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1993) einen Mann, der gesehen haben wollte, dass Grams, auf den Gleisen lie- gend, von einem Beamten erschossen wur- de. Die Aussage hatte Hans Leyendecker recherchiert, damals Redakteur im Büro Düsseldorf. Der Mann wurde anonym zitiert und als »Antiterrorspezialist« be- zeichnet, der am Einsatz beteiligt war. Das zentrale Zitat lautete: »Die Tötung des Herrn Grams gleicht einer Exekution«. Be- reits kurz nach Erscheinen des Textes wur- den in der -Redaktion Zweifel an der Glaubwürdigkeit der Quelle laut, da sich zentrale Aussagen als falsch heraus- stellten, beziehungsweise schon bei Er- scheinen des Textes widerlegt waren. Ste- fan Aust, damals Leiter von zitiert sich selbst mit dem Satz von damals: »Das glaube ich nicht.« Ihn habe vor allem irritiert, dass die Bundestagsabgeordnete Ulla Jelpke, damals parteiloses Mitglied der parlamentarischen Gruppe der PDS (heute: Die Linke), einen inhaltlich ähnli- chen Anruf bekommen hatte. Aust habe damals vermutet, dieser Anrufer müsse ein Ostdeutscher gewesen sein, denn ein GSG-9-Mann wende sich nicht an die PDS. Dass aber derselbe Ostdeutsche auch den kontaktiert, habe Aust für un- wahrscheinlich gehalten. be- richtete zwar über den Fall, aber deutlich zurückhaltender als der . Die ermittelnde Staatsanwaltschaft Schwerin sah damals keine Möglichkeit, die Identität der Quelle festzustellen, da diese sich trotz Aufforderung durch Ley- endecker der Staatsanwaltschaft nicht of- fenbaren wollte. Leyendecker gab die Identität seiner Quelle auch gegenüber Kollegen und Vorgesetzen nicht preis und berief sich immer auf den Quellenschutz. Er räumte allerdings früh ein, dass die Quelle nicht die Wahrheit gesagt haben konnte, und entschuldigte sich in öffent- lichen Auftritten für die falsche Berichter- stattung. Er bestand aber stets darauf, die Identität der Quelle verifiziert und deren Glaubwürdigkeit festgestellt zu haben. Die Titelgeschichte sei zu diesem Zeit- punkt gerechtfertigt und vertretbar gewe- sen, wenn auch nicht in dieser Größe, be- tonte er mehrfach. Aussagen Leyendeckers zu seiner Quelle bis In den Jahren 1993 bis 2018 sprach Hans Leyendecker mehrfach öffentlich über sei- ne Quelle – und zwar stets über eine Quel- le. Der Buchautor Butz Peters berichtet, dass Leyendecker ihm in einem persönli- chen Gespräch gesagt habe, sein größter Fehler sei es gewesen, dass er nur eine Quelle gehabt habe. Die Art der Kontakt- aufnahme mit diesem Mann (persönlich oder telefonisch), die Häufigkeit der Tref- fen, und die Abläufe in der Produktions- woche in der Redaktion variieren in den Darstellungen Leyendeckers über die Jahr- zehnte. So beantwortete Hans Leyendecker die Frage unterschiedlich, ob er den Mann persönlich getroffen, oder ob es lediglich einen telefonischen Kontakt gegeben habe. Gegenüber am 4. Juli 1993 sagte Leyendecker lediglich: »Wir haben mit einem erfahrenen Beamten gespro- chen, der beim Einsatz dabei war«. Ob es weitere Kontakte zu dem Mann gab, blieb unklar. Gegenüber dem Fernsehsender n-tv sagte Leyendecker am 23. Juli 1993, er habe »in den letzten Tagen« nicht ver- sucht, mit der Quelle in Kontakt zu kommen. Eine ausführlichere Beschreibung gab er im November 1993 Giovanni di Loren- zo und Heribert Prantl, beide damals Re- dakteure der »Süddeutschen Zeitung« (»SZ«). Demnach soll sowohl ein telefo- nischer Kontakt stattgefunden haben (am Dienstag, zwei Tage nach dem Einsatz) als auch ein persönliches Treffen (Don- nerstag). In der »SZ« gab Leyendecker an, Name, Dienstgrad und Schuhgröße der Quelle seien ihm zu diesem Zeitpunkt schon bekannt gewesen. Er sagte, dass der Gesprächsverlauf einem Ressortleiter des »Wort für Wort« bekannt sei. Weiter sagte Leyendecker in der »Süd- deutschen«, er habe die Quelle bei zwei weiteren Begegnungen mit seinen wach- senden Zweifeln an ihren Aussagen kon- frontiert. Der Mann habe sich plötzlich verärgert gezeigt, dass seine Aussage nicht nur als Grundlage weiterer Recherchen verwendet worden sei. Er habe nun große Angst, weitere Aussagen wolle er nicht treffen. »Er bleibt aber«, so Leyendecker, »bei seiner Aussage. Inzwischen mit dem Zusatz, subjektiv habe er das so gesehen.« Alexander von Stahl behauptete 2018, Leyendecker habe ihm gegenüber erklärt, mit der Quelle lediglich telefonischen Kon- takt gehabt zu haben. Bei der Werkstatt »Tunnelblick« des Netzwerk Recherche, einem Verein zur Qualitätssteigerung des Journalismus, im Jahr 2014 wiederum gab er zwei Telefon- kontakte an, der erste ohne Zeitangabe, der zweite am Donnerstag. Von einem persönlichen Treffen war nicht die Rede. Leyendecker berichtete über das erste Ge- spräch: »Der Mann schilderte mir, wo er selbst gestanden hat und die Abläufe. Al- les en détail. Ich fragte ihn: Und was kann man nun damit machen? Ja, da muss man jetzt recherchieren.« Butz Peters, Buchautor, zitierte Leyen- decker mit dem Satz »Ja, ich habe mich von Angesicht zu Angesicht mit ihm ge- troffen«. Der damalige -Chefredakteur Hans Werner Kilz blieb vage und sagte im »Focus« am 2. August 1993, man habe mit dem Mann gesprochen. Auch die redaktionellen Abläufe in der Produktionswoche stellte Leyendecker schon in dieser Phase unterschiedlich dar. In einem Interview mit Ulrich Wickert in den »Tagesthemen« am Samstag, 3. Juli 1993, sprach Leyendecker von einem »Team«, das gebildet worden sei, und be- schreibt dessen Arbeit. »Wir sind mögli- chen Widersprüchen nachgegangen. Wir haben uns um Details gekümmert. Wir sind darauf gestoßen, dass er sehr früh Dinge sagte, die er eigentlich nur dann wissen konnte, wenn er unmittelbar mit dieser Geschichte zu tun hatte.« Aus die- ser Beschreibung könnte man schließen, dass dieses Team mehrere Tage zusam- mengearbeitet hat. In der »Süddeutschen Zeitung« heißt es, »am Freitag entscheidet die - Zentrale in Hamburg endgültig, den Zeu- gen zur Titelgeschichte zu machen«. Auch das insinuiert einen längeren Vorlauf. Gegenüber Netzwerk Recherche sagte Leyendecker allerdings: »Am Freitag habe ich mich dann in Hamburg in der Redak- tion gemeldet und gesagt: Das ist ein di- ckes Ding, wir müssen da was Großes ma- chen«. In Bezug auf die Glaubwürdigkeit des von Leyendecker zitierten Mannes exis- tieren von den Gerichten, die sich mit dem Fall Bad Kleinen und dem Vorwurf der Erschießung Grams’ beschäftigt haben, eindeutige Entscheidungen. Unter an- deren schrieb das Oberlandesgericht Rostock im März 1996, man habe »grund- sätzliche Zweifel«, ob Leyendecker »über- haupt jemals in Kontakt mit dem behaup- teten Informanten aus dem Kreis der GSG-9-Beamten gestanden hat. Der Zeu- ge will überprüft haben, ob der Informant tatsächlich am Einsatz in Bad Kleinen be- teiligt war, ohne in irgendeiner Weise plau- sibel darzustellen, in welcher Weise die angebliche Überprüfung erfolgt ist«. Auch das Landgericht Bonn maß den Aussagen Leyendeckers und seiner Quelle keinen Beweiswert zu. Leyendecker hatte offenbar schon früh selbst Zweifel an der Glaubwürdigkeit sei- ner Quelle. Schon am Sonntag sagte er zu den Kollegen von zu der Frage, ob der Mann bei der Staatsanwalt- II DER SPIEGEL . . Hans Leyendecker beantwortete die Frage unterschiedlich, ob er den Mann persönlich getroffen hat. Anlass der Untersuchung Chefredaktion und Geschäftsführung des haben die Kommission im Sep- tember 2019 beauftragt, die Umstände der Berichterstattung zu dem Polizeieinsatz in Bad Kleinen am Sonntag, dem 27. Juni 1993, zu untersuchen. Bei dem Einsatz, an dem das Bundeskriminalamt (BKA) und die GSG 9 beteiligt waren, kamen der Poli- zist Michael Newrzella und der Terrorist Wolfgang Grams ums Leben. Der - berichtete eine Woche nach dem Vorfall in der Titelgeschichte »Der Todes- schuss – Versagen der Terrorfahnder«, ein »Zeuge« habe gesehen, wie ein Polizist Grams erschossen habe. In der Folge trat der damalige Bundesinnenminister Rudolf Seiters zurück. Generalbundesanwalt Ale- xander von Stahl wurde in den einstweili- gen Ruhestand geschickt, zahlreiche lei- tende Beamte wurden versetzt. Anlass für die jetzige Untersuchung der Berichterstattung ist ein Fax Alexander von Stahls an den im Dezember 2018. Stahl schrieb: »Mich interessiert noch heute: Hat es den Zeugen gegeben, oder hat Leyendecker ihn erfunden?« Die Angaben des sogenannten Zeugen hatte der damalige Redakteur im Düsseldorfer Büro Hans Leyendecker recherchiert. Der Einsatz vom . Juni und die Folgen Bei einem Antiterroreinsatz von BKA und GSG 9 in Bad Kleinen wurden am Sonn- tag, dem 27. Juni 1993, der GSG-9-Beamte Michael Newrzella getötet und ein weite- rer GSG-9-Beamter und eine Bahnange- stellte verletzt. Der RAF-Terrorist Wolf- gang Grams tötete sich, bereits schwer ver- letzt auf den Gleisen liegend, mit einem Kopfschuss. Die Terroristin Birgit Hoge- feld wurde verhaftet, ein V-Mann, Klaus Steinmetz, enttarnt. Dies ist der von meh- reren Gerichten festgestellte Ablauf. In den ersten Wochen nach dem Einsatz kur- sierten unterschiedliche Thesen über den Hergang. Unter anderem – und das war in erster Linie auf die Berichterstattung des und des TV-Magazins »Mo- nitor« zurückzuführen –, Wolfgang Grams sei, wehrlos auf den Gleisen liegend, von einem Beamten der GSG 9 erschossen worden. Nach dem missglückten Einsatz und der miserablen Informationspolitik gegen- über Öffentlichkeit und Parlament trat der damalige Innenminister Seiters zurück. Generalbundesanwalt Stahl wurde in den einstweiligen Ruhestand, zahlreiche für den Einsatz verantwortliche Beamte in andere Abteilungen versetzt. Gegen zwei GSG-9-Beamte wurde wegen vorsätzli- cher Tötung ermittelt; die Verfahren wur- den eingestellt. Die Quelle des SPIEGEL Der präsentierte eine Woche nach dem Vorfall in seiner Titelgeschichte »Der Todesschuss – Versagen der Terror- fahnder« ( Nr. 27 vom 5. Juli I In eigener Sache Der Todesschuss Abschlussbericht der Aufklärungskommission zur Titelgeschichte über den Antiterroreinsatz in Bad Kleinen am 27. Juni 1993, Heft 27/1993 Liebe Leserin, lieber Leser, im Dezember 2018 meldete sich Ex- Generalbundesanwalt Alexander von Stahl beim und verlangte die Aufarbeitung einer Titelgeschich- te, die 25 Jahre zuvor erschienen war. Am 27. Juni 1993 waren bei einem pannenreichen Antiterroreinsatz auf dem Bahnhof von Bad Kleinen der Polizist Michael Newrzella und der Terrorist Wolfgang Grams ums Leben gekommen. Der berichtete, ein »Zeuge« habe gesehen, wie ein Polizist Grams erschoss. In der Folge trat der damalige Bundesinnenminis- ter Rudolf Seiters zurück, General- bundesanwalt Alexander von Stahl wurde in den einstweiligen Ruhe- stand geschickt, gegen zwei GSG-9- Beamte wurde wegen vorsätzlicher Tötung ermittelt. Schon kurz nach Veröffentlichung kamen Zweifel an der Glaubwürdigkeit der - Quelle auf, die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft ergaben, dass sich Grams selbst erschossen hatte. Warum der der Quelle trotzdem vertraut hatte, darüber wur- de in den Jahren nach dem Einsatz von Bad Kleinen immer wieder kon- trovers diskutiert – wirklich aufge- arbeitet wurde der Sachverhalt aller- dings nie. Eine vom beauf- tragte Kommission hat das Schreiben Alexander von Stahls nun zum An- lass genommen, die Entstehung der damaligen Titelgeschichte – soweit heute noch möglich – zu untersuchen und zu dokumentieren. Ihr Fazit: Der hat mit der Berichterstat- tung auf Basis einer mangelhaft ge- prüften und falschen Aussage einen journalistischen Fehler begangen. Wir bedauern diesen Fehler und machen die Untersuchung auf den folgenden Seiten transparent. Thomas Hass, Geschäftsführer; Steffen Klusmann, Chefredakteur SPIEGEL-Cover vom 5. Juli 1993

1993) einen Mann, der gesehen haben D erTod schu · 2020. 10. 29. · 1993) einen Mann, der gesehen haben wollte, dass Grams, auf den Gleisen lie - gend, von einem Beamten erschossen

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Page 1: 1993) einen Mann, der gesehen haben D erTod schu · 2020. 10. 29. · 1993) einen Mann, der gesehen haben wollte, dass Grams, auf den Gleisen lie - gend, von einem Beamten erschossen

1993) einen Mann, der gesehen habenwollte, dass Grams, auf den Gleisen lie-gend, von einem Beamten erschossen wur-de. Die Aussage hatte Hans Leyendeckerrecherchiert, damals Redakteur im BüroDüsseldorf. Der Mann wurde anonym zitiert und als »Antiterrorspezialist« be-zeichnet, der am Einsatz beteiligt war. Daszentrale Zitat lautete: »Die Tötung desHerrn Grams gleicht einer Exekution«. Be-reits kurz nach Erscheinen des Textes wur-den in der SPIEGEL-Redaktion Zweifel ander Glaubwürdigkeit der Quelle laut, dasich zentrale Aussagen als falsch heraus-stellten, beziehungsweise schon bei Er-scheinen des Textes widerlegt waren. Ste-fan Aust, damals Leiter von SPIEGEL TVzitiert sich selbst mit dem Satz von damals:»Das glaube ich nicht.« Ihn habe vor allemirritiert, dass die BundestagsabgeordneteUlla Jelpke, damals parteiloses Mitgliedder parlamentarischen Gruppe der PDS(heute: Die Linke), einen inhaltlich ähnli-chen Anruf bekommen hatte. Aust habedamals vermutet, dieser Anrufer müsseein Ostdeutscher gewesen sein, denn einGSG-9-Mann wende sich nicht an die PDS.Dass aber derselbe Ostdeutsche auch denSPIEGEL kontaktiert, habe Aust für un-wahrscheinlich gehalten. SPIEGEL TV be-richtete zwar über den Fall, aber deutlichzurückhaltender als der SPIEGEL.

Die ermittelnde StaatsanwaltschaftSchwerin sah damals keine Möglichkeit,die Identität der Quelle festzustellen, dadiese sich trotz Aufforderung durch Ley-endecker der Staatsanwaltschaft nicht of-fenbaren wollte. Leyendecker gab dieIdentität seiner Quelle auch gegenüberKollegen und Vorgesetzen nicht preis undberief sich immer auf den Quellenschutz.Er räumte allerdings früh ein, dass dieQuelle nicht die Wahrheit gesagt habenkonnte, und entschuldigte sich in öffent -lichen Auftritten für die falsche Berichter-stattung. Er bestand aber stets darauf, dieIdentität der Quelle verifiziert und derenGlaubwürdigkeit festgestellt zu haben.Die Titelgeschichte sei zu diesem Zeit-punkt gerechtfertigt und vertretbar gewe-sen, wenn auch nicht in dieser Größe, be-tonte er mehrfach.

Aussagen Leyendeckers zuseiner Quelle 1993 bis 2018

In den Jahren 1993 bis 2018 sprach HansLeyendecker mehrfach öffentlich über sei-ne Quelle – und zwar stets über eine Quel-le. Der Buchautor Butz Peters berichtet,dass Leyendecker ihm in einem persönli-chen Gespräch gesagt habe, sein größterFehler sei es gewesen, dass er nur eineQuelle gehabt habe. Die Art der Kontakt-aufnahme mit diesem Mann (persönlichoder telefonisch), die Häufigkeit der Tref-

fen, und die Abläufe in der Produktions-woche in der Redaktion variieren in denDarstellungen Leyendeckers über die Jahr-zehnte.

So beantwortete Hans Leyendecker dieFrage unterschiedlich, ob er den Mannpersönlich getroffen, oder ob es lediglicheinen telefonischen Kontakt gegebenhabe.

Gegenüber SPIEGEL TV am 4. Juli 1993sagte Leyendecker lediglich: »Wir habenmit einem erfahrenen Beamten gespro-chen, der beim Einsatz dabei war«. Ob esweitere Kontakte zu dem Mann gab, bliebunklar.

Gegenüber dem Fernsehsender n-tvsagte Leyendecker am 23. Juli 1993, erhabe »in den letzten Tagen« nicht ver-sucht, mit der Quelle in Kontakt zu kommen.

Eine ausführlichere Beschreibung gaber im November 1993 Giovanni di Loren-zo und Heribert Prantl, beide damals Re-dakteure der »Süddeutschen Zeitung«(»SZ«). Demnach soll sowohl ein telefo-nischer Kontakt stattgefunden haben (amDienstag, zwei Tage nach dem Einsatz)als auch ein persönliches Treffen (Don-nerstag). In der »SZ« gab Leyendecker an,Name, Dienstgrad und Schuhgröße derQuelle seien ihm zu diesem Zeitpunktschon bekannt gewesen. Er sagte, dass derGesprächsverlauf einem Ressortleiter desSPIEGEL »Wort für Wort« bekannt sei.Weiter sagte Leyendecker in der »Süd-deutschen«, er habe die Quelle bei zweiweiteren Begegnungen mit seinen wach-senden Zweifeln an ihren Aussagen kon-frontiert. Der Mann habe sich plötzlichverärgert gezeigt, dass seine Aussage nichtnur als Grundlage weiterer Recherchenverwendet worden sei. Er habe nun großeAngst, weitere Aussagen wolle er nichttreffen. »Er bleibt aber«, so Leyendecker,»bei seiner Aussage. Inzwischen mit demZusatz, subjektiv habe er das so gesehen.«

Alexander von Stahl behauptete 2018,Leyendecker habe ihm gegenüber erklärt,mit der Quelle lediglich telefonischen Kon-takt gehabt zu haben.

Bei der Werkstatt »Tunnelblick« desNetzwerk Recherche, einem Verein zurQualitätssteigerung des Journalismus, imJahr 2014 wiederum gab er zwei Telefon-kontakte an, der erste ohne Zeitangabe,der zweite am Donnerstag. Von einempersönlichen Treffen war nicht die Rede.

Leyendecker berichtete über das erste Ge-spräch: »Der Mann schilderte mir, wo erselbst gestanden hat und die Abläufe. Al-les en détail. Ich fragte ihn: Und was kannman nun damit machen? Ja, da muss manjetzt recherchieren.«

Butz Peters, Buchautor, zitierte Leyen-decker mit dem Satz »Ja, ich habe michvon Angesicht zu Angesicht mit ihm ge-troffen«.

Der damalige SPIEGEL-ChefredakteurHans Werner Kilz blieb vage und sagteim »Focus« am 2. August 1993, man habemit dem Mann gesprochen.

Auch die redaktionellen Abläufe in derProduktionswoche stellte Leyendeckerschon in dieser Phase unterschiedlich dar.In einem Interview mit Ulrich Wickert inden »Tagesthemen« am Samstag, 3. Juli1993, sprach Leyendecker von einem»Team«, das gebildet worden sei, und be-schreibt dessen Arbeit. »Wir sind mögli-chen Widersprüchen nachgegangen. Wirhaben uns um Details gekümmert. Wirsind darauf gestoßen, dass er sehr frühDinge sagte, die er eigentlich nur dannwissen konnte, wenn er unmittelbar mitdieser Geschichte zu tun hatte.« Aus die-ser Beschreibung könnte man schließen,dass dieses Team mehrere Tage zusam-mengearbeitet hat.

In der »Süddeutschen Zeitung« heißtes, »am Freitag entscheidet die SPIEGEL-Zentrale in Hamburg endgültig, den Zeu-gen zur Titelgeschichte zu machen«. Auchdas insinuiert einen längeren Vorlauf.

Gegenüber Netzwerk Recherche sagteLeyendecker allerdings: »Am Freitag habeich mich dann in Hamburg in der Redak-tion gemeldet und gesagt: Das ist ein di-ckes Ding, wir müssen da was Großes ma-chen«.

In Bezug auf die Glaubwürdigkeit desvon Leyendecker zitierten Mannes exis-tieren von den Gerichten, die sich mit demFall Bad Kleinen und dem Vorwurf derErschießung Grams’ beschäftigt haben,eindeutige Entscheidungen. Unter an -deren schrieb das Oberlandesgericht Rostock im März 1996, man habe »grund-sätzliche Zweifel«, ob Leyendecker »über-haupt jemals in Kontakt mit dem behaup-teten Informanten aus dem Kreis derGSG-9-Beamten gestanden hat. Der Zeu-ge will überprüft haben, ob der Informanttatsächlich am Einsatz in Bad Kleinen be-teiligt war, ohne in irgendeiner Weise plau-sibel darzustellen, in welcher Weise dieangebliche Überprüfung erfolgt ist«. Auchdas Landgericht Bonn maß den AussagenLeyendeckers und seiner Quelle keinenBeweiswert zu.

Leyendecker hatte offenbar schon frühselbst Zweifel an der Glaubwürdigkeit sei-ner Quelle. Schon am Sonntag sagte er zuden Kollegen von SPIEGEL TV zu der Frage, ob der Mann bei der Staatsanwalt-

IIDER SPIEGEL 29. 10. 2020

Hans Leyendecker beantwortete die Frageunterschiedlich, ob

er den Mann persönlichgetroffen hat.

Anlass der UntersuchungChefredaktion und Geschäftsführung desSPIEGEL haben die Kommission im Sep-tember 2019 beauftragt, die Umstände derBerichterstattung zu dem Polizeieinsatz inBad Kleinen am Sonntag, dem 27. Juni1993, zu untersuchen. Bei dem Einsatz, andem das Bundeskriminalamt (BKA) unddie GSG 9 beteiligt waren, kamen der Poli-zist Michael Newrzella und der TerroristWolfgang Grams ums Leben. Der SPIE-GEL berichtete eine Woche nach dem Vorfall in der Titelgeschichte »Der Todes-schuss – Versagen der Terrorfahnder«, ein»Zeuge« habe gesehen, wie ein PolizistGrams erschossen habe. In der Folge tratder damalige Bundesinnenminister RudolfSeiters zurück. Generalbundesanwalt Ale-xander von Stahl wurde in den einstweili-gen Ruhestand geschickt, zahlreiche lei-tende Beamte wurden versetzt.

Anlass für die jetzige Untersuchung derBerichterstattung ist ein Fax Alexandervon Stahls an den SPIEGEL im Dezember

2018. Stahl schrieb: »Mich interessiertnoch heute: Hat es den Zeugen gegeben,oder hat Leyendecker ihn erfunden?« DieAngaben des sogenannten Zeugen hatteder damalige Redakteur im DüsseldorferBüro Hans Leyendecker recherchiert.

Der Einsatz vom 27. Juni1993 und die Folgen

Bei einem Antiterroreinsatz von BKA undGSG 9 in Bad Kleinen wurden am Sonn-tag, dem 27. Juni 1993, der GSG-9-BeamteMichael Newrzella getötet und ein weite-rer GSG-9-Beamter und eine Bahnange-stellte verletzt. Der RAF-Terrorist Wolf-gang Grams tötete sich, bereits schwer ver-letzt auf den Gleisen liegend, mit einemKopfschuss. Die Terroristin Birgit Hoge-feld wurde verhaftet, ein V-Mann, KlausSteinmetz, enttarnt. Dies ist der von meh-reren Gerichten festgestellte Ablauf. Inden ersten Wochen nach dem Einsatz kur-sierten unterschiedliche Thesen über den

Hergang. Unter anderem – und das warin erster Linie auf die Berichterstattungdes SPIEGEL und des TV-Magazins »Mo-nitor« zurückzuführen –, Wolfgang Gramssei, wehrlos auf den Gleisen liegend, voneinem Beamten der GSG 9 erschossenworden.

Nach dem missglückten Einsatz undder miserablen Informationspolitik gegen-über Öffentlichkeit und Parlament trat derdamalige Innenminister Seiters zurück.Generalbundesanwalt Stahl wurde in deneinstweiligen Ruhestand, zahlreiche fürden Einsatz verantwortliche Beamte inandere Abteilungen versetzt. Gegen zweiGSG-9-Beamte wurde wegen vorsätzli-cher Tötung ermittelt; die Verfahren wur-den eingestellt.

Die Quelle des SPIEGELDer SPIEGEL präsentierte eine Wochenach dem Vorfall in seiner Titelgeschichte»Der Todesschuss – Versagen der Terror-fahnder« (SPIEGEL Nr. 27 vom 5. Juli

I

In eigener Sache

Der TodesschussAbschlussbericht der Aufklärungskommission zur Titelgeschichte

über den Antiterroreinsatz in Bad Kleinen am 27. Juni 1993, Heft 27 / 1993

Liebe Leserin, lieber Leser,

im Dezember 2018 meldete sich Ex-Generalbundesanwalt Alexander vonStahl beim SPIEGEL und verlangtedie Aufarbeitung einer Titelgeschich-te, die 25 Jahre zuvor erschienen war.Am 27. Juni 1993 waren bei einempannenreichen Antiterroreinsatz aufdem Bahnhof von Bad Kleinen derPolizist Michael Newrzella und derTerrorist Wolfgang Grams ums Lebengekommen. Der SPIEGEL berichtete,ein »Zeuge« habe gesehen, wie einPolizist Grams erschoss. In der Folgetrat der damalige Bundesinnenminis-ter Rudolf Seiters zurück, General-bundesanwalt Alexander von Stahlwurde in den einstweiligen Ruhe-stand geschickt, gegen zwei GSG-9-Beamte wurde wegen vorsätzlicherTötung ermittelt. Schon kurz nachVeröffentlichung kamen Zweifel ander Glaubwürdigkeit der SPIEGEL-

Quelle auf, die Ermittlungen derStaatsanwaltschaft ergaben, dass sichGrams selbst erschossen hatte.

Warum der SPIEGEL der Quelletrotzdem vertraut hatte, darüber wur-de in den Jahren nach dem Einsatzvon Bad Kleinen immer wieder kon-trovers diskutiert – wirklich aufge -arbeitet wurde der Sachverhalt aller-dings nie. Eine vom SPIEGEL beauf-tragte Kommission hat das SchreibenAlexander von Stahls nun zum An-lass genommen, die Entstehung derdamaligen Titelgeschichte – soweitheute noch möglich – zu untersuchenund zu dokumentieren. Ihr Fazit: DerSPIEGEL hat mit der Berichterstat-tung auf Basis einer mangelhaft ge-prüften und falschen Aussage einenjournalistischen Fehler begangen. Wirbedauern diesen Fehler und machendie Untersuchung auf den folgendenSeiten transparent.Thomas Hass, Geschäftsführer; Steffen Klusmann, Chefredakteur

SPIEGEL-Cover vom 5. Juli 1993

Page 2: 1993) einen Mann, der gesehen haben D erTod schu · 2020. 10. 29. · 1993) einen Mann, der gesehen haben wollte, dass Grams, auf den Gleisen lie - gend, von einem Beamten erschossen

wie nach Lehrbuch geschossen hätten«,so Leyendecker in der »Zeit«.

Er habe in der Woche danach noch ein-mal mit der Quelle gesprochen. Da habedie Quelle ihn »am Telefon beschimpft«.Er habe später nicht mehr versucht, mitder Quelle zu reden. Er habe »begriffen,dass der mit mir nichts mehr zu tun habenwolle«.

Folgt man Leyendeckers letzter Ver -sion, so hat er sich dienstags mit der Quel-le und dem Mittelsmann getroffen unddonnerstags mit ihr telefoniert. WeitereTreffen mit der Quelle fanden demnachnicht statt, nur noch ein Telefonat in derWoche darauf. Am Donnerstag hat nachdieser Version auch Hans Werner Kilz mitder Quelle gesprochen. (Hans WernerKilz bestätigt das, siehe unten). Am Don-nerstagabend erreichte Leyendecker au-ßerdem der Anruf des Anonymus.

Das TranskriptDas Transkript besteht aus 63 Seiten Ab-schrift eines Telefongesprächs, das HansLeyendecker mit einem anonymen Anru-fer geführt hat. An der Echtheit diesesTranskripts und des Gesprächs hat dieKommission keine Zweifel; sie ist auch vonniemandem bestritten worden. Auch nichtvon Leyendecker, dem die Kommissiondas Transkript auf dessen Bitte Mitte Februar 2020 zur Verfügung gestellt hat,da er kein eigenes Exemplar mehr besaß.Das Band haben neben Leyendecker min-destens zwei Redakteure gehört: GeorgBönisch nach eigener Aussage zusammenmit Leyendecker im Düsseldorfer Büround Bruno Schrep in Auszügen, die ihmLeyendecker am Telefon vorgespielt habe.Gelesen hat es nach eigenem Bekundenin der Woche nach dem Erscheinen der Ti-telgeschichte Georg Mascolo, damals stell-vertretender Leiter des Berliner SPIEGEL-Büros. Mascolo war in der Folgezeit in dieRecherchen über Bad Kleinen einbezogen.

Wann dieses transkribierte Gesprächstattfand, lässt sich aus der Abschrift nichteindeutig erkennen. Der handschriftlicheHinweis auf dem Deckblatt »1.7.93 gegen19 Uhr« könnte ein Hinweis auf Tag undUhrzeit des Telefonats sein. An einenwichtigen, langen Anruf gegen 19 Uhr beiLeyendecker erinnert sich die SekretärinDoris Kabierschke, allerdings nicht an denWochentag. Da das zugrunde liegendeBand wahrscheinlich in Hamburg abge-schrieben worden ist, kann es sich auchum einen Hinweis des Stenografen auf dieFertigstellung handeln. Gegen eine Ent-stehung spät in der Woche, wie Leyen -decker sagt, sprechen einige Gesprächsin-halte. Der anonyme Anrufer stellt Behaup-tungen auf, die sich am Ende der Wocheschon als falsch erwiesen hatten, im Tran-skript aber unwidersprochen und ohne

Nachfrage bleiben. Insbesondere der Hin-weis des Anonymus, er habe gesehen,dass Birgit Hogefeld vor ihrer Verhaftunggeschossen habe. Zum einen konnte derAnrufer von ein und demselben Standortnicht die Erschießung von WolfgangGrams auf dem Gleisbett am Bahnsteigund die Verhaftung Hogefelds im Tunnelunter den Gleisen gesehen haben. Zumanderen hatte die Bundesanwaltschaft amDienstag, dem 29. Juni 1993, bekannt -gegeben, dass Hogefeld nicht geschossenhatte; eine Nachricht, die am Mittwochvon den Printmedien verbreitet wurde.Beides hätte bei einem Telefonat, das amDonnerstag geführt wurde, zu Nachfragenführen müssen.

Ein anderer Aspekt könnte wiederumfür den Donnerstag als Gesprächstag spre-chen. Leyendecker fragt: »Ist es so, wiegestern bei der ARD berichtet wurde? Dagibt es ja wohl einen Obduktionsbericht«,wonach Schmauchspuren vorhanden sei-en. Diesen Bericht der Obduktion, die amMontag stattgefunden hatte, erhielt dieStaatsanwaltschaft nach eigener Angabeam Mittwoch. Die Presse berichtete amFreitag darüber unter Bezug auf eine Mit-teilung der Staatsanwaltschaft Schwerinvom Donnerstag. Ob sich Leyendeckerbei seiner Bemerkung auf die Ergebnisbe-richterstattung über die Obduktion bezo-gen hat oder auf eine vorherige Verdachts-berichterstattung, ließ sich nicht ermitteln.

Vergleicht man das Transkript mit denZitaten in der SPIEGEL-Titelgeschichteund der folgenden Berichterstattung, sofällt auf, dass fast alle Formulierungenübereinstimmen. Dass LeyendeckersQuelle und der Anonymus, laut Leyende-cker zwei Personen, an so vielen Stellen»fast wortwörtlich« dasselbe gesagt hätten,ist schwer erklärbar. Eine zufällige Über-einstimmung ist nicht vorstellbar. Zudemtaucht eine Wortschöpfung des Anonymusin der Titelgeschichte auf: Die »Grenz-schutzsicherungsgruppe Bonn«, kein Ver-sprecher, der Anrufer verwendet den Na-men viermal in voller Länge. Eine solcheEinheit existierte in Bonn nicht, sagte derehemalige Einsatzleiter des Bundeskrimi-nalamts Rainer Hofmeyer, nur eine Grenz-schutzabteilung, die für den Schutz vonStaatsbesuchen zuständig gewesen sei.Ein Vergleich der Aussagen der angebli-chen Quelle Leyendeckers mit denen desAnonymus ist nicht möglich: Von dem Ge-

spräch mit der Quelle hat Leyendeckernach eigener Aussage nur in einer kurzenPause auf der Toilette Notizen angefertigt.Er habe das Gespräch erst am Donners-tagnachmittag aus der Erinnerung zu rekonstruieren versucht. Später habe er»alles geschreddert, was Bad Kleinen be-trifft«.

Die Version Leyendeckers vom zweitenMann, wie er sie in der »Zeit« und im Mai2020 gegenüber der Kommission darge-legt hat, wird lediglich von Hans WernerKilz gestützt. Kilz schrieb in einer E-Mailvom 18. Dezember 2019 an die Kommis-sion: »Es gab mehrere Quellen, aus denenwir schöpfen konnten. Auch ich habe inder fraglichen Woche mit Informanten ge-sprochen, nicht nur mit dem von HansLeyendecker, weil ich das vor der Ent-scheidung, eine Titelgeschichte zu ma-chen, für meine Pflicht hielt«.

Und weiter in einer E-Mail vom 5. Ja-nuar 2020: »Den Tag genau, wann sichLeyendecker gemeldet hat, weiß ich nichtmehr. Wir haben in jener Woche täglichmehrfach telefoniert.« … »Wenn wir un-mittelbar miteinander recherchiert undgeschrieben haben, haben wir unsereQuellen gegenseitig und einvernehmlichoffengelegt. Wenn aber einer von uns eineQuelle für sich behalten wollte (dafür gibtes ja viele Gründe), dann haben wir dasebenfalls respektiert. Er hat mir im Laufeder Woche von seinem Informanten be-richtet.« »Das Band und die Abschrift ken-ne ich nicht. Kann sein, dass ich damalsAuszüge gelesen habe. Weiß ich nichtmehr.« Als Chefredakteur habe Kilz sich»einen Eindruck von der Glaubwürdigkeitdes Zeugen verschaffen« wollen, »aberauch darüber, ob er uns seine Aussage ineiner eidesstattlichen Versicherung bestä-tigen könne und wir sie gegebenenfallsvor Gericht verwenden könnten.« … »DerZeuge, mit dem ich dann am Telefon ge-sprochen habe, wollte aus persönlichenGründen dafür öffentlich nicht geradeste-hen.« … »Ja, von einer zweiten Quellewusste ich. Aber wann und wie und was– wie soll ich das nach so vielen Jahrennoch wissen?«

Alle weiteren Personen, mit denen dieKommission sprach, ließen Zweifel an die-ser Darstellung aufkommen und gaben ei-nen anderen Ablauf wieder. Die Erinne-rungen der Befragten waren allerdings un-terschiedlich ausführlich. Das war erwart-bar nach 26 Jahren. Die Aussagekraft vonZeugenaussagen – insbesondere nach solanger Zeit – ist bekanntermaßen oft ge-ring.

Georg Bönisch, 1993 Redakteur im Düs-seldorfer Büro des SPIEGEL und Kollegevon Hans Leyendecker, widersprach demvon Leyendecker dargestellten Ablauf ve-hement. Die beiden Redakteure haben in

IV

In eigener Sache

schaft aussagen wird: »Man wird sehen,ob der Druck auf diesen Beamten mögli-cherweise so groß ist, dass er nichts sagt.«Zu n-tv am 23. Juli 1993 sagt Leyendecker,er könne zwar keinen Grund erkennen,warum der Informant gelogen haben soll-te, aber auch: »Ich bin mir nicht sicher, obseine Aussage so stimmt, das bin ich über-haupt nicht«. In den »Tagesthemen« am3. Juli 1993 hatte er noch gesagt: »Dies istdoch eine sehr starke Vermutung, dass die-ser Zeuge die Wahrheit sagt«.

Die Arbeit der KommissionDie Kommission hat zu Beginn ihrer Ar-beit am 7. Oktober 2019 Hans Leyende-cker von ihrem Auftrag informiert und umein Gespräch gebeten. Leyendecker batmit Hinweis auf seinen Gesundheits -zustand, dies auf einen späteren Zeitpunktzu verschieben. Das hat die Kommissionselbstverständlich akzeptiert.

Die Kommission machte sich ein Bildvon den öffentlich zugänglichen Informa-tionen zu den Abläufen in Bad Kleinenund den bis dahin bekannten Einlassun-gen Leyendeckers über seine Quelle. Wei-ter informierte sich die Kommission überdie Vorarbeiten des seit 2004 für Terro-rismus zuständigen Dokumentars BertoltHunger, der schon 2013 zu dem Fall re-cherchiert hatte (wegen des 20. Jahres-tags). Im August 2015 stieß der RedakteurGunther Latsch dazu. Im November 2015schickte der frühere Ressortleiter D II, UlyFoerster, an den damaligen Leiter der Do-kumentation, Hauke Janssen, das Tran-skript eines Telefongesprächs zwischenLeyendecker und einem anonymen Anru-fer. Dieses enthält den entscheidendenSatz aus der SPIEGEL-Titelgeschichte:»Die Tötung des Herrn Grams gleicht ei-ner Exekution.« Foerster hatte es nach ei-gener Aussage beim »Durchkämmen alterAktenbestände« gefunden.

Dokumentationschef Janssen reichtedas Transkript an den zuständigen Doku-mentar Hunger weiter. Hunger und Latschgingen aufgrund des Transkripts der Fragenach, ob der anonyme Anrufer die QuelleLeyendeckers gewesen war. Sie entwickel-ten eine Liste mit 43 Fragen an Leyende-cker, die sich auf die Quelle Leyendeckersund die Abläufe in der Redaktion bezo-gen. Latsch wurde mit der Fragenlistebeim damaligen Chefredakteur KlausBrinkbäumer vorstellig. Die Chefredak -tion entschied sich aber gegen eine aktu-elle Geschichte; Hunger und Latsch hättennur etwas vorbereiten sollen für den Fall,dass zum 25. Jahrestag 2018 ein anderesMedium berichten würde. Die Unterlagenwanderten zurück ins Archiv. Klaus Brink-bäumer hat sich trotz zweimaliger An -fragen der Kommission dazu nicht ge -äußert.

Während ihrer Ermittlungen sprach dieKommission mit dem Einsatzleiter desBKA in Bad Kleinen, mit Verantwortli-chen der juristischen Aufarbeitung, mitexternen Journalisten. Weiterhin mit Mit-arbeiterinnen und Mitarbeitern des SPIE-GEL aus dem Jahr 1993. Insgesamt kontak -tierte die Kommission mehr als 40 Perso-nen – per Telefon, E-Mail oder persönlich.

Aussagen Leyendeckers ab 2018

Leyendecker sagte im Jahr 2018 beiläufigin einem Interview mit dem NDR-Maga-zin »Zapp«: »Nicht mal die beiden Bad-Kleinen-Informanten, die es gegeben hat,sind dabei hochgegangen.« Es blieb unklar,ob er damit die Quelle und den Mittels-mann meinte oder die Quelle und eine drit-te Person, die er in den 25 Jahren seit BadKleinen nie erwähnt hatte. Er führte dasnicht aus, und der Interviewer fragte auchnicht nach. Eindeutig war erst eine MailLeyendeckers an die Kommission vom 27.November 2019: Darin schrieb er, es habe»spät in der Woche« nach dem Einsatz inBad Kleinen ein Telefonat mit einem»Anonymus« gegeben. »Dieser Mann aberwar nicht die Quelle.« Den Anonymushabe er bislang verschwiegen, weil er »Ver-kürzungen befürchtet habe, die dem SPIE-GEL schaden könnten«. Die Geschichteim SPIEGEL habe sich »in den wichtigenPassagen auf eine echte Quelle (gestützt),die ich in den Tagen vorher auf Vermitt-lung eines Bekannten getroffen hatte«. Erhabe der damaligen Chefredaktion desSPIEGEL »über die Quelle nichts gesagt«.

In einer E-Mail an die Kommission vom9. Dezember 2019 stellte Leyendeckerden Ablauf so dar: Am Montag habe ereinen ihm »gut bekannten Informanten«gefragt, ob dieser ihm »Kontakt zu einemMitglied des Spezialkommandos verschaf-fen könne«. Der Kontakt sei zustande ge-kommen, sodass Leyendecker »den Infor-manten/die Informantin« getroffen habe.Diese Quelle habe ihm gesagt, »dass wiram Donnerstag noch mal telefonierenwürden«. Er dürfe »aber niemandem inder Redaktion sagen, dass es sie gibt«. Da-ran habe er sich gehalten. Er habe »dieKollegen in Bonn und Düsseldorf nicht in-formiert und nicht frühzeitig mit der Res-sortleitung über den Fall gesprochen«. Es

könnte sein, dass er mit dem Chefredak-teur »Hans Werner Kilz im Laufe der Wo-che kurz über die Recherche gesprochen«habe. Am Donnerstag habe er noch malmit der Quelle gesprochen.

Am Donnerstag habe er »fast zeitgleichmit dem »Monitor«-Beitrag den Anruf ei-nes Anonymus« erhalten. Der habe »fastwortwörtlich das gesagt, was auch dieQuelle gesagt« habe. Den Stimmen nachseien es zwei Personen gewesen. Leyen-decker habe Donnerstagnacht oder Frei-tagmorgen die Ressortleitung informiert.

Nachdem es geheißen habe, »Grams seidoch durch seine eigene Waffe« erschos-sen worden, sei Leyendecker »irritiert«gewesen. »Der Zeuge war für mich zu-nächst nicht mehr greifbar.«

Leyendecker schreibt weiter, er habe»damals nach einer Weile« die Aussagender am Einsatz beteiligten Beamten gele-sen und feststellen müssen, dass sein »In-formant vor den Ermittlern Angaben ge-macht hatte, die seinen ursprünglichenSchilderungen widersprachen«.

Gegenüber dem Magazin »Focus« vom4. Januar 2020 sprach Leyendecker überden anonymen Zeugen. Er sagte dort, derAnrufer sei mit dem Mitschnitt einverstan-den gewesen, eine Aussage, die dem Tran-skript des Mitschnitts mehrfach wider-spricht.

In einem Interview mit der »Zeit« am16. Januar 2020 sagte Leyendecker, erhabe sich auf Vermittlung eines »gut undlange bekannten Informanten« am Diens-tag mit der Quelle getroffen. Auf Nachfra-ge sagte Leyendecker, laut Interview nachlangem Zögern, der Kontaktmann sei beidem Treffen dabei gewesen. Er habe »dieQuelle vorher noch nie gesehen«, habeaber gewusst, mit wem er es zu tun hatte.Von diesem Gespräch sei kein Mitschnittgemacht worden, auch keine Notizen. Erhabe niemanden in der Redaktion infor-miert, einzig Hans Werner Kilz, mit demer häufiger in der Woche telefoniert habe.Kilz habe dann selbst mit der Quelle re-den wollen. Das sei am Donnerstag ge-schehen. Vormittags habe er, Leyendecker,mit der Quelle gesprochen, am Nachmit-tag Kilz. Der habe eine eidesstattliche Ver-sicherung gewollt, die die Quelle nichthabe geben wollen. Am Donnerstag amspäten Nachmittag oder Abend habe derAnonymus angerufen. Teilweise habe er»ungereimtes Zeug« geredet. Und es gebePassagen, »in denen er fast wortgleich dassagte, was mir auch die Quelle gesagt hat-te«. Dieses Gespräch habe er mit dem Ein-verständnis des Anonymus mitgeschnittenund abschreiben lassen.

Dass er in den »Tagesthemen« gegen-über Uli Wickert am Samstag, dem 3. Juli1993, von einem »Team« gesprochenhabe, sei »ebenso wenig korrekt, wie dieBehauptung von GSG-9-Leuten, dass sie

III DER SPIEGEL 29. 10. 2020

Die Version von einer zweiten

Quelle wird von Hans Werner Kilz

gestützt.

Leyendecker habe den Anonymus bislangverschwiegen, weil er Verkürzungen befürchtet habe.

Page 3: 1993) einen Mann, der gesehen haben D erTod schu · 2020. 10. 29. · 1993) einen Mann, der gesehen haben wollte, dass Grams, auf den Gleisen lie - gend, von einem Beamten erschossen

ihn nach dem Erscheinen des Textes nochmal angerufen und gesagt, seine Aussagenseien lediglich als Anstoß zur Recherchegedacht gewesen.

Die Federführung für das Thema und dasFormulieren der Titelgeschichte lag im Res-sort D II und dort bei dem Redakteur UlyFoerster. Foerster sagte der Kommission,er sei am Dienstag oder Mittwoch aus ei-nem wochenlangen Urlaub gekommen,und der Ressortleiter Jochen Bölsche habeihm die bereits laufende Geschichte mehroder weniger kommentarlos übergeben.Er habe Mühe gehabt, sich »noch im Fe -rientran und unter brutalem Zeitdruck«reinzufinden. Er sei informiert worden,dass Leyendecker einen Zeugen habe, derbehaupte, Grams sei hingerichtet worden.Er erinnere sich genau daran, dass er Ley-endecker nach einer Absicherung der Zeu-genaussage gefragt habe, die dieser aberauch ihm gegenüber anonym gehaltenhabe. Leyendecker habe mitgeteilt, derZeuge habe zugesichert, sich in der darauf-folgenden Woche einem Staatsanwalt zuoffenbaren. Foerster sagt, er habe keinenAnlass gesehen, weiter zu forschen undhabe Leyendecker nach vielen Jahren derZusammenarbeit vollständig vertraut. Obam Mittwoch oder Donnerstag bereits dieAbschrift des Transkripts vorgelegen habe,könne er nicht beschwören. Er gehe aberdavon aus, »angesichts des Wirbels, derim Ressort ausgebrochen war«. Er, Foers-ter, habe auch in den folgenden Wochennie etwas über den Zeugen erfahren. Ersei an der Recherche oder der Überprü-fung von Quellen nicht beteiligt gewesenund habe sich darauf verlassen, dass Ley-endecker sich angesichts der Bedeutungdes Falles direkt mit der Chefredaktion ab-gestimmt habe. Wenn er sich recht erinne-re, hätten deshalb Kilz und Leyendeckerbei Augstein auf Sylt antreten müssen.

Felix Kurz war Redakteur im Büro Erfurtund zuständig für Sachsen-Anhalt undThüringen. Aufgrund seiner guten Kontak-te und langjährigen Erfahrungen im Extre-mismus wurde Kurz von der Zentrale inHamburg für die Recherche über KlausSteinmetz, V-Mann des rheinland-pfälzi-schen Verfassungsschutzes, der beim Ein-satz in Bad Kleinen anwesend gewesenwar, herangezogen. Kurz fuhr nach Mainz.Er habe, so erinnert er sich, in dieser Wo-che vielfach mit dem Düsseldorfer Büro,auch mit Leyendecker, telefoniert. Er habeim Laufe der Woche von der Existenz ei-ner Quelle erfahren, die eine »Hinrich-tung« gesehen haben wollte. Leyendeckerhabe gesagt, er kenne diese Quelle, überderen Identität habe er aber nichts berich-tet. Von einer zweiten Quelle oder einemanonymen Anruf sei nie die Rede gewesen.Das Tonband mit dem Mitschnitt eines An-

rufs kenne er nicht, auch das Transkripthabe er nie gesehen.

Im Laufe der Recherchen seien baldZweifel aufgetaucht, ob die Quelle wirk-lich in Bad Kleinen war und das Berichteteauf eigener Anschauung beruhte. DieZweifel habe Leyendecker selbst geäußert.Es sei allen klar gewesen, dass der Manneine Aussage zur angeblichen ErschießungGrams’ gemacht habe, obwohl er dieseentscheidende Situation selbst gar nichtgesehen haben konnte, da er nicht vor Ortbeziehungsweise an einem Platz war, vondem aus er dies habe beobachten können.Deshalb sei man unsicher gewesen, ob die-se Version gestimmt habe. Kurz erinnertesich, dass er mit den Kollegen im Düssel-dorfer Büro zusammengesessen und über-legt habe, wie man die Aussagen der Quel-le verifizieren könne. Leyendecker habeden Zeugen nicht erreichen können. Manhabe die Rücktritte von Bundesinnenmi-nister Rudolf Seiters und Generalbundes-anwalt Alexander von Stahl so gewertet,dass an der Version der Quelle doch etwasdran gewesen sein müsse.

Dorothee Bölke war 1993 Justiziarin inder Rechtsabteilung des SPIEGEL. Sie waram Abend vor Drucklegung dafür zustän-dig, die Titelgeschichte zu Bad Kleinen zubegutachten. Sie habe Leyendecker alsKollegen kennengelernt, der darauf Wertgelegt habe, von Rechtsabteilung und derDokumentation kritisch befragt zu wer-den, und sich deshalb immer früh gemel-det habe. Leyendecker habe immer guteQuellen gehabt.

An diesem Abend aber sei Leyendecker»anders« gewesen. Bölke habe Fragen zudem Text gehabt. Sie habe es nicht fürplausibel gehalten, dass auf dem Bahnhofalles menschenleer gewesen und dann derSchuss gefallen sei. Sie habe Leyendeckerdeshalb unter anderem gefragt: »Wo standder Zeuge denn? Wie weit war er ent-fernt? Von wo aus hat er das gesehen?«Daraufhin sei Leyendecker in einer Weiseschroff geworden, die sie nicht gekannthabe. Er habe gesagt, das solle ihr reichen,darauf müsse sie sich jetzt verlassen. Erhabe ihr zu verstehen gegeben, dass sienicht insistieren solle. Sie frage sich nochheute, ob sie etwas hätte tun müssen.Wäre es ein anderer Autor gewesen, siewäre in die Chefredaktion gegangen. Aberes sei kein Rechtsstreit zu erwarten gewe-

sen. Sie habe ein ungutes Gefühl für denRest des Abends gehabt. Sie sei spät amAbend im Aufzug mit dem ChefredakteurWolfgang Kaden gefahren und habe ge-sagt: »Wenn das mal gut geht.« Kaden seientspannt gewesen und habe geantwortet:»Was soll da schiefgehen?«.

Augstein auf SyltSPIEGEL-Herausgeber Rudolf Augsteinhat drei Wochen nach Erscheinen der Ti-telgeschichte »Der Todesschuss« Leyen -decker auf sein Anwesen auf Sylt bestellt.Die Umstände schilderte die damalige Re-dakteurin im Büro des Herausgebers IrmaNelles so: Augstein habe sie im Büro an-gerufen mit dem Auftrag, Leyendecker zubitten, allein zu ihm nach Sylt zu kommen.Nachdem die Chefredakteure Kaden undKilz von Leyendecker über AugsteinsWunsch unterrichtet worden waren, seiensie darüber ungehalten gewesen und hät-ten darauf bestanden, Leyendecker nachSylt zu begleiten. Augstein habe das nachder Erinnerung von Irma Nelles nach eini-gem Hin und Her widerwillig akzeptiert.

Augstein schrieb in einer internen Haus-mitteilung am 29. Juli 1993 an Leyende-cker: »Sehr geehrter Herr Leyendecker,wie ich Ihnen schon telefonisch habe sa-gen lassen, erwarte ich Sie heute, Don-nerstag, in Archsum auf Sylt.« Und weiter:»Da ich nicht in Hamburg bin und heuteauch nicht dorthin kommen kann, muss ichSie dringend ersuchen, meinem Wunschzu entsprechen.« Und am selben Tag anKaden und Kilz ohne Anrede: »Keine Po-lemik mehr, bitte. Namens der Geschäfts-führung möchte ich Herrn Leyendecker,nachdem er nun schon in Hamburg ist, inSylt sehen. Das Gespräch kann ja nachLage der Dinge nur angenehm verlaufen.Eine konzertierte Aktion, wie sie offenbarstattgefunden hat, muss Folgen haben, dieniemand von uns übersehen kann.«

Was genau bei dem Treffen zwischenAugstein, Kilz und Leyendecker auf Syltbesprochen wurde, ist nicht bekannt. Ley-endecker sagte dazu, er habe Augstein beidem Gespräch auf Sylt »ein paar Dingeüber die Quelle gesagt, aber ihre Identitätnicht preisgegeben«. Der Herausgeberhabe »auch nicht darauf bestanden«.

Nelles erinnerte sich, Augstein habesich in Gesprächen mit ihr verärgert da-rüber gezeigt, dass Leyendecker und dieChefredakteure seinem Wunsch, Leyen-decker allein zu sprechen, nicht nachge-kommen seien. Denn Augstein habe nachihrer Erinnerung Leyendecker allein undvertraulich sprechen wollen, um die Quel-le zu erfahren.

Hans Werner Kilz schrieb zum Treffen aufSylt: Augstein habe »öfter mal zum Ge-spräch nach Sylt gebeten. Manchmal hatte

VIDER SPIEGEL 29. 10. 2020

dieser Zeit nach Angaben Bönischs eng zu-sammengearbeitet, zahlreiche Recherchengemeinsam gemacht und zusammen Bü-cher geschrieben. Bei »heiklen Geschich-ten«, so Bönisch, hätten sie immer zuzweit gearbeitet. »Wir waren zu diesemZeitpunkt noch ziemlich dicke, haben alleszu zweit gemacht.«

Leyendecker habe ihn am Dienstag-abend zu Hause angerufen mit der sinn-gemäßen Aussage: Ich habe hier ein un-glaubliches Ding, du musst sofort ins Bürokommen. Bönisch habe aber Besuch vonseiner Schwester und seinem Schwager ge-habt und sei deshalb erst am nächstenMorgen, gegen seine Gewohnheit sehrfrüh, ins Büro gefahren. Er habe dann ge-meinsam mit Leyendecker das Band desGesprächs mit dem anonymen Anruferdes Vorabends abgehört. »Ich bin mir ab-solut sicher, dass ich am Mittwoch mit ihmzusammen ein Band abgehört habe, übereine Stunde, genau das Band, dessen Tran-skript vorliegt.« Er habe sich dabei Noti-zen gemacht. Auch Leyendecker habe sichNotizen gemacht. Später sei das Bandwohl mit einem IC-Kurier nach Hamburggeschickt worden. Dies sei jedenfalls beiwichtigen Angelegenheiten üblich gewe-sen. Wer es dort entgegengenommenhabe, wisse er nicht, auch nicht, wer dieAbschrift gefertigt habe. Er vermute aberaufgrund des Schriftbildes, es sei die Ste-nografenabteilung gewesen.

In den folgenden Stunden und Tagenhätten er und Leyendecker meist im Kon-ferenzraum des Düsseldorfer Büros zu-sammengearbeitet. »Mittwoch bis Freitagsaßen wir eng beieinander.« Dort hättensie zunächst eine »Aufgabenverteilung«vorgenommen. Er, Bönisch, habe Allge-meines zur RAF und zur GSG 9 zusam-mengetragen. Bönisch hält es für »ausge-schlossen«, dass Leyendecker in diesenTagen einen Informanten getroffen bezie-hungsweise, ohne das Büro zu informie-ren, weitere Telefonate mit anderen Quel-len geführt habe. Er sei immer davon aus-gegangen, dass es für die Titelgeschichtelediglich diese eine Quelle gegeben habe.

Bönisch hat nach eigenen Angaben Ley-endecker nach der Identität der Quelle ge-fragt. Dieser habe gesagt, »Ramses« habeden Informanten »geschickt«. Ramses seider Deckname für einen sehr guten, zu-verlässigen gemeinsamen Informanten ge-wesen, einen mittlerweile verstorbenenRechtsanwalt. Daraufhin habe er keinenZweifel an der Seriosität der Quelle ge-habt.

Am Freitagnachmittag zwischen 15 und16 Uhr habe der diensthabende Chef -redakteur Kilz bei ihm angerufen mit derFrage, ob man die Titelzeile »Die Hinrich-tung« machen könne. Bönisch habe abge-raten. An die Uhrzeit könne er sich genauerinnern, weil er alsbald danach das Büro

verlassen habe, um mit dem Autoreisezugin den Urlaub zu fahren.

Den Ablauf miterlebt hat ein weiterer Kol-lege im Düsseldorfer Büro, Richard Rickel-mann. Rickelmann sagte, er habe damalsein persönlich enges Verhältnis zu Leyen-decker gehabt. Da Leyendeckers Wohnortan seiner Strecke ins Büro gelegen habe,habe er diesen fast täglich morgens mitdem Auto abgeholt und abends wiedernach Hause gebracht. Sie seien häufig mit-tags zusammen essen gegangen. Rickel-mann berichtete folgenden Ablauf des Te-lefonats mit Leyendeckers Quelle: Er habean einem Abend dieser Woche mitbekom-men, er könne sich nicht an den Wochen-tag erinnern, dass Leyendecker »aufge-regt« gesprochen habe. Rickelmann sei inLeyendeckers Büro gegangen, der habemit rotem Kopf telefoniert und ihm gesti-kulierend signalisiert, dass er etwas Beson-deres habe. Das Telefonat habe lange ge-dauert, er sei mehrfach bei Leyendeckerim Zimmer gewesen. Leyendecker habedanach gesagt, dass es sich um einen Ano-nymus handelte.

Als in den folgenden Wochen die Zwei-fel an der Glaubwürdigkeit der Quelle im-mer lauter wurden, sei Leyendecker zuihm gekommen und habe sinngemäß ge-sagt: »Die wollen mich rausschmeißen,bitte verrate mich nicht.« Gemeint habeer die Tatsache, dass die Quelle anonymgewesen sei.

Doris Kabierschke war Sekretärin im Düs-seldorfer Büro. Sie stand im Büro von Ley-endecker, als dieser einen Anruf erhielt.Sie habe sofort gemerkt, dass es »etwasGroßes« war. Leyendecker habe »förmlichSchweißtropfen auf der Stirn« bekommen.Das sei gegen 19 Uhr gewesen. Sie sei wäh-rend des Gesprächs nach Hause gegangen.Am nächsten Tag sei das ein »Riesenthe-ma« gewesen. An welchem Tag der Anrufkam, wisse sie nicht mehr. Auf keinen Fallder Freitag, sonst sei jeder Wochentagmöglich. Sie habe ganz sicher den Ein-druck gehabt, dass Leyendecker den An-rufer nicht kannte. Das Band habe nichtsie abgetippt. Später habe Irma Nelles, Re-dakteurin im Büro des Herausgebers Ru-dolf Augstein, angerufen und gesagt, Ley-endecker, der sich gerade im Urlaub be-funden habe, solle sich »unverzüglich undohne jeden Umweg über Hamburg sofort

nach Sylt begeben«. Der sei aber in Ham-burg vorbeigefahren und dann mit Kilz zu-sammen nach Sylt. Leyendecker sei da-mals fast gefeuert worden.

In Hamburg war Bruno Schrep, damalsRedakteur im Ressort D II, für die Bericht-erstattung über die RAF zuständig. Schrephatte am 27. Juni 1993 sofort mit der Re-cherche begonnen. Schrep erinnert sich andie Abläufe in der Redaktion so: »Am Mitt-woch oder Donnerstag habe ich die Infor-mation bekommen, Leyendecker hat In-formationen, schließ dich mit ihm kurz.«Schrep habe am Mittwoch oder Donners-tag mit Leyendecker telefoniert, dieser seisehr aufgeregt gewesen und habe ihm amTelefon ein Tonband mit dem Gesprächmit dem Informanten vorgespielt. Er habevielleicht eine Viertelstunde davon gehört.Es habe authentisch geklungen. Die Dik -tion des Mannes sei einfach gewesen. Aucher habe einen aufgeregten Eindruck ge-macht.

Schrep sagt, er sei bei der Mordtheseskeptisch gewesen, habe versucht, diesePosition einzubringen. Grundsätzlich ha -be er es aber für möglich gehalten, dassdie Version der Quelle stimmt. Seine Skep-sis habe auch daher gerührt, dass er in die-ser Woche täglich mit dem damaligen Ein-satzleiter des BKA, Rainer Hofmeyer, ge-sprochen habe. Dieser habe ihm zwar kei-ne Informationen, aber Hinweise gegeben.

Nach Erscheinen des Interviews mitLeyendecker in der »Zeit«, in dem dieserdas Gespräch mit einem zweiten Mann,dem »Anonymus«, auf den Donnerstagdatiert, ist sich Schrep nicht mehr sicher,ob er das Band am Mittwoch oder Don-nerstag gehört hat. Es könne auch der Frei-tag gewesen sein.

Rainer Hofmeyer, bestätigt die Anrufe vonBruno Schrep: In den Gesprächen sei esaber nicht um einen aufgesetzten Schussgegangen, sondern eher um Fragen zu dem»dritten Mann«, dem V-Mann Klaus Stein-metz, dessen Existenz am Einsatzort dieSicherheitsbehörden geheim halten woll-ten. Aber gegen Ende der Woche habeSchrep gesagt, man habe ihm die Geschich-te »weggenommen«. Hofmeyer hatte imJahr 1994 persönlichen Kontakt zu Leyen-decker. Er habe sich außerhalb der Behör-de auf dessen Wunsch mit Leyendeckergetroffen. Leyendecker habe damals ge-sagt, »sein Informant habe sich nach derVeröffentlichung bei ihm gemeldet undsich verwundert gezeigt, dass der SPIEGELseine Informationen ohne weitere Prüfungveröffentlicht habe«. Dem Magazin »Fo-cus« sagte Hofmeyer im März 2020, Ley-endecker habe auch ihm gegenüber immernur von einem Informanten gesprochen.Leyendecker habe eingeräumt, auf diesenreingefallen zu sein. Der Informant habe

V

In eigener Sache

Ein SPIEGEL-Redakteurhörte Teile des aufgezeichneten

Gesprächs mit dem Informanten am Telefon.

Die Justiziarin des SPIEGEL hatte Fragen zum Text, die unbeantwortet

blieben.

Page 4: 1993) einen Mann, der gesehen haben D erTod schu · 2020. 10. 29. · 1993) einen Mann, der gesehen haben wollte, dass Grams, auf den Gleisen lie - gend, von einem Beamten erschossen

Nelles hatte die Erinnerung, dass Augsteinsehr verärgert darüber gewesen sei, dassdie Chefredaktion und Leyendecker ihnnicht in die Recherche und Vorbereitungder Titelgeschichte eingebunden hätten.Nelles berichtete, dass Augstein mehrfachgedroht habe, alle rauszuschmeißen. Nel-les berichtete auch, dass es Unstimmigkei-ten um die Sylt-Reise gab. Augstein habeLeyendecker allein sehen wollen. Leyen-decker sagte, dass er davon nichts wisse:»Mir war und ist nicht bekannt, dass ichdamals angeblich allein fliegen sollte. Wa-rum sollte Herr Kilz nicht dabei sein? Dasmacht doch keinen Sinn.«

Georg Bönisch berichtete ebenfalls voneinem Gespräch mit Augstein im Jahr2001, in dem Augstein sagte, wenn er da-mals schon gewusst hätte, was er heutewisse, hätte er die beiden rausgeschmis-sen. Dazu sagte Leyendecker, er habe »er-hebliche Zweifel an der Richtigkeit derDarstellung des angeblichen Dialogs«.

Zur Beschreibung der damaligen Justi-ziarin Dorothee Bölke über ein Gesprächam Abend des Produktionstages mit Ley-endecker sagte dieser, »die damalige Si-tuation sei ihm nicht mehr in Erinnerung«.Dorothee Bölke sagte, Leyendecker sei andiesem Abend entgegen seinem sonstigenVerhalten schroff gewesen und habe Nach-fragen zu Details des Textes nicht beant-worten wollen. Leyendecker sagte, wenndas so gewesen sein sollte, »wäre es aufdie damalige Anspannung zurückzufüh-ren«.

Substanziell Neues sagte Hans Leyen-decker allerdings zu der von ihm als»Quelle« bezeichneten Person, zur Rolledes sogenannten Mittelsmannes und zumVerhältnis zwischen »Quelle« und einem»Anonymus«.

‣ Die Quelle und der Anonymus hätten sich gekannt und in der Wochenach dem Einsatz in Bad Kleinenmehrfach getroffen.‣ Die Zitate aus der Titelgeschichteseien über den Mittelsmann von derQuelle autorisiert worden.

Da die Zitate in der Titelgeschichte fastwörtlich im Transkript mit dem Anony-mus auftauchen, stellte die Kommissiondie Frage, wie das zu erklären sei, da Ley-endecker nach eigenen Angaben bei demGespräch mit der Quelle am Dienstagnicht mitschreiben konnte, es davon alsokeine Aufzeichnungen gibt.

Dafür gab Leyendecker folgende Erklä-rung: Er sei während des Gesprächs mitder Quelle am Dienstag auf die Toilettegegangen, »um mir einige Notizen zu ma-chen«. Am Donnerstag, nachdem dieChefredaktion eine Titelgeschichte erwo-gen habe, habe er versucht, »den Ge-sprächsablauf zu rekonstruieren«. Er habe

sich das Exekutions-Zitat aufgeschriebenund ein paar andere Details. Er sei auf sei-ne Erinnerung angewiesen gewesen. AmDonnerstagabend habe dann der Anony-mus angerufen. Der Anonymus habe nachseiner Erinnerung sinngemäß und »inwichtigen Passagen fast wortwörtlich«dasselbe wie zuvor die Quelle gesagt. Des-halb habe Leyendecker nun über eine Rei-he möglicher Zitate verfügt. Er habe dannden Kontaktmann gefragt, »wie es dennsein könne, dass ein Unbekannter fastwortwörtlich dasselbe« erzähle wie dieQuelle. Darauf habe er »keine konkreteAntwort« bekommen. Erst später habe ererfahren, dass die Quelle in dieser Wochemehrmals mit dem Anonymus zusammengewesen sei. »Er kannte dessen Sicht ge-nau.«

Die Zitate aus der Titelgeschichte seien»nach Aussage des Kontaktmanns mit derQuelle geklärt« worden. Bis auf einenPunkt habe die Quelle, so die Aussage desKontaktmanns, die Zitate nach Erschei-nen der Titelgeschichte nicht bezweifelt.Einzig die in der Berichterstattung er-wähnten »20 Sekunden«, nach denen dertödliche Schuss auf Grams gefallen sei,nannte er falsch.

Folgt man dieser Darstellung, so gab esfünf Personen, die bereits vor Erscheinender Titelgeschichte voneinander wusstenund/oder miteinander Kontakt hatten.

‣ Dienstag trafen sich: Quelle, Mittelsmann, Leyendecker.‣ Donnerstag telefonierten:Quelle/Leyendecker und Quelle/Kilz.‣ Donnerstagabend telefonierten:Anonymus/Leyendecker.‣ Donnerstag oder Freitag hatten Kontakt: Quelle/Mittelsmann zur Autorisierung.

Während der Woche sprachen mehrfachmiteinander: Quelle/Anonymus.

Angesichts dieser Fülle von Personen,die nach Leyendeckers Darstellung in die-se brisante Falschinformation eingebun-den waren, ist es erstaunlich, dass es in27 Jahren kein Leck gegeben hat. Schonein Treffen zu dritt (Leyendecker, Quelle,Mittelsmann), wie Leyendecker es für denDienstag schildert, muss für die Quelle an-gesichts der Brisanz seiner Aussage einenormes Risiko dargestellt haben. Schließ-lich war sein Verhalten nicht nur dienst-

rechtlich, sondern als möglicher Geheim-nisverrat auch strafrechtlich relevant, dader Einsatz in Bad Kleinen nach Aussagedes damaligen BKA-Einsatzleiters als VS-GEHEIM eingestuft war.

BewertungDie Untersuchung der Kommission kamzu spät, um auf alle Fragen klare Antwor-ten zu bringen. Beteiligte sind teils verstor-ben, Erinnerungen verblasst, Unterlagenvernichtet. Dennoch konnten neue Er-kenntnisse gewonnen werden. Der ehema-lige Generalbundesanwalt Alexander vonStahl fragte den SPIEGEL im Dezember2018: »Hat es den Zeugen gegeben, oderhat Leyendecker ihn erfunden?« Das Tran-skript seines Telefonats beweist, dass eseine Quelle gab – zumindest eine anony-me. Dies wird bestätigt durch die Aussa-gen von Kolleginnen und Kollegen, die beidiesem Telefonat teilweise anwesend wa-ren oder anschließend die Aufzeichnungabhörten.

Für Leyendeckers Behauptung, es habeneben der anonymen noch eine weitereQuelle gegeben, konnte die Kommissionbei ihren Recherchen außer der Aussagevon Hans Werner Kilz keinen weiterenAnhaltspunkt finden.

Leyendecker hat nach eigener Aussage»alles geschreddert, was Bad Kleinen be-trifft«, und auch im SPIEGEL ist das Ori-ginalmanuskript des Textes nicht mehrauffindbar. Es wurde wahrscheinlich zu-sammen mit anderen Manuskripten ausder Zeit vor dem Jahr 2000 wie üblichnach jeweils etwa fünf Jahren vernichtet.Daher kann auch nicht nachvollzogenwerden, ob und, wenn ja, welche Einwän-de die Dokumentation möglicherweise er-hoben hatte. Der damals verifizierende Do -kumentar lässt sich aus demselben Grundnicht mehr sicher feststellen. Zwei wahr-scheinlich infrage kommende Dokumenta -re sind mittlerweile verstorben. Die Sucheder Kommission nach Unterlagen im heu-tigen SPIEGEL-Archiv blieb ergebnislos.

Leider hat Leyendecker keine Hinweisegegeben, die es der Kommission ermög-licht hätten, seine Darstellung zu prüfen.Selbst auf die Frage, ob er einen Kontaktzu der damaligen Quelle herstellen könn-te, hat er unter Hinweis auf Quellenschutzeine Antwort verweigert. Alle Anstren-gungen der Kommission, selbst Personenzu finden, die Hinweise auf die Quelle hät-ten geben können, waren erfolglos. Ge-spräche mit Personen, die sich nicht zitie-ren lassen wollten, haben ebenfalls keineHinweise ergeben, die Leyendeckers Dar-stellung bestätigen würden.

Die Kommission musste sich also beider Beurteilung des Sachverhalts weitge-hend auf Plausibilität stützen. Dabei be-schränkte sie sich auf die Prüfung der letz-

VIII

In eigener Sache

ich hinterher das Gefühl, er langweilte sichund suchte Gesellschaft. Natürlich wollteer auch über Bad Kleinen reden, weil esimmer Zuflüsterer gab, die ihm den Teufelan die Wand malten. Was auf Sylt im Ein-zelnen besprochen wurde, weiß ich dochnicht mehr«. Aber der Herausgeber habe»sich mit unseren Informationen zufrie-dengegeben«. Augstein habe nie auf Nen-nung von Quellen insistiert.

Irma Nelles sagte, Augstein sei in derFolgezeit immer wieder auf die Bad-Klei-nen-Geschichte zurückgekommen. Mehr-fach habe er geäußert, er wolle alle »raus-schmeißen«.

Er habe mehrfach gesagt, »so etwaswolle er über den SPIEGEL in der ›FAZ‹nicht lesen«. Nelles weiß nicht mehr, aufwelchen Text sich Augstein bezogen hat.Gemeint sein könnte ein Artikel in der»FAZ« vom 26. Juli 1993. Dort wurde be-schrieben, dass auch innerhalb des SPIE-GEL Zweifel an der Glaubwürdigkeit desZeugen aufgetaucht seien. Augstein, soNelles, hat es »allen dreien (gemeint sindKaden, Kilz und Leyendecker) hochgradigübelgenommen«, dass man ihn in die Re-cherche und Vorbereitung der Titelge-schichte nicht einbezogen hatte. Augsteinhabe gesagt, er wolle nicht, »dass wegenso etwas ein Innenminister zurücktritt«.

Dass Augstein nachhaltig verärgert war,bestätigt eine Aussage, die er im Jahr vorseinem Tod gegenüber dem RedakteurGeorg Bönisch getroffen haben soll. An-lässlich eines Textes im SPIEGEL überPapst Pius XII. im Jahr 2001 habe Aug-stein ihn angerufen, sagte Bönisch. Diessei ungewöhnlich gewesen und das einzigeMal, dass er mit Augstein telefoniert habe.Augstein habe die Geschichte ursprüng-lich selbst schreiben wollen, das Themadann aber abgegeben. Im Lauf dieses kur-zen Gesprächs sei es auch um Bad Kleinenund Leyendeckers Quelle gegangen. Aug-stein sagte laut Bönisch: »Wenn ich da-mals schon gewusst hätte, was ich heuteweiß, dann hätte ich die beiden rausge-schmissen«.

Konfrontation Leyendeckers

Die Kommission hat Hans Leyendeckermit ihren Recherchen konfrontiert. Insbe-sondere wurden ihm die zentralen Punkteder Aussagen der Beteiligten innerhalbund außerhalb des SPIEGEL vorgelegt.

Alle Fragen nach der Identität der Quel-le, der Identität des Mittelsmanns oderdes sogenannten Anonymus beantwor-tete Hans Leyendecker nicht und beriefsich dabei auf den Quellenschutz. AuchFragen nach weiteren Kontakten mit derQuelle oder dem Mittelsmann, die Auf-schluss über deren Existenz hätten geben

können, wurden mit dem Hinweis aufQuellenschutz nicht beantwortet.

Die Diskrepanz in den Beschreibungendes Ablaufs der Produktionswoche vorErscheinen des Titels »Der Todesschuss«zwischen Leyendecker und den von derKommission befragten Personen erklärteLeyendecker weitestgehend damit, dassdiese Personen irren beziehungsweise ihreErinnerung falsch sei.

Georg Bönisch, damals wie Leyende-cker Redakteur im Düsseldorfer Büro, er-innerte sich an einen Anruf Leyendeckersam Dienstag, der ihm mitteilt, er habe ei-nen anonymen Anruf bekommen. AmMittwoch, so Bönisch, habe er gemeinsammit Leyendecker dieses Band abgehört.Dabei hätten beide Notizen gemacht. Inden kommenden Tagen hätten er und Ley-endecker eng in den Büroräumen zusam-mengearbeitet.

Leyendecker sagte dazu, diese Schilde-rung sei »falsch«. Er sei »am Dienstag undMittwoch überhaupt nicht im Düsseldor-fer Büro gewesen, sondern wegen Recher-chen unterwegs«. Er habe Georg Bönisch»nicht am Dienstag, sondern am Donners-tagnachmittag/-abend angerufen, nach-dem feststand, dass wir eine Titelgeschich-te machen würden«. Leyendecker: »Erirrt bei den Daten. Der von ihm geschil-derte Ablauf unserer Zusammenarbeit inder Woche ist falsch.« Er habe mit Bönischauch nur dann über Quellen gesprochen,»wenn das der Sachverhalt unbedingt er-forderte«. Das Band mit dem anonymenAnruf sei nicht mit dem IC nach Hamburggeschickt worden. Er selbst habe es am 5.Juli nach Hamburg gebracht. Von demTreffen am Dienstag mit der Quelle habeer Bönisch nicht informiert.

Die Schilderung von Richard Rickel-mann, ebenfalls Redakteur im Büro Düs-seldorf, über den Ablauf der Woche undden anonymen Anrufer bezeichnete HansLeyendecker als »unzutreffend«. Rickel-mann war nach eigenem Bekunden imBüro anwesend, als Leyendecker einenanonymen Anruf bekam. Rickelmann er-innerte sich, dass Leyendecker, nachdemdie Zweifel an dem Wahrheitsgehalt derTodesschuss-These gewachsen seien, sinn-gemäß gesagt habe: »Die wollen michrausschmeißen, bitte verrate mich nicht.«Gemeint sei gewesen, dass es nur den ano-nymen Anruf als Quelle für die Geschichtegegeben habe. Diese Aussage nannte

Hans Leyendecker »frei erfunden«. Erhabe sich »weder wörtlich noch sinnge-mäß« entsprechend geäußert. Ihn habeniemand rausschmeißen wollen. Er seinach der Berichterstattung einer der Bon-ner Büroleiter geworden und danach Res-sortleiter in Hamburg. Als er 1997 gekün-digt habe, habe Rudolf Augstein ihn»nachdrücklich gebeten, zu bleiben«.

Zur Aussage der früheren Sekretärinim Düsseldorfer Büro, Doris Kabierschke,Leyendecker sei damals fast rausgeflogen,sagte Leyendecker, er wisse nicht, »werFrau Kabierschke diesen Unsinn erzählthat«.

Bruno Schrep, damals Redakteur beiD II und zuständig für die RAF, sagte, erhabe am »Mittwoch oder Donnerstag« dieInformation bekommen, Leyendeckerhabe einen Zeugen, er solle sich mit ihmkurzschließen. Er habe dann am Mittwochoder Donnerstag mit Leyendecker telefo-niert, der ihm vom Band Teile des Ge-sprächs mit dem Anonymus vorgespielthabe. Nachdem Leyendecker im Inter-view der »Zeit« vom 16. Januar 2020 dasGespräch mit dem Anonymus auf Don-nerstagabend datiert hatte, hielt Schrepes für möglich, dass das Telefonat am Frei-tagvormittag gewesen sein könnte. Ley-endecker bestätigte das Telefonat mitSchrep, datiert es auf »Donnerstagabendoder Freitagmorgen«.

Der damalige stellvertretende Ressort-leiter D II, Uly Foerster, kam nach eigenenAngaben am Dienstag oder Mittwoch ausdem Urlaub und bekam die Aufgabe, sichum Bad Kleinen zu kümmern. Er sei in-formiert worden, dass Leyendecker einenZeugen habe, der behauptete, Grams seihingerichtet worden. Foerster erinnertesich genau, dass er Leyendecker nach derAbsicherung des Zeugen gefragt habe. Obdas Transkript des Telefonats schon amMittwoch oder Donnerstag vorgelegenhabe, könne er nicht beschwören. Er geheaber davon aus, »angesichts des Wirbels,der im Ressort ausgebrochen war. Zu die-ser Aussage erklärte Leyendecker, Foers-ter irre, wenn er glaube, dass am Mitt-woch oder Donnerstag eine Abschrift vor-gelegen habe. Vermutlich am Donnerstagoder Freitag habe Foerster ihn nach demZeugen gefragt. Er habe Foerster geant-wortet, dass die Quelle in der kommendenWoche die Staatsanwaltschaft informierenwolle. Foerster habe sich manchmal dar -über »beklagt, dass Dinge an ihm vorbei-gelaufen seien und er nicht in wichtige In-formationsflüsse zwischen den HerrenKilz, Kaden oder Augstein eingebundenworden sei«. Leyendecker sagte, er habeFoerster das Transkript in der Woche da-nach gegeben.

Der Schilderung von Irma Nelles, da-mals Redakteurin im Büro des Herausge-bers, widerspricht Leyendecker ebenfalls.

VII DER SPIEGEL 29. 10. 2020

Die Untersuchung kam zu spät,

um auf alle Fragen klare Antworten zu

bringen.

Leyendecker beantwortete viele

Fragen unter Berufung auf den

Quellenschutz nicht.

Page 5: 1993) einen Mann, der gesehen haben D erTod schu · 2020. 10. 29. · 1993) einen Mann, der gesehen haben wollte, dass Grams, auf den Gleisen lie - gend, von einem Beamten erschossen

das anzunehmen – im Dienst, also unterBeobachtung. Dass er diese Gesprächevon einem Diensttelefon aus geführt hat,ist auszuschließen. Er hätte also sein Büroverlassen müssen, um zu einer Telefon-zelle oder an ein Fax-Gerät zu gelangen.Außerdem ist die Aussage Leyendeckers,der Zeuge habe ihn bei einem Gesprächin der Woche nach Erscheinen am Telefonbeschimpft, nicht nachvollziehbar. Wenndessen Zitate über den Kontaktmann Ley-endeckers von ihm autorisiert worden wa-ren, worüber konnte er dann ärgerlichsein? Weiter bleibt unklar, wie nach einerAutorisierung der Zitate die Behauptungins Blatt kam, der tödliche Schuss sei»nach etwa ewig langen 20 Sekunden« ge-fallen. Da es sich um eine zentrale Aus -sage handelt, hätte die Quelle diese Aus-sage kaum autorisiert, wenn sie sie fürfalsch hielt.

Aus Sicht der Kommission gibt es zwei mög-liche Abläufe des Geschehens, die sich sooder so ähnlich abgespielt haben könnten:

Version 1Das Treffen Leyendeckers mit einer ihmnamentlich bekannten Quelle hat amDienstag stattgefunden – mit oder ohneMittelsmann. Die Quelle hat ihm keine zi-tierfähigen Informationen gegeben, son-dern verlangt, er möge recherchieren. AmDonnerstag meldete sich eine zweite Per-son anonym. Da Leyendecker keine Zitateseiner Quelle hatte, gab er die Aussagendes Anonymus als Aussagen der Quelleaus, machte also aus zwei Personen eine.Das würde erklären, dass die Quelle ihnin der Folgewoche laut Leyendecker be-schimpft hat, weil die Aussage der »20 Se-kunden Stille« von ihr nicht getroffen wor-den war. Das würde auch das Datum be-stätigen, das auf dem Transkript vermerktist. Diesem Ablauf widersprechen aller-dings:

‣ der Gesprächsverlauf des Tran-skripts,‣ in unterschiedlicher Deutlichkeit dieAussagen der von der Kommission Befragten,‣ die geringe Wahrscheinlichkeit, dassvon den am Einsatz beteiligten GSG-9-Beamten sich gleich zwei mit demSPIEGEL in Verbindung setzen,‣ dass beide Beamte jeweils gleich -zeitig an zwei Orten gestanden habenmüssen, um zu sehen, was sie be -richteten,‣ Leyendeckers Verschweigen desAnonymus über 26 Jahre, bis das ver-nichtet geglaubte Transkript auftauch-te, das die Behauptung von der na-mentlich bekannten Quelle widerlegte.Eine zweite Quelle, die die Aussagender ersten Quelle bestätigt, wäre von

Anfang an ein starkes Argument fürdie Glaubhaftigkeit der Aussagen ge-wesen.

Version 2 Das Treffen mit einer namentlich bekann-ten Quelle gab es nicht, nur ein anonymesTelefongespräch. Leyendecker hatte amMontag nach dem Vorfall in Bad Kleineneinen Kontaktmann angerufen und gefragt,ob er einen »Kontakt zu einem Mitglieddes Spezialkommandos herstellen könne«.Bereits am Wochenanfang recherchiertenmehrere Redakteure zu Bad Kleinen, weilklar war, dass es eine größere Geschichtedazu geben würde. Als der Anonymus an-rief, vermutlich am Dienstag, fragte Ley-endecker ihn: »Wie kommen Sie eigentlichauf mich? Sind Sie heute angerufen wor-den? Sie haben mich jetzt bewusst ange-rufen?« Da der Anrufer antwortete »Ichhabe Sie ganz bewusst angerufen. Wir ha-ben gestern Abend zusammengesessen«,nahm Leyendecker womöglich an, der An-ruf sei auf Initiative seines Kontaktmannserfolgt. Das würde erklären, warum Ley-endecker während des ganzen langen Ge-sprächs keinen Versuch unternimmt, denNamen des Anrufers oder wenigstens eineKontaktmöglichkeit zu erfragen. Der An-ruf des Anonymus wäre nach dieser Versi-on die einzige Quelle Leyendeckers gewe-sen. Das würde die unterschiedlichen Dar-stellungen der Abläufe durch Leyendeckererklären, die dann nicht dem Quellen-schutz dienten, sondern verschleiern soll-ten, dass Leyendecker einem anonymenAnrufer auf dem Leim gegangen war, ohnedie Quelle zu prüfen.

Inhalt und Gesprächsverlauf des Tran-skripts passen zu dieser Variante lücken-los. Dazu passen auch in unterschiedlicherDeutlichkeit die Aussagen der Befragten –mit Ausnahme von Hans Werner Kilz. Eswürde allerdings das Schweigen Kilz’ inden vergangenen 26 Jahren erklären.Ebenfalls die von verschiedenen Befrag-ten zitierten Aussagen Rudolf Augsteins,die selbst dann sehr drastisch wirken,wenn man in Rechnung stellt, dass der He-rausgeber nach Erinnerung von Zeitzeu-gen immer wieder mal Redakteure spon-tan rausschmeißen wollte.

Die Kommission bedauert außerordent-lich, dass Hans Leyendecker sich nichtdazu entschließen konnte, die Kommissi-on bei der Aufklärung der von ihm be-

haupteten Version stärker zu unterstützen.Die Kommission erkennt die Bemühun-gen Leyendeckers um den Quellenschutzdabei ausdrücklich an. Der Schutz von In-formanten ist ein hohes Gut und für deninvestigativen Journalismus konstitutiv.Die Kommission ist überzeugt, dass es fürLeyendecker möglich gewesen wäre, un-ter Wahrung des Quellenschutzes eine hö-here Plausibilität seiner Version zu bele-gen, falls diese Version den Tatsachen ent-spricht.

Daher kommt die Kommission nachAbwägung aller Aussagen und Indizienzu dem Schluss, dass Leyendeckers Versi-on (die oben beschriebene Version 1) mitgroßer Wahrscheinlichkeit nicht die tat-sächlichen Abläufe wiedergibt.

FazitNach vielen Gesprächen mit damals Be-teiligten – innerhalb und außerhalb derRedaktion – ist die Kommission zu derÜberzeugung gelangt, dass der SPIEGELmit der Berichterstattung über die Abläufein Bad Kleinen auf Basis einer mangelhaftgeprüften und falschen Aussage einen jour-nalistischen Fehler begangen hat.

Der Fehler ist nicht nur Leyendeckeranzulasten. Die redaktionellen Kontrollenund die Überprüfung durch die Dokumen-tation haben versagt; das Justiziariat hatzwar Unstimmigkeiten bemerkt, abernicht Alarm geschlagen. Dass die Aussageder Quelle nicht stimmen konnte, warzum Ende der Produktionswoche bereitsoffenbar. Insbesondere die Tatsache, dassdie Quelle Dinge gesehen haben wollte,die man von ein und demselben Standortnicht hätte sehen können; außerdem dieBehauptung, Birgit Hogefeld habe ge-schossen (die sich in der Titelgeschichtedes SPIEGEL nicht wiederfand). Auch dievon Leyendecker behauptete Überein-stimmung »in wesentlichen Teilen« mitder Aussage der Zeugin Baron bei »Mo-nitor«, die sich später als falsch heraus-stellte, war nicht gegeben. Diese Zeuginschilderte zwar auch eine Erschießung, be-richtete aber andere Abläufe. All das hättedie Folge haben müssen, dass mindestenseine der beteiligten Instanzen die Reißlei-ne gezogen hätte. Offenbar erschwerte esder exponierte Status, den sich Leyende-cker in der Redaktion durch herausragen-de investigative Recherchen erarbeitet hat-te, in diesem Fall Zweifel zu äußern. Dieslegen Aussagen damals beteiligter Kolle-gen und Vorgesetzten nahe. Die Verant-wortung dafür, eine nicht überprüfte, wi-dersprüchliche Aussage dieser Tragweitezu einer Titelgeschichte zu machen, trugallerdings die Chefredaktion.

Brigitte Fehrle, Stefan WeigelDokumentation: Bertolt Hunger

X

ten, detailliertesten Version Leyendeckers.Die Widersprüche in seinen Darstellungenaus den Jahrzehnten zuvor begründeteLeyendecker allgemein mit dem Quellen-schutz.

Die Darstellung Leyendeckers überden Ablauf der Woche zwischen Einsatzund Erscheinen der Titelgeschichte wirdgestützt von Hans Werner Kilz, der am18.Dezember 2019 erstmals angab, in die-ser Woche mit der Quelle telefoniert zuhaben. Noch am 27. November hatteHans Leyendecker allerdings der Kom-mission in einer E-Mail geschrieben, erhabe die damalige Chefredaktion nichtüber die Quelle informiert.

Hans Werner Kilz ist somit die einzigevon der Kommission befragte Person, dieLeyendeckers letzte Version bestätigteund die neben Leyendecker angeblich mitder Quelle gesprochen hat. Die Frage, wa-rum er die Titelgeschichte gedruckt habe,obwohl die Quelle eine von ihm erbeteneeidesstattliche Erklärung nicht abgebenwollte, lässt der damalige Chefredakteurunbeantwortet; er schrieb der Kommissi-on lediglich: »Der Zeuge, mit dem ichdann am Telefon gesprochen habe, wollteaus persönlichen Gründen dafür öffentlichnicht geradestehen. Dafür hatte ich wie-derum Verständnis.«

Auch die Frage, warum Kilz 26 Jahrelang geschwiegen hat und sich erst jetzt,im Zuge der Ermittlungen der Kommissi-on, entsprechend ein gelassen hat, obwohlseine Erklärung, auch mit der Quelle ge-sprochen zu haben, Leyendecker starkentlastet hätte, lässt er offen.

Ebenso unbeantwortet bleibt die Fragean Leyendecker und Kilz, wie der Kontaktmit der Quelle am Donnerstag genau her-gestellt wurde – nur dass er »unter großenSchwierigkeiten zustande gebracht« wur-de. Angesichts der Brisanz der Situationinnerhalb des Sicherheitsapparats undden technischen Gegebenheiten des Jah-res 1993 scheint diese Fülle von Kontaktenkaum praktikabel. Telefonischer Kontaktwar damals vor allem über Festnetz mög-lich, Mobiltelefone waren noch nicht weitverbreitet; sonstiger Kontakt maximalüber ein Faxgerät möglich.

Alle anderen von der Kommission Be-fragten erinnerten die Ereignisse und Ab-läufe der fraglichen Woche in unterschied-licher Ausführlichkeit anders.

Leyendeckers Redaktionskollege GeorgBönisch schilderte den Anruf Leyende-ckers am Dienstagabend samt privaterUmstände, nachdem dieser von einerQuelle angerufen worden sei. Bönischschilderte auch ausführlich die folgendenTage und den Freitag als Produktionstag.

Die Beschreibungen von Bruno Schrepund Uly Foerster sind knapper, legen aberebenfalls nahe, dass die Angaben der Per-son, die eine Hinrichtung gesehen haben

wollte, nicht erst am Donnerstagabendoder Freitagmorgen in die Redaktion ge-langt sind, sondern ab Mittwoch die re-daktionelle Arbeit bestimmt hätten.

So hatte es Leyendecker in seinem In-terview am 3. Juli 1993 (Samstag vor Er-scheinen des SPIEGEL) Uli Wickert in den»Tagesthemen« beschrieben: »Wir haben– wie es in solchen Fällen üblich ist – einTeam gebildet und versucht, die Glaub-würdigkeit dieses Mannes herauszufinden.Er hat sich uns offenbart, und wir sindmöglichen Widersprüchen nachgegangen,wir haben uns um Details gekümmert, wirsind darauf gestoßen, dass er sehr frühDinge sagte, die er eigentlich nur dannwissen konnte, wenn er unmittelbar mitdieser Geschichte zu tun hatte.« Im Inter-view mit der »Zeit« Mitte Januar 2020sagte Leyendecker hingegen: »Habe ichwirklich gegenüber Uli Wickert von einemTeam gesprochen? … Diese Aussage wardann ebenso wenig korrekt wie die Be-hauptung von GSG-9-Leuten, dass sie inBad Kleinen wie nach Lehrbuch geschos-sen hätten … Und ich habe gewöhnlich imTeam gearbeitet.« In seiner Stellungnah-me für die Kommission schrieb er im Mai2020, dass er mit »Team« alle gemeinthabe, »die nach und nach eingebunden«worden seien; zunächst Hans Werner Kilz,ab »Donnerstag/Freitag weitere Mitglie-der der Redaktion«.

Für die Darstellung Leyendeckers, dasGespräch mit der Quelle habe am Diens-tag und der Anruf eines Anonymus amDonnerstag stattgefunden, gibt es keineklaren Anhaltspunkte. Das handschriftlichvermerkte Datum auf dem Transkript(»1.7.93 gegen 19 Uhr«) könnte auf denTag des Gesprächs hinweisen, könnte aberauch der Tag und die Uhrzeit sein, an demdas Gespräch abgeschrieben wurde.

Große Zweifel an der Glaubwürdigkeitvon Leyendeckers Version wirft der Textder Titelgeschichte SPIEGEL auf. Fast alleZitate der Titelgeschichte und der nach-folgenden Berichterstattung finden sichwörtlich oder nahezu wörtlich im Tran-skript.

Die Erklärungen Leyendeckers dazusind nicht plausibel. Selbst wenn man sei-ne jüngsten Einlassungen zugrunde legt,es also eine namentlich bekannte Quelleund einen Anonymus gab und beide sichausgetauscht und dieselben Beobachtun-gen gemacht haben, sind wortwörtliche

Übereinstimmungen in diesem Umfangunwahrscheinlich.

Das gilt umso mehr, wenn es sich umfalsche Angaben handelt – wie etwa dieBehauptung, Birgit Hogefeld habe bei ih-rer Festnahme geschossen. Im Interviewmit der Zeitschrift »Cicero« im Juni 2013sagte Leyendecker dazu: »Für michsprach das nicht gegen, sondern für dieGlaubwürdigkeit des Informanten. Wenner hört, wie es wirklich gewesen ist, unddennoch sagt: ›Ich habe es aber so emp-funden‹, dann war er doch mit seinen Feh-lern ehrlich. So habe ich wohl gedacht –und das war ebenso kompliziert gedachtwie schrecklich falsch.« Tatsächlich müss-te die Erkenntnis, dass zwei am EinsatzBeteiligte dieselbe Beobachtungspositiongehabt, auf dieselben Details geachtet undsie dann noch wortwörtlich gleich be-schreiben, Anlass zu Zweifeln an derenDarstellung gegeben haben. Der Verdacht,hier hätten sich zwei abgesprochen, hätteeinem erfahrenen Rechercheur kommenmüssen. 2020 schrieb Leyendecker derKommission: »Ich war in der Tat irritiert,weil der Anonymus das sagte, was dieQuelle mir gesagt hatte, und weil ich nichtverstand, warum mich da jemand anriefund fast wortgleich das sagte.«

Der Gesprächsverlauf des Transkriptslässt diese Irritation jedoch an keiner Stel-le erkennen. Im Gegenteil: LeyendeckersFragen machen durchgängig den Ein-druck, die Angaben seien ihm neu, teil-weise reagiert er offenbar schockiert. Aufdie Schilderung der angeblichen Hinrich-tung Grams’ sagt Leyendecker mehrmals:»Das ist ja grauenvoll!« Ebenso wenig lässtder Anrufer erkennen, dass er von einemKontakt seines Kollegen mit Leyendeckerweiß und damit rechnet, dass Leyende-cker seine Schilderungen bereits kennt.Ebenfalls unklar und nicht plausibel bleibt,warum zwei angebliche Zeugen sich in-tensiv austauschen, dann aber getrenntvoneinander denselben Redakteur anru-fen und diesem ihren Austausch ver-schweigen.

Die jüngste Angabe Leyendeckers, derMittelsmann habe die Zitate »nach seinerAussage mit der Quelle geklärt«, lässt sichmit einer anderen Aussage Leyendeckersnicht vereinbaren. BKA-Einsatzleiter Hof-meyer sagte, Leyendecker habe ihm 1994gesagt, die Quelle sei verwundert gewe-sen, dass ihre Aussagen ohne weitere Prü-fung verwendet wurden, sie seien nur alsAnregung zu weiterer Recherche gedachtgewesen.

Schon technisch scheint ein derartigerKontakt in der Woche nach Bad Kleinenmit einem unmittelbar am Einsatz betei-ligten Beamten kaum möglich. Der Mit-telsmann müsste ihm die Zitate am Tele-fon vorgelesen oder per Fax geschickt ha-ben. Der Zeuge war aber – jedenfalls ist

IX DER SPIEGEL 29. 10. 2020

In eigener Sache

Der Gesprächs -verlauf des

Transkripts lässt keine Irritation

erkennen.

Der Schutz von Informanten ist ein hohes Gut für den Journalismus.