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96 Lebensspanne Kinderwunsch von Menschen mit geistiger Behinderung Partnerschaftliche Beziehungen und partnerschaftliches Zusammenleben von Men- schen mit geistiger Behinderung sind heutzutage keine Tabuthemen mehr. Menschen mit geistiger Behinderung orientieren sich in ihrer Lebensweise zunehmend an der Normalität. Die meisten Männer und Frauen setzen sich in ihrem Leben früher oder später damit auseinander, Mutter bzw. Vater zu werden. Viele Paare wünschen sich eigene Kinder, mit denen sie in einer normalen Familie gemeinsam leben möchten. Hierbei ist es egal, ob es sich bei einem Paar um zwei Menschen mit geistiger Behin- derung oder ob keiner oder auch nur einer von beiden eine sogenannte geistige Behin- derung hat. Als typische, ganz normale Kinderwunschmotive von Frauen bzw. Paaren mit geistiger Behinderung werden meist die folgenden genannt: π Anerkennung als vollwertige Frau bzw. als vollwertiger Mann π Wunsch nach einer vollständigen Familie π ein Kind, um von den Eltern als erwachsene Person gesehen zu werden π ein Kind, um gebraucht zu werden π allgemeiner Ausdruck von Normalität und Erwachsensein Der Wunsch nach einem eigenen Kind gehört zu den höchstpersönlichen Angelegen- heiten und kann nicht verboten werden. Auch wenn manchmal vom Recht des Kindes auf „gesunde“ Eltern gesprochen wird, ist dies eine rechtlich nicht nachvollziehbare Argumentation. Entscheiden sich Menschen dazu, ein Kind zu bekommen, so kann dies nicht verhindert, sondern sollte so unterstützt werden, dass die Interessen von Eltern und Kindern Berücksichtigung finden. Tabus und Vorurteile Sprechen Menschen mit geistiger Behinderung das Thema Kinderwunsch an, erfah- ren sie immer wieder, dass ihr Wunsch nicht ernst genommen oder bagatellisiert wird. Als sei dies ein flüchtiger Wunsch, der genauso gut durch den Kauf einer Puppe oder einer Katze befriedigt werden könnte. Das Thema Kinderwunsch wird nicht nur im Kindes- und Jugendalter, sondern auch bei erwachsenen Menschen mit geistiger Be- hinderung weitgehend ausgeklammert, was es ihnen schwer macht, sich damit aus- einanderzusetzen. Sie haben wenig Gelegenheit, durch Gespräche das Für und Wider eigener Kinder abzuwägen und einen eigenen und selbstbestimmten Standpunkt zu entwickeln. Wird der Wunsch dennoch thematisiert, erfährt er eine deutlich kritischere Hinterfragung als dies bei nicht behinderten Frauen der Fall ist. Diese müssen tenden- ziell eher dafür Rechenschaft ablegen, wenn sie sich kein Kind wünschen. Frauen mit geistiger Behinderung müssen sich oft rechtfertigen, wenn sie sich ein Kind wün- schen. Hintergrund hierfür sind Vorurteile und Stigmatisierungen, die sich hartnäckig zu halten scheinen. Die australische Wissenschaftlerin Gwynnyth Llewellyn nannte Mitte der 1990er Jahre fünf |Mythen im Zusammenhang mit Eltern, die eine geistige Behinderung ha- ben: 1 Menschen mit geistiger Behinderung bringen geistig behinderte Kinder zur Welt. 2 Menschen mit geistiger Behinderung haben besonders viele Kinder. 3 Eltern mit geistiger Behinderung missbrauchen ihre Kinder. 4 Eltern mit geistiger Behinderung vernachlässigen ihre Kinder. 5 Eltern mit geistiger Behinderung sind nicht in der Lage, angemessenes Eltern- verhalten zu erlernen. 1.4.3 [1] Auch Paare mit geistiger Behin- derung verspüren den Wunsch nach einem eigenen Kind. Mythen nicht nachgewiesene Be- hauptungen 9783064503045 Inhalt_S096 96 30.06.11 15:21

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Lebensspanne

Kinderwunsch von Menschen mit geistiger Behinderung

Partnerschaftliche Beziehungen und partnerschaftliches Zusammenleben von Men-schen mit geistiger Behinderung sind heutzutage keine Tabuthemen mehr. Menschen mit geistiger Behinderung orientieren sich in ihrer Lebensweise zunehmend an der Normalität. Die meisten Männer und Frauen setzen sich in ihrem Leben früher oder später damit auseinander, Mutter bzw. Vater zu werden. Viele Paare wünschen sich eigene Kinder, mit denen sie in einer normalen Familie gemeinsam leben möchten. Hierbei ist es egal, ob es sich bei einem Paar um zwei Menschen mit geistiger Behin-derung oder ob keiner oder auch nur einer von beiden eine sogenannte geistige Behin-derung hat.

Als typische, ganz normale Kinderwunschmotive von Frauen bzw. Paaren mit geistiger Behinderung werden meist die folgenden genannt:

π Anerkennung als vollwertige Frau bzw. als vollwertiger Mann π Wunsch nach einer vollständigen Familieπ ein Kind, um von den Eltern als erwachsene Person gesehen zu werdenπ ein Kind, um gebraucht zu werdenπ allgemeiner Ausdruck von Normalität und Erwachsensein

Der Wunsch nach einem eigenen Kind gehört zu den höchstpersönlichen Angelegen-heiten und kann nicht verboten werden. Auch wenn manchmal vom Recht des Kindes auf „gesunde“ Eltern gesprochen wird, ist dies eine rechtlich nicht nachvollziehbare Argumentation. Entscheiden sich Menschen dazu, ein Kind zu bekommen, so kann dies nicht verhindert, sondern sollte so unterstützt werden, dass die Interessen von Eltern und Kindern Berücksichtigung finden.

Tabus und VorurteileSprechen Menschen mit geistiger Behinderung das Thema Kinderwunsch an, erfah-ren sie immer wieder, dass ihr Wunsch nicht ernst genommen oder bagatellisiert wird. Als sei dies ein flüchtiger Wunsch, der genauso gut durch den Kauf einer Puppe oder einer Katze befriedigt werden könnte. Das Thema Kinderwunsch wird nicht nur im Kindes- und Jugendalter, sondern auch bei erwachsenen Menschen mit geistiger Be-hinderung weitgehend ausgeklammert, was es ihnen schwer macht, sich damit aus-einanderzusetzen. Sie haben wenig Gelegenheit, durch Gespräche das Für und Wider eigener Kinder abzuwägen und einen eigenen und selbstbestimmten Standpunkt zu entwickeln. Wird der Wunsch dennoch thematisiert, erfährt er eine deutlich kritischere Hinterfragung als dies bei nicht behinderten Frauen der Fall ist. Diese müssen tenden-ziell eher dafür Rechenschaft ablegen, wenn sie sich kein Kind wünschen. Frauen mit geistiger Behinderung müssen sich oft rechtfertigen, wenn sie sich ein Kind wün-schen. Hintergrund hierfür sind Vorurteile und Stigmatisierungen, die sich hartnäckig zu halten scheinen.

Die australische Wissenschaftlerin Gwynnyth Llewellyn nannte Mitte der 1990er Jahre fünf |Mythen im Zusammenhang mit Eltern, die eine geistige Behinderung ha-ben:

1 Menschen mit geistiger Behinderung bringen geistig behinderte Kinder zur Welt.

2 Menschen mit geistiger Behinderung haben besonders viele Kinder.3 Eltern mit geistiger Behinderung missbrauchen ihre Kinder.4 Eltern mit geistiger Behinderung vernachlässigen ihre Kinder.5 Eltern mit geistiger Behinderung sind nicht in der Lage, angemessenes Eltern-

verhalten zu erlernen.

1.4.3

[1] Auch Paare mit geistiger Behin-derung verspüren den Wunsch nach einem eigenen Kind.

Mythennicht nachgewiesene Be-

hauptungen

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II Besonderheiten im Entwicklungsprozess 1Obwohl diese Annahmen über Eltern mit einer geistigen Behinderung bereits vor 15 Jahren als Mythen gekennzeichnet wurden, scheinen sie auch heute noch die Vorstel-lung vieler Menschen zu bestimmen.

Der einzige Punkt, in dem ein kleines bisschen Wahrheit steckt, ist der vierte: Manch-mal tri¤ t es zu, dass Eltern mit geistiger Behinderung ihre Kinder vernachlässigen. Bei genauerer Betrachtung aber stellt sich zumeist heraus, dass dies aus einem Mangel an Wissen resultiert und nicht beabsichtigt ist oder aus Gleichgültigkeit geschieht.

Das Risiko, dass Menschen mit geistiger Behinderung ein von Geburt an behin-dertes Kind zur Welt bringen, liegt nur wenig höher als bei der Durchschnittsbevölke-rung. Nach bisherigen Untersuchungen haben Menschen mit geistiger Behinderung entweder gleich viele oder sogar weniger Kinder als andere Eltern. Eltern mit geistiger Behinderung missbrauchen ihre Kinder nicht mehr oder weniger als die übrige Bevöl-kerung. Besonders der letzte Punkt kann als widerlegt betrachtet werden, wie zahl-reiche Untersuchungen und Praxisbeispiele ergeben haben: Viele Menschen mit geis-tiger Behinderung sind durchaus in der Lage, angemessenes Elternverhalten zu erlernen.

Beratungsmöglichkeiten zum KinderwunschFür Einrichtungen der Behindertenhilfe sind Eltern mit intellektuellen Beeinträchti-gungen trotz der zunehmenden Zahl derzeit dennoch eher Einzelfälle. Somit haben sie noch nicht viel Erfahrung und in der Regel noch kein professionelles Umgehen entwickelt. Gerade deshalb und weil zu erwarten ist, dass Einrichtungen immer häu-fi ger mit dem Thema Elternschaft konfrontiert werden, müssen sich deren Mitarbei-terinnen damit befassen.

Fachkräfte der Behindertenhilfe sollten sich präventiv damit auseinandersetzen und sich frühzeitig über externe Beratungs- und Unterstützungsmöglichkeiten infor-mieren. Dadurch können sie Sicherheit erlangen und unbefangener beraten.

|Sexuelle Selbstbestimmung und Partnerschaften von Menschen mit geistiger Be-hinderung sind Ziele der Behindertenhilfe und werden von vielen Trägern der Behin-dertenhilfe und den Angehörigen bereits gefördert. Fortbildungen hierzu werden mitt-lerweile regelmäßig angeboten. Wenn entsprechende Fortbildungen und Beratungen aber nicht nur Sexualität und Partnerschaft beinhalten, sondern neben den Möglich-keiten der |Empfängnisverhütung auch die Themen Kinderwunsch und Elternschaft angesprochen werden, kann der Wunsch nach einem Kind umfassend refl ektiert wer-den. Auch erwachsene Menschen mit geistiger Behinderung haben meist kaum Kenntnisse darüber, was es bedeutet, Kinder zu haben. Eine di¤ erenzierte, verantwor-tungsbewusste Entscheidung für oder gegen ein eigenes Kind ist ihnen deshalb oft nicht möglich.

Besonders gute Erfahrungen hat z. B. die Lebenshilfe Bremen mit Semi-naren zum Thema „Wie ist es, ein Kind zu haben?“ gemacht. Interessierte Frauen, Männer und Paare können sich hier ergebniso¤ en über Vor- und

Nachteile eigener Kinder austauschen und informieren. Gemeinsam wird nach Antworten auf Fragen zum Thema Elternschaft gesucht und diese erarbeitet.

Fortbildungsangebote für Menschen mit geistiger Behinderung sollten generell nied-rigschwellig und wertschätzend gestaltet sein. Die Form der |Leichten Sprache und geeignete Unterrichtsmaterialien sind zu wählen. Ziel sollte sein, die Menschen dar-über zu informieren, was es bedeutet, die Verantwortung für ein Kind zu übernehmen, wobei Raum für selbstbestimmte Entscheidungen gelassen und grundsätzlich ergeb-niso¤ en agiert werden sollte.

sexuelle

Selbstbestimmung | 80

Empfängnisverhütung | 45

www.lebenshilfe-bremen.deHomepage der Lebenshilfe

Bremen

Leichte Sprache 1 | 618

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Lebensspanne

Beratung und Hilfen vor der GeburtDie meisten werdenden Mütter und Väter mit geistiger Behinderung freuen sich auf ihr Kind. Sie schwanken seltener zwischen Euphorie und Niedergeschlagenheit als sogenannte nichtbehinderte Menschen, denn ein Kind zu bekommen bedeutet für sie häufig ein äußeres Zeichen von „Normalität“ und ist verbunden mit der Hoffnung auf eine „ganz normale Fa­milie“. Durch die hohe gesellschaftliche Wert­schätzung, die Elternschaft genießt, gelingt es geistig behinderten Menschen manchmal auf diesem Weg, ernst genommen zu werden und Lebensziele zu verwirklichen, die ihnen sonst verwehrt bleiben. Hier sind insbesondere die Möglichkeit des Einzugs in eine eigene |Woh­nung oder die Beendigung der Tätigkeit in ei­ner |Werkstatt für behinderte Menschen zu nennen.

Elternschaft kann auf diese Weise zu mehr |Selbstbestimmung und gesellschaft­licher |Teilhabe verhelfen.

Viele Eltern mit intellektuellen Beeinträchtigungen haben eine insgesamt schwierige psychosoziale Situation. Ihre sozialen Netzwerke sind oft sehr dürftig. Dies verschlech­tert zusammen mit Armut, schlechtem Gesundheitszustand oder ungünstigen Wohn­verhältnissen die psychosoziale Gesamtsituation der werdenden Familie. Eine einfühl­same Unterstützung bereits in dieser Phase scheint für die weitere positive Ausgestaltung der Elternschaft unabdingbar.

Fachkräfte der Behindertenhilfe sollten in dieser Phase für sich die Möglichkeit eines Beratungsangebots eruieren. Wichtig ist ein Ort, wo sie Informationen und |Beratung einholen können, von Bedeutung, damit die Aufgabe der unterstützten Elternschaft gut bewältigt werden kann. Als mögliche Anlaufstellen können Schwangerschaftsbe­ratungsstellen oder auch Träger der Behindertenhilfe, die sich bereits mit dem Thema beschäftigt haben, in Betracht gezogen werden.

Die Zeit bis zur Geburt muss genutzt werden, um ein passendes Unterstützungs sys­tem für die neue Lebenssituation vorzubereiten:

π Die derzeitige Wohnsituation muss daraufhin überprüft werden, ob sie den neuen Lebensumständen entspricht und ob die werdende Mutter bzw. die wer­denden Eltern in ihrem sozialen Umfeld bleiben möchten.

π Die werdende Mutter muss über die körperlichen Vorgänge der |Schwanger­schaft und |Geburt informiert werden. Die notwendigen |Vorsorgeuntersu­chungen müssen eingehalten und frühzeitig der Kontakt zu einer geeigneten Hebamme gesucht werden.

π Das Entbindungskrankenhaus muss gewählt werden.π Es muss entschieden werden, wer die Koordination und die Organisation und

die Unterstützung selbst übernimmt.π Kontakt zum örtlichen Jugendamt muss hergestellt werden.π Die erforderlichen Anträge auf finanzielle Zuschüsse z. B. bei der Bundesstif­

tung „Mutter und Kind“, müssen gestellt werden.

[1] Freude auf das Kind

Wohnen | 204

Werkstatt für behinderte

Menschen | 281

Selbstbestimmung 1 | 69

Teilhabe | 372, 1 | 82

Beratung 1 | 300

Schwangerschaft | 90

Geburt | 92

Vorsorgeuntersuchungen | 91

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II  Besonderheiten im Entwicklungsprozess 1Elternschaft von Menschen mit geistiger Behinderung

Elternschaften von Menschen mit geistiger Behinderung werden nicht mehr generell abgelehnt, man überlegt, unter welchen Umständen und mit welcher Unterstützung sie den Aufgaben der Elternschaft gewachsen sein könnten. Es gibt inzwischen gesi-cherte Erkenntnisse dafür, dass dies gut gelingen kann. Eine besondere Herausforde-rung kann es darstellen, wenn Frauen mit geistiger Behinderung unbeabsichtigt schwanger werden oder in höherem Maße kognitiv beeinträchtigt und deshalb mit der Elternschaft überfordert sind.

Zum Weiterdenken Ein Forschungsprojekt der Universität Bremen, geleitet von Ursula Pixa-Kettner, Professorin für Psychologie und Behindertenpäda-gogik, leistete Mitte der 1990er Jahre Pionierarbeit. Erfasst wurden erstmals Zahlen über die Anzahl von Elternschaften geistig behinderter Menschen so-wie deren Lebenssituation. 1993 konnten bundesweit knapp 1000 Elternschaften mit 1366 Kindern fest-gestellt werden. Viele Interviews wurden mit Elternteilen und mit Personen aus deren Umfeld erhoben und ausgewertet sowie internationale Unterstüt-zungsmodelle untersucht. (Pixa-Kettner, Ursula; Bargfrede, Stefanie & Blan-ken, Ingrid (1996): „Dann waren sie sauer auf mich, dass ich das Kind haben wollte …“. Eine Untersuchung zur Lebenssituation geistigbehinderter Men-schen mit Kindern in der BRD. Baden-Baden.)

Diese und eine Folgeuntersuchung von 2005 zeigen in etwa folgendes Bild: π Etwa ein Drittel der Eltern lebt in einer Lebensgemeinschaft.π Fast die Hälfte dieser Eltern lebt ohne professionelle Unterstützung. π Mehr als ein Drittel lebt mit ambulanter Unterstützung in eigener Wohnung.π 2005 leben ca. 6 % in einer stationären Einrichtung, erheblich weniger als 1995.π Bei einem Mitglied der Herkunftsfamilie leben knapp 8 % der Eltern.

Der größere Teil der Elternpaare mit geistiger Behinderung, die mit ihrem Kind oder ihren Kindern zusammenleben, tut dies in einer eigenen Wohnung, mit oder ohne professionelle Unterstützung. Alleinerziehende Mütter leben prozentual häufiger in ihrer Herkunftsfamilie oder in einer Einrichtung. Gut die Hälfte der Kinder lebte 2005 mit mindestens einem Elternteil zusammen – während es 1993 nur 39,5 % waren.

Beratung und Hilfen nach der Geburt

Wie Menschen ihre Elternschaft ausüben, ist einerseits abhängig von ihrer Persönlich-keitsstruktur und andererseits von äußeren Bedingungen. Insbesondere für Eltern mit geistiger Behinderung haben sich angemessene Beratungs- und Unterstützungsange-bote als bedeutsam erwiesen. Die meisten Eltern mit geistiger Behinderung sind in der Lage, eine positive Beziehung zu ihrem Kind aufzubauen, unabhängig davon, ob sie elterliche Aufgaben im Einzelnen selbstständig wahrnehmen können oder dafür Un-terstützung benötigen. Die Umstellung auf das Leben als Mutter bzw. Vater ist für viele Menschen mit geistiger Behinderung eher einfach, da sie sich durch das Kind aufge-wertet fühlen. Sie nähern sich ihrer Vorstellung von einem normalen Leben und ma-chen vielleicht erstmals die Erfahrung, gebraucht zu werden. Es entsteht auch nicht so leicht das Gefühl, zugunsten des Kindes auf wichtige Dinge verzichten zu müssen.

1.5

1.5.1

Materialien zum Weiterarbeiten

LS „Sie nahmen ihr einfach so das Kind weg“

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Lebensspanne

Die meisten Eltern mit geistiger Behinderung sind sich darüber bewusst, dass sie in bestimmten Bereichen Unterstützung brauchen, da sie diese auch ohne Kind benöti-gen. Sie befürchten jedoch oft, durch eine intensivere Unterstützung kontrolliert zu werden und ihr Mitspracherecht entzogen zu bekommen. Unterstützung sollte des-halb nicht aufgezwungen, sondern angeboten werden.

Entsprechend dem jeweiligen |Hilfebedarf kann ein individuelles Unterstützungs-konzept nach der Geburt folgende praktische Faktoren beinhalten:

π Hilfen zum Aufbau notwendiger lebenspraktischer und administrativer Kom-petenzen (z. B. Organisation des |Haushaltes und des Alltages, Erledigung von Amtsangelegenheiten, Gesundheit und Hygiene für das Kind)

π |Beratung, Begleitung und Unterstützung bei der Erziehung, um die Kompe-tenzen der Eltern auszubauen und zu stärken

π Arbeit mit dem Kind, die die Eltern einbindet und darauf abzielt, die Eltern zu befähigen, Verantwortung für ihr Kind zu übernehmen und eine tragfähige Eltern-Kind-Beziehung aufzubauen (z. B. durch Frühförderung)

π Hilfen im Hinblick auf die Versorgung und Betreuung der Kinder, z. B. alters-gemäße Ernährung des Kindes, Begleitung der |Gesundheitsvorsorge des Kindes, Vorschläge für Anregungen und Spiele

π Beratung und Anleitung zur altersgemäßen Förderung der sprachlichen, sen-somotorischen, kognitiven und sozialen Fähigkeiten des Kindes

π Hilfe bei einer auf die Zukunft gerichteten Lebensgestaltung mit Kind

Hilfeangebote nach der Geburt erfordern von Unterstützerinnen Einfühlungsvermö-gen und Taktgefühl, um unnötig starkes Eingreifen im vermeintlichen Interesse des Kindes und eine Erschütterung des elterlichen Selbstvertrauens zu vermeiden. Der Unterstützungsbedarf muss individuell ermittelt und immer wieder neu mit den El-tern vereinbart werden. Manche Eltern brauchen eher praktische Anleitungen, einige benötigen eine zeitweise Entlastung. Manche wünschen und brauchen rund um die Uhr die Möglichkeit einer Ansprechperson, andere lediglich eine nächtliche Rufbereit-schaft, um sich gegebenenfalls Beratung zu holen. Die meisten wünschen sich einen Austausch mit anderen Eltern in vergleichbarer Situation. Die Hilfe sollte prozessori-entiert sein und regelmäßig überprüft werden.

Die Balance zwischen Selbstbestimmung der Eltern und dem Eingriff von Unter-stützerinnen ist nicht immer einfach zu finden. Unterstützerinnen müssen mit dem Widerspruch zwischen Kontrolle und Vertrauen umgehen, das heißt einerseits über-prüfen, ob es dem Kind gut geht, andererseits eine Vertrauensbeziehung zu den Eltern herstellen, um eine gute und dauerhafte Zusammenarbeit zu ermöglichen.

Wohnformen geistig behinderter Eltern mit ihren Kindern

Infolge der wachsenden Sensibilität gegenüber der Situation von Müttern und Vätern mit geistiger Beeinträchtigung sind in den vergangenen 25 Jahren zunehmend Ein-richtungen entstanden und Projekte gegründet worden, die sich zum Ziel gesetzt ha-ben, Unterstützungs- und Begleitungsangebote für diese Eltern und ihre Kinder be-reitzustellen. Viele dieser Einrichtungen und Projekte organisieren sich im Rahmen der Bundesarbeitsgemeinschaft Begleitete Elternschaft, die im Jahr 2002 gegründet wurde. Sie widmet sich der Aufgabe, das Thema Elternschaft von Menschen mit gei-stigen Beeinträchtigungen verstärkt in die Öffentlichkeit zu bringen und angemessene Unterstützungsangebote weiterzuentwickeln. Die Arbeitsgemeinschaft bietet auf ih-rer Homepage auch einen Überblick über unterschiedliche Wohnformen, deren Fi-nanzierung, Literaturhinweise und aktuelle Forschungen.

Hilfebedarf | 407

Haushalt | 232

Beratung 1 | 300

Kinderorsorge-

untersuchungen | 93

1.5.2

Homepage der

Bundesarbeitsgemeinschaft:

www.begleitete-elternschaft.de

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II Besonderheiten im Entwicklungsprozess 1Aktuell sind in der Bundesrepublik Deutschland insgesamt knapp 30 meist ambulante, aber auch stationäre Einrichtungen bekannt, die sich ausdrück-lich der Beratung und Unterstützung von Eltern mit geistiger Behinderung

widmen. Auch in vielen anderen Einrichtungen können einzelne Eltern mit ihren Kindern leben oder ambulante Unterstützung erhalten.

Unterstütztes WohnenNicht zuletzt aus Kostengründen besteht ein Trend hin zum unterstützten |Wohnen in einer eigenen Wohnung. Diese Wohnform ent-spricht auch den Wünschen vieler Eltern mit geistiger Behinderung und ist vor allem für Paare attraktiv.

Stationäre WohneinrichtungIn manchen Fällen wird zur Aufl age gemacht, Mütter oder Eltern mit geistiger Behinderung, die ihr Kind behalten wollen, in einer statio-nären Wohneinrichtung unterzubringen. Manchmal entscheiden sich aber auch gerade alleinerziehende Mütter auf freiwilliger Basis für eine stationäre Einrichtung, zumindest so-lange das Kind noch klein ist.

Wohnen in der HerkunftsfamilieNeben den genannten Wohnmöglichkeiten mit ambulanter oder stationärer Unterstüt-zung gibt es natürlich noch die Möglichkeit des Wohnens in der Herkunftsfamilie. Die Ent-scheidung für das Zusammenleben geistig be-hinderter Eltern und deren Kinder mit Famili-enangehörigen sollte jedoch eine freie Entscheidung vor dem Hintergrund gangbarer Alternativen sein. Dies beinhaltet, dass eine solche Entscheidung revidiert werden können muss, wenn sie sich nicht bewährt.

Unabhängig von der Form der Unterstützung sollte diese folgende Grundhaltung auf-weisen:

π Sie sollte eher den Charakter von Begleitung und |Beratung haben als von Betreuung im klassischen Sinne.

π Sie sollte Angebotscharakter haben und im Sinne einer gemeinsam zu verein-barenden Dienstleistung verstanden werden, nicht als Zwangsmaßnahme.

π Die Verantwortung für die Kinder sollte soweit wie möglich bei den Eltern be-lassen und diese sollten ermutigt werden, ihre Verantwortung wahrzunehmen.

π Die Intimsphäre der Eltern ist zu respektieren, dies bedeutet, z. B. nicht in Lebensbereiche einzudringen, in die die Eltern keinen Einblick geben wollen.

π An Eltern mit geistiger Behinderung dürfen keine strengeren Maßstäbe ange-legt werden als an Eltern ohne Behinderung mit vergleichbaren materiellen und sozialen Lebensbedingungen.

Wohnen in einer eigenen

Wohnung | 219

Beratung 1 | 300

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