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MEINE KOORDINATEN

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John Coltrane

Als John Coltrane, zu seiner letzten Tournee in Japan

gelandet, das Flugzeug verließ, war der Flughafen schwarz

vor Menschen. Da drehte er sich auf der Gangway zu

seinen Musikern um und sagte: »Es muss ein Prominenter

an Bord gewesen sein.« Der er selbst war.

John Coltrane hat das musikalische Universum des Jazz

wohl weiträumiger abgeschritten als irgendjemand vor

oder nach ihm. Er ist der Solitär, der aus Musik bestand,

den nichts so interessierte wie Musik, der sie atemlos

vor sich her trieb und über ihre Grenzen hinaus ins Noch-

Hörbare und Nicht-Mehr-Hörbare erweiterte.

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Meine Koordinaten

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Willemsens Musikwoche2012

Arche Kalender Buch

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Ob man es will oder nicht, Musik begleitet jedes Jahr. Sie macht sich

breit als Konsum flankierender Geschmacksverstärker, als Stimmungs-

aufheller, als Medium der Zerstreuung. Nimmt man sie aber ernst,

also persönlich, wählt man sie aus, statt sie zu erleiden, und hört sie

bewusst, dann kann sie sich zum Soundtrack einer Zeit, eines Jahres,

eines ganzen Lebensabschnitts verdichten. Dann erkennt man sich

wieder auch in der Musik, mit der man gelebt hat, und lässt sich von

ihr die Frage beantworten nach dem the way we were.

Die beiden musikalischen Welten, in denen ich mich zuerst bewegte,

waren die der sogenannten »Klassischen Musik« und des »Jazz«.

Ich hatte gelernt, sie ihrer Ausdruckssprache nach zu unterscheiden.

Ihre Ausdrucksimpulse aber korrespondierten mit meiner Erfahrung

ohne Umweg über eine musikgeschichtliche Einordnung. Daneben

faszinierten mich die Biografien von Musikern, ihre programmatischen

Aussagen und ihre Auseinandersetzungen mit der bestehenden Musik

gleichermaßen. Doch während mir die Klassische Musik zunächst

wie eingeweihtes Wissen vermittelt wurde, wollte jene andere Musik

eher selbst entdeckt und eigenständig bewertet werden.

Der Jazz wählte viele Wege in mein Leben. Einer hieß Domenico

Scarlatti. Dieser barocke neapolitanische Glücksspieler im portugie-

sischen Exil ist Welt-Musiker und radikaler Neutöner. Bei aller Oberflä-

chen-Brillanz, allem improvisatorischen Ungestüm befreit er Gefühle

aus der konventionellen Sprache und lässt sie neu und frisch und

wie eben geboren klingen. Dieser Drang in ein Klima der Freiheit, der

Selbstbefreiung und Emanzipation vom autoritären Bann der Tradi-

tion besitzt in jeder Musik etwas Hypnotisches, besonders im Jazz.

Zur Empfehlung Die meisten musikalischen Strömungen, gleich welcher Richtung, sind

deshalb an ihrem Anfang Jugendbewegungen.

Das andere Einfallstor fand die Musik durch das Radio. Während meine

Eltern dort klassische Konzerte suchten, klangen für mich Swing und

Bebop wie die aus weiter Ferne herangespülten Stimmungsbilder

von Festen, aus Ballräumen und Gottesdiensten. Dies war Musik aus

dem Sehnsuchtsraum, und der Melancholie der Kindheit antwortend,

war sie Sprache des Mangels, des Fernwehs. Als sich mir diese Musik –

gleich nach der »Klassischen« und teilweise wie ein Gegenmittel –

eröffnete, hatte ich längst begriffen, dass der Jazz »falsche« Musik

war, dass sie nicht nur erlaubte, sondern forderte, was Thelonious

Monk zu einem Drummer gesagt hatte: »Du weißt, wie man richtig

spielt. Jetzt spiel falsch und mach es richtig.«

Später las ich, dass Gustav Mahler sich auf den Jahrmärkten gerne

zwischen die Musikquellen stellte und sich dem Verfließen der Sounds

auslieferte. Als ich es auch versuchte, hörte ich keine Kirmes mehr,

nur noch Mahler. Und mehr als das: Architektur und Musik sind die

einzigen Künste, die Räume erschaffen. Im Durcheinanderfließen der

akustischen Ströme auf den Jahrmärkten und Rummelplätzen fand ich

die erste moderne Klangarchitektur, simultan und eklektisch. So setzte

sich das Musik-Erfahren über Genregrenzen hinweg und vereinte mit

dem nämlichen Ernst Johann Sebastian Bach und Bill Evans, Hector

Berlioz und Gil Evans, Alban Berg und John Coltrane.

In diesem musikalischen Jahreskalender finden Sie die Galerie einiger

der Musiker, die mich seit langem begleiten, versehen mit Schlaglich-

tern zu Leben und Werk, begleitet von marginalen Empfehlungen für

das Hören oder Lesen. Ich wünschte, dass mancher Impuls musikalisch

überspränge, dass also manches Ohr die Seiten wechselte.

Hamburg, April 2011 Roger Willemsen

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Klassik

Ludwig van Beethoven 42

Alban Berg 50

Johannes Brahms 30

Ferruccio Busoni 115

Frédéric Chopin 54

François Couperin 46

Claude Debussy 94

Antonín Dvořák 38

Gabriel Fauré 74

Kathleen Ferrier 106

John Field 110

César Franck 102

Christoph Willibald Gluck 82

Joseph Haydn 59

Johann Nepomuk Hummel 78

Gustav Mahler 98

Felix Mendelssohn Bartholdy 90

Wolfgang Amadeus Mozart 62

Francis Poulenc 86

Sergej Rachmaninow 10

Jean-Philippe Rameau 22

Maurice Ravel 66

Camille Saint-Saëns 35

Domenico Scarlatti 14

Clara Schumann 26

Robert Schumann 19

Carl Maria von Weber 71

Jazz

Cannonball Adderley 96

Andy Bey 85

John Coltrane 72

Chris Connor 16

Miles Davis 12

Eric Dolphy 80

Kenny Dorham 68

Duke Ellington 20

Bill Evans 93

Gil Evans 32

Tommy Flanagan 112

Tsegué-Maryam Guèbrou 100

Billie Holiday 76

Wynton Kelly 28

Krzysztof Komeda 56

Charles Mingus 44

Oliver Nelson 105

Charlie Parker 64

Art Pepper 49

Michel Petrucciani 117

Sonny Rollins 25

Little Jimmy Scott 88

Zoot Sims 108

Art Tatum 60

Lennie Tristano 36

Sarah Vaughan 52

Lester Young 41

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sonntag 1 Neujahr

Hörtipp: Sergej Rachmaninow, Zehn Préludes für Klavier op. 23 (1903) sowie Dreizehn Préludes für Klavier op. 32 (1910)

SERGEJ RACHMANINOW

Sergej Rachmaninow geht als ein Solitär, einsam und

unbeirrbar rückwärtsgewandt, durch eine Zeit, in der die

Zwölftonmusik, die Aufbrüche durch Strawinsky und

Prokofjew, durch den französischen Impressionismus und

den Jazz das Gesicht der Musik verändern. Doch seit den

Tagen seines ersten Ruhms am Moskauer Konservatorium

bis zu seinem Tod in Beverly Hills, 1943, wirkt er wie einer,

der unter Abstrakten gegenständlich malt, der die Melodie

liebt, die schöne Linie, die reiche Harmonie. So berühmt

er auch war als Pianist und Dirigent wie als Komponist,

zog er sich lieber mit seiner Frau und der kleinen Tochter

in den Wintermonaten 1906–1908 nach Dresden zurück,

wo er in Ruhe leben und komponieren konnte.

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Heilige Drei Könige

Hörtipp: Miles Davis, Kind of Blue. Aufnahmen vom 2. März und 22. April 1959 mit Miles Davis (Trompete), Cannonball Adderley (Altsaxophon), John Coltrane (Tenorsaxophon), Wynton Kelly/Bill Evans (Klavier), Paul Chambers (Bass) und Jimmy Cobb (Schlagzeug). Columbia Records 1959Lesetipp: Wolfgang Sandner, Miles Davis. Eine Biographie. Berlin: Rowohlt 2010

Miles Davis

Er mochte den Ausdruck »Jazz« nicht, und den Ausdruck »cool«

mochte er auch nicht. »Musik« sollte man nennen, was er in

die Welt brachte. Doch nannte man es »Cool Jazz«, und das war

eigentlich nicht abwegig. Schließlich eiferte Miles Davis gegen

den »Amüsierneger« in der Musik, zeigte sich brüsk, schwer

nahbar, animos. Doch war sein abgeklärter, »cool« genannter

Stil nicht bloß eine Antwort auf das Fahrige der Bebop-Phrasen.

Er war auch eine Antwort auf das Leiden der Sklaven, der von

Rassismus geschlagenen Schwarzen. In dieser Situation war

Miles Davis nicht der Virtuose seines Instruments, sondern die

Verkörperung einer Haltung, und diese ist es, die er, der Meister

des Timings, in immer neuen Stilen schillern ließ. »Miles Davis

ist der Picasso der unsichtbaren Kunst«, sagte Duke Ellington.

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Hörtipp: Domenico Scarlatti, Sonaten für Klavier (ab 1738)

Er gibt seine sichere Stelle am Vatikan auf, geht zuerst

nach Portugal, dann nach Sevilla, dann an den spanischen

Hof in Madrid ins Exil, wo er nur noch Privatcembalist ist

und nur noch Esercizi schreibt, Sonatinen, aus einem

Satz bestehend. Gleichzeitig schwingt die neapolitanische

Volksmusik wie in Schwaden von Heimweh durch diese

Esercizi – »wilde Blumen am Zaun der Klassik«, wie sie eine

Musikwissenschaftlerin einmal nannte. Kaum jemals hat

jemand so radikal mit den Konventionen der Musik seiner

Zeit gebrochen wie er. Ja, dies ist unkonventionelles,

Profanes und Feierliches wild mischendes Komponieren.

Hier herrscht ein Überschwang, ein »Swing«, ein tänzeri-

scher Geist, der etwas Kapriziöses, Launisches verrät.

DOMENICO SCARLATTI

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CHRIS CONNORMontag

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Eine weiße Sängerin mit Swing, mit einem unvergleichlichen

Timbre, von hoher Intelligenz in der Melodiebehandlung.

Zugleich liegt über der Hitze ihrer Gefühle eine Selbstbe-

herrschung, ja Verstandeskühle, die jeder Behandlung eines

Songs Plausibilität gibt. Ihr Klavierbegleiter Ralph Sharon

bemerkte einmal: »Dieses Mädchen hat ein großes Paar

Ohren, sie phrasiert jedes Mal anders, jedes Mal nach ihrer

Stimmung, und sie befindet sich manchmal so weit hinter

dem Beat, dass sie einem förmlich die Hände fesselt.«

Deshalb bevorzugte Chris Connor Trios, denn mit ihnen,

anders als mit den schwerfälligen Big Bands, konnte man

jeden Abend neu und wendig manövrieren. Hörtipp: Chris Connor, A Jazz Date with Chris Connor. Zoot Sims (Saxophon), Oscar Pettiford (Bass) u. a. und das Ralph Burns Orchestra. Atlantic Records 1956

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Hörtipp: Robert Schumann, Klavieralbum für die Jugend op. 68 (1848). Enthält als Nr. 16 das Stück Erster Verlust.

»Das Klavier wird mir zu enge, ich höre bei meinen

jetzigen Kompositionen eine Menge Sachen, die ich

kaum andeuten kann«, schrieb Robert Schumann 1838.

Seine ganze Welt wurde ihm zu eng. Sie ist voll Auf-

bruch, voller Schwirren und Changieren, manchmal

verwildert, manchmal fantastisch, und nicht selten wird

darin etwas so Mutwilliges frei wie in einer Jazz-Impro-

visation. Als er einmal ein Vögelchen mit Grießklößen

fütterte, starb es. Schumann aber löste seine Trauer

auf in eine Miniatur mit dem Titel Erster Verlust.

ROBERT SCHUMANN

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Hörtipp: Duke Ellington, The Ellington Suites. Studioalbum. Enthält u. a. Queen’s Suite (darin als erste Komposition: Sunset and the Mocking Bird), aufgenommen am 4. April 1959 mit Duke Ellington und seiner Big Band. Pablo 1976

Duke EllingtonEines Abends zogen Duke Ellington und sein Orchestra

zu einem Auftritt durch Florida. Es war Sonnenunter-

gang, und sie hörten einen Vogel so wunderschön singen,

dass sein Ruf Ellington tagelang nicht aus dem Kopf

ging. Da sie keine Zeit hatten, anzuhalten und sich den

Ruf einzuprägen, pfiff er ihn dauernd den Einheimischen

vor, bis er erfuhr, der Vogel sei ein Mockingbird, also

eine Spottdrossel. Darauf setzte er sich hin und schrieb

eine Komposition rund um diesen Vogelruf: Sunset

and the Mocking Bird, und er hielt dies fest als eine der

»Erfahrungen von Schönheit« in seinem Leben.

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Jean-Philippe Rameau Jean-Philippe Rameau war hager, wortkarg, Voltaire

angeblich ähnlich, hochgewachsen, zurückgezogen

lebend. Ein Zeitgenosse erzählt, die Welt sei ihm

versunken, wenn er sich dem Cembalo gewidmet habe,

tief versunken. Sein Gönner, ein Pariser Bankier, der ihn

unter anderen mit Voltaire bekannt machte, überließ

ihm zwölf Jahre lang ein kleines Privatorchester, mit

dem er, ein leidenschaftlicher Sucher nach dem Wesen

der Musik, wunderbar experimentieren konnte. –

Eines Tages warf er das Hündchen einer Dame aus dem

Fenster mit der Begründung: »Es bellt falsch.« Hörtipp: Jean-Philippe Rameau, Suiten für Cembalo (1706, 1724, 1728)

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Valentinstag

Hörtipp: Sonny Rollins, Saxophone Colossus. Studioalbum. Aufnahme vom 22. Juni 1956 mit Sonny Rollins (Tenorsaxophon), Tommy Flanagan (Klavier), Ding Watkins (Bass) und Max Roach (Schlagzeug). Prestige Records 1956Sonny Rollins, Sonny, Please. Studioalbum. Aufnahme vom November 2005 mit Sonny Rollins (Tenorsaxophon), Clifton Anderson (Posaune), Bob Cranshaw (Bass), Bobby Broom (Gitarre), Steve Jordan (Schlagzeug), Kimati Dinizulu (Percussion). Doxy 2006

Sonny Rollins, der greise Legendäre, ein Unergründlicher des

Jazz, ein »Saxophone Colossus«, begann an der Seite von Bud

Powell, produzierte Platten mit Miles und Monk, nahm sich

mehrmals für Jahre Auszeiten, wusste nicht,ob er aus der Hinter-

Welt zurückkommen würde. Doch dann war er zurück, ein Melan-

choliker auf dem Tenorsaxophon mit der Fähigkeit, unfertig zu

bleiben. Er war immer wieder da, ein Purist, ein Radikaler, immer

noch suchend. Sonny Rollins war 47 Jahre mit Lucille Rollins

verheiratet, als diese im November 2004 stirbt. Sein nächstes

Album nennt er nach einer Mahnung seiner Frau Sonny, Please,

zu Deutsch »Nu reiß dich zusammen«. Das hat er getan, aber

hörbar sind Tränen auch, wenn sie nach innen laufen.

Sonny Rollins

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Rosenmontag

Fastnacht

Aschermittwoch

Hörtipp: Clara Schumann, Romanze für Klavier in h-Moll (1856)

1856 schreibt Clara Schumann ihre Romanze in h-Moll,

der Tonart für Messen und reife Sonaten. Jenseits dieser

Romanze wird sie zwar weitgehend in das übliche Frauen-

leben des 19. Jahrhunderts eintreten, sich der Erziehung

ihrer acht Kinder widmen, aber gleichzeitig als erfolgreiche

Klaviervirtuosin auftreten. Ein Spätwerk, ein Abschied

von der Musik ist Clara Schumanns 40 Jahre vor ihrem Tod

komponierte Romanze aber vor allem, weil sie sich ent-

scheidet, nach dem Tod ihres Mannes Robert in eben-

jenem Jahr 1856 nicht mehr zu komponieren. Was also ist

dieses Stück anderes als eine Meditation im Angesicht

des Sterbens und ein Abgesang auf das eigene Musizieren,

eine Miniatur voller Wehmut und Melancholie?

Clara Schumann

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Wynton Kelly

Miles Davis hat über seinen staunenswerten Pianisten ehemals

gesagt: »Er ist wie das Feuer für die Zigarette. Ohne ihn gibt

es kein Rauchen.« Und dennoch gehört dieser Pianist immer

noch zu den unterschätzten Meistern ihres Fachs. Vielleicht hat

man angesichts seiner Herkunft aus dem Rhythm and Blues und

angesichts des Funk-Stils, den er mit den Jahren entwickelte,

vielleicht auch angesichts des hellen, trockenen und oft Rhyth-

mus betonten Stils, den er kultivierte, überhört, wie zerbrech-

lich sein Anschlag, wie melancholisch seine Phrasierung,

wie originell und verinnerlicht seine Musikalität auch waren,

wie er Läufe verschleifen, sich ins Pianissimo, ins beiläufige

Spielen verirren, wie er selbst Soli in den Mittelgrund rücken

konnte und noch in den späteren Jahren unfest bleibt, fragend

und zweifelnd – in diesem Spiel brennt immer Licht. Hörtipp: Wynton Kelly, Complete Blue Note Trio Sessions. 2002

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Hörtipp: Johannes Brahms, Klavierkonzert Nr. 1 d-Moll op. 15 (1857) sowieGestillte Sehnsucht op. 91, Nr. 1 (siehe auch unter Kathleen Ferrier, Seite 106)

JOHANNES BRAHMS

Johannes Brahms, dieser spätromantische Grübler,

manchmal als der »deutscheste« unter den deutschen

Komponisten empfunden, war in seiner Jugend Stadt-

musikant, verdiente in Matrosenkneipen den Unterhalt

für die Familie, zog aus der Enge der Armengegend,

des Hamburger Hafenmilieus auf Wanderschaft bis

nach Wien, entkam aber dem Heimweh nie. In seinem

Werk klingt dieses Heimweh nicht nach dem Fehlen

der Heimat allein. Man höre nur sein Lied Gestillte

Sehnsucht und erkennt: Brahms ist der Komponist des

Sehnens über alle Grenzen hinaus.

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Hörtipp: Gil Evans, The Individualism of Gil Evans. Studioalbum. Aufnahmen zwischen September 1963 und Juli 1964 mit Gil Evans in verschiedenen Besetzungen. Verve Records 1964

Gil EvansAls Svengali bezeichnet man eine Person im Hintergrund,

die eine andere Person stark beeinflusst oder sogar

manipuliert, beispielsweise den besonders einflussreichen

Manager eines Künstlers. Gil Evans, ein scheuer, eher

unzugänglicher, vielen rätselhafter Gentleman mit einem

schmalen Werk, an dem er lang arbeitete, hat vor allem

als Arrangeur den Sound vieler junger Musiker geprägt, ein

versessen Moderner, ein Klangbildhauer. Vor allem die

Zusammenarbeit mit Miles Davis zwischen 1957 und 1963

war wegweisend für die Musik, die noch kommen sollte.

Das Anagramm seines Namens ist Svengali.

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Frühlingsanfang

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Hörtipp: Camille Saint-Saëns, Sinfonie Nr. 3 c-Moll op. 78 (Orgelsinfonie, 1886) sowie Le carnaval des animaux. Grande fantaisie zoologique. Suite für Kammerorchester (1886)

Camille Saint-Saëns Als seine Mutter 1888 stirbt, ist Camille Saint-Saëns

53 Jahre alt und trifft eine radikale Entscheidung.

Er verlässt die bisherige gemeinsame Wohnung, löst alle

Verbindungen, deponiert einige Besitztümer in einem

Lager und verschwindet. In Paris kursieren Gerüchte, der

Komponist sei tot, verrückt oder verschollen. Tatsächlich

wird er von nun an 14 Jahre lang keinen festen Wohnsitz

mehr haben und meist unter Pseudonym von Hotel zu

Hotel, von Land zu Land, von Kontinent zu Kontinent rei-

sen. Bis nach Ceylon, in die USA und nach Südamerika

führt ihn sein Weg, und auch musikalisch schlagen sich

diese Reisen nieder. Der Karneval der Tiere war sein

Unglück. Seine Popularität überschattete das riesige

Gesamtwerk. Noch Glenn Gould sagte 1976: »Wirklich,

ich bewundere Saint-Saëns!«

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Hörtipp: Lennie Tristano. Studioalbum. Solo- und Trio-Aufnahmen aus den Jahren 1954 und 1955 in verschiedenen Besetzungen. Atlantic Records 1956

LENNIE TRISTANOLennie Tristano war nach einer Erkrankung an der Spani-

schen Grippe schon im Kindesalter blind. Er wurde dennoch

seit den 1940er Jahren zu einem der wichtigsten Impuls-

geber und Lehrer des Jazz, ein stiller Radikaler, den Maler,

Künstler, andere Musiker wie Charlie Parker bewunderten.

Doch das Publikum nannte ihn »intellektuell« – auch damals

ein Kampfbegriff. Darauf erwiderte Tristano: »Es wäre

sinnlos, versuchte ich etwas zu spielen, das ich nicht fühlen

kann. Es wäre nichts wert.« Er suchte die reine Musik, die

sich, wie er glaubte, nur durch die Zurücknahme der eige-

nen Person finden ließ: »Ich möchte, dass der Jazz aus dem

Es fließt ... Wirklicher Jazz ist, was einer spielen kann, bevor

er ganz verformt ist, das andere ist das, was nach der

Verformung passiert.« Miles Davis fand, Tristano habe die

Avantgarde um 15 Jahre vorweggenommen.

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Karfreitag

Ostersonntag

Hörtipp: Antonín Dvořák, Sinfonie Nr. 9 e-Moll op. 95 (Aus der neuen Welt, 1893)

Antonín Dvořák Antonín Dvořák hat sich in seinem Leben oft umorientiert.

Er begann unter dem Einfluss von Mozart und Beethoven

zu komponieren. Später suchte er nach einem böhmischen

Nationalstil und lernte von Brahms und Wagner. Schließ-

lich entdeckte er durch das Studium der Gospels auch

das amerikanische Idiom für sich. »In den Negermelodien

Amerikas«, so sagte er, »habe ich alles entdeckt, was

für die Schaffung einer großen und edlen musikalischen

Richtung nötig ist. Diese wunderschönen und abwechs-

lungsreichen Themen sind das Produkt der Erde. Sie sind

die Volkslieder Amerikas, und eure Komponisten müssen

sich an sie halten. Alle großen Musiker haben Anleihen bei

den Liedern der einfachen Leute gemacht.«

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Ostermontag

Hörtipp: Lester Young, The Complete Verve Studio Sessions. Enthält alle zwischen 1946 und 1958 auf Mercury, Clef, Norgran und Verve Records produzierten Aufnahmen.

Lester Young

Lester Young war ein so leidensfähiger wie gefährdeter Musiker.

Seinen Einberufungsbefehl zum Militär hatte er lange miss-

achtet, gemäß der Überzeugung »Öffne nie einen Umschlag mit

Fenster«. Doch eines Abends im Jahr 1944 wird er von der

Bühne weg verhaftet und eingezogen. Nach einer Verletzung

kommt er ins Lazarett, wo er freimütig gesteht, früher einmal

Marihuana geraucht zu haben. Dafür erhält er fünf Jahre Ge-

fängnis, umgewandelt in ein Jahr Lagerhaft in Georgia. Trauma-

tisiert kehrt er zurück. Offenbar gebrochen und zunehmend

dem Alkohol verfallen, wird er vor seinem Tod im Jahr 1959

für viele Zeitgenossen der wichtigste Tenorsaxophonist bleiben,

an seine großen Jahre aber nicht anknüpfen können.

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Hörtipp: Ludwig van Beethoven, Klaviersonate Nr. 32 c-Moll op. 111 (1822)

LUDWIG VAN BEETHOVEN Das Bild des erhabenen, des einschüchternden sinfoni-

schen Beethoven, der im Sound der Neunten spricht, hat

jedes andere überlagert. Er ist jener Erratische geblieben,

dessen Ode an die Freude Thomas Manns Tonsetzer in

seinem Roman Doktor Faustus zurücknehmen will, weil

sich die Menschheit am Geist dieser humanen Utopie

vergangen hat. Doch ist er ebenso der Komponist, der

seine gewichtige Siebte Sinfonie mit einem Satz beendet,

der »Hopp, hopp, hopp, Pferdchen lauf Galopp« anklingen

lässt. Und eigentlich hat Beethoven weit mehr Kammer-

musik als sinfonische Musik geschrieben. Außerdem

nimmt das Feierliche in seinem Werk weniger Raum ein

als das Lyrische. Vor allem aber ist seine Musik von einer

Zielstrebigkeit, die aus den späten Streichquartetten

bis zu Schönbergs frühem Sextett Verklärte Nacht weist.

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Hörtipp: Charles Mingus, The Black Saint and the Sinner Lady. Studioalbum. Aufnahme vom 20. Januar 1963 in verschiedener Besetzung. Impulse! Records 1963Lesetipp: Charles Mingus, Beneath the Underdog. Autobiographie. Aus d. Engl. v. Günter Pfeiffer. Hamburg: Nautilus 2003

CHARLES MINGUSIch hörte The Black Saint and the Sinner Lady zum ersten

Mal im Keller eines Londoner Gerümpelladens und erinnere

mich, dass ich mich lange nicht von der Stelle rührte, fassungs-

los, dass es solche Musik gab. Nachdem mir der Verkäufer

den Titel genannt hatte, ließ ich alles stehen und liegen und

kaufte mir mein erstes Mingus-Album: nichts zum Tanzen und

Swingen, keine nette Platte, aber ein wunderbares, wildes

Ungeheuer, vor Kraft, von brütender Sinnlichkeit strotzend,

kakophonisch, voller Husten, Rotzen und Röhren.

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Maifeiertag

Hörtipp: François Couperin, Werke für Cembalo (1713–1730)

François CouperinFrançois Couperin, genannt »der Große«, die prägende

musikalische Persönlichkeit Frankreichs zwischen Lully

und Rameau, war Hofkomponist des alternden Sonnen-

königs Ludwig XIV. Als dieser erkrankt, wendet sich der

Musikgeschmack bei Hof den getragenen Stücken zu. Für

sie fühlt sich Couperin prädestiniert, vereint er doch nach

eigenen Worten italienische Heiterkeit mit französischem

Ernst. Den einzelnen Sätzen der über 230 reich ornamen-

tierten Cembalowerke aus seiner Feder hat er Titel gege-

ben, die ein Thema, eine Stimmung, ein Gefühl bezeichnen.

Bei ihm wohnt man der Geburt der Musik aus dem Geist

der Verzierung bei, der Entfaltung reiner Spielfreude,

deren Voraussetzung das Ritual, das Zeremoniell ist.