie uneingeschrnkten Zu-gang zu den Arbeitspltzen und Datenbanken aller griechischenMinisterien und Behrden. Am 8. Juni 2011 fassten sie ihre Inspek-tionsergebnisse in einem Evaluierungsbericht zusammen.7 Daringaben sie zu, dass die anhaltende und zudem erheblich vertiefte Re-zession die bisherigen Vorgaben illusorisch gemacht hatte, machtenaber auch die zgerliche Umsetzung des Austerittsprogramms frdie Verfehlung der vereinbarten Konsolidierungsziele verantwort-lich. Gleichwohl erklrten sie sich bereit, die Konsolidierung desHaushaltsdefizits im Rahmen eines mittelfristigen Finanzplans bisauf das Jahr 2014 auszudehnen, in dem nunmehr erstmalig dieMaastricht-Kriterien erfllt werden sollten. Darber hinaus solltenauch die Rckzahlungsbedingungen gelockert werden. Die Zinsst-ze der Troika-Darlehen wurden auf 3,5 Prozent ermigt, und zu-stzlich wurden die Laufzeiten unter Einbeziehung von bis zu zehn

    tilgungsfreien Jahren auf 15 bis 30 Jahre verlngert. Bei diesenManahmen handelte es sich um einen verschleierten ersten Schul-denerlass im Umfang von 21 Prozent der Gesamtsumme, in denauch die europischen Glubigerbanken einbezogen werden sollten.

    Fr diese bescheidenen Zugestndnisse mussten die griechischenVerhandlungspartner einen hohen Preis zahlen. Sie wurden ge-zwungen, ein zweites Austerittspaket zu schnren, durch dasnicht nur der Lohn- und Sozialabbau verschrft, sondern auch di-rekte Eingriffe in den ffentlichen Sektor vorgenommen wurden.Dazu gehrte erstens ein umfassender Einstellungsstopp: Nurnoch jeder zehnte altersbedingt frei gewordene Arbeitsplatz sollteneu besetzt werden. Zustzlich sollten bis zu 50.000 Beschftigtedes ffentlichen Dienstes in Auffanggesellschaften versetzt, auf ein

    7 Hauptergebnisse der gemeinsamen Prfung Griechenlands von Kommission,EZB und IMF (3. Mai 2. Juni 2011), 8. Juni 2011. Im Folgenden zitiert und refe-riert nach einer Rohbersetzung des Bundesministeriums der Finanzen.

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    Salr von 60 Prozent herabgestuft und nach einem Jahr in die Er-

    werbslosigkeit entlassen werden. Darber hinaus machte die Troi-ka-Kommission klar, dass sie diesen Eingriff nur als Eintrittspfortezur umfassenden Umstrukturierung der gesamten griechischen Ar-beits- und Sozialpolitik betrachtete: Projektmanager einer TaskForce der Europischen Union sollten in den kommenden Mona-ten Standard-Tarifvertrge fr den ffentlichen Dienst erarbeiten,das Gesundheitswesen entstaatlichen, die Rentenversicherungen de-regulieren und das Mindestlohnsystem herunterfahren. Auf diese Weise konturierten sich die Umrisse eines umfassenden Projektsder arbeits- und sozialpolitischen Umstrukturierung, durch die diegriechische Gesellschaft einer Schocktherapie unterworfen undinnerhalb krzester Zeit an Verhltnisse angepasst werden sollte,fr deren Durchsetzung die neoliberalen Deregulierungsstbe Ker-neuropas mehr als zwei Jahrzehnte bentigt hatten.

    Nach den Vorstellungen der Troika-Kommission konnte Grie-chenland jedoch nur dann wirklich neu aufgestellt werden, wennauch sein umfangreiches ffentliches Eigentum im mglichst glei-

    chen Tempo geschleift wurde. Denn nur so schien gewhrleistet,dass auf die Massenentlassungen und die soziale Entrechtung derArbeiterklasse eine neue ra folgen wrde, in der nun fr alle Er-werbsabhngigen und nicht nur die jugendlichen Berufsanfnger ungeschtzte, zeitlich befristete und wesentlich schlechter ent-lohnte Arbeitsverhltnisse zur Norm wurden und zu einer radika-len Senkung der Lohnstckkosten beitrugen. Deshalb zwangen dieManager der Troika der PASOK-Regierung die Grndung einerNationalen Treuhandbehrde auf, die mit der umfassenden Privati-sierung der ffentlichen Infrastruktureinrichtungen, des ffentli-chen Immobilienbesitzes und der ffentlichen Kommunikations-unternehmen und Versorgungsbetriebe beauftragt wurde. Die imEvaluierungsbericht enthaltene Privatisierungsliste liest sich wie einHorrorkatalog: Sie umfasst Filetstcke wie den InternationalenFlughafen Athen, den Hafen Pirus und die TelefongesellschaftOTE, aber auch Wasserversorgungsbetriebe, die griechische Post-

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    bank, das staatliche Rstungsunternehmen Hellenic Defense und

    touristische Erschlieungsgebiete auf Rhodos und anderen Inseln.8

    Dagegen blieben die traditionell konservativen Eckpfeiler des grie-chischen Etatismus, die Staatskirche und die Armee, verschont. Derriesige Immobilienbesitz der orthodoxen Staatskirche blieb unange-tastet. Auch die Armee musste nur eine minimale Reduktion ihrerRstungsausgaben hinnehmen: Sie soll erst im Jahr 2013 beginnenund lediglich 0,1 Prozent des BIP betragen; die Arzneimittelausga-ben sollen dagegen um 0,4 Prozent gekrzt werden.9

    Erst als der inzwischen vom Verteidigungsressort an die Spitzedes Finanzministeriums gewechselte PASOK-Politiker EvangelosVenizelos den ihm von den Leitern der Troika-Kommission prsen-tierten Privatisierungsplan akzeptierte, erklrten sich diese bereit,der EU-Kommission, der Europischen Zentralbank und dem In-ternationalen Whrungsfonds die Freigabe der fnften Kredittran-che zu empfehlen und ein zweites Darlehensprogramm vorzuschla-gen. Dabei machten sie die folgende Rechnung auf. Im Rahmen einesbis zum Jahr 2014 laufenden mittelfristigen Finanzprogramms soll-

    ten bis dahin aus den Privatisierungen 50 Milliarden Euro erlstund im Ergebnis des zweiten Austerittsplans durch Ausgabenein-sparungen und erhhte Steuereinnahmen weitere 28 MilliardenEuro mobilisiert werden. Im Gegenzug wurde der Geberseite emp-fohlen, das laufende Darlehensprogramm um weitere 109 Milliar-den Euro aufzustocken und die Glubigerbanken mit einem Betragvon bis zu 50 Milliarden Euro am 21-prozentigen Schuldenschnittzu beteiligen.

    Die griechische Seite ratifizierte auch dieses zweite Abkommenin einem parlamentarischen Parforceritt. Von den durch die Troikareprsentierten Glubigern wurde es dagegen erst einige Wochenspter verabschiedet und nahm am 21. Juli seine letzte Hrde. Zu-stzlich wurde aber auch schon der nchste Schuldenschnitt vorbe-reitet. Da dabei auch jetzt noch erhebliche Kollateralschden be-

    8 Ebd., Anlage 2: Vorlufiger Privatisierungsplan, S. 14 f.9 Vgl. ebd., Tab. 3, S. 4.

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    frchtet wurden, die insbesondere die europischen Glubigerban-

    ken und die brigen berschuldeten Peripherielnder der Euro-Zo-ne gefhrden konnten, wurde die Grndung einer unabhngig vonder Europischen Zentralbank operierenden Europischen Finanz-stabilitts-Fazilitt (EFSF) in Angriff genommen. Hinter diesemumstndlichen Namen versteckt sich nichts anderes als ein auf dieEuropische Union heruntergebrochener Internationaler Whrungs-fonds, der knftig schon im Vorfeld krisenhafter Entwicklungen ak-tiv werden soll. Er soll Sttzungskredite vergeben, prekr geworde-ne Staatsanleihen aufkaufen, Offenmarktoperationen durchfhrenund notleidend gewordene Banken rekapitalisieren. Erst nach derEtablierung der mit insgesamt 780 Milliarden Euro ausgestattetenEFSF wurde eine geordnete griechische Staatspleite mit einemsich auf mindestens 60 Prozent belaufenden Schuldenschnitt frmglich gehalten.

    Dieser bergang zum Plan B blieb den mehr und mehr zu Er-fllungsgehilfen degradierten griechischen Regierungsbehrden na-trlich nicht verborgen. Zustzlich fhlten sie sich durch die Zusa-

    ge eines zweiten Darlehensrahmens entlastet. Da die konsequenteUmsetzung des aufgesattelten zweiten Austerittsplans zudem einenoffenen Angriff auf die Beschftigten des ffentlichen Sektors, diewohl wichtigste Whlergruppe der PASOK, darstellte, versuchtenPapandreou und Venizelos nun auf Zeit zu spielen. Als die Troika-Beauftragten im August nach Athen zurckkehrten, erklrten ih-nen die griechischen Spitzenpolitiker durchaus wahrheitsgem, die Rezession habe sich weiter vertieft und knne bei einer ra-schen Umsetzung der Austerittsprogramme vollends auer Kon-trolle geraten. Sie forderten deshalb eine weitere Streckung derZielvorgaben der Haushaltskonsolidierung und vorgezogene Zah-lungen aus dem gerade verabschiedeten zweiten Darlehenspaket.

    Diese Argumente wollten die Troika-Kommissare jedoch nichtgelten lassen. Sie warfen den Regierungsbehrden vor, dass sie dieUmsetzung der Massenentlassungen verzgerten und die verein-barten Privatisierungen verschleppten. Es kam zu heftigen Ausein-

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    andersetzungen, aber die Delegationsleiter der EU-Kommission,

    der Europischen Zentralbank und des Internationalen Whrungs-fonds blieben unnachgiebig. Sie forderten die rasche Standardisie-rung und Senkung der Lhne im ffentlichen Sektor, den Beginnder Massenentlassungen in die Auffanggesellschaft und die ber-tragung der ffentlichen Unternehmen auf die Privatisierungsge-sellschaft, der inzwischen der Chef der Investmentabteilung derEuro-Bank (Latsis-Gruppe) vorstand. Es kam zunchst zu keinerEinigung. Die Leiter der Troika-Kommission reisten daraufhin An-fang September wieder ab, whrend ihre Stbe den nchsten Evalu-ierungsbericht vorbereiteten und die ersten Projektmanager derTask Force der EU-Kommission ihre Ttigkeit aufnahmen.

    Das Aufbegehren der griechischen Regierungsvertreter war je-doch nur von kurzer Dauer. Die deutsche Regierung lie nun offenerkennen, dass sie bei einer weiteren Verzgerung des Restruktu-rierungsprogramms ein beschleunigtes Bankrott-Szenario vorzog.Diese Drohung lste in Athen Panik aus. Papandreou und Venize-los erkannten, dass sie am krzeren Hebel saen. In der zweiten

    Septemberhlfte begann die Umsetzung der ersten Beschftigtendes ffentlichen Diensts in die Auffanggesellschaft, und der Na-tionale Wohlfahrtsfonds lancierte die ersten Privatisierungsauktio-nen. Um den durch die Rezession bedingten Rckgang der Steuer-einnahmen zu kompensieren, wurde eine Serie von Sondersteuerneingefhrt, die die krisengeschttelten Privathaushalte weiter belas-teten. Von besonderer Bedeutung waren dabei eine Sondersteuerauf alle Wohn- und Grundstcksimmobilien, eine Sonderabgabeder Freiberufler und ein sogenannter Solidarittszuschlag, der vielehistorisch bewusste Griechen an die Kopfsteuer (charatsi) der os-manischen Besatzungsherrschaft erinnerte.

    Durch alle diese Manahmen konnten die laufenden Steuerein-knfte bis Mitte Oktober deutlich erhht werden. Trotzdem wur-den auch jetzt wieder die Vorgaben des revidierten Stabilisierungs-programms verfehlt. Unter der Supervision der Ende Septemberwieder nach Athen zurckgekehrten Zwangsverwalter legte die

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    griechische Regierung inzwischen einen revidierten Haushaltsplan

    vor, der fr 2011 ein Defizit im Umfang von 8,5 Prozent des BIPund fr 2012 von 6,5 Prozent vorsieht; die Gesamtverschuldungsoll von 161,8 Prozent Ende 2011 bis Ende des nchsten Jahrs auf 172,8 Prozent ansteigen. Aber auch diese Annahmen sind fraglich,denn sie gehen fr das Jahr 2011 von einer Rezessionsrate von 5,5Prozent und fr 2012 von 2,8 Prozent aus beide Indikatoren sindauch bei dieser dritten Prognose viel zu optimistisch angesetzt.

    Im Windschatten dieser weiter verschlechterten dritten Progno-sen haben sich die Entscheidungsprozesse auf europischer Ebeneverzgert. Die Troika legte ihren Evaluierungsbericht ber das drit-te Quartal erst Mitte Oktober vor. Wenige Tage zuvor teilte sie je-doch in einem Kommuniqu mit, das Stabilisierungsprogramm seiim Wesentlichen umgesetzt worden, so dass eine Bewilligung dersechsten Darlehenstranche im Umfang von acht Milliarden Euroins Auge gefasst werden knne. Es soll also zunchst weiter auf Zeit gespielt werden, bis die gerade vom letzten der 17 Euro-Mit-gliedslnder parlamentarisch abgesegnete EFSF funktionsfhig ge-

    worden ist und die zu erwartenden Kollateralschden des griechi-schen Staatsbankrotts abwehren kann. Dass die griechischenFinanzkonzerne dieses Ereignis nur mit Hilfe der EFSF berstehenknnen, ist unzweideutig, denn sie mssen ihre im Umfang von in-zwischen 48,2 Milliarden Euro gehaltenen griechischen Staatsanlei-hen zu einem Amortisationssatz von mindestens 60 Prozent (fast29 Milliarden Euro) abschreiben. Dagegen haben die franzsischenund deutschen Banken inzwischen vorgesorgt und ihre Anleihenweitgehend an die Europische Zentralbank und ihren jeweiligenstaatlichen Bankensektor abgestoen. Das franzsische Griechen-land-Risiko summiert sich nur noch auf 9,4 Milliarden Euro, kon-zentriert sich aber auf nur vier Bankkonzerne, die sich zudem wieetwa die franzsisch-belgische Dexia-Bank aus anderen struktu-rellen Grnden in einer Schieflage befinden. In Deutschland sindhingegen noch zwlf Banken mit Griechenland-Anleihen im Volu-men von 7,6 Milliarden Euro belastet, auf die sie die bei einem

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    Staatsbankrott zu erwartenden Wertberichtigungen teilweise schon

    vorgenommen haben. Diese rasche Flucht aus dem Risiko war nurdeshalb mglich, weil ihnen zustzlich zur Europischen Zentral-bank die staatliche Kreditanstalt fr Wiederaufbau und die ver-staatlichte Bad Bank der Hypo Real Estate Griechenlandanleihenim Umfang von ber 22 Milliarden Euro abgenommen haben. Frdiesen Betrag mssen nun die Steuerzahler haften.

    So steht dem von den Zwangsverwaltern seit dem Frhjahr 2010hinausgezgerten Staatsbankrott Griechenlands nichts mehr im Weg. Er wird jedoch mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlich-keit so stattfinden, dass die griechische Regierung unter der Kon-trolle der Troika verbleibt. Eine Entlassung aus der Euro-Zonesteht zumindest derzeit nicht zur Debatte. Die griechische Gesell-schaft wird deshalb auch nach dem Schuldenschnitt ihrer ffentli-chen Haushalte mit den Zumutungen einer Schocktherapie kon-frontiert bleiben, die darauf abzielt, sie innerhalb krzester Zeit andie Arbeits-, Sozial- und Lebensverhltnisse der europischen Kern-zone anzupassen. Ob dies gelingen wird, ist eine ganz offene Frage.

    Die Herausforderungen des Umbruchs und die damit einhergehen-den Zumutungen sind gewaltig. Die Mehrheit der griechischen Ge-sellschaft ist ratlos, fatalistisch und niedergeschlagen. Sie sieht kei-nen Ausweg, und sie gibt dem oft nicht weniger perspektivloswirkenden sozialen Widerstand einer aktiven Minderheit noch keine Chance. Die einzige Berufsschicht, die sich in Griechenlandderzeit im Aufwind befindet, sind die Psychotherapeuten undPsychiater. Ihre Praxen sind berfllt, und der Verbrauch der Anti-depressiva ist im vergangenen Jahr um 40 Prozent gestiegen. Einegroe Furcht beginnt sich breit zu machen. Kollektive Verngsti-gungsprozesse waren schon immer die Vorzeichen dramatischer re-gressiver Ereignisse bis hin zum gesellschaftlichen Zusammen-bruch. Die Verzweiflung kann aber auch immer zum kollektivenAufbegehren und zum Aufstand umschlagen. Die griechische Ge-schichte kennt dafr viele Beispiele.

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