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52 Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 24 (2001) der fur diese Diskussion typischen Vermengung medizinethischer und individual- bzw. sozialethi- scher Fragen hat sich die Verteilungsproblematik langst zu einem regelrechten Dschungel ausge- wachsen, durch den Liening einige Schneisen zu schlagen anstrebte. Die Kompliziertheit der The- matik resultiert schon aus der Gerechtigkeitsin- tention, die die Allokation medizinischer Res- sourcen heute bestimmt. Der kaum zu prazisie- rende Basiswert ,Gerechtigkeit' steht in einem Spannungsverhaltnis mit der ebenfalls schwerlich objektivierbaren Zielvorstellung ,NutZen'. GroBe Schwierigkeiten bereitet auch die im Zuge der Ra- tionalisierungsdebatte aufgeworfene Frage nach dem medizinisch Notwendigen. Angesichts der Komplexitat der Allokationsproblematik scheinen Patentlosungen nicht moglich. Anders stellt sich die Situation bei der Debatte zur ,,Gentechnologie" dar, iiber die Nikola Biller (Gottingen) sprach. Hier dominieren mittlerweile anwendungsbezogene Themen, prinzipielle Fra- gen werden dagegen vergleichsweise selten disku- tiert. Diese geanderte Schwerpunktsetzung deu- tete Biller als Ausdruck gestiegener gesellschaft- licher Akzeptanz. Sowohl unter Medizinethikern als auch in der Offentlichkeit besteht weitgehend Konsens daruber, daB gentechnische Verfahren als individuell nutzbare Angebote zu interpretieren sind. Das ermoglichte die Festlegung zentraler Anwendungsprinzipien fur einzelne gentechni- sche Methoden. Auch in der Diskussion uber die kiinstliche Be- fruchtung herrschen praxisorientierte Fragestel- lungen vor. Urban Wiesings Beitrag zur ,,Repro- duktionsmedizin" focussierte jedoch auf die im Rahmen der betreffenden Debatte vorgebrachten prinzipiellen Stellungnahmen. In der theoreti- schen Literatur werden in erster Linie Argumente gegen die Reproduktionsmedizin vorgetragen. Pro-Argumente finden sich indes nur wenige, die zudem durchweg unspezifisch sind. Wiesings be- sonderes Interesse galt daher den spezifischen Contra-Argumenten. Wie seine Analyse ergab, haben diese samtlich nur einen begrenzten Stel- lenwert. In diesem Umstand sei der Grund dafiir zu suchen, daB sich keines jener Argumente durchgesetzt und zu einem Stopp der Reproduk- tionsmedizin gefuhrt habe. Im Zentrum des nachsten Beitrags stand der Problembereich ,,Transplantationsmedizin und Hirntod-Begriff ". Nikola Biller prasentierte zu- nachst medizinische und juristische Hintergrund- informationen zur Transplantationsmedizin. Im weiteren ging sie naher auf die beiden Methoden der Organspende, die postmortale Spende und die Lebendspende, ein und auf die damit verbunde- nen Schwierigkeiten. Anschlieflend sprach Clau- dia Wiesemann iiber die mit der Organtransplan- tation eng verknupfte Hirntod-Problematik. Sie betrachtete das von ihr referierte Thema unter hi- storischer Perspektive. Wiesemann unterschied drei Phasen in der Geschichte des Hirntodkon- zepts, die einen unterschiedlichen Umgang west- licher Gesellschaften mit Phanomenen der Mo- dernisierung widerspiegelten: Die Phase der Orientierung (50er Jahre bis 1967), die Phase der Etablierung (1968 bis Ende 80er Jahre), die Phase der Relativierung des Hirntod-Konzepts (Ende 80er Jahre bis heute). Sie stellte kontroverse ethi- sche und medizinische Positionen zur Gultigkeit und Reichweite des Hirntod-Kriteriums vor. Ein kommentierter Uberblick iiber die Litera- tur, den Andreas Frewer gab, beschloi3 das dritte Fortbildungsseminar. Hier wurden zum einen die wichtigsten deutsch- und englischsprachigen Lehrbiicher, Bibliographien, Lexika und Zeit- schriften vorgestellt. Dariiber hinaus gab Frewer verschiedene hilfreiche Hinweise auf medizinethi- sche Datenbanken und Internetquellen. Insgesamt machte die zumeist gelungene Pra- sentation der einzelnen Spezialgebiete durch die MitarbeiterInnen des Gottinger und des Tiibinger Instituts die Tagung zu einer hervorragenden Ein- fiihrung in die Medizinethik. Astrid Ley Anschrift der Verfasserin: Astrid Ley, M.A., Institut fur Geschichte der Medizin, Friedrich-Alexander- Universitat, GluckstraBe 10, D-91054 Erlangen 100 Years of Organized Cancer Research. Bericht uber einen internationalen me- dizinhistorischen Kongrei3 im Deutschen Krebsforschungszentrum (DKFZ) in Heidelberg, 18.-20. Februar 2000 Vom 18.-20. Februar 2000 fand in Heidelberg der Kongressleiter Wolfgang U. Eckart (Heidelberg) weltweit erste internationale Kongress zur Ge- verwies in seinem Eingangsreferat auf den Anlafl schichte der Krebsforschung statt. Veranstaltet der Tagung, die Griindung des ,,Comitts fur wurde die Tagung vom Institut fur Geschichte Krebssammelforschung" in Berlin am 18. Februar der Medizin der Universitat Heidelberg und vom 1900. Dieses Datum gilt weltweit als der Beginn Deutschen Krebsforschungszentrum (DKFZ). der organisierten Krebsforschung. Die Vortrage Ber.Wissenschaftsgesch. 24 (2001) 47-54

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52 Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 24 (2001)

der fur diese Diskussion typischen Vermengung medizinethischer und individual- bzw. sozialethi- scher Fragen hat sich die Verteilungsproblematik langst zu einem regelrechten Dschungel ausge- wachsen, durch den Liening einige Schneisen zu schlagen anstrebte. Die Kompliziertheit der The- matik resultiert schon aus der Gerechtigkeitsin- tention, die die Allokation medizinischer Res- sourcen heute bestimmt. Der kaum zu prazisie- rende Basiswert ,Gerechtigkeit' steht in einem Spannungsverhaltnis mit der ebenfalls schwerlich objektivierbaren Zielvorstellung ,NutZen'. GroBe Schwierigkeiten bereitet auch die im Zuge der Ra- tionalisierungsdebatte aufgeworfene Frage nach dem medizinisch Notwendigen. Angesichts der Komplexitat der Allokationsproblematik scheinen Patentlosungen nicht moglich.

Anders stellt sich die Situation bei der Debatte zur ,,Gentechnologie" dar, iiber die Nikola Biller (Gottingen) sprach. Hier dominieren mittlerweile anwendungsbezogene Themen, prinzipielle Fra- gen werden dagegen vergleichsweise selten disku- tiert. Diese geanderte Schwerpunktsetzung deu- tete Biller als Ausdruck gestiegener gesellschaft- licher Akzeptanz. Sowohl unter Medizinethikern als auch in der Offentlichkeit besteht weitgehend Konsens daruber, daB gentechnische Verfahren als individuell nutzbare Angebote zu interpretieren sind. Das ermoglichte die Festlegung zentraler Anwendungsprinzipien fur einzelne gentechni- sche Methoden.

Auch in der Diskussion uber die kiinstliche Be- fruchtung herrschen praxisorientierte Fragestel- lungen vor. Urban Wiesings Beitrag zur ,,Repro- duktionsmedizin" focussierte jedoch auf die im Rahmen der betreffenden Debatte vorgebrachten prinzipiellen Stellungnahmen. In der theoreti- schen Literatur werden in erster Linie Argumente gegen die Reproduktionsmedizin vorgetragen. Pro-Argumente finden sich indes nur wenige, die zudem durchweg unspezifisch sind. Wiesings be- sonderes Interesse galt daher den spezifischen

Contra-Argumenten. Wie seine Analyse ergab, haben diese samtlich nur einen begrenzten Stel- lenwert. In diesem Umstand sei der Grund dafiir zu suchen, daB sich keines jener Argumente durchgesetzt und zu einem Stopp der Reproduk- tionsmedizin gefuhrt habe.

Im Zentrum des nachsten Beitrags stand der Problembereich ,,Transplantationsmedizin und Hirntod-Begriff ". Nikola Biller prasentierte zu- nachst medizinische und juristische Hintergrund- informationen zur Transplantationsmedizin. Im weiteren ging sie naher auf die beiden Methoden der Organspende, die postmortale Spende und die Lebendspende, ein und auf die damit verbunde- nen Schwierigkeiten. Anschlieflend sprach Clau- dia Wiesemann iiber die mit der Organtransplan- tation eng verknupfte Hirntod-Problematik. Sie betrachtete das von ihr referierte Thema unter hi- storischer Perspektive. Wiesemann unterschied drei Phasen in der Geschichte des Hirntodkon- zepts, die einen unterschiedlichen Umgang west- licher Gesellschaften mit Phanomenen der Mo- dernisierung widerspiegelten: Die Phase der Orientierung (50er Jahre bis 1967), die Phase der Etablierung (1968 bis Ende 80er Jahre), die Phase der Relativierung des Hirntod-Konzepts (Ende 80er Jahre bis heute). Sie stellte kontroverse ethi- sche und medizinische Positionen zur Gultigkeit und Reichweite des Hirntod-Kriteriums vor.

Ein kommentierter Uberblick iiber die Litera- tur, den Andreas Frewer gab, beschloi3 das dritte Fortbildungsseminar. Hier wurden zum einen die wichtigsten deutsch- und englischsprachigen Lehrbiicher, Bibliographien, Lexika und Zeit- schriften vorgestellt. Dariiber hinaus gab Frewer verschiedene hilfreiche Hinweise auf medizinethi- sche Datenbanken und Internetquellen.

Insgesamt machte die zumeist gelungene Pra- sentation der einzelnen Spezialgebiete durch die MitarbeiterInnen des Gottinger und des Tiibinger Instituts die Tagung zu einer hervorragenden Ein- fiihrung in die Medizinethik. Astrid Ley

Anschrift der Verfasserin: Astrid Ley, M.A., Institut fur Geschichte der Medizin, Friedrich-Alexander- Universitat, GluckstraBe 10, D-91054 Erlangen

100 Years of Organized Cancer Research. Bericht uber einen internationalen me- dizinhistorischen Kongrei3 im Deutschen Krebsforschungszentrum (DKFZ) in Heidelberg, 18.-20. Februar 2000

Vom 18.-20. Februar 2000 fand in Heidelberg der Kongressleiter Wolfgang U. Eckart (Heidelberg) weltweit erste internationale Kongress zur Ge- verwies in seinem Eingangsreferat auf den Anlafl schichte der Krebsforschung statt. Veranstaltet der Tagung, die Griindung des ,,Comitts fur wurde die Tagung vom Institut fur Geschichte Krebssammelforschung" in Berlin am 18. Februar der Medizin der Universitat Heidelberg und vom 1900. Dieses Datum gilt weltweit als der Beginn Deutschen Krebsforschungszentrum (DKFZ). der organisierten Krebsforschung. Die Vortrage

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Dokumentation und Information 53

der 37 Medizinhistoriker und Arzte aus Deutsch- land, GroBbritannien, den Niederlanden und den USA sowie die lebhaften Diskussionsbeitrage deckten ein breites Forschungsspektrum ab, das neben medizinischen auch politische, soziale und kulturelle Aspekte der Krebsgeschichte umfaBte.

Einen wichtigen Schwerpunkt der Tagung bil- dete die Krebsforschung in der Zeit des National- sozialismus. So loste der offentliche Abendvortrag von Robert Proctor (Philadelphia) zur Anti-Rau- cher-Kampagne in der NS-Zeit eine heftige Kon- troverse aus. Proctor, selbst aktives Mitglied der amerikanischen Anti-Tabak-Bewegung, berichtete iiber die Forschungen zur Kanzerogenitat des Ta- bakrauchs in den 1930er und 1940er Jahren als Beispiel fur ,,die teilweise kreativen und sogar bahnbrechenden Forschungsprogramme der NS- Zeit". Der Dresdner Arzt Fritz Lickint habe zahl- reiche Krebserkrankungen auf das Rauchen zu- ruckgefuhrt, den Begriff des Dassiven Rauchens

nachst zum Zusammenbruch der Forschung und zum Abbruch der internationalen Kontakte. In der Folgezeit wurden einige Institutionen neu be- griindet und eine Reihe von Programmen zur Krebsfriiherkennung, Krebsfursorge und Krebs- noxenforschung konzipiert. Die Umsetzung in die Praxis scheiterte jedoch meistens an mangeln- dem staatlichen Interesse. Spatestens mit Kriegs- beginn wurden die finanziellen und materiellen Ressourcen fur andere Zwecke benotigt.

Die Wechselwirkung zwischen Krebsforschung und Gesellschaft stand im Mittelpunkt der Vor- trage von David Cantor (Manchester) und Puolo Pulludino (Lancaster). Cantor setzte das ,,frag- mentierte", reduktionistische Denken in der Krebsforschung seit dem Ende des 19. Jahrhun- derts in Beziehung zur sozial fragmentierten mo- dernen Gesellschaft. In den 1920er Jahren for- mierte sich in den Reihen der konservativen Arz- teschaft in GroBbritannien ein ,,holistischer" Wi- - I

gepragt und bereits den Teer fur die Kanzerogeni- tat verantwortlich gemacht. Im 1943 gegrundeten

derstand gegen die spezialisierte Krebsforschung im Labor. Mit antimodernistischen ArEumenten

Jenaer Institut zur Erforschung der Taiaikgefahren entstanden weitere wichtige Arbeiten zum Lun- genkrebsrisiko durch Tabakrauch, die in der Nachkriegszeit in Vergessenheit gerieten. Als Be- leg fur eine umfangreiche Anti-Raucher-Propa- ganda im Nationalsozialismus demonstrierte Proctor eine Reihe von Plakaten, die zeigten, daB die Ablehnung des ,yolksgiftes" Tabak auch ras- senhygienisch motiviert war. Seit 1938 habe es er- ste gesetzliche Regelungen gegeben. So wurde das offentliche Rauchen in zahlreichen Institutionen und 1943 fur aile Jugendlichen verboten. Die NS- motivierte Anti-Tabak-Bewegung, nach Proctor ,,zu dieser Zeit die starkste der Welt", hatte aller- dings kaum die gewunschten Auswirkungen; denn der Tabakkonsum stieg bis zum Kriegsbe- ginn dramatisch an. Mit Fortschreiten des Krieges schien es dann nicht mehr opportun, den Men- schen angesichts der Grauel die beruhigende Zi- garette zu verweigern. Dagegen verhinderte nach Proctor die NS-Kampagne gegen das Rauchen in Deutschland bis heute verniinftige MaBnahmen zur Eindammung der schadlichen Auswirkungen des Tabaks.

Diese These wurde in der Diskussion ebenso bestritten wie Proctors Gegeniiberstellung von ,,guter" und ,,schlechter" NS-Medizin. Einige Medizinhistoriker bestritten gar die historische Relevanz der Anti-Tabak-Bewegung der NS-Zeit angesichts ihrer offenkundigen Folgenlosigkeit fur den Tabakkonsum und die spatere Krebsfor- schung. Die ubrigen Vortrage zur Krebsforschung im Nationalsozialismus bestatigten im wesent- lichen diese Skepsis. Die Entlassung und Vertrei- bung der judischen Forscher fuhrte nach 1933 zu-

- versuchte die alte Elite, die Kontrolle uber die zu- nehmende Macht der Spezialisten und Burokraten zu bewahren. Palladino zeigte, daB die Krebser- krankung des amerikanischen Prasidenten Ronald Reagan 1985 in der Sprache der Kommentatoren zugleich als Bedrohung des ,,politischen Korpers" aufgefaBt wurde. Ein Vorbild fur diese Verwen- dung des Krebses als politische Metapher fand er in dem britischen Chirurgen Mummery, der be- reits 1934 Krebszellen als Kornmunisten bezeich- net hatte. Palladino leitete daraus die These ab, daB jeder Diskurs iiber Krebs selbst krebsartig wuchere und als Zeichen fur die Krise der Mo- derne dienen konne.

Mehrere Referenten berichteten iiber die Ent- stehung und den Wandel bestimmter Konzepte in der Krebsforschung, Krebstherapie und Krebs- pravention. Nach Uwe Hey11 (Dusseldorf) er- klarte die Naturheilkunde in der ersten Halfte des 20. Jahrhunderts den Krebs durch die Ent- fremdung des Menschen von der Natur im Pro- zeB der Modernisierung. Alle Ansatze einer lo- kalen Therapie wurden verworfen und statt des- sen eine ,,Entgiftung" des Korpers mit Hilfe der Naturheilverfahren gefordert. Nach 1945 wurde dieses Konzept durch ,,alternative" Krebsthera- pien abgelost, die mit wissenschaftlichem An- spruch auftraten, sich den strengen Kriterien des Wirksamkeitsnachweises aber entzogen. Dieser Wandel verweist nach Hey11 auf einen Bedeu- tungsverlust von ,,Naturlichkeit" in der Bevolke- rung zugunsten hoffnungsvoller AuBenseiterme- thoden. Barron Lerner (New York) und R a y Brow (Heidelberg) thematisierten die Konstruk- tion eines neuen ,,Paradigmas" in der Tumorbio-

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54 Berichte zu r Wissenschaftsgeschichte 24 (2001)

logie und Therapie des Mammakarzinoms durch den amerikanischen Chirurgen Bernard Fisher seit den 1960er Jahren. Der von Fisher aufgebaute Gegensatz zwischen seinem Konzept des Brust- krebses als ,,Systemkrankheit" und der alten Vor- stellung einer ,,Lokalkrankheit" wurde der histo- rischen Entwicklung nicht gerecht und ging mit einer aggressiven Rhetorik einher. Gleichzeitig propagierte Fisher die multizentrischen randomi- sierten klinischen Trials als einzig akzeptable Form der Wissenschaft gegeniiber einem uberhol- ten ,,Anekdotalismus" in der klinischen For- schung. Fishers Strategie kann zumindest teil- weise durch den beginnenden Machtkampf eines friihen Vertreters der Evidence-based Medicine mit den um ihre Therapiehoheit fiirchtenden Kli- nikern erklart werden. Marzlia Coutinho (Florida) schliefilich beschrieb am Beispiel des Prostatakar- zinoms die Folgen der verbesserten Therapie fur die Perspektive der betroffenen Patienten und ihre Interessenverbande in den USA. Wahrend der Krebs fruher als unheilbar, aber vermeidbar galt, wird er seit den 1980er Jahren als unver- meidbar, aber heilbar wahrgenommen. Die neue ,,Uberlebensperspektive" fuhrte zur Verlagerung der Aktivitaten von der Pravention zur Verbesse- rung der Lebensqualitat. Allerdings gerieten die betroffenen Manner beim Kampf um Geldmittel schnell gegeniiber der Brustkrebsbewegung ins Hintertreffen. Ein Grund mag der mangelnde

Symbolcharakter der Prostata im Vergleich zur weiblichen Brust sein.

Als ,,Augenzeuge" der Krebsforschung berich- tete der Vorsitzende des Stiftungsvorstandes des DKFZ, Harald Z.UY Hausen (Heidelberg), uber die verschiedenen Konzepte einer infektiosen Ver- ursachung des Krebses im 20. Jahrhundert. Para- doxerweise fiihrte die Entdeckung der Onkogene in den spaten 1970er Jahren durch zahlreiche nicht bestatigte Berichte uber tumorassoziierte Vi- ren fast zum Erliegen der Tumorvirologie als wis- senschaftlicher Disziplin. Der Umschwung kam Anfang der 1980er Jahre. Seitdem gelang es der Tumorvirologie, die genaueren Mechanismen der Tumorinduktion durch Viren und andere Mikro- organismen in einer Reihe von Fallen aufzukla- ren. Norman Jaffe (Houston) trug die dramati- sche Geschichte der Behandlung des Osteosar- koms vor. Jaffe gelang es in den 1970er Jahren, die Uberlebensrate von 20% auf 65% zu stei- gern, indem er in einer verzweifelten Situation Methotrexat in hoher Dosis verabreichte. Es folgte ein langer und aggressiv gefuhrter Streit mit Kollegen, die seine Ergebnisse bestritten, bis ein klinischer Trial Jaffe Recht gab. Dieses Bei- spiel von ,,oral history" wurde von vielen Kon- grefiteilnehmern als der bewegendste Vortrag einer gelungenen Veranstaltung bezeichnet. Die Publikation der Vortrage erfolgt in Kurze.

Ralf Broer

Anschrift des Verfassers: Dr. med. Ralf Broer, Institut fur Geschichte der Medizin, Ruprecht-Karls-Uni- versitat Heidelberg, Im Neuenheimer Feld 327, 69120 Heidelberg, E-mail: [email protected] berg.de

,,Schnittstelle Gesicht. Mienen. Medien. Medizin"

Bericht iiber eine Tagung des Projekts ,,Korperbilder. Mediale Verwandlungen des Menschen in der Medizin", 30.11.-2.12.2000 im Warburg Haus, Hamburg.

Die von Marianne Schuller, Susanne Regener, Claudia Reiche und Gunnar Schmidt veranstaltete Tagung widmete sich den Wandlungen physio- gnomischer Paradigmen in ihren Wechselwirkun- gen mit Wissenschaft, Kunst und medialen Tech- niken - Prozesse, die psychiatrische, kriminologi- sche oder asthetische Folgen zeitigen und von der Neuzeit bis zu gegenwartigen Technologien der Gesichtserkennung diskutiert wurden.

Einfuhrend thematisierte Marianne Schuller die Kodifizierung von Gesichtsausdriicken als kunst- und wissenschaftsgeschichtlichen Prozefi von Camper, Lavater und Darwin bis zu Lombroso, der auch von Widerstanden gegen herrschende Wissensordnungen und deren Ordnungszwange gekennzeichnet ist. Riidiger Campe beleuchtete

die Hervorhebung des Gesichts, die sich im 17. Jahrhundert in Abgrenzung von der peripate- tischen Physiognomik vollzieht und von der Um- stellung der ,Dauer' auf den ,Augenblick' begleitet wird. Das naturgeschichtliche Feld der Zeichen spaltet sich in eine Innenansicht mit Fokus auf das Gesicht und eine Aufienansicht auf die menschliche Physiologie. Bacons Interesse fur die Gestik ebenso wie die Physiologie der Korperma- schine bei Descartes heben diesen epistemischen Schnitt hervor. Susanne Regeners Analyse der ,Bartfrauen' fokussierte den historischen Wandel dieses Phanomens. Im 19. Jahrhundert auf Jahr- markten pdsentiert, machen die Bartfrauen auf den Fotos in psychiatrischen Publikationen zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine signifikante me-

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