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10 Deutscher Studienpreis | Ergebnisse 2012

10 Deutscher Studienpreis | Ergebnisse 2012€¦ · Benjamin Hennig (34) studierte bis 2005 an der Universität zu Köln Geografie, Soziologie, Verkehrswissenschaften und Bodenkunde

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  • 10 Deutscher Studienpreis | Ergebnisse 2012

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    Seit Jahrhunderten bestimmen Karten unser Bild von der Welt. Sie werden immer genauer, beschränken sich aber weitgehend auf die Erdoberfläche. Zwar ist es seit dem frühen 19. Jahrhundert auch möglich, einzelne sozialwissenschaftliche Daten zu visualisieren. Doch damit werden herkömmliche Karten in keiner Weise den vielfältigen Dimensionen gerecht, die Menschheit heute ausmachen. Die »rasterbasierte Kartentransformation« ermöglicht erstmals Karten, die genau diese Dimensionen geografisch sichtbar machen, indem sie große Mengen sozialwissenschaftlicher Daten verknüpfen. Der Geograf Benjamin Hennig erläutert in seiner Doktorarbeit den Weg zur Karte der Zukunft und wie sie funktioniert.

    Die herkömmlichen kartografischen Methoden können die immer komplexeren Wechselwirkungen zwischen Mensch und Umwelt nicht mehr abbilden. Dabei macht es die Erhebung und Digitalisierung gewaltiger Datenmengen heute wichtiger denn je, diese auch bildlich darzustellen. Ihre analytische Visualisierung macht Muster sichtbar, die mit konventionellen Methoden nicht entdeckt würden: »Erst dadurch lassen sich komplexe Prozesse überhaupt nachvollziehen und verstehen«, ist Hennig überzeugt. »Und Geografie als Wissenschaft vom Raum ist dafür die perfekte Vermittlerin.«

    Benjamin Hennig erstellte seine Doktorarbeit im Rahmen des sogenannten WorldmapperProjekts. Er knüpft damit an eine von amerikanischen Physikern entwickelte Computertechnik zur grafischen Abbildung physikalischer Diffusionsprozesse in

    Karten an und konzipierte daraus das Gridded Cartogram. Der deutsche Fachbegriff für Cartogram lautet Kartenanamorphote, die Hennig um das Rasterelement erweitert hat. Gemeint ist damit eine auf einem Raster oder Gitternetz basierende optische Verzerrung herkömmlicher Karten. Hennig spricht auch von »rasterbasierter Kartentransformation«. Diese macht jede quantitative Information in ihrem tatsächlichen Ausmaß sichtbar. Dabei behält sie mit hoher Präzision den räumlichen Bezug bei, da die Rasterzelle als unabhängige und gleichzeitig hoch aufgelöste Raumeinheit einen objektiven Bezug zum physischen Raum bewahrt.

    Benjamin Hennig wollte wissen, wie die Globalisierung das Raumverständnis und die Wahrnehmung der Welt verändert hat: »Diese Prozesse standen schon immer in enger Wechselwirkung zur kartografischen Arbeit. Die vielleicht bekannteste Kartendarstellung der Welt, die 500 Jahre alte MercatorProjektion, verdeutlich das.« Mercators Weltkarte und das zugrundeliegende mathematische Konzept vereinfachten die Navigation auf den Meeren erheblich. Der physischen folgte die soziale Beschreibung der Welt. Die ersten modernen Volkszählungen fallen ins ausgehende 18. Jahrhundert. Aus ihnen entwickelten sich die modernen Sozialwissenschaften und nahezu alle heute gängigen statistischen Methoden. Karten gaben nun auch sozioökonomische Daten wieder.

    Diese Funktion erfüllen auch die WorldmapperKarten, die sich in ihrer ursprünglichen Version durch ihre simple Gestaltung auszeichnen: Eine Karte zeigt genau ein Thema, eine durchgängige grafische Gestaltung erlaubt einen raschen optischen Zugang. Jedes Land wird gemäß eines Indikators wie beispielsweise Bevölkerung, Armut, Gesundheit oder Wirtschaftskraft in seiner Größe verändert. So sind in der Weltbevölkerungskarte China und Indien die dominierenden Elemente. Sie sind wesentlich größer als der Flächenriese Russland mit seiner vergleichsweise geringen Bevölkerung. Trotz der Transformation und Verzerrung behalten die Länder ihre ursprüngliche Form, was die Lesbarkeit der Karte entsprechend vereinfacht.

    Ihre Einfachheit ist jedoch auch das Problem der WorldmapperKarten: Sie sind auf die Länderebene begrenzt und bieten keine sinnvolle Basis, ein anderes Thema darzustellen als das des gewählten Indikators. Benjamin Hennig wollte darum

    Ein Atlas der Menschheit im 21. Jahrhundert

    Der Geograf Benjamin Hennig hat eine kartografische Methode entwickelt, mit der sich erstmals komplexe sozial- und naturwissenschaftliche Daten

    in ihrem Bezug zum physischen Raum visualisieren lassen

    Studienpreis-Juror Stephan Detjen:»Der Geograf Benjamin Hennig hat eine kartografische Methode entwickelt, die das Zeug dazu hat, unsere Sicht auf die Welt zu verändern. Denn die sogenannte gitternetzbasierte Kartentrans-formation erlaubt es, Karten zu erstellen, in denen der physische Raum mit komplexen sozial- oder auch naturwissenschaftlichen Daten verknüpft ist. Durch diese analytische Visualisierung werden Muster, werden Wechselwirkungen zwischen Mensch und Umwelt sichtbar, die uns helfen können, die Folgen menschlichen Tuns für unseren Planeten besser einzuschätzen.«

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    wissen: Wie kann diese Technik so optimiert werden, dass weitere Daten mit der Basiskarte verknüpft und angemessen abgebildet werden können?

    Bei den herkömmlichen anamorphen Karten wird die Größe eines Landes so verändert, dass die quantitative Information im Verhältnis zu anderen Ländern gezeigt wird. Länder sind jedoch willkürliche Abgrenzungen, darum basiert auch die Karte auf willkürlichen Grenzen. Teilen oder vereinigen sich Länder, ändert sich das komplette Kartenbild. Hennigs Lösung: Die Landoberfläche wird durch ein gleichmäßiges Gitternetz in gleich große Rasterzellen unterteilt. Diese werden dann mit den entsprechenden quantitativen Informationen – wie der Bevölkerungszahl – verknüpft. Statt einzelne Länder zu verändern, wird diese Information über eine mathematische Funktion nach physikalischen Prinzipien in eine sogenannte Rastertransformationskarte umgewandelt, in der jede Rasterzelle nach ihrem individuellen Datenwert vergrößert oder verkleinert wird. Die ursprünglichen Landformen lösen sich dabei auf, die veränderten Rasterzellen behalten aber die Referenz zu ihrer realen Raumposition und bleiben geografisch in korrektem Bezug zueinander. So können andere raumrelevante Informationen – von Straßen und Flüssen bis hin zu statistischen Daten über die soziale und physische Umwelt – auf diesen Karten dargestellt werden.

    Die nach Hennigs Methode erstellte Weltbevölkerungskarte (Abbildung 1) lässt ihr Potenzial erkennen als alternative Kartenprojektion und zugleich als eine Art Basiskarte, mit der sich unterschiedlichste Daten sowohl aus den Sozial als auch den Naturwissenschaften auf die Bevölkerung beziehen lassen. Etwa wenn Wahlergebnisse dargestellt werden: Bei der konventionellen Kartendarstellung werden die Ergebnisse in den ländlichen Gebieten überbetont. Die neue Methode dagegen vermeidet diese Verzerrung, wie sich exemplarisch an der Dar

    stellung der Ergebnisse der Bundestagswahl von 2009 zeigen lässt (Abbildung 2): In der konventionellen Karte (Referenzkarte) nehmen die weniger dicht besiedelten Gebiete in Niedersachsen, Bayern oder auch in den östlichen Bundesländern einen großen Teil der Fläche ein. Die deutlich kleineren, dafür aber sehr dicht besiedelten Gebiete wie etwa das Ruhrgebiet oder urbane Ballungsräume sind auf einer solchen Karte – gemessen an der Anzahl der Wähler, die dort leben und ihre Stimme abgeben – folglich unterrepräsentiert.

    Abbildung 1: Weltbevölkerungskarte basierend auf einer Rastertransformation

    Abbildung 2: Ergebnisse der Bundestagswahl 2009 (Erststimme)

    Referenzkarte

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    Eine Rastertransformation löst diese Verzerrungen insofern auf, als sie die Verteilung der Bevölkerung im Raum berücksichtigt. Weniger dicht besiedelte Gebiete schrumpfen proportional, während dichter besiedelte Gebiete stärker in den Vordergrund treten. Damit werden die realen Verhältnisse nicht nur proportional korrekter repräsentiert, sondern auch Details sichtbar, die in einer konventionellen Karte kaum erkennbar wären. So tritt das Direktmandat der Grünen in Berlin in Erscheinung, und es wird deutlich, welches Gewicht die Erststimmen im bevölkerungsreichen Ruhrgebiet sowie den Stadtstaaten Hamburg und Bremen für die SPD haben. Im sogenannten Speckgürtel um Berlin und im westlichen Brandenburg relativiert sich die scheinbare »rote« Vormachtstellung dage

    gen deutlich. Gleiches gilt für die Dominanz der CDU im ländlichen Niedersachsen sowie die der Linken in den ostdeutschen Bundesländern, die gemessen an der relativ niedrigen Bevölkerungsdichte in diesen Regionen in einer konventionellen Karte deutlich überzeichnet erscheinen.

    »Die neue Methode ist die erste Kartenprojektion, die auf einer anderen Raumkonzeption jenseits des physischen Raumes basiert und gleichzeitig die Anforderungen an eine Kartenprojektion erfüllt«, so Hennig. Mit der Bevölkerungskarte als Basis kann jedes aus Menschensicht bedeutende Thema entsprechend sichtbar gemacht und neu interpretiert werden. Damit wird das Grundkonzept anamorpher Kartendarstellungen erstmals auch jenseits der Sozialwissenschaften zu einer interessanten Alternative, geowissenschaftliche Daten sichtbar zu machen. Neben Wahlergebnissen und anderen sozioökonomischen Daten wie z. B. Wirtschaftskraft oder Kindersterblichkeit hat Hennig bereits Daten aus der Klimaforschung oder zum Thema Biodiversität mit der von ihm entwickelten kartografischen Methode aufbereitet.

    In Bildern zu denken ist eine menschliche Grundeigenschaft. Darum kann diese Form der Wissensvermittlung es erheblich vereinfachen, komplexe Zusammenhänge intuitiv zu verstehen und sogar neue zu erkennen. »Weitere Daten und Themenfelder zu analysieren und zu visualisieren ist erstrebenswert«, sagt Hennig, »so entsteht ein neuer Atlas der Menschheit im 21. Jahrhundert.« Ziel sei es, die Methode so weit zu vereinfachen, dass sie einer breiteren Nutzergruppe in der Forschung, in den Medien und der interessierten Öffentlichkeit leichter zugänglich ist. »500 Jahre nach Mercators Geburt ist es Zeit, unsere Sicht der Welt zu erweitern – weg von Karten, die Schiffen den Weg weisen, hin zu einer Navigationsgrundlage für die Reise in eine nachhaltige Zukunft der Menschheit.«

    Benjamin Hennig (34) studierte bis 2005 an der Universität zu Köln Geografie, Soziologie, Verkehrswissenschaften und Bodenkunde auf Diplom. Anschließend war er als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Geografischen Institut der Universität tätig. Für seine Promotion wechselte er 2008 an das Department of Geography der University of Sheffield, wo er ein Promotionsstipendium des Leverhulme Trust erhielt. Seit Abschluss der Promotion im September 2011 forscht er als Research Associate an der University of Sheffield zu Armut und sozialer Ungleichheit in London.

    Beitragstitel  Planet der Menschen: Neue Kartenwelten im Anthropozän

    Benjamin D. HennigPromotion an der University of Sheffield

    University of SheffieldDepartment of GeographyTelefon +44 · 7955 · 85 92 62E-Mail [email protected]