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Gerda Imhof, dipl. Yogalehrerin YS, Maihofhalde 13, 6006 Luzern, www.gerdaimhof.ch Yogaphilosophie für den Alltag von heute – Vijnana Bhairava Tantra – 16.09.2016 1 Vijñāna Bhairava Ein paar Hintergründe Das Vijnana Bhairava Tantra ist Teil des Tantrismus, einer welt- und leibbejahenden Richtung der indischen Spiritualität. Es geht von der spontanen, unmittelbaren Erleuchtung aus (vgl. Zen-Buddhismus). Es enthält spirituelle Methoden jeder Richtung der indischen Spiritualität. Die zeitliche Einordnung ist schwierig, da es lange nur mündlich überliefert wurde. Erste schriftliche Fassungen ab dem 6. Jh. n. Chr. und Hochblüte im 10./11. Jh. n. Chr. Das Vijnana Bhairava ist ein Text über Yoga oder spirituelle Praxis. Es lehrt 112 Methoden der Konzentration (dharana), die im Text als yukti bezeichnet werden, d.h. Weisen der Integration, des Yoga, der Vereinigung mit dem Höchsten. Diese Vielfalt der Methoden bezieht sich auf die unterschiedlichen Fähigkeiten und Verfassungen der Menschen. Jede/r kann, ausgehend von seiner eigenen Voraussetzung einen Weg finden, das Höchste in sich zu realisieren. Unterschiedliche Erfahrungen im Leben können als Ausgangspunkt für eine mystische Erfahrung dienen und sozusagen die Funktion eines Sprungbretts haben für das Eintauchen in in den „grossen See des höchsten Bewusstseins“. Diese Vielfalt der Methoden hat ihren Hintergrund in der Allgegenwart der höchsten Wirklichkeit, die von jedem beliebigen Punkt aus erfahren werden kann. Das Ziel ist das Erlangen der Mitte, das Eintauchen in die Leere, die höchste Freude, das Erlangen eines Zustandes frei von Gedanken und Vorstellungen (nirvikalpa), das Einswerden mit dem Höchsten.

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Vijñāna  Bhairava  

Ein paar Hintergründe

• Das Vijnana Bhairava Tantra ist Teil des Tantrismus, einer welt- und leibbejahenden

Richtung der indischen Spiritualität.

• Es geht von der spontanen, unmittelbaren Erleuchtung aus (vgl. Zen-Buddhismus).

• Es enthält spirituelle Methoden jeder Richtung der indischen Spiritualität.

• Die zeitliche Einordnung ist schwierig, da es lange nur mündlich überliefert wurde.

Erste schriftliche Fassungen ab dem 6. Jh. n. Chr. und Hochblüte im 10./11. Jh. n. Chr.

• Das Vijnana Bhairava ist ein Text über Yoga oder spirituelle Praxis.

• Es lehrt 112 Methoden der Konzentration (dharana), die im Text als yukti bezeichnet

werden, d.h. Weisen der Integration, des Yoga, der Vereinigung mit dem Höchsten.

• Diese Vielfalt der Methoden bezieht sich auf die unterschiedlichen Fähigkeiten und

Verfassungen der Menschen. Jede/r kann, ausgehend von seiner eigenen Voraussetzung

einen Weg finden, das Höchste in sich zu realisieren.

• Unterschiedliche Erfahrungen im Leben können als Ausgangspunkt für eine mystische

Erfahrung dienen und sozusagen die Funktion eines Sprungbretts haben für das

Eintauchen in in den „grossen See des höchsten Bewusstseins“. Diese Vielfalt der

Methoden hat ihren Hintergrund in der Allgegenwart der höchsten Wirklichkeit, die von

jedem beliebigen Punkt aus erfahren werden kann.

• Das Ziel ist das Erlangen der Mitte, das Eintauchen in die Leere, die höchste Freude, das

Erlangen eines Zustandes frei von Gedanken und Vorstellungen (nirvikalpa), das

Einswerden mit dem Höchsten.

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Bedeutung des Titels

• Vijnana = mystische Erfahrung (Erleuchtung) / mystisches (göttliches) Bewusstsein

• Bhairava = Höchste, transzendente Wirklichkeit, die jenseits aller Vorstellungen von

Raum und Zeit ist. Unbeschreiblich und unvorstellbar, nur durch die eigene innere, von

Freude erfüllte Erfahrung erkennbar.

Gemeinsamkeiten aller 112 Methoden

• Erfahrung, dass die Menschen zu sehr in ihren individuellen Vorstellungen, Gedanken und

Zerstreuungen (vikalpa) verstrickt sind, um die höchste Wirklichkeit, die in ihnen

schlummert, wahrnehmen zu können. Nur eine Befreiung aus unseren eingefahrenen

Denkstrukturen kann uns befähigen, unser eigens, höchste Wesen zu erkennen.

• Verinnerlichung und ein unzerstreuter Geist sind zwei allgemeine Bedingungen, die allen

Methoden auf die eine oder andere Weise zu eigen sind. Hierzu benötigt es

vollkommene auf-eins-gerichtete Aufmerksamkeit oder Konzentration (ekagrata) „ohne

Wellen“ (vritti). Vgl. Patanjali Yoga Sutra Vers 1.2.

Rahmenhandlung

• Den Rahmen des Textes bildet der Dialog zwischen der Göttin, Bhairavi und dem Gott,

Bhairava.

• Die Göttin tritt als Fragende auf, um die Fragen und Zweifel der Suchenden zu

formulieren und die Antwort in Form der göttlichen Offenbarung aus Shiva

hervorzulocken. Vgl. Arjuna in der Bhagavad Gita.

• Durch den Prozess, der im Rahmen des Dialogs stattfindet wird deutlich, dass die höchste

Erfahrung, die allein alle Zweifel löst und alle Unbefriedigtheit erfüllen kann, letztlich nur

durch die Gnade (shaktipat) möglich ist, die die Göttin am Ende von Shiva erbittet.

• Der Dialog setzt die Zweiheit von Shiva und Shakti, von Gott und Göttin voraus, die aber

aufgehoben wird, sobald die Göttin mit Bhairava eins geworden ist. Doch ohne

Beziehung und ohne Liebe, ist keine Offenbarung möglich.

Die drei spirituellen Wege (upaya)

1. anava upaya / anavopaya – der Weg des Individuums

Auf der Ebene des individuellen Bewusstseins bewegt sich der Mensch im Bereich der

Vielfalt und der Dualismen, vor allem des grundlegenden Dualismus Subjekt – Objekt.

Daher muss sich derjenige der eine spirituellen Praxis übt, auf verschiedene Mittel

stützen, wie Mantras, Riten, körperliche Übungen, Atemübungen, Gegenstände der

Meditation und andere mehr. Solange er sein Gefühl der Individualität und Getrenntheit

nicht überwunden hat, kann er sich nur mit Hilfe dieser Stützen weiterentwickeln.

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2. shakta upaya / shaktopaya – der Weg der Energie

Auf der Ebene der Energie ist der Praktizierende von seinen Gefühlen und Gedanken

abhängig, und daher ist die Konzentration, die sich auf eine Vorstellung konzentriert

(bhavana) charakteristisch für diesen Weg. Auch Übungen, die mit der Intensität der

Emotionen zu tun haben, gehören in diesen Bereich.

3. shambhava upaya / shambhavopaya – der göttliche Weg

Auf der göttlichen Ebene hat der Yogi Anteil am göttlichen Bewusstsein und braucht

daher keine Stützen oder Anhaltspunkte für seine Praxis. Solange er sich mit dem

höchsten Bewusstsein vereinigt hat, wird er getragen von der Kraft der Gnade. Alle

Übungen, die in diesen Bereich gehören, sind frei von Stützen, frei von Vorstellungen und

Gedanken (nirvikalpa) und bewegen sich im Bereich der Leere (shunya). Die

Identifizierung mit dem göttlichen Bewusstsein ist zentral, und daher auch die Erfahrung

der Gleichheit und Harmonie (samata).

Da die Dharanas dynamische Prozesse sind, findet bei manchen auch ein Übergang von einem

niederen zu einem höheren Weg statt.

Themen und Methoden der Dharanas:

• Atemenergie (prana)

• Mantra

• die Mitte (madhya)

• die Leere (shunya)

• schöpferische Kontemplation

• Intensität der Erfahrungen und Emotione

• der Körper als Instrument (mudra)

• Hingabe an Gott (bhakti)

• Kundalini

• Gleichmut und Harmonie (samata)

Wie können wir das höchste Bewusstsein in der Meditation wahrnehmen?

cit (Bewusstsein) – ananda (Glückseligkeit) – ghana (Verdichtung)

Das höchste Bewusstsein ist eine Verdichtung von cit (Bewusstsein) und ananda

(Glückseeligkeit). Bewusstsein und Glückseligkeit sind nie getrennt. Das eine ohne das andere

gibt es nicht.

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Vers 83: O Göttin! Wenn man in einem Fahrzeug sitzt, das sich bewegt, oder aber

( im Sitzen) den Körper leicht schwingen lässt, dann beruhigen sich die mentalen

Zustände, und man erlang die Fülle des göttl ichen Bewusstseins.

Kommentar: Zu den Körperhaltungen gehört auch die Bewegung, entweder die Bewegung

auf einem Reittier oder einem langsamen Fahrzeug, wie einer Pferdekutsche oder einem

Ochsenkarren oder die selbsterzeugten Bewegungen des Körpers durch ein langsames

Schwingen. Diese Bewegung erzeugt eine Beruhigung und ein Sich-Einschwingen in einen

bestimmten Geisteszustand, der vom inneren Frieden übergeht in die Flut göttlicher Freude.

Diese Methode nimmt ihren Ausgang von einer körperlichen Erfahrung und gehört daher zum

individuellen Weg (anavopaya).

* * *

Vers 156: Mit dem Laut sa geht der Atem hinaus

und mit dem Laut ha tritt er ( in den Körper) ein.

Daher rezitiert jedes Lebewesen beständig den

Mantra: hamsa – hamsa.

Vers 157: Diesen Mantra rezitiert ( jedes Lebewesen)

Tag und Nacht 21'600 Mal. Dieser von der Göttin

geoffenbarte Mantra ( japa) ist leicht zu rezitieren.

Nur den Unwissenden erscheint er schwierig.

Kommentar: Der spontane Mantra, der mit der Energie des

Atems in allen Lebewesen ständig ertönt, besteht aus den

zwei Silben sa, Ausatem, und ha Einatem. Sie werden

automatisch durch die Nasalierung m verbunden, und so

entsteht das Mantra hamsa. Dieser natürliche Mantra wird 21'600 Mal in 24 Stunden mit dem

Atem „ausgesprochen“. Darin besteht die spontane „Rezitation“ (japa).

Die beiden Laute bedeuten auch die Verbindung von Shiva (sa) und Shakti (ha) und die

Nasalierung m bedeutet die individuelle Seele.

Dieser hamsa-mantra wird umgedreht zu dem zentralen Mantra: so’ham (sah aham), „Ich bin Er“,

der die Einheit der Seele mit Shiva zum Ausdruck bringt.

Um die ganzen Implikationen dieses Mantra zu verstehen, sei hier die Bedeutung von André

Padoux zitiert: „Die Bewegung des Atems, die in den Menschen Tag und Nacht vor sich geht

und ihnen Leben verleiht, ist der kosmische Atem, der auf der menschlichen wie auf der

universalen Ebene für das Entstehen der Laute verantwortlich ist, die die Samen der Sprache

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und der Welt der Erscheinung sind. Diese Atembewegung in ihrer höchsten Form als Laut-

Energie, die alles schafft und wieder einzieht, ist als hamsa bekannt. Hamsa ist der Zugvogel –

gewöhnlich als Schwan bezeichnet, der seit dem Veda für die höchste Wirklichkeit steht, daher

ein Symbol für die individuelle Seele, die mit dem brahman eins ist. Schon in der Katha-

Upanishad scheint er mit dem Atem identifiziert zu sein, der auf- oder absteigt. Dieser Begriff,

der reich ist an symbolischer Bedeutung wurde in späteren Texten wieder verwendet, besonders

in den sogenannten Yoga-Upanishaden, sowie in den Tantras, die ihm neue Bedeutungen

geben. Daher symbolisiert dieses Wort ganz natürlich die Atembewegung, die allen Lebewesen

Leben gibt, und besonders die höchste Wirklichkeit, die Leben schenkt und die im Atem

anwesend ist, oder der Atem als höchste Energie. Das Svacchanda-Tantra sagt: „Shiva ist

seinem Wesen nach hamsa. Die leuchtende Sonne ist hamsa. Das Selbst wird auch hamsa

genannt, und der Atem bewegt sich mit (dem Laut) hamsa.“

* * *

Vers 129: Wo immer sich das Denken hinbewegt, ebendort soll man im selben

Augenblick loslassen. Da dem Denken dann die Grundlage entzogen wird, wird

es frei von Unruhe.

Kommentar: Die Unruhe des Denkens besteht darin, ständig von einem Gegenstand zum

anderen zu wandern. Das wird hier mit einer Wellenbewegung verglichen, denn der

gegenteilige Zustand, wenn das Denken zur Ruhe kommt, wird als „wellenlos“ bezeichnet. Die

Methode die dazu führt, ist ein augenblickliches Loslassen des Gegenstands der Betrachtung,

ohne zum nächsten überzugehen. Zunächst kann sich das Denken auf irgend etwas richten, doch

ohne dabei haftenzubleiben, soll es sich davon abwenden. Durch dieses an nichts Haftenbleiben

wird dem Geist jede Grundlage entzogen. Wenn er so jede Stütze in irgendeinem Gegenstand

verloren hat, erlangt er einen Zustand frei von den Wellen der Unruhe.

Literatur

Bäumer, Bettina (2008): Vijnana Bhairava – das göttliche Bewusstsein. 112 Weisen der mystischen Erfahrung im Shivaismus von Kashmir. Aus dem Sanskrit übersetzt, kommentiert und herausgegeben von Bettina Bäumer. Frankfurt a. M. und Leipzig: Verlag der Weltreligionen.

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Ein paar poetische Gedanken zum Schluss...

Rückzug Warum tun wir das?

Wir wollen sehen ob wir sein könnten

mit uns sehen was bleibt.

* * *

Wir leben am Rand unseres Lebens.

Wie kann es uns gelingen ins Zentrum unseres Seins vorzudringen?

* * *

Zur richtigen Zeit am richtigen Ort... Das ist das Ziel unserer Anstrengungen auf dem Yogaweg.

Wir üben solange, bis wir in jedem Moment unseres Lebens sagen können: Hier bin ich, mit mir selbst im Einklang – zur richtigen Zeit am richtigen Ort.

* * *

sarva sarvâtakam

Alles ist mit allem verbunden.