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1 Antike Wurzeln Auch wenn es in den antiken Zivilisationen keinen direkten Hin- weis auf die Technische Analyse gibt, kann man verstreute indirekte Hinweise in frühen Marktpraktiken erkennen. Man sollte beden- ken, dass die Technische Analyse nicht nur ein Werkzeugkasten ist, der aus Kopf-Schulter-ähnlichen Mustern und Indikatoren wie dem MACD besteht – wie viele heute glauben –, sondern die Anwen- dung der Kurse der Vergangenheit zur Prognose künftiger Kurse ganz allgemein. Unter dieser Voraussetzung finden wir in den ba- bylonischen Aufzeichnungen der Preise, in den griechischen Ein- schätzungen der Marktstimmung und in den römischen Mustern der Saisonabhängigkeit Hinweise auf die Technische Analyse. Un- sere Vorfahren verfolgten nicht nur die Preise im Markt, sondern versuchten ganz bewusst Ungleichgewichte zwischen Angebot und Nachfrage in den Preisen zu erkennen, zu messen und darauf zu ihrem Vorteil zu reagieren. Oft kombinierten sie ihre Erkenntnisse mit »Daten« aus der fundamentalen Natur oder der Astrologie. Des- halb sollte es nicht überraschen, dass in der Antike die Methoden der technischen Prognose unentwirrbar miteinander verbunden waren und sich in manchen Fällen aus dem Handel und der Speku- lation ergaben. Deshalb betrachten wir sie in diesem Kapitel neben- einander. Die Anfänge Menschen handeln. Im Verlauf der späten präkeramischen Jung- steinzeit, als das Leben in Dörfern begann, Pflanzen angebaut und Tiere domestiziert wurden, tauschten die Siedler im Jordantal Güter, Die Anfänge 17

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1Antike Wurzeln

Auch wenn es in den antiken Zivilisationen keinen direkten Hin-weis auf die Technische Analyse gibt, kann man verstreute indirekteHinweise in frühen Marktpraktiken erkennen. Man sollte beden-ken, dass die Technische Analyse nicht nur ein Werkzeugkasten ist,der aus Kopf-Schulter-ähnlichen Mustern und Indikatoren wie demMACD besteht – wie viele heute glauben –, sondern die Anwen-dung der Kurse der Vergangenheit zur Prognose künftiger Kurseganz allgemein. Unter dieser Voraussetzung finden wir in den ba-bylonischen Aufzeichnungen der Preise, in den griechischen Ein-schätzungen der Marktstimmung und in den römischen Musternder Saisonabhängigkeit Hinweise auf die Technische Analyse. Un-sere Vorfahren verfolgten nicht nur die Preise im Markt, sondernversuchten ganz bewusst Ungleichgewichte zwischen Angebot undNachfrage in den Preisen zu erkennen, zu messen und darauf zuihrem Vorteil zu reagieren. Oft kombinierten sie ihre Erkenntnissemit »Daten« aus der fundamentalen Natur oder der Astrologie. Des-halb sollte es nicht überraschen, dass in der Antike die Methodender technischen Prognose unentwirrbar miteinander verbundenwaren und sich in manchen Fällen aus dem Handel und der Speku-lation ergaben. Deshalb betrachten wir sie in diesem Kapitel neben-einander.

Die Anfänge

Menschen handeln. Im Verlauf der späten präkeramischen Jung-steinzeit, als das Leben in Dörfern begann, Pflanzen angebaut undTiere domestiziert wurden, tauschten die Siedler im Jordantal Güter,

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die sie dort vorfanden – zum Beispiel Salz, Bitumen, Schwefel – mitNomaden, aber auch über weite Strecken hinweg Obsidian sowieWeizen und Schafe mit Menschen auf dem zentralanatolischen Pla-teau und auf dem Zagros-Taurus-Bogen (einem Gebirgszug zwi-schen Europa, Asien und dem levantinischen Korridor nach Afrika).1

In der keramischen Phase der Neusteinzeit bauten Siedler am Randedes Zagros-Gebirges Dörfer, während nomadische Hirten ihre Zelteauf den Anhöhen aufschlugen. Obwohl es für Märkte während dessechsten Jahrtausends v. Chr. im Zagros keine Beweise gibt, ist es si-cher, dass die Dorfbewohner mit den Nomaden Getreide, Mehl,Obst, Gemüse und Werkzeuge gegen Butter, Wolle, Lammfell undHaustiere tauschten. Auch der Fernhandel nahm zu, wobei zahlrei-che neue Materialien wie Alabaster, Marmor, Zinnober, Holz, Kalk-stein, Nephrit und Eisenoxide gehandelt wurden.2 In den späterenPhasen der Jungsteinzeit, etwa 5000 v. Chr., spezialisierten sich dieDörfer und Städte oder Tempelzentren, an denen möglicherweiseauch Märkte entstanden. Der Fernhandel blühte wie nie zuvor, über-wand Entfernungen von bis zu 2500 Kilometer und die Rohstoffewaren von erstaunlicher Vielfalt.3

Während der frühen Bronzezeit, besonders im 24. Jahrhundertv.Chr., gründete Sargon der Große das erste mesopotamische Reichmit der Hauptstadt Akkad und deren Tempel als Zentrum des Wirt-schaftslebens des Imperiums. Kaufleute arbeiteten offiziell für denTempel und verfolgten nebenbei private unternehmerische Geschäf-te. Mit der Säkularisierung der politischen Macht erweiterte sich derHandelsbereich auch auf den Palast.4 In der epischen Literatur derSumerer, zu der auch das Gilgamesch-Epos zählt, sind Hinweise aufdie wirtschaftlichen Gegebenheiten dieser Periode im Überfluss vor-handen.5 Nach dem Fall des letzten dieser Imperien, der Dritten Dy-nastie von Ur, etwa um 2000 v. Chr., entstanden zahlreiche dezentra-lisierte Stadtstaaten, von denen jeder offiziell unter der Führungeines Königs stand, in Wirklichkeit aber von Kaufleuten regiertwurde. Die gleichen Kaufleute errichteten Handelskolonien in Anato-lien, beispielsweise im berühmten Karum Kanesh.6 In der folgendenaltbabylonischen Epoche war der Handel in Händen der so genann-ten Takamaru, die Kaufleute, Zwischenhändler, Bankiers, Geldverlei-her und Regierungsbevollmächtigte waren. Takamaru handelten mit

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Sklaven, Lebensmitteln, Wolle, Bauholz, Bekleidung, Textilien, Ge-treide, Wein, Metallen, Baustoffen sowie Rindern und Pferden. Dabeihandelten sie entweder selbst oder liehen anderen Geld, um für sieauf Handelsreisen zu gehen.7

Die späte Bronzezeit war durch eine rigide politische Struktur ge-kennzeichnet und alle Handelsaktivitäten standen unter der Kontrol-le des Palastes.8 In der Eisenzeit wurde die politische Macht dezentra-lisiert und die großen Palaststädte der Bronzezeit wurden durch zahl-reiche weit gestreute Siedlungen ersetzt, die sich in die zuvor unbe-siedelten Regionen ausbreiteten. Natürlich profitierte der Fernhandelüber See und über Land enorm davon. Die Folge davon war, dass dieKaufleute wesentlich freier wurden, was ihre Geschäftstätigkeit undihre Bewegungsfreiheit anging. Ein Kaufmann in der Eisenzeit warnicht mehr Angestellter des Palastes, der nur nebenbei auf eigeneRechnung Geschäfte machte. Nun arbeitete er hauptsächlich auf ei-gene Rechnung, seine Geschäftstätigkeit wurde nicht mehr vom Pa-last, sondern von Marktvorteilen bestimmt.9

Nirgendwo war das Streben nach Reichtum so stark ausgeprägtwie in Babylon, einer Brutstätte wirtschaftlicher Innovationen. Bei-spielsweise führten die alten Babylonier ein System von Maßen undGewichten ein, die Geschäftsvorgänge wurden formalisiert, Verträgewurden auf Lehmtafeln geschrieben und von den beteiligten Parteienunterzeichnet. Sie erfanden sogar Gesellschaften mit beschränkterHaftung. Die Arbeit war so verteilt, dass ein Partner als Geldgeberseinen Gewinn zuhause machte, während der andere auf Geschäfts-reisen ging. Die Ansammlung von Reichtümern war nicht nur fürKönige und Tempel wichtig, sondern auch für Privatpersonen, bei-spielsweise im fünften Jahrhundert v.Chr. für die berühmte FamilieMurashu, wohlhabende Banker aus Nippur. In dieser Zeit entwickel-te sich der Handel zu einem Beruf – ein Händler arbeitete als Zwi-schenhändler oder als Makler und handelte mit Produkten, die ernicht selbst herstellte.10 Unter diesen Bedingungen wurde die Tech-nische Analyse in Babylon erstmals genutzt.

Bevor wir Parallelen zwischen den Praktiken im antiken Babylonund der modernen Technischen Analyse aufzeigen, müssen wir fest-stellen, dass die Preise in diesen Zeiten nicht von den herrschendenRegenten festgelegt und kontrolliert wurden, sondern dass sie dem

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Markt überlassen waren, also den Käufern und Verkäufern, die sieuntereinander aushandelten.

Die Existenz von Märkten im antiken Mesopotamien ist gut belegt.Nicht viel anders als heute, wurde »die Straße« mit dem Markt inVerbindung gebracht. Beispielsweise dokumentieren sumerischeLehmtafeln aus dem zweiten Jahrtausend die Existenz der suk shima-tim oder »Handelsstraße«, und darauf wurde notiert, dass sachiru(Hausierer, Wiederverkäufer) Waren »auf der Straße« verkauften.11

Der altbabylonische Begriff bit machiri »scheint sich auf den Markt-stand eines Kaufmanns zu beziehen ... von geringer Größe ... und anbenachbarte Marktstände angebaut.«12 Als die Märkte sich von spon-tanen Versammlungen zu festen Bestandteilen des bürgerlichen

Abbildung 1.1 Vase mit überlappenden Mustern unddrei Bändern aus Palmbäumen. Mitte des 3. Jahrtausendsv.Chr. von der arabischen Halbinsel, der Golfregion oderdem südlichen Iran. Chlort, Höhe 23,5 cm. Geschenk vonJ. Piermont Morgan, 1917 (17.190.106)(Quelle: Bildrechte © The Metropolitan Museum of Art/Art Resource, NY.)

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Abbildung 1.2 Verwaltungstafel mit Eindruck einesZylindersiegels einer männlichen Figur, Jagdhunden undEbern. 3100–2900 v.Chr. Jamdat Nasr, im Stil Uruk III,südlicher Teil Mesopotamiens. Lehm, Höhe (5,3 cm).Erworben von Raymond und Beverly Sackler, Geschenk1988 (1988.433.1)(Quelle: Bildrechte © The Metropolitan Museum of Art/Art Resource, NY.)

Lebens entwickelten, kamen auch neue Worte auf, die diese Einrich-tungen beschrieben. Der akkadische Begriff machiru, der ursprüng-lich die abstrakte Bedeutung von »Preis, Marktwert« und »wirtschaft-liche Tätigkeit« hatte, bekam zu Beginn der spätassyrischen undspätbabylonischen Epoche die konkrete Bedeutung »Marktplatz«.13

Darüber hinaus berichten Tausende von Dokumenten aus den as-syrischen Handelsstationen über Preisschwankungen. Beispielswei-se berichtet ein Händler über die hohen Preise der babylonischenStaaten, die Textilien herstellen: »Wenn es möglich ist einen Kauf zutätigen, bei dem wir einen Gewinn machen, dann werden wir für Siekaufen.«14 Hinweise aus dem dritten Jahrtausend v.Chr. lassen ver-muten, dass die Preise für Gerste wild schwankten. Mit einem Sche-kel Silber konnte man zu verschiedenen Zeiten 10, 20 oder 120 Quar-te Gerste kaufen. Auf der Grundlage dieser Preise konnte man zwi-schen mu-he-gal-la (einer guten Ernte) und mu-mi-gal-la (einerschlechten Ernte) unterscheiden.15 Weitere Hinweise lassen vermu-

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ten, dass die Preiserhöhungen in direkter Beziehung zur Nachfragestanden. Wenn in Anatolien viele Händler Kupfer kaufen wollten,dann kannte ein anatolischer Händler die Auswirkungen, die das aufden Kupferpreis haben würde, und schrieb seinem Geschäftspartner:»Innerhalb der nächsten zehn Tage werden die Kupfervorräte [desPalastes] aufgekauft sein. Ich werde dann Silber kaufen [das heißt,Kupfer verkaufen] und es dir schicken.«16 Auch Propheten erkann-ten, dass höhere Angebote die Preise senken würden: Als der Pro-phet Elias im neunten Jahrhundert v.Chr. prognostizierte, dass diesyrische Belagerung aufgehoben würde, sagte er auch, dass »morgenum diese Zeit bei den Spielen von Samaria ein Maß soleth [feinesWeizenmehl] für einen Schekel und zwei Maß Gerste für einen Sche-kel verkauft« würden.17

Das antike Babylon

Eines der wunderbarsten Zeugnisse des antiken Babylons ist derFund von Lehmplatten, auf denen die Babylonier ihre Sagen, ihre Ge-setze und ihre Geschichte eingemeißelt hatten. Beispielsweise wer-den auf vielen Platten, von denen einige aus dem zweiten Jahrtau-send v.Chr. stammen, wie in einem Lehrbuch Probleme von Zinssät-zen und deren Lösungen dargestellt.18 In einer anderen Sammlungvon Lehmplatten schrieben die antiken Babylonier Tagebücher überastronomische Beobachtungen und über Preise verschiedener Roh-stoffe in Babylon – und das über fast vier Jahrhunderte hinweg. Ob-wohl die ersten bekannten Tagebücher auf 651 v.Chr. datiert sind,geht man allgemein davon aus, dass die meisten Tagebücher aus derZeit zwischen 747 und 734 v.Chr. stammen, aus der Zeit, als Nebu-kadnezar regierte. Die beiden frühesten Tagebücher, die zwischen651 und 567 v.Chr. geschrieben wurden, beschrieben jeweils 12 Mo-nate.19 Spätere Tagebücher umfassten unterschiedliche Zeiträume:Tage, Wochen, Monate und sogar Jahre. Ein typisches Tagebuch invollem Umfang umfasste ein ganzes babylonisches Jahr oder dieerste Hälfte davon.20

Slotsky nennt die mesopotamischen Aufzeichnungen über dieMarktwerte von Rohstoffen eine alte und stetig weitergeführte Tradi-

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tion, die nicht nur astronomische Tagebücher umfassten, sondernauch literarische Werke und erinnerungswürdige Errungenschaf-ten.21 Um diesen Standpunkt darzustellen, verweist Slotsky auf diealtbabylonischen königlichen Inschriften, die »ideale« Rohstoffpreiseangeben, um so »das Image einer blühenden Regentschaft zu propa-gieren«.22 Andere Beispiele sind die Gesetze von Esnunna und derGesetzescodex von Hittie, die beide gesetzlich verordnete Preise fürverschiedene Rohstoffe erläutern. Zu anderen Quellen für Rohstoff-preise zählen die Chronik der Marktpreise und literarische Texte wiedas Krönungsgebet von Assurbanipal und der Fluch von Agade.23

Die Grundlage der Währungseinheit war der Silberschekel unddie Preise fanden ihren Ausdruck in der Menge, die man für einenSchekel kaufen konnte. So berichtet beispielsweise ein Tagebuch diefolgende Preisauszeichnung: »In diesem Monat bekam nan für einenSchekel gehämmertes Silber 2 pan 4 sut 3 qa Gerste.«24 Stetig, Jahr-hunderte hindurch, dokumentieren diese Tagebücher den Wert vonsechs immer gleichen Rohstoffen – Gerste, Datteln, Senf/Seide,Kresse/Kardamom, Sesam und Wolle – ein Zeugnis für ihre Bedeu-tung in Babylon. Slotsky erklärt:

Alle sechs Rohstoffe zählten zum Grundbedarf. Gerste, Dattelnund Wolle waren seit frühesten Zeiten verbreitet im Gebrauchund behielten für Jahrtausende ihre wirtschaftliche Rolle alsZahlungseinheit und Tauschmittel. Senf/Seide und Kresse/Kar-damom erlangten wegen ihrer Beliebtheit in der mesopotami-schen Ernährung und dem verbreiteten Gebrauch in der Medi-zin große Bedeutung, besonders im ersten Jahrtausend. Allestammten aus dem Land, alle konnten gelagert werden und allewaren Rohstoffe, aus denen andere Grundstoffe hergestellt wer-den konnten.25

Während der 400 Jahre, in denen die Tagebücher erstellt wurden,veränderte sich deren Aufbau nicht sehr. Sie begannen normalerwei-se mit einem Titel, der den Zeitraum festhielt, für den das Tagebuchgalt, etwa »Tagebuch von Monat I bis Monat VI des 23. Jahres desAres, der König Artaxerxa genannt wird.«26 Längere Tagebücher wur-den durch die Zusammenfassung kürzerer Tagebücher zusammen-gestellt und dann in mehrere bestimmte Abschnitte aufgeteilt. Bei-

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spielsweise wurde ein Tagebuch für ein halbes Jahr in sechs oder sie-ben Abschnitte aufgeteilt, von denen jeder einem Mondmonat ent-sprach. Zu Beginn eines jeden Abschnitts berichtete der Schreiberüber seine Beobachtungen und über die ersten Anzeichen der Sicht-barkeit des neuen Monds. Er widmete den Text des Abschnitts einerdetaillierten Beschreibung der Vergrößerung des Monds zwischenden normalen Sternen und Planeten im Verlauf dieses Monats. Erfügte dem auch Informationen über das Wetter, über Kometen, Me-teoriten, Verfinsterungen, Tag-und-Nachtgleichen und Sonnenwen-den hinzu. Gegen Ende des Abschnitts berichtete er über die letztenAnzeichen der Sichtbarkeit des Monds. Letztlich bestand die ab-schließende Passage aus Daten zur Position der Planeten, zumMarktwert der sechs Rohstoffe und zum Wasserstand des Euphrat.Manchmal wurden einige geschichtliche Anmerkungen in den Ab-schluss eingefügt, die sich auf vorhergehende Monate oder Jahre be-zogen.27

Aktienauswahl

Nun wollen wir die Parallelen zwischen den babylonischen Tage-büchern und der heutigen Technischen Analyse betrachten. Alleindie Tatsache, dass die Tagebücher den Wert der immer gleichensechs Rohstoffe dokumentieren, und das über Jahrhunderte hinweg,hat doch eine gewisse Ähnlichkeit mit den heutigen Vorgehenswei-sen. Erstens raten einige der Lehrbücher zur klassischen Techni-schen Analyse, sehr sorgfältig eine kleine Anzahl an Aktien auszu-wählen, denen man besondere Aufmerksamkeit widmet. So zumBeispiel Gartley: » ... einige wenige gut ausgewählte Charts, höchstgewissenhaft studiert, können von weit größerem Nutzen für die Ent-scheidungsfindung sein als ein riesiges Portfolio, in dem mehrerehundert Aktien enthalten sind, denen man nur gelegentlich Auf-merksamkeit widmet.«28 Zweitens lehrt die Technische Analyse, dieausgewählten Aktien lange Zeit zu beobachten. Wie Schabacker sagt:»Das Verständnis des technischen Verhaltens einer jeden Aktie, oderjeder Gruppe von Aktien, kann nur aus langem Studium des realenMarktverhaltens und der Vergangenheit des Marktes resultieren.«29

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Wenn man die Preise der immer gleichen Rohstoffe über 400 Jahrehinweg beobachtet, dann war es genau das, was die antiken Babyloni-er machten.

Tagebücher als Form von Charts

Slotsky begründet die Sitte der babylonischen Aufzeichnungen derMarktnotierungen mit »sie wurden regelmäßig aufgezeichnet, so dassdie Schwankungen während eines jeden Monats des Jahres beobachtetwerden konnten.«30 Als ein Beispiel für diese Art der Darstellung zeigtsie keine Grafik, sondern sagt: » ... bis zum 15., 5 1/2 qa; dem 16. unddem 17., 5 qa ein Viertel und die Hälfte eines Viertels.«31 Dennoch, dieInterpretation der astronomischen Tagebücher als eine Form vonCharts ist durchaus berechtigt. Liest man Schabackers Werk sorgfältig,das immerhin zu den einflussreichsten Werken über die technischeSeite des Marktes zählt, das jemals geschrieben wurde, könnte manvermuten, dass er mit dieser Aussage einverstanden wäre.32 NachSchabacker kann ein Chart »verschiedene Formen annehmen undauch in diesen Formen für viele verschiedene Chiffrierungen wichti-ger Marktfaktoren übernommen werden ... grundsätzlich gesehen ...ist [es] kaum eine sichtbare Aufzeichnung der Vorgänge am Aktien-markt über einen Zeitraum hinweg.«33 Dass die babylonischen Tage-bücher eine sichtbare Aufzeichnung der Marktnotierungen sind, kannnicht geleugnet werden. Gartley, ein anderer der »erlauchten Namenim Bereich der Technischen Analyse«34 legt nahe, dass »die erstrangi-ge Funktion eines Charts es ist, genaue und sachliche Daten bereitzu-stellen.«35 Die Tagebücher erfüllten diese Funktion ganz sicher. Slots-ky sagt es so: »Für jeden, der sich intensiv mit der Analyse der Datendieser Tagebücher beschäftigt hat, kann es kaum Zweifel geben, dassdiese Preise dem tatsächlichen Marktwert entsprachen.«36

Zeitrahmen und Volatilität

In seinem klassischen Text Stock Market Theory and Practiceschrieb Schabacker, dass »es Tages-Charts, Wochen-Charts, Monats-

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Charts und sogar Jahres-Charts gibt.«37 Er fügte hinzu, »je kleinerder Zeitrahmen ist, der individuell aufgezeichnet wurde, umso flexib-ler ist der Chart und deshalb umso wertvoller für die Verfolgung klei-nerer vergangener Gewohnheiten und Aktionen.«38 Das würde besa-gen, dass eine höhere Volatilität einen engeren Zeitrahmen verlangt,so dass kleinere Fluktuationen effektiver verfolgt werden können.Schabackers Ratschlag ist den Praktiken der antiken babylonischenSchreiber sehr ähnlich. Diese Schreiber passten die Häufigkeit, mitder sie die Marktnotierungen in den astronomischen Tagebüchernaufzeichneten, der Marktvolatilität an. Wenn die Volatilität zunahm,dann wurden die Notierungen nicht wie sonst am Ende jedes Mo-nats, sondern zu Beginn des Monats, in der Mitte und am Ende desMonats, nach einigen Tagen oder sogar täglich vorgenommen.«39

Wenn die Schwankungen noch weiter zunahmen, »dann wurdenselbst die geringsten Veränderungen aufgezeichnet.«40 Beispielswei-se wurden die Preise an einem besonders volatilen Tag sogar zwei-mal, am Morgen und am Nachmittag, aufgezeichnet.«41

Weiße Flecken

»Einige Charts haben für jeden Tag im Jahr eine Linie«, schriebSchabacker, »aber das bedeutet, dass Feiertage einen weißen Fleckenim Bild hinterlassen, die das Bild des Charts verzerren.«42 So wietechnische Charts berichten die astronomischen Tagebücher über»Unterbrechungen oder Aussetzungen der Verkäufe von Rohstoffen... an bestimmten Tagen an ganz bestimmten Orten.«43 Manchmalbeziehen sich diese Unterbrechungen auch nur auf einen Rohstoff.Beispielsweise wird in einem Tagebuch geschrieben: »am 25. und 26.Tag wurde der Verkauf von Gerste ausgesetzt«44, während in einemanderen Tagebuch steht, dass der »[Handel mit] Gerste in den Stra-ßen von Babylon ausgesetzt wurde.«45 Zu anderen Zeiten betrafendie Aussetzungen mehrere Rohstoffe: »Der Verkauf von Gerste undallem anderen wurde in den Straßen von Babylon bis zum 5. ausge-setzt.«46

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Vorhersagen mit Omen

Die Sammlung über das himmlische Omen der Babylonier be-richtet über deren Versuche, den Feldbau, den Ertrag und die Lage-rung verschiedener Rohstoffe zu prognostizieren, ebenso das Ver-halten ihrer Marktpreise.47 Diese Vorhersagen waren astrologischerArt. Slotsky sagt beispielsweise, dass das Gedeihen der Datteln undder Ernte von Senf/Seide »der astrologischen Region der Fische zu-geschrieben wurde, wenn die günstigen Planeten dunkel und dieungünstigen Planeten hell leuchteten.«48 Andererseits »war Sesamdem Sternbild Stier zugeordnet, doch wenn die ungünstigen Plane-ten hell waren und die günstigen Planeten dunkel, dann fiel dieserRohstoff in das Sternbild der Fische.« Von den sechs Rohstoffenwerden Gerste, Datteln und Sesam in der Sammlung himmlischerOmen am häufigsten genannt.49 Beispielsweise zählen zu denOmen für Gerste Aussagen wie »das kultivierte Feld für Gerste wirdgedeihen«, »Rostpilz wird die Gerste angreifen«, »es wird keineGerste geben, die Geschäfte werden geringer, es wird zu einer Hun-gersnot kommen«, »Gerste wird aus dem Land verschwinden«,»Gerste wird teuer«.50 In den Omen für Datteln wird angemerkt,dass »die Dattelplantagen nicht gedeihen werden«, »die Dattelnnicht gedeihen werden«, »der Kaufpreis für Datteln wird nicht fairsein« und so weiter.51 Im Fall von Sesam ist es ganz ähnlich, dennda wird gesagt: »die Sesamernte wird gut sein«, »Kurusissu-Schäd-linge werden die Ernte fressen«, »Gerste und Sesam werden zuneh-men und für den Gegenwert von [nur] einem qa wird 1 kur bezahlt[werden müssen]«.

Die Tagebuchschreiber notierten nicht nur die Marktpreise unddie damit in Verbindung stehenden Phänomene, sondern verwende-ten diese Daten auch für wissenschaftliche Prognosen. Slotsky lässtsich über diesen Punkt wie folgt aus:

Die astronomischen Daten der Tagebücher wurden nicht nur fürdie beobachtbaren Grundlagen der Mond- und Planetentheoriegenutzt, sondern auch zur Vorhersage von Phänomenen wie»Ziel-Jahren« (dem Zeitraum, den der Mond oder ein Planetbrauchen würde, um an seinen Ausgangspunkt zurückzukeh-

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ren). Obwohl es keine vergleichbaren Belege dafür gibt, dass an-dere Beobachtungen in Tagebüchern für Prognosen genutzt wor-den wären, gibt es in den Tagebüchern Anzeichen dafür, dasssowohl die Marktpreise als auch der Wasserpegel des Euphratsorgfältig beobachtet und zu einem gewissen Grad zur Kontrolleverwendet wurden ... Dies wirft die Frage auf, ob die Schreiberversucht haben, himmlische Beobachtungen mit Ereignissen aufder Erde in Zusammenhang zu bringen und letztlich extremeVeränderungen im Wetter, im Wasserstand und bei den Preisenvorhersagen oder sogar kontrollieren zu können.

Somit zeichneten die antiken Babylonier nicht nur die Bewegungenin den Märkten auf, sondern versuchten, künftige Preise auf Grund-lage der beobachteten Preise vorherzusagen, genau wie es die moder-nen Techniker tun würden. Wenn die Preisvorhersagen nicht günstigwaren, versuchten sie, die künftigen Ergebnisse zu verändern, indemsie in den Markt eingriffen, um die künftige Nachfrage und das künf-tige Angebot zu kontrollieren. Beispielsweise schlossen sie denMarkt für einen bestimmten Zeitraum oder brachten nur geringeMengen von Rohstoffen auf den Markt, erhöhten Investitionen in Ka-näle und Bewässerung, oder sie veränderten die landwirtschaftlichenStrategien. Alles, um Knappheiten zu überbrücken oder um künfti-ges Angebot zu erhöhen.54

Das antike Griechenland

Mit der Eisenzeit kam ein Fülle an Eisenwerkzeugen und mitihnen eine Menge neuer Marktkräfte. Auf der untersten Ebene woll-ten Bauern und Handwerker sie haben. Daneben ermutigte das land-wirtschaftlich günstige Klima des antiken Mittelmeers eine etwas we-niger regulierte Gesellschaft, die individuelle Initiativen belohnte.Diese beiden Faktoren führten um 500 v.Chr. zur Geburt einerneuen Art von Wirtschaft – der marktorientierten Wirtschaft.55 Dieschnelle Entwicklung des Handels und der Münzprägung erweitertedie Kluft zwischen Arm und Reich. Die politische Macht war zwi-schen den mächtigen Clans und Familien aufgeteilt und die Situa-

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tion der armen Menschen verschlechterte sich zunehmend. Um ihreSchulden bezahlen zu können, verkauften viele der Armen ihre Fa-milienmitglieder (oder sogar sich selbst) in die Sklaverei. Andere gin-gen für ihre Gläubiger in die Fronarbeit.56

Abbildung 1.3 Eine Silbermünze der griechischen StadtKorinth aus der Zeit von 345–307 v.Chr. Eine Seite derMünze zeigt Pegasus, das geflügelte Pferd, während dieandere Seite den Kopf der Göttin Athene mit einem nachhinten geschobenen korinthischen Helm darstellt undeinen Eber, der im Hintergrund nach links läuft.

Im Bemühen, die Not der armen kleinen Landwirte zu lindern, führ-te Pisistratus in der Zeit seiner Tyrannei (561 bis 527 v.Chr.) Einrich-tungen ein, die letztlich das neue marktorientierte System eingren-zen sollten. Unter seiner Regentschaft wurde das traditionell ländli-che Fest zu Ehren von Dionysos, dem Gott des Weins und Schutzpa-tron der Landwirte, zu einem beliebten Ereignis in den Städten undwurde so als City Dionysia oder Große Dionysia bekannt. Pisistratusermutigte die Landwirte, sich auf bestimmte landwirtschaftliche Pro-dukte zu spezialisieren (beispielsweise auf Oliven) und in erster Liniefür den Export zu produzieren. Außerdem kurbelte sein Bau des gro-ßen Tempels für Zeus auf dem Olymp die Wirtschaft weiter an. Mitder Wirtschaft wuchs auch die Nachfrage nach spezialisierten Dienst-leistungen von Landwirten, Handwerkern und Kaufleuten, die letzt-lich keine Zeit mehr hatten, ihre eigenen Produkte herzustellen.

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Stattdessen mussten sie diese am Markt einkaufen.57 Wie Davissonund Harper sagten: »Zum ersten Mal in der Geschichte tauchte eineurbane Klasse auf, die ihren Lebensunterhalt an den Märkten ver-diente. Sie mussten kaufen und verkaufen, um leben zu können.«58

Glotz beschreibt lebhaft eine Szene auf dem Markt in der EpocheAthens:

Entsprechend den festgelegten Zeiten öffnet sich ein Marktnach dem anderen. Es gibt Märkte für Gemüse, Obst, Käse,Fisch, Fleisch und Wurst, Geflügel und Wild, Wein, Holz, Ge-schirr, Eisenwaren und Gebrauchtwaren. Es gibt sogar eine Eckefür Bücher. Jeder Kaufmann hat seinen Platz, den er gegen eineGebühr reservieren kann. Im Schatten eines Sonnensegels odereines Sonnenschirms legt er seine Waren in der Nähe seinesFahrzeugs und seiner ruhenden Tiere auf Gestellen aus. Käufergehen herum, die Kaufleute rufen sie herbei, Lastenträger undBoten bieten ihre Dienste an. Rufe, Flüche und Streit. ... Wenndie Märkte unter freiem Himmel geschlossen werden, machensich die Verbraucher auf den Weg in die Markthalle, in der eswie auf einem orientalischen Basar zugeht – und am Endestehen die Kassen.59

Ähnliches Treiben findet auf Jahrmärkten statt, die in Verbindungmit Feierlichkeiten abgehalten werden.

Die frühesten Hinweise auf Münzen werden auf 650 v. Chr. datiertund kommen aus der lydischen Hauptstadt Sardis.60 Die Griechenmachten sich diese Idee schnell zu eigen und im fünften Jahrhundertv.Chr. war die Verwendung von Münzen für wirtschaftliche Zweckein Griechenland weit verbreitet.61 Die Bank wurde schon bald zueinem »unerlässlichen Organ des Handels.«62 Die ersten Bankenwaren tatsächlich Tempel, die staatliches und privates Vermögen ent-gegennahmen und es gegen Zinsen verliehen. Später wurden Ban-ken private Einrichtungen.63 Die frühesten nennenswerten Beweise,dass es griechische Banken gab, sind mit dem Getreidehandel inAthen verbunden und gehen bis ins vierte Jahrhundert v.Chr. zu-rück.64 Mit dem Aufkommen der Banken kam logischerweise auchder Beruf des Bankiers auf:

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Lange Zeit hat man Männer am Hafen oder am Markt, aneinem langen Tisch sitzend, beobachten können, deren Ge-schäft es war, Geld zu tauschen ... Mit der Zeit weiteten dieGeldwechsler ihren Geschäftsbereich aus und investierten Geldaußerhalb des Landes und gewährten Kredite für alle Arten vonUnternehmen. Sie benötigten viel Kapital und handelten alsMakler zwischen Verkäufern und Käufern von Geld. Zusätzlichzum Geldwechsel betätigten sich die Trapezitai im Bereich vonPfandleihe und Krediten. Sie waren Bankiers.65

Spekulation

Es war genau die Vereinigung von Bankwesen und Handel, dieunvermeidlich zu Spekulationen führte,66 die derart in den Vorder-grund rückte, dass sie sogar Aristoteles veranlasste, über Chrematis-tiche, oder die Kunst reich zu werden, zu schreiben.67 Anscheinendwurde alles als Vorwand für Spekulation genutzt, wie Glotz erklärt:

Besonders Getreide und Metall waren für lukrative Manipulatio-nen geeignet. Man erhielt Informationen über den Stand derErnten in den produzierenden Ländern und zog Vorteile aus po-litischen Krisen, die den Export oder die ungehinderte Nutzungder Seewege behinderten, beispielsweise Stürme, Schiffsunter-gänge oder die plötzliche Ankunft eines Schiffs. Alles diente alsVorwand, um den Markt zu manipulieren. Weil echte Nachrich-ten fehlten, wurden falsche Nachrichten erfunden. Und wenn esZeiten gab, in denen es keine wichtigen Veränderungen gab, ausdenen man einen Vorteil ziehen konnte, zeigte auch das gering-fügigste Ereignis sofort Wirkung.68

Glotz beschreibt das Beispiel eines sizilianischen Bankiers. Diesertrieb den Metallmarkt in die Enge, indem er das Eisen aller Fabrikenaufkaufte, und machte im weiteren Verlauf einen Gewinn von 200Prozent. Glotz vermutet, dass Pythokles das Gleiche mit Blei ge-macht hat.69 An den Aktienbörsen von Athen, die nach Levy »sichvon den heutigen Aktienbörsen nur dadurch unterschieden, dass eskeine Regulierung gab«, beobachteten die Händler ständig Nachrich-

Das antike Griechenland 31

ten und Preise, die zuweilen wild schwankten, und schon bald fan-den sie heraus, wie sie die Preise zu ihrem Vorteil manipulierenkonnten. Im Jahr 585 v.Chr. trieb Thales von Milet, der berühmteMathematiker und Erfinder der Meteorologie, den Ölmarkt in dieEnge, als er die gesamten Ölpressen des Landes kaufte oder mietete,nachdem er eine gute Olivenernte vorhergesagt hatte. Wenn man dasgesamte Getreide und Eisen vor einem Krieg kaufte, war das einhöchst einträgliches Geschäft, weil die Nachfrage dafür während desKrieges deutlich anstieg.70 In ihrer Preissensibilität waren die Athe-ner nicht nur optimistisch, sondern neigten auch zu Panik: Wenn sieglaubten, die Preise seien zu hoch, trieben ihre Hamsterkäufe undVerkäufe die Preise in eine Abwärtsspirale, wodurch eine Krise aus-gelöst wurde. Der große Redner Lysias bezog sich in seinen Redenauf derartige Paniken.71

Im vierten und dritten Jahrhundert v.Chr. verbreitete sich diegriechische Kultur bis Südwestasien und Nordafrika, aber auch bisMesopotamien, Ägypten und Italien. Diese Expansion war zunächstfriedlicher Art, später jedoch durch die Schlachten von Alexanderdem Großen gekennzeichnet. Die mediterrane Kultur wurde einheit-licher und der Handel somit offener.72 Die neue hellenistischeMarktwirtschaft entstand, »und [schuf] einen weit größeren Handels-bereich, in dem der Markt den Hafen als Handelsplatz ersetzte undzum ersten Mal wurde der Alte Orient in die griechische Welt inte-griert.«73

Während der hellenistischen Epoche blühte die Kunst der Speku-lation. Spekulanten versuchten oft, die Produktion zu begrenzen,damit sie ihre eigenen Preise durchsetzen konnten.74 Das berühm-teste Beispiel ist die künstliche und geplante Verknappung von Wei-zen durch Kleomenes um etwa 330 v.Chr.75 Außerdem entstand indieser Zeit die erste Versicherung, die jemals in der Geschichte Er-wähnung fand. Antimenes der Rhodier versicherte nämlich im Jahr324 v.Chr. die Besitzer von Sklaven gegen deren Flucht und verlangtedafür jährlich eine Versicherungsprämie von acht Prozent ihresPreises.76

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Die Technische Analyse

Zwar sind Spekulation und Technische Analyse völlig getrennteAnsätze – in ihrer reinsten Ausprägung gleicht erstere dem Glücks-spiel und letztere einer wissenschaftlich begründeten Prognose –, al-lerdings geht es bei beiden gleichermaßen um den Versuch, künftigePreise vorherzusagen. Die große Beliebtheit der Spekulation im anti-ken Griechenland führte logischerweise zur Entwicklung von Metho-den der Technischen Analyse. Die Kaufleute von Athen wussten,dass Informationen entscheidend waren. Sicherlich kannten sie denWert der geografischen und umweltbedingten Informationen, etwaHandelswege, Gefahren entlang des Weges sowie Winde. Zu diesemZweck entwickelten sie ihre eigenen Lehrbücher, etwa den PeriplusMaris Erythraei (das römische Gegenstück ist der Exposito TotiusMundi), der Informationen über die Produkte vermittelte, die in Län-dern entlang der Handelsstraßen nach Indien verkauft wurden, undauch über das Verhalten der jeweiligen Regenten.

Gelehrige Händler aus Athen suchten nach aktuellen Nachrichten,kombinierten sie mit den Daten über Preisschwankungen und än-derten ihre Strategien sehr schnell.77 Wenn ein Kaufmann beispiels-weise hörte, dass sich die Getreidepreise in eine Richtung änderten,die er nicht erwartet hatte, konnte er seine Schiffe umlenken undsomit Preisstabilität erzielen, indem er alte Preise als Indikator fürkünftige Preise benutzte:

Einige dieser Männer schickten Waren aus Ägypten, andere reis-ten mit den Waren an Bord der Schiffe und wieder andere blie-ben in Athen, um die Handelsgüter wieder zu verkaufen. Dannschickten jene, die in Athen blieben, Briefe an diejenigen imAusland und informierten sie über die vorherrschenden Preise,so dass, wenn Getreide in Athen teuer war, es auch nach Athengebracht werden sollte. Sollten die Preise in Athen sinken, dannwürde das Schiff Kurs auf einen anderen Hafen nehmen. Daswar der hauptsächliche Grund, so die Richter, weshalb die Ge-treidepreise stiegen: Es war diesen Briefen und Komplotten zuverdanken.

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Kaufleute aus Athen zogen auch Rückschlüsse über die Stimmung anden Märkten, um zu versuchen, künftige Preise zu prognostizierenund zu entscheiden, wie viel von einem Rohstoff gekauft oder gelagertwerden sollte. Whitby sagte dazu: »Vor allem zählten Stimmungen,weil aus der Überzeugung, dass nur wenig Getreide angeboten würdeund die Preise dafür schnell steigen würden, sehr schnell Realitätwurde. Diejenigen, die es sich leisten konnten, erhöhten ihre privatenVorräte, während diejenigen, die große Reserven an Getreide hatten,es aus dem Markt zurückhielten und hofften, dass die Preise weitersteigen würden.«79 Um die Veränderungen in der Stimmungslagefeststellen zu können – so wie es auch die modernen Techniker tun –benutzten die antiken Athener Preise: »Ihr bester Indikator war wahr-scheinlich das Preisniveau an den Märkten, die als Reaktion auf Ge-rüchte und Stimmungsänderungen schwankten.«80

Das antike Rom

Wirtschaft spielte im antiken Rom schon von Anfang an eine der-art wichtige Rolle, dass im frühen fünften Jahrhundert v.Chr. dieGilde der Kaufleute dem Gott Merkur einen Tempel widmete – essollte der erste Tempel sein, um diesen Gott zu ehren.81 Tatsächlichist der Name Merkurs aus dem lateinischen merces abgeleitet, was so-viel bedeutet wie »der Preis, der für etwas bezahlt wird, Lohn, Beloh-nung, Entschädigung«, was wiederum vom lateinischen merx abge-leitet wird, was »Ware, Handelsgut« bedeutet.82 Jedes Jahr am 15.Mai feierten die Händler den Geburtstag Merkurs mit einer aufwän-digen Zeremonie:

Und so wurden die Iden des Mai zu einem Fest der Händler(mercatores) und Merkurs Tempel wurde zum Zentrum ihrerGilde (collegium). Ovid (43 v.Chr. bis 17 n.Chr.) ... bezieht sichauf ein aqua Mercurii ... eine Quelle oder einen Brunnen ..., ausdem Kaufleute mit geräucherten Krügen Wasser entnahmen.Dieses Wasser schütteten sie über einen Lorbeerzweig und be-netzten dann damit die Waren, die sie verkauften, und auch ihreigenes Haar.83

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Während des frühen römischen Imperiums, besonders in der friedli-chen und florierenden Regierungszeit des Kaisers Augustus (43v.Chr. bis 18 n. Chr.), erreichte die römische Wirtschaft ihren Höhe-punkt. Diese Epoche war gekennzeichnet durch eine marktorientier-te landwirtschaftliche Produktion, eine steigende Nachfrage an Lu-xusgütern, eine höhere Emission römischer Münzen sowie Bewe-gungsfreiheit des Handels auf nationaler und internationalerEbene.84 Landwirte und Handwerker produzierten für den Markt.Auf regelmäßig stattfindenden Märkten (mundinae) verkauften sieihre eigenen Produkte und erwarben, was sie benötigten. Die Märktewurden mundinae genannt, weil sie an jedem neunten Tag abgehal-ten wurden – immer an einem anderen Tag und immer in anderenStädten, um mehr Handelsmöglichkeiten anzubieten.

Die Römer bauten macella, bleibende Markthallen, in denen dieMenschen ihre Lebensmittel kaufen konnten. Großhandelskundenkauften Rinder im Forum Boarium, Gemüse im Forum Holitorium,Wein im Forum Vinum und Delikatessen und später andere Warenim Forum Cupedinis. Es wurden gewaltige Markthallen errichtet: dasMacellum Liviae von Augustus, das Macellum Magnum von Neround der Mercatus Traiani von Trajan.85 Die Marktstände der Kaufleu-te vermittelten auch den normalen Foren – offenen Plätzen in römi-schen Städten, auf denen verschiedene religiöse oder bürgerliche Ak-tionen stattfanden – eine geschäftliche Atmosphäre, umgeben vonStraßen voller Läden und Marktbuden.86 Wirtschaftlich war Rom aufeinem noch nie dagewesenen Niveau, das bis in die frühe Neuzeitnicht wieder erreicht wurde. Temin sagte dazu:

Aus wirtschaftlicher Sicht war das wichtigste Merkmal des frü-hen römischen Weltreichs die relativ große Rolle, welche dieMarktkräfte spielten – jedenfalls im Vergleich zur mittelalterli-chen Wirtschaft, die noch folgen sollte. Produktion in großemMaßstab und Bewegungen großer Vermögen im frühen römi-schen Imperium wurden von den Märkten dominiert. Diese Artder Organisation förderte die Nutzung von Wettbewerbsvortei-len, die durch politische Stabilität, persönliche Sicherheit undverbreitete Bildung entstanden waren. Sie förderte auch ein be-scheidenes wirtschaftliches Wachstum, das in den Wohlstand

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des frühen römischen Imperiums mündete, der von den west-lichen Ländern fast zwei Jahrtausende lang nicht erreichtwurde.87

Aus dieser Epoche stammen auch die Marktindikatoren.Es mag zunächst überraschen, dass die Hinweise auf Preisauf-

zeichnungen in einem Wirtschaftsraum, der so fortschrittlich warwie das römische Imperium, so kümmerlich sind. Doch während dieBabylonier die Preise noch auf Lehmplatten notierten, benutzten dieRömer mit Wachs überzogene, hölzerne rechteckige Platten – einhöchst vergängliches Medium. Überlebt haben nur gelegentliche In-schriften über wichtige Transaktionen, die in Stein gemeißelt wordenwaren, andere wurden auf ägyptischen Papyri festgehalten. Aller-dings sind sich Forscher trotz des Mangels an direkten Beweisen imAllgemeinen darin einig, dass das römische Imperium eine echteMarktwirtschaft war.88 Eine ausführliche Studie von Duncan-Jonesüber die Wirtschaft des römischen Imperiums stellt fest, dass Kapi-tal, Arbeit und Güter ihren Preis hatten.89 Rathbone konstatiert, dassdie Warenpreise für Weizen, Wein und Esel »grundsätzlich von denHandlungen der Kräfte des freien Marktes abhängig waren, also vonden Grundsätzen von Angebot und Nachfrage in einer mit Geld aus-gestatteten Wirtschaft.«90

Weil die Preise in einem freien Markt Informationen über Ange-bot und Nachfrage von Gütern enthielten, »wäre es wirklich eigenar-tig, wenn Landwirte und Handwerker, die in diesem Kontext agier-ten, die Preise bei ihren Unternehmungen nicht in Betracht gezogenhätten«, schreibt Temin.91 Er legt sorgfältig dar, dass »die römischenPreise, mit anderen Worten, Informationen beinhalteten über dieVerfügbarkeit von Gütern und sogar über die Vorteile, die Landwirtemit dem Verkauf selbstproduzierter Waren erzielen konnten.«92 Daslässt vermuten, dass die alten Römer Rückschlüsse auf Gewinnmög-lichkeiten zogen, die auf Preisen der Vergangenheit beruhten, wasgenau das ist, was die Technischen Analysten auch heute machen.

Man kann sich leicht vorstellen, dass die Preise ein saisonalesMuster aufzeigten, da in jenen Tagen Nachrichten von Rom nachÄgypten während unterschiedlicher Jahreszeiten unterschiedlichschnell ankamen: Was bei gutem Wetter in wenigen Wochen vor Ort

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war, benötigte im Winter mehrere Monate. Temin weist tatsächlichdarauf hin, dass die verfügbaren verstreuten Daten mit saisonalenMustern übereinstimmen, und merkt weiter an, dass »wegen diesessaisonalen Effekts die Arbitrage die Preise zwischen Rom und Ägyp-ten in so kurzer Zeit nicht ausgleichen konnte.«93 Mit anderen Wor-ten: Arbitrage-Gelegenheiten konnten an den jahreszeitlichen Mus-tern in den Preisdaten erkannt werden. Bedenkt man das, dann ist esgut vorstellbar, dass Marktteilnehmer sich einer Art der zyklischenAnalyse bedienten, die der gleicht, die Techniker auch heute anwen-den.

Ablehnende Haltung gegenüber Händlern

In der Antike wurden Händler und Bankiers – tatsächlich alle, diesich zum Profit bekannten – generell verachtet. Im alten China wur-den Kaufleute kaum als Menschen anerkannt. Sie lebten ganz untenin der gesellschaftlichen Hierarchie. Wie wir im nächsten Kapitelnoch sehen werden, wurden manche Kaufleute im Mittelalter regel-mäßig verdächtigt, »jede vermisste Katze getötet und gehäutet zuhaben.«94 Während die alten Griechen Landwirte als moralisch undgeeignet hielten, Generäle zu werden, wurden Händler als gierig, un-ehrlich und unzuverlässig betrachtet. Eine Quelle besagt, dass »Kauf-leute zwar Geld stapeln könnten, dies sie aber nicht qualifiziere, Ge-neräle zu werden.«95 Händler wurden nicht als vertrauenswürdig an-gesehen, wie Xenophons Sokrates erklärt, als er Ratschläge gibt, wenman zum Freund haben sollte:

»Wie wäre es mit einem guten Geschäftsmann, der entschlos-sen ist, viel Geld zu verdienen und der deshalb auch immer hartverhandelt, und der gern Geld annimmt, aber es nur sehr zöger-lich übergibt?«

»Meiner Meinung nach ist er noch weniger wünschenswert alsder Letzte.«

»Und wie wäre es mit einem Mann, der sich dem Geldverdie-nen so sehr verschrieben hat, dass er keine Zeit für etwas hat,das nicht gewinnbringend ist?«

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»Den sollte man meiner Meinung nach meiden. Er wird für nie-manden von Nutzen sein, der mit ihm in Verbindung steht.«96

Die Leidenschaft Geld zu verdienen wurde als schwerer Charakter-fehler eines Menschen angesehen, der nur wenig Kontrolle überseine Gefühle hat sowie eine unmoralische Bereitschaft, andere zumeigenen Profit auszubeuten und zu lügen – »und es gibt kein unredli-cheres Verhalten als zu lügen.«97

Reichtum sollte nicht erworben werden; Reichtum, der von denGöttern zu uns kommt, ist weitaus besser. Wenn ein Manndurch Gewalt oder Zwang zu Reichtum kommt, oder wenn erGeld mittels seiner Worte stiehlt, was sehr oft vorkommt, wennsein Verstand vom Verlangen nach Geld getrübt ist, wenn Ehrlo-sigkeit Ehre mit Füßen tritt, dann werden sich die Götter ihnbald vornehmen.98

Trotz ihres Status als Ausgestoßene waren die Händler selbst sehrstolz auf ihr Tun und priesen ihren Beruf sogar auf ihren Grabstei-nen.99 Obwohl die gesellschaftliche Kritik ganz allgemein gegenHändler gerichtet war – und sich nicht nur auf technisches Trading,sondern auch auf fundamentales oder spekulatives Handeln bezog –zeigt dies, wie tief die negative Grundhaltung gegenüber den Händ-lern im menschlichen Denken verankert war. In den folgenden Kapi-teln werden wir Aufschluss darüber geben, weshalb so viele Men-schen der Technischen Analyse bis heute verbunden sind.

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