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II.2 Schreibberatung und Schreibtraining * Michael Klemm 1 Ein Beispiel zum Einstieg: Seminararbeiten als komplexe Schreibaufgabe Simone ist verzweifelt. 14 Tage bis zum Abgabetermin ihrer ersten Semi- nararbeit und nichts als Notizen, Bruchstücke und Zitate in der Compu- terdatei. Nicht, dass sie nichts zu schreiben hätte: Sie hat sich gewissen- haft vorbereitet, Spaß am Thema mit dem Arbeitstitel „Interkulturelle Kommunikation zwischen Deutschen und Aussiedlern“, mit dem Dozen- ten vieles abgesprochen, Unmengen an Literatur gelesen, … Und den- noch hat sie nach zwei Wochen Arbeit mehr Fragen im Kopf als zu Beginn: Ist das Thema zu weit gefasst? Reicht das Datenkorpus? Welche Gliederung ist die beste? Wie und wann soll ich anfangen zu schreiben? Wie formuliere ich „wissenschaftlich“? … Was Simone fehlt, ist das Handwerkszeug des akademischen Schreibens: effiziente Zeit- und Arbeitsplanung, methodisches Wissen, Lesetechni- ken, Strategien der Textstrukturierung und Formulierung, auch eine genaue Kenntnis dessen, was man überhaupt von ihr erwartet (vgl. auch Beispiel Akademisches Schreiben Tab. 1 Typische Verun- sicherungen im akademischen Schreibprozess Seminararbeit als komplexe Schreib- aufgabe (s. CD) 120 1) Wie motiviere ich mich zum Schreiben? 2) Wie plane ich den Arbeitsprozess (Zeitmanagement)? Und was gehört alles dazu? 3) Welche Selbst- und Fremdansprüche werden erhoben? 4) Was heißt Wissenschaftlichkeit? Im Denken, im Handeln, im Sprachstil? 5) Wie finde ich mein Thema? Wie grenze ich es ein? 6) Welche Methode ist die beste, um die Fragen zu bearbeiten und die Ziele zu erreichen? 7) Wie gliedere ich die Arbeit sinnvoll und schlüssig? 8) Wie bewältige ich den Einstieg ins Schreiben? Und wann fange ich damit an? 9) Wie verbinde ich Lesen und Schreiben? 10) Wie verbinde ich Fremdes und Eigenes, Literatur und eigene Formulierung? 11) Wie verhindere ich soziale Isolation? Wie verbinde ich Selbstständigkeit und Teamwork? 12) Wie verhindere oder bewältige ich Schreibblockaden? * Beachten Sie bitte die auf der beiliegenden CD befindlichen Materialien, die den Beitrag ergänzen.

1 Ein Beispiel zum Einstieg: Seminararbeiten als komplexeAuffassungen und Praxen von Schreiben, die im Verlauf der Geschichte zutage getreten oder überhaupt möglich sind, erfassen

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Page 1: 1 Ein Beispiel zum Einstieg: Seminararbeiten als komplexeAuffassungen und Praxen von Schreiben, die im Verlauf der Geschichte zutage getreten oder überhaupt möglich sind, erfassen

II.2 Schreibberatung und Schreibtraining*

Michael Klemm

1 Ein Beispiel zum Einstieg: Seminararbeiten als komplexeSchreibaufgabe

Simone ist verzweifelt. 14 Tage bis zum Abgabetermin ihrer ersten Semi-nararbeit und nichts als Notizen, Bruchstücke und Zitate in der Compu-terdatei. Nicht, dass sie nichts zu schreiben hätte: Sie hat sich gewissen-haft vorbereitet, Spaß am Thema mit dem Arbeitstitel „InterkulturelleKommunikation zwischen Deutschen und Aussiedlern“, mit dem Dozen-ten vieles abgesprochen, Unmengen an Literatur gelesen, … Und den-noch hat sie nach zwei Wochen Arbeit mehr Fragen im Kopf als zuBeginn: Ist das Thema zu weit gefasst? Reicht das Datenkorpus? WelcheGliederung ist die beste? Wie und wann soll ich anfangen zu schreiben?Wie formuliere ich „wissenschaftlich“? …

Was Simone fehlt, ist das Handwerkszeug des akademischen Schreibens:effiziente Zeit- und Arbeitsplanung, methodisches Wissen, Lesetechni-ken, Strategien der Textstrukturierung und Formulierung, auch einegenaue Kenntnis dessen, was man überhaupt von ihr erwartet (vgl. auch

Beispiel Akademisches

Schreiben

Tab. 1Typische Verun-sicherungen im

akademischenSchreibprozess

Seminararbeit alskomplexe Schreib-

aufgabe (s. CD)

120

1) Wie motiviere ich mich zum Schreiben?

2) Wie plane ich den Arbeitsprozess (Zeitmanagement)? Und was gehört allesdazu?

3) Welche Selbst- und Fremdansprüche werden erhoben?

4) Was heißt Wissenschaftlichkeit? Im Denken, im Handeln, im Sprachstil?

5) Wie finde ich mein Thema? Wie grenze ich es ein?

6) Welche Methode ist die beste, um die Fragen zu bearbeiten und die Ziele zuerreichen?

7) Wie gliedere ich die Arbeit sinnvoll und schlüssig?

8) Wie bewältige ich den Einstieg ins Schreiben? Und wann fange ich damit an?

9) Wie verbinde ich Lesen und Schreiben?

10) Wie verbinde ich Fremdes und Eigenes, Literatur und eigene Formulierung?

11) Wie verhindere ich soziale Isolation? Wie verbinde ich Selbstständigkeit undTeamwork?

12) Wie verhindere oder bewältige ich Schreibblockaden?

* Beachten Sie bitte die auf der beiliegenden CD befindlichen Materialien, die den Beitragergänzen.

Klemm
Notiz
Klemm, Michael (2011): Schreibberatung und Schreibtraining. In: Karlfried Knapp u.a. (Hg.). Angewandte Sprachwissenschaft. Ein Lehrbuch. 3., komplett überarbeitete und erweiterte Auflage. Tübingen: Francke, 120-142.
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Ruhmann 1995: 89 ff.; Fröchling 2002: 64 ff.). Eine Seminararbeit ist einebesonders komplexe, anspruchsvolle und langwierige Form des Schrei-bens, fundamental für alle Studierenden, entscheidend für den Erfolg desgesamten Studiums. Nur: Wie man sie schreibt, hat ihr niemand erläutert.

Man könnte Simones Probleme vernachlässigen, wenn sie ein Einzel-fall wäre und nur individuelles Versagen vorläge. Das Dilemma ist, dass– so die Klagen der Lehrenden und Studierenden (vgl. Ehlich/Steets2003) – sehr viele der über zwei Millionen Studierenden in Deutschlandmit diesen Problemen täglich konfrontiert sind (vgl. Ruhmann 1995; Ditt-mann u.a. 2003), da es sich um überindividuelle, „objektive“, das heißtstrukturbedingte Probleme handelt (vgl. Antos 1988: 42). Die Verun-sicherung führt zu einer großen Nachfrage an Schreibunterstützung, derimmer noch ein erstaunlich geringes Beratungs- und Trainingsangebot,etwa durch universitäre Schreibzentren, gegenübersteht.

Ein terminologischer Hinweis: Akademisches Schreiben wird in die-sem Beitrag vom wissenschaftlichen unterschieden (so auch Dittmann2003: 157). Das Schreiben im Studium, speziell von Seminararbeiten,orientiert sich zwar am wissenschaftlichen Ideal, es kann aber noch nichtauf dem Niveau wissenschaftlicher Fachaufsätze erfolgen. Seminararbei-ten haben ihre eigenen Regeln und Anforderungen. Bis zur Abschluss-arbeit sollten die Studenten das wissenschaftliche Schreiben nach undnach erlernt haben.

Ich möchte am Beispiel von Simone typische Probleme des akade-mischen Schreibens aufzeigen, um zu verdeutlichen, wie ein (linguistischausgebildeter) Schreibtrainer den Schreibprozess unterstützen kann. DerBogen soll aber über das akademische Schreiben hinaus gespannt werden.Viele Probleme und Methoden lassen sich auf andere Schreibaufgabenübertragen. Auch deshalb zunächst – als Hintergrund von Schreibberatungund Schreibtraining – Grundlegendes zu Schreiben und Schreibforschung.

2 Die gesellschaftliche Schlüsselkompetenz Schreiben vermitteln:Linguistische Aufgabenfelder

Die Betreuung von Seminararbeiten ist aufgrund ihrer Komplexität einBeispielfall par excellence für linguistisch fundierte Schreibberatung.Allerdings ist das akademische Schreiben nur eine von unzähligenSchreibaufgaben, zudem eine recht spezielle. Wir stehen ständig vorAnforderungen, die das gekonnte Verfassen schriftlicher Texte erfordern.Schreiben ist eine umfassende „Kulturtechnik“, eine Schlüsselkompe-tenz, ohne die heute im privaten wie insbesondere im beruflichen Lebenkaum etwas geht (vgl. Jakobs/Lehnen/Schindler 2005).

Dabei geht es weniger um eine allgemeine Schreibkompetenz, etwaim Hinblick auf den primären Schreib- und Schrifterwerb (Art. I.1) oderorthographische Standards (Artikel I.2 und II.1), die in der Schule ver-mittelt werden (sollen). Es geht darum, unterschiedlichste Schreibauf-gaben in verschiedensten Domänen effektiv und angemessen zu lösen,das heißt eine jeweils spezielle Schreibkompetenz, aber auch ein mög-lichst großes Repertoire an Schreibstilen zu besitzen. Daraus erwächst ein

Schreibproblemeals ‚objektive‘ Probleme

Akademisches vs.wissenschaftlichesSchreiben

Schreiben als Kulturtechnik und Schlüssel-kompetenz

Schreibkompetenz= Vielfalt anSchreibstilen

121

II.2 Schreibberatung und Schreibtraining

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Dilemma und zugleich eine große Herausforderung der Schreibforschungund Schreibberatung: Schreiben an sich gibt es nicht, jeder Schreibprozessist abhängig von zahlreichen Parametern:

Schreiben ist [. . .] eine kulturell bedingte Handlung, die von den jeweiligenFormen der Geselligkeit, der Repräsentationen des Wissens, den kommuni-kativen Erfordernissen und den technologischen Entwicklungen abhängigist. [. . .] So gibt es also keinen Begriff Schreiben, der alle Vorstellungen,Auffassungen und Praxen von Schreiben, die im Verlauf der Geschichtezutage getreten oder überhaupt möglich sind, erfassen könnte. (Ludwig1995: 273 und 275)

In Alltag und Beruf existiert ein vielfältiges Spektrum an Schreibproduk-ten (bzw. Textsorten) und damit auch an spezifischen Formulierungspro-zessen, wenn man nur an das Verfassen von Einkaufszetteln, Liebesbrie-fen, Glückwunschkarten, Werbetexten, Gebrauchsanleitungen, SMS oderVorlesungsmitschriften denkt. Schreiben bewegt sich zwischen den Polendes egozentrischen Schreibens (Tagebuch) und des Schreibens an und fürandere (bis hin zum Ghostwriting), zudem zwischen reiner Reproduktion(Diktat, Abschrift) und kreativer Schöpfung (Gedicht). Entsprechend viel-fältig sind die individuellen und sozialen Funktionen des Schreibens, unteranderem:

• die symbolische (Schreiben als Produktion von Zeichen)

• die kommunikative (Schreiben als Austausch von Gedanken und Meinungen)

• die expressive (Schreiben als Ausdruck von Gefühlen)

• die epistemische (Schreiben als Mittel zum Erkenntnisgewinn und zur Wis-sensstrukturierung)

• die memorative (Schreiben zur Speicherung von Informationen und Wissen)

• die poetische (Schreiben als künstlerisches Ausdrucksmittel)

• die juristische (Schreiben als Schaffen von Verbindlichkeit)

Schreiben ist komplexes Handeln (vgl. z.B. Wrobel 1995, Steffen 1995),sowohl im Hinblick auf die erforderlichen kognitiven und motorischenVorgänge als auch die damit vollzogenen Formulierungsprozesse, diesozialen Regeln und Mustern folgen. Schreiben kann man zudem alsForm des systematischen Problemlösens auffassen (vgl. z.B. Antos 1982,1988; Molitor-Lübbert 1996), wobei sich die Erkenntnis oft erst im For-mulierungsprozess entwickelt – was vielen Autoren nicht bewusst ist, dieSchreiben eher als Ausformulierung fertiger Gedanken betrachten.Schreiben ist zudem „Blindkommunikation“, denn die Trennung vonProduktion und Rezeption stellt den Schreiber vor die Anforderung, ohneRückmeldung den Text möglichst gut auf den oder die Adressaten bzw.potenziellen Leser abstimmen zu müssen (recipient design). Eine Reiheweiterer Faktoren bestimmt den konkreten Schreibprozess, darunter

• die Domäne (Bezugsbereiche wie Unternehmen, Universität, Privatsphäre) mitihren spezifischen Diskursgemeinschaften (z. B. Öffentlichkeit, Arbeitsgruppe,Familie) und ggf. institutionellen Rahmungen

• die Aufgabe (die kommunikative Funktion des Textes, die Textsorte, die Ein-ordnung als schreiber-, leser- oder sachbezogener Text)

Kein Schreiben ‚an sich‘

Vielfalt an Schreib-produkten und

-prozessen

Funktionen desSchreibens

Schreiben als komplexes Handeln

Schreiben alsProblemlösen

Faktoren imSchreibprozess

122

II Schriftlich kommunizieren

Page 4: 1 Ein Beispiel zum Einstieg: Seminararbeiten als komplexeAuffassungen und Praxen von Schreiben, die im Verlauf der Geschichte zutage getreten oder überhaupt möglich sind, erfassen

• die Inhalte (und das themenbezogene Wissen des Autors)

• die Situation (ob man z. B. unter Zeit- und Erfolgsdruck steht oder nicht)

• die Erfahrung (routiniertes Schreiben vs. ungewohnte/einmalige Schreibauf-gabe)

• die zur Verfügung stehenden Medien (z. B. Stift vs. Computer)

• die möglichen Vorgaben (freies Schreiben vs. Schreiben nach festen Konven-tionen und Normen, selbstständiges Schreiben vs. gesteuertes Schreiben)

• die Beziehung zwischen Schreiber und Adressaten (egozentrisches Schreiben(z. B. Tagebuch) vs. kommunikatives Schreiben (z. B. Brief), anonyme vs.bekannte Adressaten, einer vs. viele Adressaten, homogener vs. heterogenerAdressatenkreis)

• die Anzahl der Verfasser und ggf. deren Arbeitsteilung (individuelles Schrei-ben vs. kooperatives/kollaboratives Schreiben)

Schreiben lässt sich dementsprechend auch aus unterschiedlichen Per-spektiven betrachten, von denen Kruse (2003) (in Bezug auf das akade-mische Schreiben) vier hervorhebt, die man beim Verfassen, aber auchbei der Beratung nicht vernachlässigen darf (s. Abb. 1):

(aus Kruse 2003: 97)

Aus dieser Multidimensionalität folgt, dass Schreiben vielfältige Anforde-rungen an die Verfasser stellt. Man benötigt umfassendes und differen-ziertes Wissen:

• Weltwissen (Allgemeinwissen, themenbezogenes Wissen)

• Sprachwissen (Orthographie, Grammatik, Syntax, Lexik, Stil- und Textsorten-wissen)

• Selbstwissen (über die eigene Person, über seine Ziele etc.)

• Partnerwissen (z. B. über Vorwissen, Einstellungen, Absichten oder Gewohn-heiten des/der Adressaten)

• Situations- bzw. Kontextwissen (über Schreibanlass, Schreibaufgabe, Rah-menbedingungen)

• Methodisches Wissen (über den Arbeits- und Schreibprozess)

• Diskurswissen (über Normen und Traditionen, z. B. im institutionellen Bereich)

Nur in engen Grenzen gibt es daher beim Schreiben einheitliche Proze-duren, die jeweils spezifischen Faktoren und damit auch Prozesse stellenSchreibforschung und -didaktik vor entsprechend hohe Anforderungen.

Abb. 1Dimensionender Text-produktion

NotwendigesWissen

123

II.2 Schreibberatung und Schreibtraining

Prozess:Die subjektive Steuerung

Produkt: Kontent:Die entstehenden Texte Die inhaltliche Dimension

Kontext:Die soziale Seite

Page 5: 1 Ein Beispiel zum Einstieg: Seminararbeiten als komplexeAuffassungen und Praxen von Schreiben, die im Verlauf der Geschichte zutage getreten oder überhaupt möglich sind, erfassen

Baurmann/Weingarten (1995: 19) haben dieses Dilemma als „Kontin-genz des Schreibens“ bezeichnet: „Schreiben besteht, in Abhängigkeitvon der jeweiligen Schreibaufgabe und der Schriftkultur, in vielen Situa-tionen wahrscheinlich gerade aus sehr lokalen Problemlösungen.“

Fazit: Schreiben ist eine sehr anspruchsvolle Tätigkeit, die vielfältigekognitive und kommunikative Kompetenzen erfordert, welche in einemlangen Prozess der Ontogenese, aber auch der weiteren Ausbildungerworben werden müssen und je nach Schreibaufgabe mehr oder weni-ger ausgeprägt vorhanden sind. Schreibprobleme liegen meist nicht nuran individuellen Defiziten, sondern an den Bedingungen und Strukturender Schreibprozesse. Daraus folgt, dass Schreiben durch eine Beratung,die die genannten Faktoren berücksichtigt, systematisch verbessert wer-den kann, insbesondere, wenn diese Erkenntnisse und Methoden derSchreibforschung berücksichtigt.

3 Das Forschungsfeld:Schreibforschung als interdisziplinäres Projekt

Die wissenschaftliche Erforschung des Schreibens ruht auf drei Säulen:der theoretischen, empirischen und angewandten Schreibforschung.Theoretische Ansätze sind fokussiert auf Modellbildung, empirische aufdie präzise Analyse authentischer Schreibprozesse. Die angewandteSchreibforschung befasst sich mit der Frage, wie man Schreiben lehrenund optimieren kann, im Alltag, im Unterricht, im Beruf. Sie greiftErkenntnisse aus den beiden anderen Bereichen auf, zielt aber vor allemauf die Konzeption, Durchführung und Evaluation von Schreibtrainingsund Schreibcoachings.

Die empirische und angewandte Schreibforschung sind jungenDatums, auch wenn ihre Wurzeln bis in die antike Rhetorik zurückzu-verfolgen sind. Als Startpunkt der modernen Schreibforschung werdendie 1960-er Jahre, als Katalysator die literacy crisis in den 1970-er Jahrenin den USA angesehen (vgl. Pogner 1999, Merz-Grötsch 2000). Die Sorgeum die schwindende Schreibkompetenz von Schülern und Studentenführte zum Aufschwung von Schreibforschung und Schreibdidaktik undzu einer breiten Bewegung des kreativen Schreibens across the curriculum,die in Deutschland freilich nur verzögert und zaghaft aufgegriffen wurde.Beratungs- und Trainingskonzepte wurden entwickelt, um Schreibkom-petenzen systematisch zu vermitteln (vgl. Bräuer 1996).

Schreiben als Produktion sprachlicher Texte ist sicher ein genuinesAufgabenfeld der Sprachwissenschaft. Allerdings ist die heutige Schreib-forschung eine „Interdisziplin“ par excellence, arbeiten hier doch nebenLinguisten auch Literatur- und Medienwissenschaftler, Psychologen,Didaktiker und Pädagogen, meist ohne dass die wissenschaftliche Prove-nienz eine entscheidende Rolle spielt. Das Spektrum der heutigen empi-rischen Schreibforschung umfasst eine Reihe recht unterschiedlicherFragestellungen.

Schreiben alsanspruchsvolle

Tätigkeit

Drei Säulender Forschung

HistorischeEntwicklung

Schreiben als„Interdisziplin“

124

II Schriftlich kommunizieren

Page 6: 1 Ein Beispiel zum Einstieg: Seminararbeiten als komplexeAuffassungen und Praxen von Schreiben, die im Verlauf der Geschichte zutage getreten oder überhaupt möglich sind, erfassen

Gab es zunächst eine Dominanz theoretischer und kognitiver Fragestel-lungen (vgl. Antos 1989), so gewann immer mehr die Erforschung kon-kreter Schreibprozesse in deren spezifischem sozialen Kontext an Boden(vgl. Pogner 1999). Die Forschung beschäftigt sich mit Prozeduren (wie-derholbare Routinen), Prozessen (singuläre Abläufe) und Produkten(Zwischen- vs. Endprodukte: Entwürfe, Notate, Texte) des Schreibens.Lag der Fokus erst auf den Produkten, so stehen heute die Prozesse imVordergrund. Damit einher ging ein Paradigmenwechsel in der ange-wandten Schreibforschung: Die Frage ist nicht mehr so sehr, wie manschreiben soll (normative Schreibdidaktik), sondern, was Schreiber wirk-lich machen (Schreibprozessforschung) und wie man daraus Anleitungenzum erfolgreichen Schreiben und Formulieren herleiten kann.

Lange stand die Analyse des schulischen, akademischen und wissen-schaftlichen Schreibens im Mittelpunkt – auch wegen des leichterenFeldzugangs (vgl. zum Schreibunterricht Artikel I.3, zum akademischenSchreiben z.B. Jakobs/Knorr 1997). Erst seit den 1990-er Jahren werdenin Deutschland verstärkt „Schreibberufe“ in verschiedenen Domänenerforscht (z.B. Adamzik/Antos/Jakobs 1997, Jakobs/Lehnen/Schindler2005). Etwas verwunderlich, da hier der Beratungs- und Optimierungs-bedarf am höchsten und die gesellschaftliche Relevanz besonders groß ist.Immerhin kann man heute unter anderem zurückgreifen auf Unter-suchungen zur Unternehmenskommunikation (z.B. Pogner 1999,Thimm 2002), zu Public Relations und Finanzkommunikation (ArtikelIV.3), zur Verwaltungskommunikation (z.B. Antos/ Kutsch 1997), zurjournalistischen Textproduktion (z.B. Perrin 2001, Artikel IV.2), zumWerbetexten (Artikel IV.1) oder zum technischen Schreiben (Artikel II.3).

Ein Grund für die Zurückhaltung – neben Problemen des Feldzugangsim beruflichen Kontext – mag darin bestehen, dass die empirische

Tab. 2Zentrale Frage-stellungen derSchreibfor-schung

KognitivesProblemlösen –KommunikativesHandeln

Prozeduren Prozesse Produkte

Schreibberufe

MethodischeProbleme

125

II.2 Schreibberatung und Schreibtraining

• Schreiberwerb (Wie kommt der Mensch zum Schreiben? Welche Phasen und Formen umfasst der Schreiberwerb? Wie kann man ihn unterstützen?)

• Schreibkompetenzen (Was muss man wissen, um schreiben zu können?Welche Wissensressourcen speisen die „Schreibkompetenz“? Was unter-scheidet zum Beispiel Schreibnovizen von Schreibexperten?)

• Schreibprozeduren und -prozesse (Was tun wir, wenn wir schreiben? In wel-che Teilprozesse kann man die komplexe Handlung SCHREIBEN zerlegen?Was ist den unterschiedlichsten Schreibprozessen gemeinsam, was differiertje nach Schreibaufgabe? Wie lassen sich methodisch abgesichert innere undäußere Schreibprozesse erforschen?)

• Schreibprodukte (Wie lassen sich Texte und Textsorten unterscheiden undklassifizieren? Welche domänen-, kultur- und textsortenspezifischen Regelnund Muster gilt es beim jeweiligen Schreiben zu beachten?)

• Schreibfunktionen (Welche Funktionen hat das Schreiben: für das Individu-um, die Diskursgemeinschaft, die Gesellschaft?)

• Schreibbedingungen (Wie beeinflussen verschiedene Medien und die kon-kreten Rahmenbedingungen die Art des Schreibens?)

• Schreibstrategien (Wie schreibe ich ökonomisch, effizient, adressatenge-recht, zielorientiert, überzeugend, unterhaltsam, manipulativ . . .?)

• Schreibstörungen (Wie kann man Defizite erkennen und therapieren?)

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Schreibforschung methodisch vor großen Problemen steht. Die Produktesagen fast nichts darüber aus, welche Prozesse und auch Revisionenihnen vorausgegangen sind (Texte als „Spitze des Eisbergs“). Schreiben istzum Großteil inneres Handeln, und in die Köpfe kann man nicht schau-en. Schlimmer noch: Beim Schreiben bleibt vieles unterhalb der Wahr-nehmungs- und Bewusstheitsschwelle und verläuft äußerst routiniert, sodass diese Prozesse selbst der Introspektion der Schreiber kaum zugäng-lich sind.

Einige Methoden haben sich aber bewährt (vgl. z.B. Krings 1992,Günther 1993, Eigler 1996): unter anderem die audiovisuelle oder com-putergestützte Aufzeichnung von Schreibprozessen, Protokolle lautenDenkens oder gemeinsames Schreiben mit „Textherstellungsdiskursen“,die retrospektive Kommentierung von Texten bzw. von Protokollen deslauten Denkens durch den Schreiber, teilnehmende Beobachtungen bishin zu Langzeitfallstudien, Befragungen im Vorfeld und im Nachhineindes Schreibprozesses sowie die Textgenetik (Vergleich verschiedener Text-versionen). Da alle Methoden ihre Stärken und Schwächen haben, wer-den sie häufig kombiniert.

Die angewandte Schreibforschung profitiert von den Erkenntnissenaus den in Tab. 2 genannten Bereichen. Diese Grundlagen bilden einetheoretische und vor allem empirische Orientierung für eine fundierteSchreibberatung (vgl. z.B. Ehlich/Steets 2003), etwa im Hinblick auf pro-blematische und bewährte Schreibprozesse, geeignete Formulierungsstra-tegien oder optimalen Medieneinsatz. Die praxisorientierte Ausrichtungist aber in der Linguistik noch gering entwickelt. Wenn man vom schuli-schen Schreibunterricht (dazu z.B. Böttcher/Becker-Mrotzek 2003) oderuniversitären Schreibberatungen (z.B. Kruse/Jakobs/Ruhmann 1999,Kruse 2003) absieht, sind nur wenige konkrete Trainings- und Bera-tungskonzepte zur Optimierung von (beruflichen) Schreibprozessen (vgl.Perrin 2000, Fröchling 2002) oder Modelle zur Ausbildung von Schreib-trainern (vgl. Perrin/Kruse 2002, Bräuer 2004) entwickelt worden. Inbeidem liegt künftig ein großes Potenzial der angewandten Sprachwis-senschaft.

4 Akademisches Schreiben: Training, Beratung, Coaching

Zurück zum Spezialfall akademisches Schreiben: Es gibt grundsätzlichmehrere Möglichkeiten, dieses wissenschaftlich fundiert zu fördern:

• das Verfassen von Ratgeberliteratur

• (an Universitäten) das Veranstalten regulärer Seminare

• das Veranstalten von Trainings/Workshops

• Schreibberatung

• Schreibcoaching

• das Fördern von selbstregulativen Prozessen (Peer Feedback und Peer Tutoring)

Heute gibt es in Bezug auf akademisches Schreiben gewiss keinen Man-gel an Ratgeberliteratur sogar guter Qualität (z.B. Kruse 1994, Bünting/

Methoden derSchreibforschung

Praxisorientierungals Desiderat

Die Ansätze im Vergleich

126

II Schriftlich kommunizieren

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Bitterlich/Pospiech 1996, Franck 1998, Göttert 1999, Esselborn-Krum-biegel 2002), auch wenn noch zu viele Anleitungen primär auf die Ver-mittlung von Formalia abheben und wesentlichere Problemfelder wieTextstrukturieren sowie angemessenes Argumentieren und Formulierenzu kurz kommen. Nur: Allein aufgrund von Lektüre kann man eine sokomplexe und variable Aufgabe wie das Verfassen einer Seminararbeitebenso wenig meistern, wie man Autofahren oder Operieren aus einemBuch lernen kann. Akademisch Schreiben lernt man durch Lesen guterwissenschaftlicher Texte, die als Vorbild und Inspiration dienen, vor allemaber durch Schreiben, das heißt die konkrete Praxis. Learning by doing undtrial and error waren auch die Ausgangsposition von Wissenschaftlern,deren heutige Texte vorbildhaft erscheinen. Akademisches Schreiben istTeil eines mitunter langwierigen Sozialisationsprozesses, den man denStudierenden weder ersparen kann noch sollte.

Der große Vorteil von regulären Seminaren ist der Umfang an Übungs-zeit, die zur Verfügung steht, wenn man den akademischen Schreibpro-zess in 14–15 Sitzungen aufteilen kann. Nachteilig ist allerdings, dass dieeinzelnen Einheiten in der Regel zu kurz sind, um anspruchsvolleSchreibübungen durchzuführen. Zudem bleibt man möglicherweise zusehr in der curricularen Routine gefangen, wenn das Schreibtraining alsSeminar wie jedes andere erscheint.

Spezielle Schreibtrainings in Form von ein- oder mehrtägigen Work-shops sind als Blockveranstaltungen in dieser Hinsicht kompakter. Mankann für jede Komponente des Schreibprozesses spezielle vertiefendeTrainings anbieten (etwa zur Literaturrecherche und -bearbeitung, zumwissenschaftlichen Formulieren und Argumentieren, zur Vermeidungund Behebung von Schreibblockaden). Sie teilen allerdings mit Semina-ren und der Ratgeberliteratur das Problem, für relativ große und oft inho-mogene Gruppen konzipiert zu sein. Man kann die Gruppen begrenzen(in der Regel auf maximal 15 Teilnehmer) und homogenisieren (z.B. nurTeilnehmer aus einem Semester oder einem Studienfach), allerdingserwachsen gerade aus der interdisziplinären Diskussion oft wertvolleImpulse und Anregungen für die Gruppenarbeit.

Die Schreibberatung ermöglicht individuelle Betreuung, kann aller-dings meist nur punktuell erfolgen, zeitlich stark limitiert und jeweils aufwenige Themenaspekte beschränkt (z.B. die Gliederung oder die Formu-lierung der Einleitung). Die intensive Diskussion über die konkreten Fra-gen und Probleme des zu Beratenden sind aber für diesen sehr effektiv.

Das Schreibcoaching stellt die intensivste (und deshalb auch seltenste)Form der Betreuung dar. Hier wird der Schreiber längerfristig individuellberaten, meist on the job, also in der Ausübung seiner Schreibtätigkeit. DerBerater kann sich ganz auf die Probleme des Schreibenden und dessenspezifische Schreibaufgaben einlassen.

Neuere schreibpädagogische Konzepte zielen auf die Unterstützungvon Lehr- und Lernprozessen unter Studierenden, etwa in studentischenSchreibgruppen oder durch studentische Tutoren, die von Schreibbera-tern ausgebildet werden (Peer Feedback und Peer Tutoring).

Diese Ansätze verlangen von einem Schreibtrainer unterschiedlicheRollen und das Anwenden entsprechender Kompetenzen. Als Seminarleiter

Literatur

ReguläreSeminare

Schreibtrainings

Schreibberatung

Schreibcoaching

Peer FeedbackPeer Tutoring

Rollen undKompetenzen

127

II.2 Schreibberatung und Schreibtraining

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oder Trainer wirkt er in der eher traditionellen Rolle des Lehrers, der rhe-torisch überzeugend anerkannte Techniken vermittelt. Als Berater oderCoach muss er sich sensibel und flexibel auf individuelle Sichtweisen undProbleme einlassen. Als Autor von didaktischer Ratgeberliteratur sindwieder andere, ausschließlich schreibbezogene Kompetenzen gefragt,etwa die zur allgemein verständlichen Formulierung.

Die differenzierten Methoden erlauben eine adressaten- und bedarfs-gerechte Unterstützung. Zudem sind die Vermittlungsformen für die Teil-aufgaben im Schreibprozess unterschiedlich gut geeignet. GrundlegendeArbeitsformen wie etwa Recherche- und Lesetechniken oder auch weit-gehend standardisierte Aspekte wie die Textgliederung lassen sich inTrainings gut vermitteln, das konkrete Formulieren im angemessenenWissenschaftsstil kann eher in Beratung oder Coaching behandelt werden.Wie gesehen haben alle Methoden aber auch ihre Stärken und Schwächen,so dass eine Kombination sinnvoll sein kann. So kann man zum Beispielim Vorfeld eines Trainings die Lektüre von Ratgeberliteratur empfehlenund dann die Gruppenarbeit mit einer Einzelberatung kombinieren.

Wie schon ausgeführt, sind die Anforderungen an den Schreiber jenach Schreibaufgabe sehr unterschiedlich. Umso wichtiger ist es fürSchreiber wie auch für Schreibtrainer, sich möglichst genaue Vorstellun-gen von der konkreten Schreibaufgabe zu machen, um nicht von falschenVoraussetzungen auszugehen. Bezogen auf das Verfassen von Seminarar-beiten ergibt sich zum Beispiel folgendes Bild, das sowohl Grundlage fürden Schreibprozess selbst wie für die Konzeption eines Schreibtrainingssein könnte:

Stärken undSchwächen

Tab. 3SchreibaufgabeSeminararbeit

128

II Schriftlich kommunizieren

Faktor

Rahmen-bedingungen

Konventionen und Normen

Charakteristik

h komplexe und langwierige Schreib-aufgabe mit vielen Teilhandlungen (Themeneingrenzung, Literatur-recherche, -auswahl, -bearbeitung,Gliederung etc.)h meist kein extremer Zeitdruckh in tiefen Semestern geringerErfolgsdruckh bei Examensarbeit hohe Relevanzfür Noteh anfangs oft keine Erfahrungen mitTextsorteh keine große Unterstützung (Einzel-tätigkeit)h keine Bezahlung (nicht-kommerziellesSchreiben), keine große Anerkennung(kleines Publikum)

h Umfang und Aufbau weitgehend vorgegebenh jedes akademische Schreiben bautauf dem Forschungsstand auf(Lesen + Transferieren!)h formale wissenschaftliche Konven-tionen (z.B. Zitieren, Belegen,Verweisen, Bibliographieren)

Folgen und Aufgaben

h Arbeits- und Zeit-planung nötig

h eigene Fristen setzenh eigene Ziele setzen

h Druck verarbeiten

h Hilfe suchen

h Netzwerk aufbauen

h Motivation aufbauen

h mit Betreuer klären

h aus Fremdem Eigenesmachen (Techniken)

h Formalia aneignen,ihren Sinn verstehen

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Die sicher unvollständige Analyse zeigt, wie komplex die Schreibaufgabeist, wie viele Hürden und Fallstricke gerade für Anfänger den Wegerschweren können und dass es einer sehr reflektierten und systema-tischen Herangehensweise sowie ggf. gezielter Hilfestellung bedarf. Einesolche Analyse kann man prinzipiell für alle umfangreicheren Schreib-aufgaben bzw. zur Vorbereitung von Schreibtrainings durchführen.

4.1 Schreibtraining

Eine Vorbemerkung: Die folgenden Ausführungen beziehen sich aufSchreibtrainings und Schreibberatungen, wie sie vom Verfasser seit 2000am Schreibzentrum an der TU Chemnitz durchgeführt wurden. Vieleandere Wege und Konzepte sind ebenso denkbar und angemessen. DieMethoden und Übungen wurden meist im Austausch mit Kolleginnenund Kollegen anderer Schreibzentren entwickelt.

Simone entschließt sich, ein dreitägiges Schreibtraining zu besuchen,um das nötige Handwerkszeug und methodische Wissen zu erlernen, mitdem sie ihre Seminararbeit systematischer als bisher angehen kann. ZuBeginn des Workshops erarbeitet der Leiter gemeinsam mit den Teilneh-

Ablauf einesSchreibtrainings

129

II.2 Schreibberatung und Schreibtraining

Faktor

Funktionen

NötigeKompetenzen

Strategien

Medien

Charakteristik

h Formulierungskonventionen(„Wissenschaftsstil“)h Sorgfalt: Überprüfen und Überarbeitennach verschiedenen Aspekten (vonOrthographie bis Strategie)

h wissenschaftlicher Kenntnisse und For-schungsergebnisse präsentierenh Fachwissen erwerben und vermitteln

h Kompetenz zum wissenschaftlichen Arbeiten und Schreiben nachweisenh allgemeine Schreibkompetenz ver-bessern

h analytisches Denkenh Recherchetechnikenh breites Wissen (allgemein+ Forschungsstand)h Fähigkeit zu prägnanten Formulie-rungenh Kritik- und Diskussionsfähigkeit

h zielorientiert strukturieren

h argumentativ überzeugenh präzise formulierenh adressatengerecht schreiben

h verschiedenartige Teilaufgaben undTeiltexte (z.B. auch Notizen, Exzerpte,Bibliographie)

Folgen und Aufgaben

h von Vorbildern lernen

h Zeit zum Überarbeiteneinplanen, Teamwork

h intensive Lektüre,Kritikfähigkeith Inhalte verstehen, Meinung bildenh Standards lernen undeinhaltenh Parallelen zu anderenSchreibformen finden

h Lernen durch Lesen (Lernen an Vorbildern)und durch Schreiben(Erfahrungen sammeln,schrittweise verbessern)

h Fragen und Ziele defi-nieren, Methode undVorgehensweise klärenh roten Faden aufzeigenh Text überarbeitenh Adressaten vorstellen(z.B. Kommilitonen)

h flexibler und reflek-tierter Medieneinsatz(Stift bis Computer)

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mern eine Agenda der typischen Probleme im akademischen Schreibpro-zess, die im Workshop Schritt für Schritt behandelt werden. Alle Teilneh-mer wurden schon vor Beginn des Trainings aufgefordert, ein konkretesSeminararbeitsprojekt, zumindest ein klar umrissenes Thema in denWorkshop einzubringen. Durch die Arbeit an eigenen Themen und Tex-ten soll das Training nicht nur zielführender und effektiver für die ein-zelnen Teilnehmer werden, sondern auch die Inhomogenität der Gruppe(Semesterzahl, Fächer, Schreiberfahrung etc.) reduziert werden.

Wichtig für den Erfolg eines Trainings ist es, zunächst die Motivation derTeilnehmer zu steigern. Ein Mittel kann sein, Parallelen zwischen Semi-

Eigene Themenund Texte

Tab. 4Ziele und

DidaktischePrinzipien

Motivation steigern

130

II Schriftlich kommunizieren

Ziele des dreitägigen Schreibtrainings:

• Bedeutung der Schreibkompetenz für Studium und Berufsleben verdeutlichen

• angemessene Studierhaltung vermitteln (wissenschaftliches Denken und Arbeiten)

• Ängste nehmen, Motivation aufbauen, durch kreative Übungen Spaß am Schreibenfördern

• Prozessoptimierung: Arbeits- und Zeitplanung verbessern

• effektive und kreative Arbeitstechniken für alle Schreibphasen vermitteln

• Strategien der Themenfindung und -eingrenzung vermitteln (inkl. Fragestellungen,Ziele)

• Recherche- und Lesetechniken vermitteln (inkl. Exzerpieren) und diskutieren

• problembezogene Textstrukturierungsmethoden vermitteln und diskutieren

• Schreiben als Prozess vermitteln (Erkenntnisgewinn im Schreibfluss erfahren, perma-nente Textoptimierung anstreben: „Writing is Rewriting“)

• Sensibilisieren für Kriterien der Textqualität durch Textanalysen und -diskussionen

• Formulierungs- und Reformulierungstechniken für einzelne Textteile einüben

• auf Probleme und Schreibblockaden vorbereiten (Vermeidungs- und Behebungstech-niken)

Didaktische Prinzipien:

• Schreiben lernt man durch Lesen: vorbildliche Texte (Auszüge aus wissenschaftlichenAufsätzen und Seminararbeiten) gemeinsam analysieren und diskutieren

• Schreiben lernt man durch Schreiben: zahlreiche kleinere Schreibaufgaben im Mittel-punkt

• Reduktion von Komplexität: den Schreibprozess in Teilaufgaben herunterbrechen undtrainieren (z. B. Themenfindung, Materialbearbeitung, Gliedern, Formulieren)

• in den Schreibfluss bringen: Ideen, Konzepte, Formulierungen schreibend entwickeln

• Learning-on-the-job: eigene Arbeiten und Themen als Grundlage (Realitätsbezug,unmittelbare Umsetzung)

• produktive Umwege gehen: kreative Übungen einsetzen

• Analogien nutzen (z. B. zwischen Reportage und Seminararbeit)

• positive Gruppeneffekte herbeiführen, negative vermeiden: gemeinsame, aber auchunterschiedliche Perspektiven fördern, systematische, faire, aber kritische Gruppen-diskussion über die produzierten Texte

• Kreative Pause: Ein Tag für Verfassen von Texten reservieren

• Kombination von Gruppenarbeit und vertiefender Einzelberatung

• Hilfe zur Selbsthilfe (Nachhaltigkeit: Techniken für selbstständiges Arbeiten vermitteln)

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nararbeiten und anderen Textsorten zu ziehen, zum Beispiel einer Repor-tage. So verschieden die Stile auch sind, hier wie dort wird ein relevantesThema aufgespürt, gründlich recherchiert, werden Fragestellungen undZiele festgelegt und ein „Drehbuch“ erarbeitet, wird der Text geschriebenund systematisch überarbeitet, bis er den Erwartungen entspricht. Wiebei einer Reportage braucht der Verfasser von Seminararbeiten aber auchwirkliches Interesse am Thema, also Neugier und die Identifikation mitder Schreibaufgabe, zudem die richtige Perspektive, ergiebige Fragen,klare Erwartungen und Ziele, viel Hintergrundwissen und eine Sprache,die den Leser für den Text gewinnt.

Wenn man erkennt, dass das Abfassen von Seminararbeiten nicht nurdem Scheinerwerb dient, sondern zur Aneignung grundlegender Schreib-kompetenzen beiträgt, die auch bei anderen beruflichen Schreibaufgabenangewandt werden können, steigert dies nicht nur das Engagement imWorkshop, sondern kann nachhaltig die oft negative Einstellung zumakademischen Arbeiten und Schreiben verbessern (dazu Ruhmann1995).

Die Analogie zur Reportage kann man auch nutzen, um den langenakademischen Schreibprozess in Phasen und Teilaufgaben herunterzu-brechen, die einzeln besser zu bewältigen sind. Häufig wird Schreibennach Hayes und Flower (1980, s. auch Artikel I.3) als systematischer Pro-blemlöseprozess aufgefasst und in drei große Phasen eingeteilt: Planen(Problemdefinition und Lösungsentwurf) – Formulieren (Suchen nachgeeigneter Lösungsform) – Überarbeiten (Analyse und Bewertung derLösung, ggf. Revision). Bei einer so komplexen Schreibaufgabe wie demVerfassen von Seminararbeiten reicht allerdings die Dreiteilung nicht aus,zumal wenn Schreibanfänger einen Leitfaden erhalten möchten. Hierergibt sich beispielsweise folgendes Bild, das man auf die Trias Planen –Formulieren – Überarbeiten beziehen kann:

Parallelen finden

Relevanz verdeutlichen

Schreibprozess inPhasen und Teil-aufgaben herun-terbrechen

Tab. 520 Schritte imakademischenSchreibprozess

131

II.2 Schreibberatung und Schreibtraining

1. Bewusste Themenauswahl nach Interesse und Realisierbarkeit

2. Vorgespräch mit dem Betreuer, ggf. Themenmodifizierung, Vorgaben abspre-chen

3. Brainstorming, Erarbeitung erster Fragestellungen, Thesen, Ziele, Methoden-reflexion

4. Materialsammlung (Textkorpus erstellen)

5. Literaturrecherche durch systematisches Bibliographieren

6. Literaturausleihe und strukturiertes Lesen, Materialselektion, Literatur kopie-ren

7. Intensives Lesen, Bearbeiten, Exzerpieren der ausgewählten Texte (= Schreib-beginn!)

8. Analyse und Interpretation des Textkorpus auf der Grundlage der Sekundär-literatur

9. Erstellung eines Exposés, Überdenken von Themeneingrenzung, Fragen, Zie-len

10. Erstellung der Grobgliederung

11. Diskussion mit Betreuer und Kommilitonen (Peer Feedback) über Grobglie-derung + Literaturauswahl, ggf. Modifizierung

12. Entwicklung der Feingliederung

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Dieser „Fahrplan“ ist nur einer unter mehreren denkbaren Varianten. Ersuggeriert zudem eine Linearität, die in der Schreibpraxis nicht gegebenist. Die Teilnehmer des Trainings müssen dementsprechend mit der Flexi-bilität und Zirkularität akademischen Schreibens konfrontiert werden:Jederzeit können neue Erkenntnisse im Schreibprozess dazu führen, dassman umstellen oder zurück liegende Phasen erneut durchlaufen muss.

Für große Arbeitsschritte kann man spezielle Trainings konzipierenund anbieten: etwa zu Literaturrecherche und Lesetechniken, zum Wis-senschaftlichen Formulieren (zum Argumentieren oder spezifischenSprachhandlungen wie Zitieren und Belegen), zu Formalia sowie zu Über-arbeitungs- und Reformulierungstechniken. Andere Komponenten bietensich eher für Beratungsgespräche an: die Themenfestlegung und -ein-grenzung, die Erarbeitung der Fragen und Ziele oder die Gliederung. DieZerlegung des Arbeits- und Schreibprozesses ist zugleich der Fahrplan fürden Workshop, dessen Teilphasen (in Chemnitz zum Beispiel drei Tages-blöcke à vier Stunden) entsprechenden Themen gewidmet sind.

Ein weiteres Prinzip erscheint wichtig für die Konzeption einesSchreibtrainings: Nicht immer ist der direkte Weg der angemessene. Sokann es für den Erfolg eines Trainings kontraproduktiv sein, allein dieangestrebten Textsorten zu erstellen. Wer etwa eine Seminararbeit schrei-ben soll, mag durch das Büffeln von Formalia oder das Verfassen von Ein-leitungen eher demotiviert werden. Hier sind Ansätze des KreativenSchreibens gefragt (dazu z.B. Böttcher 1999, von Werder 1995), etwa dasAusprobieren ungewohnter Textsorten oder das Einnehmen veränderterPerspektiven.

Das kreative Schreiben mobilisiert die brachliegende Kreativität, die Lust amSchreibprozess, die unbewussten Bilder und Ideen des Geistes, um bessereberufliche Texte zu produzieren. Kreatives Schreiben setzt Kräfte gegenSchreibstörungen und Schreibängste frei. Es leitet zum kooperativen Schrei-ben an. Es bietet sowohl Schreibtechniken, Methoden zur Entfaltung vonSchreibideen, Schreibspiele, Entdeckung latenter Ausdrucksmöglichkeiten,als auch Schreibprojekte zur Schaffung von Schreibstilen und Textsicherheit.(von Werder 1995: 13)

Solche Methoden erscheinen auf den ersten Blick spielerisch, könnenaber Gewinn bringend auf konkrete Schreibaufgaben bezogen werden.Bewährte Techniken sind etwa das Brainstorming oder grafische Aus-

Zirkularitätstatt Linearität

Trainingmodularisieren

KreativeWege gehen

132

II Schriftlich kommunizieren

13. Aufbereitung des Materials und der Sekundärliteratur: Herausschreiben derwichtigsten Stichworte und Zitate für jeden Gliederungspunkt

14. Erstellen eines Typoskripts auf Basis von Feingliederung und Stichwortliste

15. Gründliches Überarbeiten des Typoskripts (Inhaltliches, Sprachliches, Forma-les, Zusammenhänge), Textoptimieren (auch mit Peer Feedback)

16. Selbstkontrolle: Korrekturlesen

17. Fremdkontrolle: Korrekturlesen und Diskussion

18. Feinschliff des Layouts

19. Schlusskontrolle

20. Abgabe

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133

II.2 Schreibberatung und Schreibtraining

drucksweisen wie Cluster und Mind Map, mit denen in der Orientierungs-phase spontane thematische Impulse generiert werden, aber auch lang-fristige Methoden wie Arbeitsjournal oder Portfolio (dazu Bräuer 2000),bei denen man aus unterschiedlichen Gründen den Schreibprozess doku-mentiert und reflektiert. Wir wollen kreative Methoden an drei Beispie-len nachvollziehen, die der Motivationssteigerung, Problemdiagnose undFormulierungsvorbereitung dienen.

Zu den etablierten kreativen Schreibübungen in Trainings gehört dasspontane assoziative Schreiben. Hier geht es zum einen darum, schnellund effektiv in eine konzentrierte Arbeits- und Schreibhaltung zu kom-men (was auch beim Verfassen von Seminararbeiten wichtig ist, wennman nicht jedes Mal Zeit vergeuden will), zum anderen, das Unbewusste„herauszulassen“ und als Ressource für Reflexionen zu nutzen. Eine sol-che Übung ist „Schreiben ist wie . . .“ (vgl. auch Bräuer 2000). Bei ihr gehtes darum, den akademischen Schreibprozess metaphorisch zu umschrei-ben und diese Metapher plastisch auszugestalten. Die Seminarteilnehmerkommen dabei auf erstaunliche Analogien: Schreiben sei wie Essenkochen, ein Haus bauen, ein Puzzle legen, das Besteigen einer Treppe, dasBändigen eines wilden Flusses, das Kennenlernen eines Menschen, einBehördengang, Billardspielen, das Entstehen der Erde . . . Jede Metapherfokussiert andere Aspekte des Schreibprozesses, wobei meist die positivenausgewählt werden. Bei der Auswertung der Übung zeigt sich, dass dieseAnalogien nicht nur Spaß machen, sondern neue Perspektiven eröffnenund die Motivation für ein Schreiben erhöhen, das gemeinhin als trockenund langweilig gilt. Und hier ist gerade die Zusammenschau unterschied-licher Metaphern im Rahmen der Trainingsgruppe befruchtend für alle.Der Trainer hat die Aufgabe, die Assoziationen auf konkrete Schritte imSchreibprozess zurück zu führen und diese produktiv für Anleitungen zunutzen (z.B. im Hinblick auf Zeitmanagement, Recherche, Gliederung,Formulierungen).

Ein Training wird vor allem dann zum Erfolg führen, wenn man voneiner angemessenen Selbsteinschätzung ausgeht. Viele Schreiber, zumalvon Seminararbeiten, kennen ihre Schwächen und Stärken insgeheim,machen sich diese aber selten bewusst. Hier kann eine Übung hilfreichsein, die den Teilnehmer zunächst recht skurril erscheint: „Meine Arbeitstellt mich vor“. Diese Übung wurde inspiriert durch einen Workshop vonOtto Kruse auf der Erfurter Tagung 1995.

Aufgabe ist es, aus der Perspektive der Arbeit, die man einbringt, denSchreiber, also sich selbst, zu portraitieren. Der Verfremdungseffekt trägtdazu bei, dass die Schreiber schonungsloser als gewohnt mit sich umge-hen und ihre Schwachstellen direkt ansprechen, auch vor der Gruppe,wobei sie dies meist in unterhaltsamer Weise formulieren. Ausgehenddavon kann man im zweiten Schritt drei explizite Forderungen der Arbeitan die Schreiber entwickeln lassen, aber auch als Regulativ drei lobendeAussagen über den Autor. Beides, Schwächen und Stärken, gilt es be-wusst zu machen, bevor man beginnt, den Schreibprozess zu verbessern.

Während sich die bisher beschriebenen kreativen Techniken auf Moti-vation und Diagnose im Vorfeld des Schreibens beziehen, soll nun exem-plarisch für viele, die hier nicht erwähnt werden können, eine Schreib-

Beispiel 1„Schreiben ist wie …“(Textbeispiels. CD)

Beispiel 2„Meine Arbeitstellt mich vor“(Textbeispiel s. CD)

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technik vorgestellt werden, die sich auf eine Phase des Schreibprozessesund einen konkreten Abschnitt einer Seminararbeit bezieht. Es geht umdas Verfassen der Einleitung. Hieran kann recht viel Prinzipielles aufge-zeigt werden, denn es handelt sich um einen verdichteten und relativstandardisierten Teiltext.

Bevor man lange theoretische Ausführungen über die Funktionenvon Einleitungen beginnt, kann man die Teilnehmer auch auffordern,einen Klappentext zu ihrer Arbeit zu verfassen – zunächst ohne den Sinnnäher zu erläutern. Diese Übung stellt die Teilnehmer vor eine unge-wohnte Aufgabe und lässt sie erst mal über die zentralen Funktioneneines Klappentexts nachdenken: Knappe Information und überzeugendeWerbung, denn schließlich will der Verlag eines Buches damit den Ver-kauf fördern. Die Teilnehmer sind in der Regel nicht gewohnt, für ihreigenes Schreiben zu werben oder ihre Seminararbeit als etwas wie einBuch zu betrachten. Zudem müssen sie sich bei der Inhaltsangabe sehrkurz fassen. Beides ist aber auch für eine Einleitung vonnöten, bei derman ja prägnant und womöglich auch originell die Relevanz und Aktua-lität des Themas und der Arbeit verdeutlichen sollte, bevor man Fra-gestellungen, Ziele und Vorgehensweise erläutert. Wer lernt, einenansprechenden Einstieg in eine Seminararbeit zu verfassen, der kann diesauch bei vielen anderen Schreibaufgaben produktiv einsetzen; letztlichgeht es zunächst immer darum, den Leser für die Lektüre zu gewinnen.

Die Klappentexte, die die Teilnehmer im Training verfassen, könnensomit als Textbausteine für die Einleitung fungieren. Zugleich fördern siedie Reflexion über die Besonderheiten und Stärken der eigenen Arbeit,zwingen zur Zuspitzung auf konkrete Fragestellungen und Ziele und ver-langen eine sprachlich und argumentativ ansprechende Formulierung.Nicht zufällig verwenden die Teilnehmer viel Zeit und Mühe auf dieGestaltung des Klappentexts. Ihnen wird dabei klar, dass sie mit dieserÜbung einen großen Schritt in ihrem Schreibprozess leisten, da auf krea-tive Weise wesentliche Fragen geklärt werden.

Es sind auch andere kreative Formen und Transfers aus anderenBezugsbereichen denkbar (dazu Ruhmann/Perrin 2002), mit denen dieEinleitung vorbereitet werden kann. So kann man einen Presseartikelüber die Arbeit verfassen lassen, ein „Interview mit sich selbst“ oderauch eine Rezension. Es werden jeweils andere Aspekte fokussiert. Sol-che verfremdenden Techniken können zudem bei Blockaden imSchreibprozess hilfreich sein, um den Kopf wieder frei zu bekommen.Das Beispiel Einleitung muss hier genügen, um eine mögliche Vorge-hensweise zu illustrieren. In einem Training sollten alle wesentlichenEtappen des Schreibprozesses auf vielfältige und ansprechende Weisebearbeitet werden, immer orientiert an den spezifischen Bedürfnissender Teilnehmer.

Natürlich kann man auch einen konventionellen Weg einschlagenund zeigen, wie welcher Teil einer Arbeit konzipiert sein sollte. Insbeson-dere bei Anfängern empfiehlt sich die klassische Dreiteilung Einleitung –Hauptteil – Schluss. Hier kann man einen spezifisch pragmalinguistischenAnsatz nutzen (vgl. auch Püschel 1994) und eine Seminararbeit als Ab-folge typischer Sprachhandlungsmuster beschreiben (zur theoretischen

134

II Schriftlich kommunizieren

Beispiel 3„Erstellen Sie einen

Klappentext“(Textbeispiel s. CD)

Klappentexteund Einleitungen

Funktionder Klappentexte

Andere kreative Übungen

KonstitutiveMuster

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Grundlage u.a. Holly 1990, Klemm 2000), so dass sich folgende Struktu-rierung ergibt:

Diese Grobstruktur kann man nun noch in zahlreiche Untermuster aus-differenzieren, so dass sich eine detaillierte Aufstellung der zentralenMuster einer Seminararbeit ergibt, die zum Beispiel als Checkliste in derÜberarbeitungsphase Orientierung geben kann.

Während Einleitung und Schlussteil relativ standardisierte Musteraufweisen und dementsprechend auch im Training eingeübt werden kön-nen, ist der Hauptteil stark themen- und methodenabhängig. Hier sindlokale Lösungen gefragt, die eher in Beratung oder Coaching vermitteltwerden können.

4.2 Schreibberatung

Im Rahmen des Schreibtrainings hat Simone die Gelegenheit, eine Bera-tung aufzusuchen. Sie möchte dabei insbesondere die Gestaltung desEinleitungsteils ihrer Arbeit besprechen, da sie diesen – angeregt vomTraining – als Schlüssel zu einem erfolgreichen Schreibprozess betrach-tet.

135

II.2 Schreibberatung und Schreibtraining

Tab. 6Grobstruktureiner Seminar-arbeit

Checkliste (s. CD)

Ablauf einerSchreibberatung

Tab. 7Ziele undDidaktischePrinzipien

A EINLEITUNG: SYSTEMATISCH EINFÜHREN / VORSTRUKTURIEREN

– THEMATISCH EINFÜHREN

– THEMA EXPLIZIEREN

– FRAGESTELLUNGEN und ZIELSETZUNGEN EXPLIZIEREN

– METHODISCHE VORGEHENSWEISE VORSTELLEN und BEGRÜNDEN

B HAUPTTEIL: SYSTEMATISCH PROBLEMSTELLUNG BEARBEITEN

– BESCHREIBEN / ggf. VERGLEICHEN

– ANALYSIEREN

– INTERPRETIEREN

– ARGUMENTIEREN / INTERPRETATION BEGRÜNDEN

– SCHLUSSFOLGERN

C SCHLUSSTEIL: THEMATIK ABSCHLIESSEND EINORDNEN

– ZUSAMMENFASSEN / FAZIT ZIEHEN

– BEWERTEN

– PERSPEKTIVEN / DESIDERATE AUFZEIGEN

Ziele der Schreibberatung:

• Fragen, Probleme, Schwächen und Stärken des Schreibers herausarbeiten undbesprechen

• intensive Textanalysen, detaillierte Textdiskussion, gemeinsame Textoptimierung

• Standards des akademischen Schreibens für die Selbstdiagnose vermitteln

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136

II Schriftlich kommunizieren

Dem Berater geht es zunächst darum, Simones individuelle Stärken undSchwächen herauszuarbeiten, um ihr gezielt helfen zu können. Hier istFingerspitzengefühl gefragt, denn Schreibprozesse und insbesondere dieKritik daran betreffen oft die ganze Persönlichkeit. Als Ausgangspunktdienen die von ihr im Training geschriebenen Texte zu „Meine Arbeitstellt mich vor“ und „Schreiben ist wie …“, aber auch gezielte Fragen zuSimones Vorstellungen über wissenschaftliches Arbeiten, den Schreib-prozess und ihre bisherigen Erfahrungen. Dabei wird deutlich, dass sichSimone über viele Aspekte des akademischen Schreibens noch im Un-klaren ist.

Da Simone gerne einen Leitfaden für ihre Arbeit hätte (bei selbst-ständigeren Schreibern würde man anders vorgehen), schlägt der Bera-ter vor, dass Simone zukünftig systematisch in drei Schritten an Semi-nararbeiten herangeht und sich dabei selbstständig und intensiv mitwesentlichen Fragen auseinandersetzt. Am Anfang steht die Reflexionüber das Thema: Wie kann man es in zwei, drei Sätzen umreißen? Wasinteressiert sie persönlich daran? Was weiß sie bereits darüber? Welchekonkreten Fragen möchte sie im Arbeits- und Schreibprozess beantwor-ten? Wie kann man – nach Diskussion mit anderen, z.B. Kommilitonenoder dem Seminarleiter – die definitiven Fragen und Ziele der Arbeitfestlegen? Durch die Fragen kann sie früh erkennen, ob das Thema zuihr passt und sie sich wirklich drei, vier Wochen intensiv mit ihmbeschäftigen möchte.

Im zweiten Schritt könnte Simone ein Exposé erstellen, bei dem sieneben Themenbeschreibung, Fragen und Zielen auch Angaben zumArbeits- und Zeitplan, zur Methode, zum Analysekorpus, zur Literatur-auswahl, zum Forschungsstand und zur Gliederung der Arbeit macht. Diedetaillierte Reflexion und Zusammenstellung dieser Aspekte, die alle fun-damental für den Schreibprozess sind und für gravierende Probleme bishin zum Abbruch sorgen können, wenn sie nicht gründlich bedacht sind,kann als Grundlage für die weitere Betreuung dienen. Als dritten Schrittempfiehlt der Berater, ein etwa halbseitiges freies Exposé zu verfassen, indem Simone nochmals alle wichtigen Aspekte der Arbeit in einem Fließ-text zusammenfasst. Wenn es förmlich aus der Feder fließt, ist sie bereit,in die Formulierungsphase einzusteigen.

Anschließend wenden sich Simone und der Berater ihrer bisherigenEinleitung zu. Zunächst diskutieren sie, welche Komponenten konstitu-tiv für eine Einleitung sind und wie man diese realisieren kann. Folgen-des Schema dient als Leitfaden der Diskussion:

Stärken undSchwächen

herausarbeiten

Themareflektieren

(s. CD)

DetailliertesExposé erstellen

(s. CD)

Freies Exposéverfassen (s. CD)

Didaktische Prinzipien:

• individuelle Bedarfs- und Problemanalyse als Basis, kein Schematismus

• Fragen statt Instruieren: Kompetenzen des Schreibers aktivieren und nutzen

• gemeinsame Lösungssuche für spezielles Problem

• Problembewusstsein fördern, eigene Lösungskompetenz stärken, Reflexionsprozessanstoßen, Nachhaltigkeit verbessern (Schwächen schwächen und Stärken stärken)

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Anschließend wenden sich Simone und der Schreibberater detailliert demText zu und diskutieren zunächst über den optimalen Einstieg: Was bietetsich beim Thema „Interkulturelle Kommunikation zwischen Deutschenund Aussiedlern“ als Einstieg an? Eine Szene aus dem Alltag? Ein Zitat?Eine Statistik, die die Relevanz des Themas belegt? Ein Transkriptaus-schnitt aus dem Korpus? Wie zieht man den Leser am besten in die Arbeithinein, „holt man ihn ab“, zeigt man ihm Aktualität und Relevanz des The-mas? Mehrere Alternativen werden diskutiert. Der Berater verdeutlichtdabei, wie wichtig es ist, auf einen konkreten Adressaten „zuzuschreiben“.Das Problem ist ja oft, festzulegen, was man voraussetzen kann und wasnoch ausgeführt werden muss, insbesondere, welche Begriffe man ver-wenden kann und welche man zuvor erklären muss. Der Berater emp-fiehlt, nicht unbedingt den Dozenten im Auge haben, sondern sich ehereinen Kommilitonen vorstellen, da man sonst zu vieles weglassen könnte.

Am Text und durch Rückfragen wird deutlich, dass Simone vielesnoch nicht klar zu sein scheint: das Thema ist zu weit gefasst, die Frage-stellungen sind zu heterogen, als dass sie zusammenhängend bearbeitetwerden können, die Ziele bleiben diffus, die Vorgehensweise ist nichtstringent erläutert. Offenbar ist sich Simone noch nicht im Klaren, aufwas ihre Arbeit hinauslaufen soll.

137

II.2 Schreibberatung und Schreibtraining

Tab. 8Sprachhand-lungsmuster imEinleitungsteil

Einstiegoptimieren

Adressatdefinieren

Schreibaufgabepräzisieren

Systematisch Einleiten / Leser orientieren / Vorstrukturieren

• EINSTIEG, in allgemeine Thematik einführena) historischen, sozialen, politischen, wissenschaftlichen Kontext referierenb) Aktualität des Themas herausstellenc) Relevanz des Themas aufzeigend) relevante Aussagen zum allgemeinen Thema / zu dessen Kontext zitierene) Thema als Desiderat der wissenschaftlichen Forschung präsentierenf) persönlichen Zugang zum Thema darlegen

• Thema explizierena) Thema explizit nennenb) Thema für Analyse eingrenzen, spezifizierenc) Thema in einzelne Aspekte aufgliedern

• Fragestellungen und Ziele der Arbeit festlegena) Fragestellungen (z. B. in rhetorischen Fragen) explizierenb) Fragestellungen in ihrer Relevanz begründenc) persönliches Interesse an Fragestellungen darlegend) Hypothesen aufstellen, die überprüft werden sollene) Ziele der Arbeit explizieren

• die methodische Vorgehensweise vorstellen und erläuterna) folgende Arbeitsschritte kurz auflistenb) Relevanz der Arbeitsschritte darlegenc) Abfolge der Arbeitsschritte erläuternd) Zusammenhänge zwischen Arbeitsschritten darlegene) Ausblick auf die Kapitel geben, Inhalt kurz charakterisierenf) Grenzen und Probleme der Arbeit im Vorhinein aufzeigen

zentrale Themenentfaltungsmuster: Beschreiben und Erklärenzentrale Texthandlungsmuster: Leser orientieren, thematisch einführen, Text vorstruk-turierenbei den mit a – n gekennzeichneten Mustern handelt es sich jeweils um Alterna-tiven

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Es würde hier wenig helfen, wenn der Berater Simone seine Auffas-sungen aufdrängt. Schreibberatung ist keine Textberatung, bei der eslediglich um ein besseres Schreibprodukt geht. Sie soll Veränderungenbeim Schreiber anstoßen, der den Schreibprozess ja selbst bewältigenmuss (vgl. Bräuer 2004). Simone beschließt, den Abgabetermin ihrerArbeit zu verschieben und vor der nächsten Beratung ein Exposé zu ver-fassen, das zur Verbesserung der Einleitung herangezogen wird.

Simone vereinbart mit dem Berater auch einen Termin, bei dem sieausschließlich sprachliche und stilistische Aspekte besprechen. Der Bera-ter kommentiert dabei alle sprachlichen Ebenen, exemplarisch für dieFormulierung der gesamten Arbeit: Orthographie, Grammatik, Syntax,Wortwahl – insbesondere im Hinblick auf die Wissenschaftlichkeit ihresStils. Dabei bittet er Simone, einzelne Textstellen selbst zu beurteilen undbessere Alternativen vorzuschlagen, damit sie selbst bei späteren Gele-genheiten Urteile fällen und Veränderungen vornehmen kann. Ihr wirddeutlich, dass es nicht darum geht, nach ewigem Nachdenken die perfek-te Formulierung niederzuschreiben, sondern in einen Schreibfluss zukommen, in dem man den Text permanent umstrukturiert und optimiert.Kaum etwas ist zudem produktiver für die Entwicklung der Schreibkom-petenz als das Analysieren und Optimieren eigener (und fremder) Texte.

Der Berater bemüht sich auch, Simones prinzipielle Vorbehalte gegenden ihrer Meinung nach unnötig komplizierten und abstrakten Wissen-schaftsstil abzubauen, der ihr fremd ist und der den Formulierungspro-zess belastet. Er vergleicht dazu das Studium mit einem langen Auslands-aufenthalt, die Wissenschaftssprache mit einer Fremdsprache. So wieman bereit sein muss und in der Regel auch ist, die nötigen Vokabeln zulernen, um sich im fremden Land integrieren zu können, so gilt dies auchfür die wissenschaftliche Gemeinschaft, in die man als Student eintritt.Ein Dauerstatus als „Gastarbeiter“ wird für niemanden befriedigend sein.Und wie die Fremdsprache lernt man die Wissenschaftssprache am besten„im Land selbst“, also durch Lesen und Schreiben wissenschaftlicherTexte, durch Seminardiskussionen etc. Ein angemessenes Selbstverständ-nis als Teil der wissenschaftlichen Gemeinschaft ist nicht nur Basis füreine gelungene Seminararbeit, sondern Grundlage für ein erfolgreichesStudium.

In weiteren Sitzungen diskutieren sie, welches Gliederungsschema fürden Hauptteil der Arbeit geeignet ist, und betrachten die formale Gestal-tung (Fußnoten, Literaturverweise etc.). Der Berater empfiehlt Simone,ein spezielles Training zum wissenschaftlichen Formulieren und Argu-mentieren zu besuchen, da teilweise Belege und Quellenverweise fehlenoder die Argumente nicht überzeugen.

138

II Schriftlich kommunizieren

Sprachliches analysieren

Wissenschaftsstilentzaubern

Formalia erläutern

Tab. 9Gliederungs-schemata im

Hauptteil

• historisch-chronologisch

• theoretischer Teil – empirischer Teil

• Fallbeispiel(e) – Verallgemeinerte Theorie

• Formbeschreibung – Funktionsdarstellung

• Grundlagen – Spezielle Fragestellungen

• Problemdarstellung – Lösungsalternativen vergleichen

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4.3 Schreibcoaching

Schreibcoaching ist – zumindest in der hier vertretenen Lesart – die inten-sivste Form der Beratung, da der Schreibende über längere Zeit und oftan seinem Arbeits- und Schreibplatz individuell betreut wird. Dieser Auf-wand hat natürlich seinen Preis, so dass ein Schreibcoaching im akade-mischen Bereich in der Regel nicht angeboten wird. Im Rahmen desFührungskräftecoachings auf dem freien Markt wird eine Schreibkompo-nente hingegen immer häufiger (ausf. Fröchling 2002).

Ausgangspunkt des Coachings ist oft eine Bedarfserfassung durch teil-nehmende Beobachtung. Der Klient wird im Idealfall am Arbeitsplatzbegleitet, seine Schreibaufgaben registriert, seine Texte erfasst und analy-siert. Der Coach versucht dabei, Hindernisse in den Schreibprozessen zuentdecken, die zukünftig umgangen werden könnten.

In Gesprächen werden Erfahrungen und Probleme des Schreiberserarbeitet, um durch „konstruktives Feedback, Instruktion und Training“(Fröchling 2002: 11) gezielt dort anzusetzen. Dauer, Inhalte und Ziele desCoachings werden vereinbart. Die Methoden des Coachs können sehrunterschiedlich sein, je nach Ausbildung. Linguisten werden aufgrundvon Textanalysen besonders gelungene und fehlerbehaftete Texte desSchreibers herausfiltern, an denen Stärken und Schwächen verdeutlichtwerden können, jeweils bezogen auf die Erwartungen der Zielgruppe.

139

II.2 Schreibberatung und Schreibtraining

AblaufSchreibcoaching

Tab. 10Ziele undDidaktischePrinzipien

Bedarfserfassung

Texte analysierenund optimieren

Ziele des Schreibcoachings:

• Erfassen typischer wichtiger Schreibaufgaben und -probleme des zu Coachenden

• Verbesserung des Schreibprozesses: Arbeits- und Zeitplanung, Medieneinsatz, Text-sortenauswahl etc.

• Verbesserung des Schreibprodukts: detaillierte Textanalyse und -diskussion, sofortigeoder nachträgliche gemeinsame Textoptimierung (Aufbau, Stil, Zielgruppenorientie-rung etc.)

• Entwicklungsorientiertes Beraten: Potenziale aktivieren, Schreiberpersönlichkeit ver-ändern

• Nachhaltigkeit sichern: Analyse- und Optimierungstechniken vermitteln („Hilfe zurSelbsthilfe“)

Didaktische Prinzipien:

• Teilnehmende Beobachtung: Ethnographische Schreibprozessforschung

• Befragung des Schreibers über Schreiberfahrungen, intensive Diskussion, Bewusst-machung

• Learning-on-the-job: Direktes Eingreifen in den Schreibprozess

• Evaluation des Coachings: Auswertung des Lernfortschritts

• Pro – Contra – Synthese

• Hypothese – Analyse – Interpretation

Je nach Thema kann eine Variante besser oder schlechter geeignet sein. Wichtig ist,dass der rote Faden erkennbar bleibt und eine Gliederungsvariante konsequentdurchgehalten wird.

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Auch fremde gelungene Texte (best practice) können gegebenenfallsherangezogen werden.

Es geht weniger um den Einzelfall als um das Musterhafte und Struk-turelle hinter diesen Phänomenen. „Coaching ist entwicklungsorientier-tes Beraten“ (Fröchling 2002: 7), zielt also nicht nur kurzfristig auf besse-re Produkte, sondern die Veränderung der „Schreiberpersönlichkeit“.Dies erfordert eine engere und vertrauensvollere Beziehung zwischenKlient und Coach als in einer üblichen Beratung. Ziel ist nicht, alle Pro-bleme für den Klienten zu lösen. Ein Schreibcoach ist lediglich derGeburtshelfer. Es geht darum, die „Selbstregulationsfähigkeiten desKlienten wiederherzustellen oder zu fördern“ (Rauen 1999: 10), die auswelchen Gründen auch immer aktuell beeinträchtigt sind (z.B. neueSchreibaufgaben, verfestigte Schreibprobleme).

Der Schreibcoach ist erfolgreich, wenn er sich überflüssig macht. Erkann den Schreibprozess selbst begleiten und gegebenenfalls direkt ein-greifen, um einen Text zu verbessern und daran künftige Strategien zudemonstrieren. Eine zu starke Standardisierung ist aber auf lange Sichtkontraproduktiv, da der Schreiber selbst jeweils problem- und adressaten-orientiert entscheiden können muss.

Zum Coaching gehört auch im Idealfall eine spätere Evaluation, mög-lichst sogar mehrere in regelmäßigen Abständen oder nach Bedarf, umfestzustellen, ob die Beratung positive Effekte nach sich gezogen hat.Anhand von Texten kann man die Entwicklung und die Fortschritte desSchreibers dokumentieren.

4.4 Zusammenfassung:Notwendige bzw. vorteilhafte Kompetenzen

Die bisherigen Ausführungen zeigen, wie komplex akademische Schreib-prozesse und damit auch die Anforderungen an einen Schreibtrainer indiesem Bereich sind. Viele Eigenschaften kann man auch auf Schreibtrai-ner in anderen Bereichen übertragen, wobei sicher nicht alle genanntenEigenschaften zwingend notwendig sind:

140

II Schriftlich kommunizieren

Tab. 11Anforderungen

an (nicht nurakademische)Schreibtrainer

• Hohe eigene Schreibkompetenz im anvisierten Bezugsbereich

• Möglichst vielseitiges allgemeines Stilrepertoire und umfassende Textsortenkenntnis-se (nötig zum Beispiel für Analogie-Übungen)

• Umfassende Kenntnisse der (institutionellen) Vorgaben des Bezugsbereichs (Fachwis-sen)

• Fundierte Kenntnisse zur Schreibforschung (theoretische und empirische)

• Schreibdidaktische Kenntnisse (insbesondere Techniken des Kreativen Schreibens)und breites Methodenrepertoire (evtl. Neurolinguistisches Programmieren – NLP)

• Kommunikationstheoretische Kenntnisse (z. B. konstruktivistisches Kommunikations-modell)

• Textanalytische Kompetenz (Diagnose der Stärken und Schwächen von Texten)

• Fundiertes Wissen auf allen sprachlichen Ebenen (Orthographie, Grammatik, Syntaxetc.)

Page 22: 1 Ein Beispiel zum Einstieg: Seminararbeiten als komplexeAuffassungen und Praxen von Schreiben, die im Verlauf der Geschichte zutage getreten oder überhaupt möglich sind, erfassen

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II.2 Schreibberatung und Schreibtraining

Ein Schreibtrainer muss solche Kompetenzen nicht nur besitzen, sondernsie auch in Training und Beratung „herüberbringen“. Die Anforderungensind nur teilweise exklusiv auf Sprachwissenschaftler bezogen und natür-lich kann man auch ohne linguistische Ausbildung ein sehr guterSchreibberater werden. Der Linguist teilt seinen „Werkzeugkasten“ weit-gehend mit Vertretern anderer Disziplinen, setzt aber auch fachspezifi-sche Akzente. Dazu gehört das Konzept des Sprachhandlungsmusters, daskreative Spiel mit verschiedenen Textsorten und insbesondere die fun-dierte textanalytische Ausbildung, die ein zielgenaues Feedback und eineüberzeugende Textoptimierung ermöglicht. Dazu gehören sprachstruktu-relle wie kommunikativ-pragmatische Detailkenntnisse, über die ausge-bildete Linguisten in besonderem Maße verfügen. Zudem stellt die lin-guistische Schreibforschung theoretische Modelle sowie empirisch fun-dierte Erkenntnisse aus der Schreibprozessforschung bereit.

Wer selbst Schreibtrainer werden will, sollte sich früh im Studium undauch außerhalb in speziellen Schulungen diesen reichhaltig bestückten„Werkzeugkasten“ aneignen, sich also Kenntnisse in Schreibforschungund Schreibpraxis, in Systemlinguistik und pragmatischer Textanalyseaneignen. Zunehmend gibt es, wenn auch noch selten, spezielle Schu-lungsangebote bis hin zur Ausbildung als Schreibcoach (vgl. Perrin/Kruse2002, Fröchling 2002). Im Hinblick auf berufliches Schreiben sind Prak-tika von Vorteil. Vor allem sollte der Kandidat selbst möglichst vieleunterschiedliche Schreiberfahrungen machen. Gute Schreibtrainer sindGeneralisten, die entsprechend flexibel in Training und Beratung auf ihreKlienten eingehen können.

5 Perspektiven: (Akademische) Schreibberatungprofessionalisieren

Ein Berufsbild Schreibtrainer existiert noch nicht. Zwar boomt die Kom-munikationsberatung, da besonders Wirtschaftsunternehmen die Schlüs-selfunktion effektiver und einheitlicher Kommunikation (Corporate Com-munications) auf umkämpften Märkten bewusster wird. Freie spezialisier-te Schreibtrainer sind aber noch die Ausnahme. Trainer für akademischesSchreiben gibt es vor allem in universitären Schreibzentren oder univer-sitätsnahen Einrichtungen. Studenten sind keine zahlungskräftige Klien-tel, so dass eine Kommerzialisierung des Angebots schwierig ist. Ande-rerseits ist gerade hier eine größere Professionalisierung, das heißt insbe-sondere der Aufbau weiterer Schreibzentren, aber auch die vermehrteAusbildung von Studenten als Tutoren, dringend erforderlich: die Stu-

„Werkzeug-kasten“ eines linguistischenSchreibtrainers

Noch kein Berufs-bild Schreibtrainer

UniversitäreSchreibzentren (s. CD)

• Erwachsenenpädagogische Grundkenntnisse (Motivationstechniken, Gestaltung grup-pendynamischer Prozesse)

• Psychologische Grundkenntnisse (Gesprächsführung, sensibler Umgang mit Schreib-krisen)

• Gute Präsentationstechnik, rhetorisches Geschick, Spontaneität

• Organisationstalent, konzeptionelle Fähigkeiten

• Kreativität und Flexibilität: Offene Konzepte, situationsbezogenes Vorgehen

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dentenzahlen steigen, die Einführung neuer Bachelor- und Master-Stu-diengänge erhöht den Bedarf an einer Querschnittausbildung in Schlüs-selkompetenzen wie Schreiben und Präsentieren, wie Erfahrungen inden USA zeigen. Ein wichtiger Schritt ist die Gründung von Vereinigun-gen zur Erforschung und Didaktik des wissenschaftlichen und beruf-lichen Schreibens (EATAW, ProWiTec).

Außeruniversitäre Berufsfelder müssen individuell erschlossen wer-den, indem man die Auftraggeber vom (auch finanziell nachweisbaren)Erfolg linguistischer Beratung überzeugt. Grundlage dafür wird eine Aus-weitung der berufsfeldbezogenen Schreibprozessforschung sein, die inden letzten Jahren im Aufwind ist und Schreibtrainern wertvolle Er-kenntnisse an die Hand geben wird.

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II Schriftlich kommunizieren

AußeruniversitäreBerufsfeldererschließen