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Theo Öhlinger Verfassungsrechtliche Grundlagen der EU- Mitgliedschaft Österreichs I. Das EU-Beitritts-BVG A. Entstehung Die verfassungsrechtliche Grundlage des Beitritts Österreichs zur EUbildet das Bundesverfassungsgesetz über den Beitritt Österreichs zur Europäischen Union 1 (im Folgenden: Beitritts-BVG). Dieses Verfassungsgesetz ist kurz, nicht unbedingt aber auch bün- dig: Art Iermächtigt die zuständigen Organe der Republik, den künf- tigen Beitrittsvertragnach dem Stand des Verhandlungsergebnisses vom 12. April 1994 abzuschließen dies allerdings unter der Voraus- setzung, dass das Bundesvolk diesem Verfassungsgesetz zustimmt. Art II sieht ferner das Erfordernis einer Genehmigung des Beitrittsver- trags durch den Nationalrat und den Bundesrat, jeweils mit Zweidrit- telmehrheit bei Anwesenheit von mindestens der lfte der Mitglie- der, vor. Damit legte das Beitritts-BVG folgende speziellen Verfah- rensschrittefür den Abschluss des Beitrittsvertrages auf österreichi- scher Seite fest: - Beschluss des Beitritts-BVG (dh der Ermächtigung zur Ratifi- kation des Beitrittsvertrages) durch den Nationalrat mit quali- fizierter Mehrheit gemäß Art 44 Abs1 B-VG unter Zustim- mung des Bundesrates mit gleicher qualifizierter Mehrheit gemäß Art 44 Abs2 B-VG, - Volksabstimmung über den so beschlossenen Gesetzestext gemäß Art 44 Abs3 B-VG, - Beurkundung undKundmachung des Beitritts-BVG, - Unterzeichnung des Beitrittsvertrages, - Genehmigung des Vertrages durch Nationalrat und Bundesrat mit (neuerlich) jeweils qualifizierter Mehrheit. 2 1 BGBl 1994/744.

10 Jahre EU-Mitgliedschaft Österreichs || Verfassungsrechtliche Grundlagen der EU-Mitgliedschaft Österreichs

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Theo Öhlinger

Verfassungsrechtliche Grundlagen der EU-Mitgliedschaft Österreichs

I. Das EU-Beitritts-BVG

A. EntstehungDie verfassungsrechtliche Grundlage des Beitritts Österreichs zur

EU bildet das Bundesverfassungsgesetz über den Beitritt Österreichszur Europäischen Union1 (im Folgenden: Beitritts-BVG).Dieses Verfassungsgesetz ist kurz, nicht unbedingt aber auch bün-

dig: Art I ermächtigt die zuständigen Organe der Republik, den künf-tigen Beitrittsvertrag nach dem Stand des Verhandlungsergebnissesvom 12. April 1994 abzuschließen � dies allerdings unter der Voraus-setzung, dass das Bundesvolk diesem Verfassungsgesetz zustimmt.Art II sieht ferner das Erfordernis einer Genehmigung des Beitrittsver-trags durch den Nationalrat und den Bundesrat, jeweils mit Zweidrit-telmehrheit bei Anwesenheit von mindestens der Hälfte der Mitglie-der, vor. Damit legte das Beitritts-BVG folgende speziellen Verfah-rensschritte für den Abschluss des Beitrittsvertrages auf österreichi-scher Seite fest:- Beschluss des Beitritts-BVG (dh der Ermächtigung zur Ratifi-

kation des Beitrittsvertrages) durch den Nationalrat mit quali-fizierter Mehrheit gemäß Art 44 Abs 1 B-VG unter Zustim-mung des Bundesrates mit gleicher qualifizierter Mehrheitgemäß Art 44 Abs 2 B-VG,

- Volksabstimmung über den so beschlossenen Gesetzestextgemäß Art 44 Abs 3 B-VG,

- Beurkundung und Kundmachung des Beitritts-BVG,- Unterzeichnung des Beitrittsvertrages,- Genehmigung des Vertrages durch Nationalrat und Bundesrat

mit (neuerlich) jeweils qualifizierterMehrheit.2

1 BGBl 1994/744.

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Die Sinnhaftigkeit des Prozesses liegt nicht gerade auf der Hand.3Er ist nur vor dem Hintergrund folgender Prämissen verständlich:Zum einen der These, dass der Beitrittsvertrag und das mit ihm rezi-pierte primäre EU- und EG-Recht (EUV und EGV) in hohem Ausmaßverfassungsändernd sind, ohne dass sich dieser verfassungsänderndeGehalt in einzelnen Bestimmungen lokalisieren ließe. Die Bezeich-nung einzelner Bestimmungen als �verfassungsändernd�, wie esArt 50 Abs 3 B-VG verlangen würde, erschien daher praktisch un-durchführbar. Den Beitrittsvertrag und damit indirekt das gesamteEU- und EG-Primärrecht (das ja erst die Gesamtänderung der Bun-desverfassung bewirkte) in den Verfassungsrang zu heben, hätte aberdie österreichische Bundesverfassung jeder Kontur beraubt und wäreüberdies auch mit gemeinschaftsrechtlichen Problemen belastet gewe-sen.4 Also musste diese Bezeichnungspflicht umgangen werden.5 Das

2 Siehe dazu auch Holzinger, Die bevorstehende Öffnung Österreichs inden EuropäischenWirtschaftsraum und die Europäischen Gemeinschaften� Rechtsetzung unter besonderer Bedachtnahme auf den demokratischenund den rechtsstaatlichen Aspekt, 12. ÖJT Bd I/1 (1994), S 149 f; Stolz-lechner, Die Auswirkungen einer Mitgliedschaft Österreichs in der Euro-päischen Union auf die österreichische Verfassungsordnung, in Hummer(Hrsg), Die Europäische Union und Österreich (1994), S 163 ff (169 ff).

3 Merkwürdig erscheint auf den ersten Blick vor allem, dass nachdem dasParlament diese Ermächtigung mit qualifizierten Mehrheiten beschlossenund darüber eine Volksabstimmung stattgefunden hat, beide Kammerndes Bundesparlaments den Beitrittsvertrag mit der gleichen qualifiziertenMehrheit � offensichtlich unter Bindung an ein positives Ergebnis derVolksabstimmung � nochmals zu genehmigen hatten. Der Sinn dieserRegelung liegt aber nicht in dem, was sie ausdrücklich besagt, sondern indem, was sie nicht besagt: Mit dieser partiell dem Art 50 Abs 3 B-VGgleichenden Regelung sollte von der Anwendung eben dieses Artikels, imBesonderen der darin enthaltenen Bezeichnungspflicht verfassungsän-dernder Bestimmungen, dispensiert werden.

4 Näher Öhlinger, Verfassungsfragen zwischen Brüssel und Wien,ERPL/REDP 1993, S 143 ff (147); Funk, Rechtsetzung unter besondererBedachtnahme auf den demokratischen und rechtsstaatlichen Aspekt, 12.ÖJT Bd I/2 (1995), S 93 ff (98).

5 Siehe die RV des Beitritts-BVG 1546 BlgNR 18. GP, S 5.

Verfassungsrechtliche Grundlagen der EU-Mitgliedschaft 19

ist der eigentliche Sinn des Art II Beitritts-BVG, der ansonsten ja nurden Art 50 Abs 3 B-VG wiederholt.6Der verfassungsändernde Gehalt des Beitrittsvertrages erschöpfte

sich aber nicht in diesem Problem: Der Beitritt Österreichs zur EUwurde als eine Gesamtänderung der Bundesverfassung im Sinn desArt 44 Abs 3 B-VG gesehen. Diese Auffassung hatte sich in den Mo-naten vor dem Beitritt allgemein durchgesetzt.7Als �Gesamtänderung� gilt jede Veränderung eines der Grundprin-

zipien (Baugesetze) der Bundesverfassung. Abgesehen vom republi-kanischen Prinzip wurden alle �klassischen� Baugesetze der Bundes-verfassung � parlamentarische Demokratie, Bundesstaat und Rechts-staat � als vom Beitritt wesentlich berührt angesehen.8 Darüber hinauswurde aber durch den Beitritt die Rechtsqualität der Bundesverfassungverändert: Kraft des Vorrangs des Gemeinschaftsrechts vor dem ge-samten staatlichen Recht verlor die Bundesverfassung ihren oberstenRang innerhalb des in Österreich geltenden Rechts. Es ist bemerkens-wert, dass � anders als in der Mehrzahl der EU-Mitgliedstaaten � inÖsterreich der Vorrang des Gemeinschaftsrechts auch vor dem Ver-fassungsrecht unbestritten ist und sich dies bereits aus den Materialienzum Beitritts-BVG ablesen lässt.9 Vorbehalte bestehen allerdings hin-sichtlich der Grundprinzipien der Bundesverfassung, wie noch näherauszuführen sein wird.10 Diese qualitative Veränderung bedeutet eben-falls eine Gesamtänderung der Bundesverfassung im Sinn des Art 44Abs 3 B-VG.11Strittig blieb jedoch, wie dieser Gesamtänderung der Bundesver-

fassung formal Rechnung zu tragen war.

6 Siehe FN 3; ferner Öhlinger, EU-Beitritts-BVG, in Korinek/Holoubek(Hrsg), Bundesverfassungsrecht, Kommentar Bd IV, 1. Lfg (1999), Rz11.

7 Siehe Kunnert, Österreichs Weg in die Europäische Union (1993), S 136ff.

8 Siehe Öhlinger (FN 6), Rz 2 ff.9 Siehe Öhlinger (FN 6), Rz 54.10 Siehe dazu Pkt III. nachstehend auf S 31.11 Näher Öhlinger, Verfassungsrechtliche Aspekte der Übernahme vonGemeinschaftsrecht und Unionsrechts in die österreichische Rechtsord-nung, in Hummer/Schweitzer (Hrsg), Österreich und das Recht der Euro-päischen Union (1996), S 169 ff (178).

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Art 44 Abs 3 B-VG verlangt eine Volksabstimmung über �jedeGesamtänderung der Bundesverfassung�. Trotz dieser Formulierungherrscht aber in der Staatsrechtslehre Uneinigkeit über die Frage, wiediese Bestimmung in Bezug auf völkerrechtliche Verträge (in derTerminologie des Bundesverfassungsrechts: Staatsverträge) zu verste-hen sei. Auf Hans Kelsen geht die These zurück, dass Art 44 Abs 3 B-VG auf verfassungsändernde Staatsverträge nicht anwendbar sei, weilArt 50 Abs 3 B-VG lediglich auf Abs 1 (und heute12 auch auf Abs 2),nicht aber auf Abs 3 des Art 44 B-VG verweise. Kelsen zieht darausden (nicht ganz klar formulierten) Schluss, dass über einen einenStaatsvertrag genehmigenden Beschluss des Nationalrats �eine Volks-abstimmung unter keinen Umständen stattfinden (könne)�.13 Er sagt�kann�, nicht: �darf� oder �muss�, und lässt insofern zwei Deutungenoffen, nämlich dass über einen eine Gesamtänderung der Bundesver-fassung enthaltenden Staatsvertrag trotz dieses Inhalts gar nicht abge-stimmt werden dürfe, oder aber dass zwar abgestimmt werden dürfe,aber nicht abgestimmt werden müsse. Beides ist in der einschlägigenLiteratur vertreten worden.Die erstgenannte und in der Staatsrechtslehre dominierende Positi-

on hätte zur Folge, dass ein Staatsvertrag deshalb, weil er in einerVolksabstimmung akzeptiert wurde, verfassungswidrig sei, was vomVfGH gemäß Art 140a B-VG festzustellen wäre. Die so festgestellteVerfassungswidrigkeit wäre dadurch zu sanieren, dass der Nationalratden Staatsvertrag neuerlich gemäß Art 50 Abs 3 B-VG (mit der schonim ersten Verfahren erforderlichen qualifizierten Mehrheit) geneh-migt. Das kommt mE einem argumentum ad absurdum gegen diezugrunde liegende Prämisse gleich. Es gibt aber auch Autoren, diezwar die Kelsen�sche Prämisse (Unanwendbarkeit des Art 44 Abs 3 B-VG auf Staatsverträge) teilen, aber daraus den Schluss ziehen, dassStaatsverträge überhaupt keinen gesamtändernden Inhalt haben dür-fen, so dass sich die weitere Frage, ob über sie abgestimmt werden�müsse� oder �dürfe�, gar nicht mehr stellt. Schließlich gibt es auch

12 Seit der B-VGNov BGBl 1984/490.13 Kelsen/Froehlich/Merkl, Die Bundesverfassung vom 1. Oktober 1920(1922), S 137.

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die � wohl einzig richtige � Auffassung, dass Art 44 Abs 3 B-VG auchauf Staatsverträge anzuwenden ist.14Trotz mehrerer, darunter einschlägiger15 Novellierungen der Art 44

und 50 B-VG hat sich der Verfassungsgesetzgeber, auch nicht ausAnlass des EU-Beitritts, dazu aufraffen können, diese seit Jahrzehntenstrittige Auslegungsfrage zu klären.Diese Streitfrage belastete in der Tat die Frage einer Volksabstim-

mung über den EU-Beitritt, zwar nicht hinsichtlich des �ob� � darüberwar man sich sehr rasch nicht nur rechtlich, sondern auch politischeinig �, wohl aber hinsichtlich des �wie�. Man entschied sich schließ-lich � �der Sicherheit halber�16 � dafür, den Beitritt verfassungsrecht-lich durch ein Bundesverfassungsgesetz �zu ebnen� und über diesesBVG abstimmen zu lassen.17 Dabei fiel die Entscheidung letztlich fürein besonderes Verfassungsgesetz und nicht für eine Novellierung der

14 Siehe die Nachweise zu dieser Diskussion bei Öhlinger, Art 50 B-VG, inKorinek/Holoubek (Hrsg), Bundesverfassungsrecht, Kommentar Bd II/1,3. Lfg (2000), Rz 58.

15 So dehnte die B-VGNov BGBl 1984/490 den Verweis des Art 50 Abs 3B-VG auf den neu geschaffenen Abs 2 des Art 44 B-VG aus.

16 So Adamovich/Funk/Holzinger, Österreichisches Staatsrecht Bd I (1997),Rz 16.027.

17 Holzinger (FN 2), S 196. Man folgte damit einer im Vorfeld der Beitritts-diskussion vor allem von Rill und seinem Schüler Azizi vertretenen These.Siehe Azizi, Verfassungsrechtliche Aspekte eines österreichischen EG-Beitritts, in Glatz/Moser (Hrsg), Herausforderung Binnenmarkt (1989), S241 ff (287); Rill, Möglichkeiten der Teilnahme Österreichs am Gemein-samen Markt und ihre Konsequenzen für die Harmonisierung des öster-reichischenWirtschaftsrechts mit dem der EG, in Korinek/Rill (Hrsg), Ös-terreichisches Wirtschaftsrecht und das Recht der EG (1990), S 9 ff (15ff). So zuletzt auch Rill/Schäffer, Art 44 B-VG, in Rill/Schäffer (Hrsg),Bundesverfassungsrecht, Kommentar Bd I, 1. Lfg (2001), Rz 12.Abgesehen von der fragwürdigen verfassungsdogmatischen Begründungsprachen allerdings verfassungspolitische Gründe dafür, nicht über den �sehr technischen und, wie schon gesagt, die Gesamtänderung der Bundes-verfassung nur durch seine Rezeption des EU- und (im Besonderen) desEG-Primärrechts mittelbar bewirkenden � Beitrittsvertrag abstimmen zulassen. Faktisch wurde über die Mitgliedschaft in der EU abgestimmt, unddas hätte sich auch in einem der Volksabstimmung zugrunde liegendenText klar zum Ausdruck bringen lassen. Vgl dazu den Vorschlag des Ös-terreich-Konvents unter Pkt I.D. nachstehend auf S 24 ff.

22 Theo Öhlinger

Verfassungsurkunde (des B-VG). Das entspricht einer bekannten ös-terreichischen Praxis, deren Problematik � nicht nur in verfassungsäs-thetischer,18 sondern auch in durchaus konkreter rechtlicher Hinsicht �sich gerade auch am Beitritts-BVG illustrieren lässt.19

B. Bewertung des Beitritts-BVGDas Beitritts-BVG ist � so zwei Zitate � mit seiner �labyrintharti-

gen Verweisungstechnik�20 �nicht gerade (ein) Meisterwerk der Le-gistik�.21 Es ist vielmehr (wie ich es schon 1995 formulierte)22 ein�typisches Produkt eines für Österreich charakteristischen Verfas-sungsverständnisses (�), das im Bestreben nach legistischer Perfekti-on schlichte und globale Aussagen im Stil traditioneller Verfassungs-gesetzgebung offensichtlich perhorresziert�. Es war insofern �einedurchaus passende verfassungsrechtliche Visitenkarte� Österreichs ander Schwelle zur EU.Das Beitritts-BVG hat allerdings seinen primären Zweck erfüllt,

nämlich den Beitritt Österreichs zur EU verfassungsrechtlich �zu eb-nen� und unangreifbar zu machen: Obwohl dies auf der Grundlage desTextes des Beitritts-BVG gar nicht so eindeutig ist, ist sich die öster-reichische Verfassungsrechtslehre darüber einig, dass die durch denBeitritt erfolgte Modifikation der Grundprinzipien der Bundesverfas-sung in rechtlich korrekter Weise durchgeführt wurde.23 Kraft der

18 Zur Tendenz, die Zersplitterung des österreichischen Bundesverfassungs-rechts auf ein �kosmetisch-ästhetisches� Problem zu reduzieren, siehe et-wa Sauer, Demokratisch verfassen? Aspekte der Konstitutionalisierungstaatlicher Herrschaft, in Graf/Breiner (Hrsg), Projekt Österreich � Inwelcher Verfassung ist die Republik? (2005), S 12 ff (13).

19 Kritisch dazu auch schon Stolzlechner (FN 2), S 177.20 Griller, Verfassungsfragen der österreichischen EU-Mitgliedschaft, ZfRV1995, S 89 ff (90).

21 Stolzlechner (FN 2), S 171. Vgl ferner die sehr grundsätzliche Kritik amBeitritts-BVG von Griller, ZfRV 1995, S 90 ff.

22 Öhlinger, Ein Verfassungsstaat an der Schwelle zur Europäischen Union,FS Everling (1995), S 1017 ff (1026 f); zustimmend Griller, ZfRV 1995,S 115.

23 Zu Zweifeln an dieser These siehe die Anfechtung der Volksabstimmungin VfSlg 13.839/1994. Der VfGH hatte in diesem Verfahren allerdingsnur über die Rechtmäßigkeit der Volksabstimmungsprozedur und nichtauch über die Rechtmäßigkeit des dem Referendum unterzogenen Geset-zesbeschlusses zu entscheiden.

Verfassungsrechtliche Grundlagen der EU-Mitgliedschaft 23

Volksabstimmung über das zum Abschluss des Beitrittsvertrages er-mächtigende Beitritts-BVG wird das Verfahren über den Beitritt heuteeinhellig als eine korrekt durchgeführte Gesamtänderung der Bundes-verfassung beurteilt.24

C. Offene Rechtsfragen des Beitritts-BVGDavon abgesehen lässt das Beitritts-BVG freilich eine Reihe von

Fragen offen.Unklar und strittig ist, in welchem Umfang dieses BVG als lex

specialis die allgemeinen Regelungen des B-VG über Staatsverträgeverdrängt.25 Unbestritten ist dies nur hinsichtlich des Art 50 Abs 2 B-VG (�Erfüllungsvorbehalt�) und der in Art 50 Abs 3 B-VG angeord-neten Bezeichnungspflicht.26 Unklar ist dagegen, inwieweit Änderun-gen bzw Ergänzungen des mit dem Beitrittsvertrag übernommenenvertraglichen EG- und EU-Primärrechts im Verfahren nach Art 50 B-VG erfolgen können.27Die Praxis hat sich, gewissermaßen um auf Nummer sicher zu ge-

hen, neuerlich für � inzwischen vier28 � spezielle verfassungsgesetzli-che Ermächtigungen entschieden.29

24 Siehe Öhlinger (FN 6), Rz 9, mwN; ferner etwa Adamo-vich/Funk/Holzinger (FN 16), Rz 17.061; Walter/Mayer, Bundesverfas-sungsrecht9 (2000), Rz 246/6; Rill/Schäffer (FN 17), Art 44 B-VG, Rz 28und 51; vgl auch Griller, ZfRV 1995, S 92 f; Morscher, EU-Beitritt undBundesverfassung, Montfort-Vierteljahresschrift für Geschichte und Ge-genwart Vorarlbergs 3/2004, S 212 ff. So auch VwGH 20.7.2004, GZ2003/03/0103, der aus der Behandlung des Beitritts-BVG nach Art 44Abs 3 B-VG einen Vorrang des im Zeitpunkt des Beitritts bereits beste-henden Gemeinschaftsrechts � konkret: des Art 6 EMRK (!) � auch ge-genüber den leitenden Prinzipien des B-VG ableitet.

25 Dazu Griller, ZfRV 1995, S 93 f; Öhlinger, Verfassungsrechtliche As-pekte des Vertrags von Amsterdam in Österreich, in Hummer (Hrsg), DieEuropäische Union nach dem Vertrag von Amsterdam (1998), S 297 ff (S303 ff); Öhlinger, BVG Amsterdam/Nizza, in Korinek/Holoubek (Hrsg),Bundesverfassungsrecht, Kommentar Bd IV, 6. Lfg (2003), Rz 3 f.

26 Siehe dazu Pkt I.A. vorstehend auf S 17 ff.27 Bejahend anscheinend Rill/Schäffer (FN 17), Rz 52: es handle sich dabeium �neue Staatsverträge im Sinne des B-VG�. Zu älteren Literaturmei-nungen siehe die Nachweise bei Öhlinger (FN 14), Rz 59.

28 BVG über den Abschluss des Vertrages von Amsterdam, BGBl I1998/76; BVG über den Abschluss des Vertrages von Nizza, BGBl I

24 Theo Öhlinger

Einige weitere Fragen, wie etwa jene, ob Art 140a B-VG betref-fend die verfassungsgerichtliche Prüfung von Staatsverträgen auf dasvertragliche EU-Primärrecht anwendbar sei, scheinen durch die seitdem Vertrag von Nizza (2001) übliche Fassung dieser Ermächti-gungsgesetze � im positiven Sinn � geklärt.30Offen ist schließlich die Frage, welcher Rang der EU-

Mitgliedschaft insgesamt in der österreichschen Rechtsordnung zu-kommt: Bildet die EU-Mitgliedschaft selbst ein � neues � Baugesetzder österreichischen Bundesverfassung oder hat sie nur die bestehen-den Baugesetze modifiziert? Die herrschende Lehre nimmt Letzteresan.31Damit hängt die Frage zusammen, inwieweit künftige Änderungen

und Ergänzungen des vertraglichen EU- und EG-Primärrechts amMaßstab der (durch den Beitrittsvertrag modifizierten) Grundprinzi-pien zu messen sind. Die herrschende Lehre bejaht dies.32 Sie hat diesauch nicht in Bezug auf den Verfassungsvertrag verneint; bestrittenwurde aber � mit durchaus diskutablen Argumenten � der gesamtän-dernde Gehalt des Verfassungsvertrages.33Damit habe ich nur skizzenhaft einige der Rechtsfragen aufgezeigt,

die die eigenartige Rechtstechnik des Beitritts-BVG aufwirft und diezum Teil immer noch ungelöst sind.

D. Vorschlag des KonventsDas Beitritts-BVG war auch Thema des Österreich-Konvents, und

zwar jenes Ausschusses, der sich mit der Frage der Rechtsbereinigungund der Zusammenfassung des (Bundes-)Verfassungsrechts in einerUrkunde zu beschäftigen hatte (Ausschuss 2). Dieser Ausschuss hatsich auf folgenden Vorschlag geeinigt:

�(1) Österreich istMitglied der Europäischen Union.

2001/120; BVG über den Abschluss des Vertrages über den Beitritt derTschechischen Republik usw zur Europäischen Union, BGBl I 2003/53;BVG über den Abschluss des Vertrages über eine Verfassung für Europa,BGBl I 2005/12.

29 Dazu Öhlinger (FN 25), Rz 1 und 5.30 Siehe Öhlinger (FN 25), Rz 4.31 Siehe Öhlinger (FN 6), Rz 21; Rill/Schäffer (FN 16), Rz 28, jeweilsmwN.

32 Siehe etwa Rill/Schäffer (FN 17), Rz 52.33 Siehe die EB zur RV 789 BlgNR 22. GP.

Verfassungsrechtliche Grundlagen der EU-Mitgliedschaft 25

(2) Änderungen der Verträge über die Europäische Union bedür-fen, unbeschadet des Art 44 Abs 3 B-VG, der Genehmigung des Nati-onalrates und der Zustimmung des Bundesrates. Diese Beschlüssebedürfen jeweils der Anwesenheit von mindestens der Hälfte der Mit-glieder und einer Mehrheit von zwei Dritteln der abgegebenen Stim-men. Art 50 Abs 2 und Abs 3 B-VG sind nicht anzuwenden�.34Dieser Vorschlag hat auch Aufnahme in den so genannten �Fied-

ler-Entwurf� (als dessen Art 86)35 gefunden, mit dem der Konvents-präsident die Arbeit des Konvents abschloss, über den aber im Kon-vent selbst kein Konsens mehr erzielt werden konnte und auch keineBeratung mehr stattfand.Der erste Absatz deutet in seiner lapidaren, an Art 1 und 2 B-VG

orientierten Sprache auf ein Grundprinzip der Bundesverfassung hin.Geht man allerdings mit der herrschenden Lehre36 davon aus, dass dieEU-Mitgliedschaft derzeit noch kein Baugesetz der Bundesverfassungbildet, so bedürfte die Begründung eines solchen neuen Grundprinzipseiner neuerlichen Volksabstimmung. Würde ein diesem Vorschlagentsprechender Text in das B-VG oder in eine neue Verfassungsur-kunde ohne Volksabstimmung aufgenommen, so wäre diese Frageweiterhin strittig, aber eher zu verneinen. Es würde sich in diesemPunkt an der bestehenden Verfassungslage im Prinzip nichts ändern.Der erste Satz im Abs 2 des Entwurfes sollte ein für alle Mal jene

besonderen Verfassungsgesetze ersetzen, die bislang für jede Ände-rung des vertraglichen EU-Primärrechts erforderlich waren.37 Dabeiwird am bisherigen Erfordernis einer qualifizierten Mehrheit in beidenKammern des Bundesparlaments festgehalten. Darüber ließe sichrechtspolitisch durchaus debattieren; Rechtspolitik war aber nichtAufgabe des Ausschusses 2. Begründen ließe sich die qualifizierteMehrheit zum einen damit, dass jede Änderung des EU-Primärrechts apriori eine Verfassungsfrage ist, weil dieses Primärrecht die �Verfas-sung� der Union bildet. Das ist aber für sich noch kein zwingendesArgument dafür, dass eine Zustimmung Österreichs zu einer Ände-rung der Verfassung der EU einer �Verfassungsmehrheit� auch in

34 Siehe zu einem ähnlichen Vorschlag bereits Öhlinger (FN 25), S 303 ff.35 Entwurf des Vorsitzenden für eine Bundesverfassung, Bericht des Öster-reich-Konvents, Teil 4B.

36 Siehe dazu Pkt I.A. vorstehend auf S 17 f.37 Siehe dazu Pkt I.C. vorstehend auf S 23.

26 Theo Öhlinger

Österreich bedürfte. Die für Änderungen der EU-Verfassung erforder-lichen qualifizierten Mehrheiten ergeben sich ohnehin aus dem EU-Recht, und zwar in dem sehr anspruchsvollen Sinn einer Einstimmig-keit aller Mitgliedstaaten (Art 48 EUV). Man müsste deshalb nichtauch die Stimmen der einzelnen Staaten jeweils an interne qualifizier-te parlamentarische Mehrheiten binden. Für eine solche qualifizierteMehrheit spricht aber, dass Änderungen des EU-Primärrechts regel-mäßig Rückwirkungen auf die Verfassungen auch der Mitgliedstaatenhaben.Qualifizierte Mehrheiten in beiden Kammern des Bundesparla-

ments stellen auch so lange kein Problem dar, als in Österreich eineeuropafreundliche Politik von einer großen Mehrheit der politischenKlasse bejaht wird. Sie könnten allerdings dann zum Problem werden,wenn sich die politischen Verhältnisse radikal ändern sollten. Dannkönnte sich schon die Frage stellen, warum jede, auch aus innerstaat-lich-verfassungsrechtlicher Sicht ganz geringfügige Änderung desEU-Primärrechts an eine Zwei-Drittel-Mehrheit in beiden Kammerndes Bundesparlaments gebunden sein soll. Das ist aber, wie gesagt,eine verfassungspolitische Frage, die nur politisch � und nicht durchVerfassungsrechtsexperten � entschieden werden kann.Der Verweis auf Art 44 Abs 3 B-VG im ersten Satz des Abs 2 soll

(im Sinne der herrschenden Lehre) klarstellen, dass auch künftig einedurch eine EU/EG-Vertragsänderung bewirkte Gesamtänderung derBundesverfassung einer Volksabstimmung bedürfte.38 Derart tief grei-fende Eingriffe in das nationale Verfassungsrecht durch das EU-Rechtsollen weiterhin an dieses Erfordernis geknüpft sein.Weil solche tief greifenden Auswirkungen auf das nationale Ver-

fassungsrecht zugleich grundlegende Veränderungen des Verfassungs-rechts der Union selbst voraussetzen,39 stellt sich freilich die Frage, obdiese nicht besser einer europäischen Volksabstimmung unterzogenwerden sollten. Punktuelle nationale Abstimmungen über Änderungender Verfassung Europas sind auch in verfassungstheoretischer Sicht

38 Siehe dazu Pkt I.A. vorstehend auf S 17.39 Zum EU- und EG-Primärrecht als �Verfassung� der EU bzw EG sieheetwa Hummer, Die Europäische Union: Vom �Tempel� zur �Verfassung�� �Konstitutionalisierung� der EU durch den �Verfassungsvertrag�?, inBusek/Hummer (Hrsg), Der Europäische Konvent und sein Ergebnis � ei-ne Europäische Verfassung (2005), S 33 ff (52).

Verfassungsrechtliche Grundlagen der EU-Mitgliedschaft 27

nicht unproblematisch.40 Die Frage ist im Zusammenhang mit demVerfassungsvertrag angesprochen, aber keiner Lösung zugeführt wor-den. Eine Volksabstimmung über den Verfassungsvertrag hätte vor-weg eine Änderung des geltenden Art 48 EUV erfordert, die ihrerseitseiner parlamentarischen Genehmigung in allen Mitgliedstaaten gemäßdieser Bestimmung (Abs 3) und in dem einen oder anderen Mitglied-staat vielleicht sogar einer Volksabstimmung bedurft hätte. Das warab dem Zeitpunkt, in dem man sich über den Text des Verfassungsver-trages im Konvent prinzipiell geeinigt hatte, spätestens aber nach derBeendigung der Konventsarbeit praktisch nicht mehr machbar: Manhätte vorerst die Beratungen über den Verfassungsvertrag unterbre-chen und das Verfahren der Änderung des Art 48 EUV durchführenmüssen. Die einzige praktisch denkbare Alternative wäre eine syn-chronisierte Volksabstimmung in allen Mitgliedstaaten gewesen, diein einzelnen Mitgliedstaaten ihrerseits eine Verfassungsänderung vor-ausgesetzt hätte und deren rechtliche Bindung zweifelhaft gebliebenwäre. 41Solange es aber über grundlegende Änderungen der europäischen

Verfassung keine europäische Volksabstimmung gibt � und das dürftenach dem eben Gesagten noch lange so sein �, ist es gerechtfertigt, beitief greifenden Auswirkungen auf die nationale Verfassung nationaleVolksabstimmungen durchzuführen. Ob eine solche Abstimmung inÖsterreich über den Vertrag selbst oder über eine die Gesamtänderungvorwegnehmende Novellierung des B-VG erfolgt, wäre auf dem Bo-den des Konvents-Vorschlages � anders als nach geltendem Verfas-sungsrecht42 � nur mehr eine rechtstechnische Frage.

II. Österreichisches Unionsverfassungsrecht

A. Verfassungsänderungen aus Anlass des EU-BeitrittsDie verfassungsrechtlichen Grundlagen der EU-Mitgliedschaft Ös-

terreichs erschöpfen sich nicht im Beitritts-BVG. Vielmehr wurdeanlässlich des Beitritts auch das B-VG selbst novelliert. Es wurde zum

40 Siehe Hammer, EU-Verfassungsvertrag, Gesamtänderung der Bundesver-fassung und pouvoir constituant, juridikum 2004, S 112 ff (113 f).

41 Dies als Anmerkung zu einer in Österreich anlässlich der Ratifikation desVerfassungsvertrages etwas scheinheilig geführten Diskussion.

42 Siehe zu dieser Fragestellung die Ausführungen bei den FN 12�14.

28 Theo Öhlinger

einen das B-VG um einen neuen Abschnitt �Europäische Union� an-gereichert (Art 23a�23f B-VG), und es wurden eine Reihe bestehenderBestimmungen des B-VG an die Mitgliedschaft in der EU angepasst,zB Art 117 Abs 2 B-VG betreffend dasWahlrecht von Unionsbürgernbei Kommunalwahlen oder Art 73 Abs 2 B-VG, der es einem Bun-desminister ermöglicht, einen Regierungskollegen mit seiner Vertre-tung im Rat der EU ohne Zwischenschaltung des Bundespräsidentenzu betrauen.Manches wurde auch noch später nachgetragen: so Art 73Abs 1 letzter Satz und Abs 3 B-VG,43 wonach ein Aufenthalt einesBundesministers in einem Mitgliedstaat der EU nicht als �Verhinde-rung� gilt und ein solcher Bundesminister in vereinfachter Weise sei-ne Vertretung im Inland veranlassen kann. Solche Bestimmungen sindAusdruck des Zusammenwachsens der Mitgliedstaaten in der EU. DasTerritorium der Union ist aus verfassungsrechtlicher Sicht nicht mehrAusland im Vollsinn dieses Begriffs. Europapolitik ist dementspre-chend nicht mehr Außenpolitik.Es handelt sich bei all diesen Regelungen um so genanntes staatli-

ches Unionsverfassungsrecht.44 Dieses bildet eine Nahtstelle zwischenden nationalen Verfassungen und jener Verfassung der EU, die dasPrimärrecht schon heute bildet, und die insgesamt jenen �Verfas-sungsverbund� ergeben, der für die Verfassungslage in der EU heuteso charakteristisch ist.45 In jedemMitgliedstaat der Union gelten heutezwei Verfassungen,46 die nicht unverbunden nebeneinander stehen,sondern eng miteinander verschränkt sind.

43 IdF der Novelle BGBl I 1997/87. Mit dieser Novelle wurde auch ein neu-er Abs 3 im Art 73 B-VG mit einer ebenfalls EU-relevanten Regelung ge-schaffen. Siehe dazu Raschauer, Art 73 B-VG, in Korinek/Holoubek(Hrsg), Bundesverfassungsrecht, Kommentar Bd II/2, 1. Lfg (1999), Rz 1f.

44 Siehe dazu den rechtsvergleichenden Überblick von Grabenwarter, Staat-liches Unionsverfassungsrecht, in von Bogdandy (Hrsg), EuropäischesVerfassungsrecht (2003), S 283 ff.

45 Dazu va Pernice, Europäisches und nationales Verfassungsrecht, inVVDStRL 60 (2001), S 148 ff (172 ff).

46 Siehe aus österreichischer Sicht Pernthaler, Die neue DoppelverfassungÖsterreichs, FS Winkler (1997), S 773 ff; Öhlinger, Die Verfassung imSchmelztiegel der europäischen Integration: Österreichs neue Doppelver-fassung, in Öhlinger, Verfassungsfragen einer Mitgliedschaft zur Europä-ischen Union (1999), S 165 ff (215 f).

Verfassungsrechtliche Grundlagen der EU-Mitgliedschaft 29

Am österreichischen Unionsverfassungsrecht fällt auf, dass es be-sonders dicht und detailliert ist. Das entspricht dem spezifischen Stildes österreichischen Bundesverfassungsrechts.Hervorzuheben sind die Regelungen über die Mitwirkung zum ei-

nen der Länder, zum anderen des Nationalrats an �Vorhaben der EU�(Art 23d und 23e B-VG) � zwei Regelungen, die 1994 noch eine ge-wisse Pionierleistung darstellten. Ohne hier auf die Details eingehenzu können, muss man freilich festhalten, dass sie die daran geknüpftenErwartungen nicht voll erfüllt haben. Diese beiden und auch nochweitere Regelungen des österreichischen Unionsverfassungsrechtssind jedoch Themen der folgenden Beiträge, so dass darauf hier nichtnäher einzugehen ist.47

B. Die unerledigte BundesstaatsreformErwähnen muss man in diesem Zusammenhang aber eine weitere

im Vorfeld des EU-Beitritts geplante, in letzter Minute jedoch ge-scheiterte Verfassungsnovelle: die so genannte Bundesstaatsreform.Mit ihr sollte die bundesstaatliche Struktur Österreichs an eine EU-Mitgliedschaft angepasst48 und Österreichs Verfassung gewisserma-ßen �europatauglich� gemacht werden.Diese Bundesstaatsreform ist bekanntlich misslungen, die dahinter

stehende Problematik aber weiterhin offen. Durch die EU-Mitgliedschaft wurde die bundesstaatliche Struktur Österreichs grund-legend in Frage gestellt.49 Es ist ein nicht unbedingt intelligentes, aberständiges Argument der politischen Diskussion, dass mit der EU eineneue Entscheidungsebene geschaffen wurde, mit der eine der inner-staatlichen Ebenen � und als solche sind immer die Länder gemeint �eigentlich überflüssig geworden sei. Was an dieser Polemik ernst zunehmen ist, ist in der Tat die Frage, inwieweit die Aufgabenverteilungzwischen Bund und Ländern im Lichte der Vorgaben der EU nochzeitgemäß ist. Tatsächlich ergeben sich aus der geltenden Verteilung

47 Vgl dazu die Beiträge von Bachmann nachstehend auf S 37 ff und vonBußjäger nachstehend auf S 55 ff.

48 Zum Zusammenhang zwischen EU-Beitritt und Bundesstaatsreform Hol-zinger, Gravierende verfassungsrechtliche Änderungen im Zusammen-hang mit einem österreichischen EG-Beitritt, JBl 1993, S 2 ff (7 f).

49 Dazu auch Öhlinger, Die österreichische Verfassung und die europäischeIntegration, in Hummer (Hrsg), Paradigmenwechsel im Europarecht zurJahrtausendwende (2004), S 67 ff (77 f).

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der Kompetenzen zwischen Bund und Ländern immer wieder Proble-me der innerstaatlichen Durchführung von Gemeinschaftsrecht, spe-ziell bei der Umsetzung von Richtlinien. Manche Richtlinie bedarf derUmsetzung durch zehn österreichische Legislativakte (ein Bundes-und neun Landesgesetze); manche fallen überhaupt in eine �Weder�Noch-Kompetenz� und können ohne Verfassungsregelung nicht aus-geführt werden.50Mit dieser Frage hat sich auch der Österreich-Konvent beschäftigt,

aber keine überzeugende Antwort gefunden.51

III. Verhältnis von EU-Recht und staatlichem Recht

Man kann in dem mir gestellten Thema �VerfassungsrechtlicheGrundlagen der EU-Mitgliedschaft� auch noch eine sehr grundsätzli-che Frage angesprochen sehen: die Frage nach dem letzten Geltungs-grund � in Abwandlung einer Kelsen�schen Terminologie: der Grund-norm � des Gemeinschaftsrechts.52 Hat der Staatenverbund der EG/EUseinen � nicht nur historischen � Rechtsgrund in den Verfassungen derMitgliedstaaten oder aber ist er eine davon losgelöste, �autonome�Rechtsordnung, die kraft des Vorrangs des Gemeinschaftsrechts denMitgliedstaaten übergeordnet ist?In der Rechtsprechung des EuGH wird deutlich die zweitgenannte

Position vertreten. Der Gerichtshof versteht das Recht der EG als eineautonome Rechtsordnung, die als solche selbst die Reichweite ihrerGeltung in den Mitgliedstaaten bestimmt � eine These, die im An-spruch auf unmittelbare Anwendbarkeit des Gemeinschaftsrechts nachMaßgabe gemeinschaftsrechtlicher, letztlich vom EuGH entwickelter

50 Ein anschauliches Beispiel liefert der Versuch der Umsetzung der IPPC-Richtlinie durch ein Bundesgesetz, das an einem Votum des VfGH (Slg17.022/2003) scheiterte, ohne dass sich daraus eine eindeutige und auchpraktikable Landeskompetenz ableiten ließe.

51 Näher dazu Öhlinger, Die Aufgabenverteilung zwischen Bund, Ländernund der Europäischen Union, in Olechowski (Hrsg), DerWert der Verfas-sung �Werte in der Verfassung (2005), S 41 ff (43 ff).

52 Zur Anwendung des Kelsen�schen Begriffs der Grundnorm auf dieseThematik siehe Grussmann, Grundnorm und Supranationalität � Rechts-strukturelle Sichtweisen der europäischen Integration, in Danwitz ua(Hrsg), Auf dem Wege zu einer Europäischen Staatlichkeit (1993), S 47ff; Schilling, Zum Verhältnis von Gemeinschafts- und nationalem Recht,ZfRV 1998, S 149 ff.

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Kriterien impliziert ist.53 Der Gerichtshof postuliert darüber hinausauch einen Vorrang des Gemeinschaftsrechts vor dem gesamten staat-lichen Recht einschließlich des staatlichen Verfassungsrechts, ja ein-schließlich der Strukturprinzipien dieser Verfassungen.54 Dieser An-spruch wird freilich, wie schon gesagt, von den Mitgliedstaaten nichtuneingeschränkt anerkannt; Vorbehalte bestehen vielmehr in derMehrzahl der Mitgliedstaaten gegenüber einem Vorrang des Gemein-schaftsrechts auch gegenüber der nationalen Verfassung oder � wie inÖsterreich � jedenfalls gegenüber den Grundprinzipien dieser Verfas-sung.55 Darüber hinaus geht die ganz überwiegende Auffassung in denKreisen der Verfassungsjuristen der Mitgliedstaaten dahin, dass derletzte Geltungsgrund des Gemeinschaftsrechts nach wie vor in denVerfassungen derMitgliedstaaten liegt.56Die österreichische Verfassungsrechtslehre ist auch in diesem

Punkt eher atypisch unionsfreundlich. Nicht nur dass der österreichi-sche VfGH den Vorrang des Gemeinschaftsrechts vor dem Bundes-verfassungsrecht ganz unbefangen judiziert.57 In der Lehre wird ledig-lich, wie schon gesagt, ein Vorrang der verfassungsrechtlichenGrundprinzipien vor dem Gemeinschaftsrecht angenommen; derVfGH hat zu dieser Frage noch nicht Stellung beziehen müssen. Eswird darüber hinaus auch die These vertreten, dass der EU-Beitrittsvertrag � und damit auch die von diesem rezipierten Grün-dungsverträge � gar kein Staatsvertrag im verfassungsrechtlichen Sinnsei. Dieser Vertrag sei nur mehr Teil des in Österreich geltenden Ge-meinschaftsrechts, nicht aber auch Teil des österreichischen Rechts.58

53 Grundlegend EuGH, Rs 26/62, Van Gend en Loos, Slg 1963, S 1 ff.54 EuGH, Rs 11/70, Internationale Handelsgesellschaft, Slg 1970, S 1125 ff;verb Rs 97/87, 98/87 und 99/87, Dow Chemical Iberica, Slg 1989, S 3165ff.

55 Siehe Öhlinger (FN 49), S 81.56 Vgl etwa Huber, Europäisches und nationales Verfassungsrecht,VVDStRL (2001), S 60 ff (214 ff); ferner Peters, Elemente einer Theorieder Verfassung Europas (2001), S 265 ff (333 f); pointiert Hofmann, ZuEntstehung, Entwicklung und Krise des Verfassungsbegriffs, FS Häberle(2004), S 157 ff (170).

57 Siehe VfSlg 15.427/1999, 17.065/2003 ua.58 Adamovich/Funk/Holzinger (FN 16), Rz 17.062. Siehe dazu auch schonStolzlechner (FN 2), S 173.

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Diese Auffassung ist nur unter der Prämisse verständlich, dass sichÖsterreich mit dem Beitrittsvertrag in eine übergeordnete Rechtsord-nung eingeordnet und dieser untergeordnet hat. Damit wird die vomEuGH postulierte Autonomie des Gemeinschaftsrechts und sein Vor-rang auch vor dem staatlichen Verfassungsrecht vorbehaltlos und un-eingeschränkt anerkannt.Diese These belegt eine bemerkenswerte Offenheit der österreichi-

schen Staatsrechtslehre gegenüber den Ansprüchen des EuGH � eineOffenheit, wie sie zB auch in der Tatsache zum Ausdruck kommt,dass der VfGH bislang immer noch das einzige Verfassungsgerichteines Mitgliedstaates ist, das bereits mehrmals eine Vorabentschei-dung des EuGH eingeholt hat.59 Auch die Vorlagefreudigkeit andererösterreichischer Gerichte liegt auf dieser Linie.Die These, dass der Beitrittsvertrag gar kein Staatsvertrag im ver-

fassungsrechtlichen Sinn sei, ist freilich aus mehreren Gründen nichthaltbar.60 Zum einen ignoriert sie die Differenz von EG und EU. DieEU � im Sinne der �Zweiten� und �Dritten Säule� � ist aber eine In-ternationale Organisation, der EU-Vertrag im engeren Sinn daherVölkerrecht, nicht Gemeinschaftsrecht im eigentlichen Sinn. Für die-sen völkerrechtlichen Vertrag kann aber nichts anderes gelten, als dasser im gleichen Sinn wie jeder andere von Österreich abgeschlossene�Staatsvertrag� zum Bestandteil auch des österreichischen Rechtsgeworden ist.Aus dem Beitritts-BVG selbst lässt sich aber diese These auch

nicht für den EG-Vertrag im engeren Sinn ableiten, weil sich die Fra-ge der Rechtsnatur der EG gar nicht isoliert auf der Grundlage derVerfassung eines einzelnen Mitgliedstaates beantworten lässt. DieseFrage wäre vielmehr aus dem EG-Vertrag heraus zu lösen, dort ist sieallerdings nicht eindeutig beantwortet. Eben deshalb besteht der Streitzwischen Autonomisten � an deren Spitze der EuGH � und Derivati-visten.61Auch der Verfassungsvertrag hätte darauf keine eindeutige Ant-

wort gegeben. Der ausdrücklichen Verankerung eines uneingeschränk-ten Vorrangs des Unionsrechts, die eine Deutung im Sinn des in der

59 Siehe dazu Holzinger, Der Verfassungsgerichtshof und das Gemein-schaftsrecht, FS Öhlinger (2004), S 142 ff (153).

60 Näher Öhlinger (FN 31), Rz 14.61 Dazu Hummer (FN 39), S 40 ff.

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Rechtsprechung des EuGH formulierten Anspruchs auf Autonomiedes (künftigen) Unionsrechts nahe legen würde,62 steht die Betonungdes Grundsatzes der begrenzten Einzelermächtigung in den Art I-1Abs 1 und Art I-11 Abs 2 gegenüber.63 Der Streit zwischen autonomerGeltung oder derivativer Ableitung des Unionsrechts aus dem Verfas-sungsrecht der Mitgliedstaaten wäre auch auf dem Boden des Verfas-sungsvertrages unentschieden geblieben.Mit der Ablehnung des Verfassungsvertrages und der in ihm ent-

haltenen Weiterentwicklung der Union in Richtung einer verstärkten�Konstitutionalisierung� ihrer Rechtsgrundlagen hat freilich eine Deu-tung des Verhältnisses von EG-Recht und den Rechtsordnungen derMitgliedstaaten, die letztere als (bloße) Teilrechtsordnungen der EG-Rechtsordnung begreift,64 an Überzeugungskraft eingebüßt. Die Mit-gliedstaaten haben mit dieser Ablehnung � bewusst oder unbeabsich-tigt � ihre Rolle als �Herren der Verträge� bestätigt und die Abhän-gigkeit des EG-Rechts von den Verfassungen der Mitgliedstaatenfaktisch eindrucksvoll, um nicht zu sagen: schockierend, demonstriert.In den Volksabstimmungen über den Verfassungsvertrag am 29. Maiin Frankreich und 1. Juni 2005 in den Niederlanden ist wohl auch dieDeutung der EG/EU als eine autonome und den Mitgliedstaaten über-geordnete, diese delegierende � also letztlich bundesstaatliche �Rechtsordnung zu Grabe getragen worden. Die Grundlage der EG-Rechtsordnung findet sich in den Verfassungen der Mitgliedstaaten;die EG bildet eine von den Verfassungen der Mitgliedstaaten abgelei-tete Rechtsordnung. Die einschlägige Judikatur des EuGH ist im Lich-te dieser Prämisse zu korrigieren.

62 Art I-6 EVV; dazu Öhlinger, Der Vorrang des Unionsrechts im Lichte desVerfassungsvertrages, FS Ress (2005), S 685 ff (687).

63 Hummer (FN 39), S 40 ff, deutet diese Bestimmungen als Bekräftigungeiner derivativen Natur der Verbandsgewalt der (künftigen) Union und in-sofern als Korrektur der Judikatur des EuGH.

64 So etwa Denninger, Vom Ende nationalstaatlicher Souveränität in Euro-pa, JZ 2000, S 1121 ff (1124); ähnlich schon Grussmann, Auswirkungeneines EG-Beitrittes auf die österreichische Verfassungsgerichtsbarkeit,ZfV 1990, S 427 ff (431 ff).