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2 MEINUNG/HINTERGRUND DIENSTAG, 19. JULI 2016 Unabhängige Tageszeitung in Franken/Volksblatt Herausgeber: Mediengruppe Oberfranken GmbH & Co. KG, HRA 8435, ver- treten durch den Geschäftsführer Walter Schweinsberg Chefredakteur (verantw. i.S.d.P.): Frank Förtsch Stellvertretende Chefredakteure: Falk Zimmermann, Christian Holhut. Regionale und lokale Seiten werden erstellt von: Mediengruppe Oberfranken – Redaktionen GmbH & Co. KG, Bamberg. Art Director: Micho Haller. Leitende Redakteure: Adrian Grodel, Christian Reinisch, Benjamin Kemmer, Corinna Igler. Bamberg: Michael Memmel; Forchheim, Höchstadt/Herzogenaurach, Lichtenfels, Kronach: Christian Holhut; Haßberge: Klaus Schmitt Chefreporter: Gertrud Glössner-Möschk, Michael Wehner. Verlag: Mediengrup- pe Oberfranken-Zeitungsverlage GmbH & Co. KG, Gutenbergstraße 1, 96050 Bamberg. Geschäftsführer: Walter Schweinsberg, Sigrun Albert, Frank Förtsch. incl. 7% MwSt. Studenten bei Vorlage eines gültigen Studiennachweises 23,00 Euro monatl. incl. Zustellung und 7% MwSt. (Post 27,60 Euro monatl. incl. 7% MwSt.) Abbestellungen nur zum Monatsende und bis spätestens 5. schriftlich beim Verlag. Auflage IVW-kontrolliert. Alle Rechte gemäß § 49 UrhG vorbehalten. © für Text und von uns gestaltete Anzeigen beim Verlag. Nachdruck, Vervielfältigung u. elektronische Speicherung nur mit Zustimmung des Verlages. Es gelten die AGB für Anzeigen und Vertrieb unter „www.inFranken.de“. Erfüllungsort sowie ausschließli- cher Gerichtsstand ist Bamberg. Für die Herstellung dieser Zeitung wird Recycling- Papier verwendet. Anzeigenleitung: Philipp Gatz, Stellvertreter: Stefan Ap- fel. Es gilt die Anzeigenpreisliste Nr. 62a gültig ab 1.4.2016 (inklusive Zeitungsring Oberfranken). Vertriebsleitung: Sandra Zimmermann. Überregionale Seiten werden er- stellt in Kooperation mit der Mediengruppe Main-Post, verantwortlich: Michael Reinhard, Berner Straße 2, 97084 Würzburg. Druck: DZO Druckzentrum Oberfranken GmbH & Co. KG, Gu- tenbergstraße 1, 96050 Bamberg. Internet: www.inFranken.de Bezugspreis: 33,70 € monatl. incl. Zustellung und 7% MwSt.; Postbezugspreis: 38,30 € monatl. MEDIENGRUPPE OBERFRANKEN Wellen bis in die Ägäis Erlangen — Politologin Meltem Kulaçatan spricht über Ursa- chen und Folgen des Putsches und eine allgemeine Tendenz zu politischen Chauvinismus. 8000 Polizisten und 3000 Richter wurden entlassen, Tausende Sol- daten festgenommen, die Todes- strafe ist im Gespräch – wie konnte die Regierung so schnell reagieren? Meltem Kulaçatan: Die Reakti- on und die mediale Präsenz der Regierung sind trotz der Angst im Grunde sehr geordnet. Es ist möglich, dass sie vorher Wind von der Sache bekommen ha- ben, aber das ist spekulativ. Was sich zugetragen hat, werden wir – wenn überhaupt – erst im Nachhinein erfahren, denn die Regierung ist nicht auf Transpa- renz aus. Die Namen unliebsa- mer Personen aus Justiz, Polizei, Medien und Hochschulen waren hingegen schon lange bekannt. Was passiert jetzt? Das was jetzt passiert, wird mit dem Begriff „Säuberung“ be- schrieben. Für die Menschen bedeutet dieses furchtbare Wort einen Alptraum, in dem sie mit Repressionen und Folter bis hin zum Tod rechnen müssen. In der gesellschaftlichen Struktur be- deutet es, dass ein kompletter Personalaustausch stattfindet – und das ist Teil des politischen Ziels für das Jahr 2023. Dann fei- ert die Türkei ihr 100-jähriges Bestehen. Die AKP hat bereits 2011 die Vision „Hedef 2023“ entwickelt. Diese vermittelt ein Gesellschaftsbild, das auf einem wie auch immer konstruierten Islam fußt, der mit der Politik verwoben ist – gepaart mit ei- nem türkischen Nationalismus. Dazu gibt es Werbespots, die das Bild von Menschen zeigen, die sehr fromm sind, ökonomisch orientiert und sehr autoritätshö- rig. Wenn wir diese Vision an- schauen, ist absolut logisch, dass diejenigen ausgetauscht werden, die dem nicht entsprechen. Nach meinen Beobachtungen ist die jetzige Regierung spätestens seit 2008 davon ausgegangen, dass sie 2023 noch an der Macht sein wird. Das Land positioniert sich immer stärker totalitär. Sie haben vor Jahren intensiv über Fethullah Gülen geforscht – welche Rolle spielt er bei dem Putsch? Man kann wohl ausschließen, dass Gülen persönlich dahinter- steckt, und auch die Gülen-Be- wegung als solche kann ich mir nicht als Drahtzieher vorstellen. Allerdings ist gut möglich, dass Teile des Militärs beteiligt sind, die der Bewegung zumindest noch nahestehen. Inzwischen nennt sich die Bewegung Hiz- met („Dienst“). Man will den Dienst am Menschen in den Vor- dergrund stellen und ein wenig von der Figur Fethullah Gülens als Spiritus Rector wegkommen. Nicht nur Erdogans einstiger Weg- gefährte Gülen kritisierte die Nie- derschlagung der Gezi-Park-Pro- teste 2013 - auch Europa stellte fest, dass es mit der Demokratie in der Türkei nicht so weit her ist ... Europa hat sich zu sehr auf die florierende Skyline Istanbuls konzentriert, auf wirtschaftliche Aspekte. Kaum einer hat sich für die Innenpolitik interessiert. Ein Beispiel: 2006 wollte die AKP eine Gefängnisstrafe fürs „Fremdgehen“ einführen. Mit dem Begriff „Zina“ wurde der Ehebruch in den islamischen Kontext gestellt. Es ging ein Aufschrei durchs Land, es war gesellschaftlicher Konsens, dass private und politische Angele- genheiten nicht vermischt wer- den sollten. Die AKP ruderte zurück. Heute ist es Konsens, dass Ehebruch bestraft werden sollte. Seit 2008 wurde auch im- mer mehr Kunst verboten, zum Beispiel Ballettstücke, in denen es Berührungen zwischen Mann und Frau gibt. In der Stadt Kars wurde das Menschenrechts- denkmal demontiert. Das sind Dinge, die in der Türkei kontro- vers diskutiert wurden. Westli- che Medien hat das nicht inter- essiert. Hier lag der Fokus nur auf der Wirtschaft – wie die Tür- kei zur Wirtschaftsmacht wurde, wer davon profitiert, wie es um Arbeitnehmerrechte bestellt ist? Danach hat keiner gefragt. Was bedeutet diese Anspannung für die Türken in Deutschland? Es gibt sehr unterschiedliche Meinungen. Da gibt es diejeni- gen, die Angst um ihre Ver- wandten, ihre Freunde in der zweiten Heimat haben. Aber wie in Deutschland und anderen eu- ropäischen Ländern gibt es auch diejenigen, die die klare Positio- nierung eines Einzelnen wie Er- dogan schätzen, die eindeutige Strukturen und Sprache befür- worten. Es gibt derzeit insge- samt eine klare Tendenz zu poli- tischem Chauvinismus. Eines sollte jedoch bedacht werden: Erdogan hat schon in seiner Zeit als Ministerpräsident um die Türken in der Diaspora gewor- ben. In Deutschland dürfen Menschen mit türkischem Pass nicht einmal bei einer Kommu- nalwahl abstimmen, weil sie kei- ne EU-Bürger sind. Erdogan kam hierher, hat Wahlwerbung gemacht und gesagt, die Leute sollten sich integrieren, aber nicht assimilieren. Das war Bal- sam und Anerkennung für die Seele der Türkeistämmigen. Wie soll sich Europa verhalten? Mir macht es Sorgen, wenn ich höre: Wenn es so und so ist, wenn die Todesstrafe wieder eingeführt wird, werden die Bei- trittsverhandlungen gestoppt. Nein! Europa muss zeigen, dass wir nicht locker lassen. Denn es geht um sehr viele Menschen. Das Interview führte Natalie Schalk. Berlin — Fethullah Gülen (75) gilt als einflussreichster islamischer Prediger der Türkei. Seine An- hänger haben ein Netzwerk ge- gründet, das in vielen Ländern aktiv ist – auch in Deutschland. Ziel der Bewegung ist es, Musli- me über Bildungseinrichtungen, Medien und Vereinsarbeit für ei- ne fromme Lebensweise zu ge- winnen. Fast genauso wichtig wie der Glaube ist den „Fethul- lahci“ das Streben nach Bildung und beruflichem Erfolg. Auch deshalb sind viele von ihnen in der Türkei in den vergangenen Jahren in Schlüsselpositionen aufgestiegen. Von der Regierungspartei AKP wurde das lange Zeit nicht als Problem angesehen – im Ge- genteil. Man war anfangs froh, dass die Gülen-Anhänger in den staatlichen Institutionen ein Ge- gengewicht zu den Kemalisten bildeten – der westlich orientier- ten alten Elite, die die Trennung von Staat und Religion im Sinne des Republikgründers Mustafa Kemal Atatürk hochhält. Gülen und der heutige türki- sche Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan hatten bis vor einigen Jahren ähnliche Ziele: die politische Macht des Militärs zurückdrängen und den from- men Anatoliern zum gesell- schaftlichen Aufstieg verhelfen. Zum Bruch kam es Ende 2013, als Erdogan die Gülen-Bewe- gung bezichtigte, einen Korrup- tionsskandal angefacht zu ha- ben, durch den mehrere führen- de Politiker aus Erdogans Um- feld in Bedrängnis gerieten. Gülen lebt seit 1999 zurück- gezogen im US-Bundesstaat Pennsylvania. Interviews gibt der Prediger, der von seinen An- hängern „verehrter Lehrer“ ge- nannt wird, nur selten. Ur- sprünglich war sein Aufenthalt in den USA mit einer medizini- schen Behandlung begründet worden. Doch dürfte sich Gülen auch ausgerechnet haben, dass sein großer Einfluss seinem eins- tigen Bruder im Geiste, Erdo- gan, eines Tages unheimlich werden könnte. dpa VON TAKIS TSAFOS UND ALEXIA ANGELOPOULOU, DPA Athen/Istanbul Sie könnten der zündende Funke sein, der einen alten Konflikt neu ent- facht: Die acht türkischen Sol- daten, die sich am Samstag während des gescheiterten Mi- litärputsches in der Türkei mit einem Hubschrauber nach Griechenland absetzten und dort politisches Asyl beantrag- ten. Die Türkei forderte umge- hend die sofortige Auslieferung der mutmaßlichen Putschisten. Griechenland pocht auf die An- wendung internationalen Rechts und die ordnungsgemä- ße Bearbeitung der Anträge. Die ersten Muskelspiele haben bereits begonnen. Handelt es sich um einen Übersetzungsfehler oder hat man einander absichtlich miss- verstanden? In einem Telefonat am Sonntag habe der griechi- sche Ministerpräsident Alexis Tsipras zugesagt, die geflohe- nen Militärs innerhalb von 15 Tagen auszuliefern, verkünde- te der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan. Sache unabhängiger Gerichte Kopfschütteln bei den Grie- chen. Egal was man von Tsipras hält, aber dass er einen Zeit- raum oder gar die eigentliche Auslieferung fest zugesagt hät- te, glaubt nicht einmal die Op- position. Vielmehr war die Athener Haltung zu den bri- santen Asylsuchenden von Be- ginn an klar: Man werde sich an geltendes internationales Recht halten, wie jeder andere europäische Staat auch. „Wir können uns nur poli- tisch äußern“, sagt der griechi- sche Vize-Verteidigungsminis- ter Dimitris Vitsas. Im Klar- text: Der Wille, die acht Män- ner und damit das Problem so schnell wie möglich loszuwer- den, ist da. Das werden jedoch die Gerichte entscheiden – und die sind weisungsunabhängig. Hinzu kommt der Zeitfaktor. Das Verfahren könnte gut und gerne länger als ein Jahr dau- ern, schätzt Jurist Makis Vori- dis, der für die konservative Oppositionspartei Nea Dimo- kratia (ND) im Parlament sitzt. Den acht Soldaten stünde der Weg durch sämtliche griechi- sche Gerichte offen. Und selbst wenn die türki- sche Regierung diesen Zeitfak- tor akzeptiert, ist die wichtigste Frage noch nicht beantwortet: Was passiert, wenn ein griechi- sches Gericht den Männern di- rekt Asyl gewährt? Beispiels- weise, weil die Türkei die To- desstrafe wieder einführt? Das alte Feindbild Dieses Szenario wäre das schlimmste, heißt es hinter vor- gehaltener Hand, sowohl bei Regierung und Opposition als auch bei Athener Diplomaten. Kaum vorstellbar, dass der tür- kische Staatspräsident es hin- nehmen würde, wenn mutmaß- liche Putschisten in Griechen- land Asyl bekommen und sich dort frei bewegen. Stattdessen, so die Angst in Athen, könnte Erdogan auf dieser Basis das altbekannte Feindbild Grie- chenland wiederbeleben, um sein zerrissenes Volk zu einen. Meltem Kulaçatan ist Politikwis- senschaftlerin und Religions- pädagogin. Für ihre Dok- torarbeit an der Friedrich- Alexander- Universität Erlangen hat sie sich sechs Jahre lang intensiv mit der Gülen-Bewegung befasst, die der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan derzeit für den Putsch verantwortlich macht. Seit einem Jahr forscht die 40- Jährige an der Frankfurter Goe- the-Universität u.a. zu Islam und Feminismus und der Radikalisie- rung junger Frauen. Zur Person u u uuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuu u u uuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuu Fethullah Gülen wirkt wie das Gegenteil von Präsident Erdogan. Foto: dpa INTERVIEW Für ihr 100-jähriges Bestehen 2023 präsentiert die Türkei ein neues Menschenbild: fromm, wirtschaftlich orientiert und autoritätshörig. Die Erlanger Politologin Meltem Kulaçatan erklärt, was das mit dem Putsch zu tun hat – und was mit Deutschland. Die Vision vom neuen Türken Foto: Marius Becker, dpa Dem einflußreichen Prediger Gülen ist lautstarker Populismus fremd

2 MEINUNG/HINTERGRUND DIENSTAG, 19. JULI 2016 Die Vision ...28fdaf8b-61a6-4013-b744... · Meltem Kulaçatan ist Politikwis-senschaftlerin und Religions-pädagogin. Für ihre Dok-torarbeit

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2 MEINUNG/HINTERGRUND DIENSTAG, 19. JULI 2016

Unabhängige Tageszeitung in Franken/Volksblatt

Herausgeber: Mediengruppe Oberfranken GmbH & Co. KG, HRA 8435, ver-treten durch den Geschäftsführer Walter SchweinsbergChefredakteur (verantw. i.S.d.P.): Frank FörtschStellvertretende Chefredakteure: Falk Zimmermann, Christian Holhut.

Regionale und lokale Seiten werden erstellt von: Mediengruppe Oberfranken– Redaktionen GmbH & Co. KG, Bamberg. Art Director: Micho Haller.Leitende Redakteure: Adrian Grodel, Christian Reinisch, Benjamin Kemmer,Corinna Igler.Bamberg: Michael Memmel; Forchheim, Höchstadt/Herzogenaurach, Lichtenfels,Kronach: Christian Holhut; Haßberge: Klaus SchmittChefreporter: Gertrud Glössner-Möschk, Michael Wehner. Verlag: Mediengrup-pe Oberfranken-Zeitungsverlage GmbH & Co. KG, Gutenbergstraße 1, 96050Bamberg. Geschäftsführer: Walter Schweinsberg, Sigrun Albert, Frank Förtsch.

incl. 7% MwSt. Studenten bei Vorlage eines gültigen Studiennachweises 23,00Euro monatl. incl. Zustellung und 7% MwSt. (Post 27,60 Euro monatl. incl. 7%MwSt.) Abbestellungen nur zum Monatsende und bis spätestens 5. schriftlich beimVerlag. Auflage IVW-kontrolliert. Alle Rechte gemäß § 49 UrhG vorbehalten. © fürText und von uns gestaltete Anzeigen beim Verlag. Nachdruck, Vervielfältigung u.elektronische Speicherung nur mit Zustimmung des Verlages. Es gelten die AGB fürAnzeigen und Vertrieb unter „www.inFranken.de“. Erfüllungsort sowie ausschließli-cher Gerichtsstand ist Bamberg. Für die Herstellung dieser Zeitung wird Recycling-Papier verwendet.

Anzeigenleitung: Philipp Gatz, Stellvertreter: Stefan Ap-fel. Es gilt die Anzeigenpreisliste Nr. 62a gültig ab 1.4.2016(inklusive Zeitungsring Oberfranken). Vertriebsleitung:Sandra Zimmermann. Überregionale Seiten werden er-stellt in Kooperation mit der Mediengruppe Main-Post,verantwortlich: Michael Reinhard, Berner Straße 2,

97084 Würzburg. Druck: DZO Druckzentrum Oberfranken GmbH & Co. KG, Gu-tenbergstraße 1, 96050 Bamberg. Internet: www.inFranken.de Bezugspreis:33,70 € monatl. incl. Zustellung und 7% MwSt.; Postbezugspreis: 38,30 € monatl.

MEDIENGRUPPEOBERFRANKEN

Wellenbis indie Ägäis

Erlangen — Politologin MeltemKulaçatan spricht über Ursa-chen und Folgen des Putschesund eine allgemeine Tendenz zupolitischen Chauvinismus.

8000 Polizisten und 3000 Richterwurden entlassen, Tausende Sol-daten festgenommen, die Todes-strafe ist im Gespräch – wie konntedie Regierung so schnell reagieren?Meltem Kulaçatan: Die Reakti-on und die mediale Präsenz derRegierung sind trotz der Angstim Grunde sehr geordnet. Es istmöglich, dass sie vorher Windvon der Sache bekommen ha-ben, aber das ist spekulativ. Wassich zugetragen hat, werden wir– wenn überhaupt – erst imNachhinein erfahren, denn dieRegierung ist nicht auf Transpa-renz aus. Die Namen unliebsa-mer Personen aus Justiz, Polizei,Medien und Hochschulen warenhingegen schon lange bekannt.

Was passiert jetzt?Das was jetzt passiert, wird mitdem Begriff „Säuberung“ be-schrieben. Für die Menschenbedeutet dieses furchtbare Worteinen Alptraum, in dem sie mitRepressionen und Folter bis hinzum Tod rechnen müssen. In dergesellschaftlichen Struktur be-deutet es, dass ein kompletterPersonalaustausch stattfindet –und das ist Teil des politischenZiels für das Jahr 2023. Dann fei-ert die Türkei ihr 100-jährigesBestehen. Die AKP hat bereits2011 die Vision „Hedef 2023“entwickelt. Diese vermittelt einGesellschaftsbild, das auf einemwie auch immer konstruiertenIslam fußt, der mit der Politikverwoben ist – gepaart mit ei-nem türkischen Nationalismus.

Dazu gibt es Werbespots, die dasBild von Menschen zeigen, diesehr fromm sind, ökonomischorientiert und sehr autoritätshö-rig. Wenn wir diese Vision an-schauen, ist absolut logisch, dassdiejenigen ausgetauscht werden,die dem nicht entsprechen.Nach meinen Beobachtungen istdie jetzige Regierung spätestensseit 2008 davon ausgegangen,dass sie 2023 noch an der Machtsein wird. Das Land positioniertsich immer stärker totalitär.

Sie haben vor Jahren intensiv überFethullah Gülen geforscht – welcheRolle spielt er bei dem Putsch?Man kann wohl ausschließen,dass Gülen persönlich dahinter-steckt, und auch die Gülen-Be-wegung als solche kann ich mirnicht als Drahtzieher vorstellen.Allerdings ist gut möglich, dassTeile des Militärs beteiligt sind,die der Bewegung zumindestnoch nahestehen. Inzwischennennt sich die Bewegung Hiz-met („Dienst“). Man will denDienst am Menschen in den Vor-dergrund stellen und ein wenigvon der Figur Fethullah Gülensals Spiritus Rector wegkommen.

Nicht nur Erdogans einstiger Weg-gefährte Gülen kritisierte die Nie-

derschlagung der Gezi-Park-Pro-teste 2013 - auch Europa stelltefest, dass es mit der Demokratie inder Türkei nicht so weit her ist ...Europa hat sich zu sehr auf dieflorierende Skyline Istanbulskonzentriert, auf wirtschaftlicheAspekte. Kaum einer hat sichfür die Innenpolitik interessiert.Ein Beispiel: 2006 wollte dieAKP eine Gefängnisstrafe fürs„Fremdgehen“ einführen. Mitdem Begriff „Zina“ wurde derEhebruch in den islamischenKontext gestellt. Es ging einAufschrei durchs Land, es wargesellschaftlicher Konsens, dassprivate und politische Angele-genheiten nicht vermischt wer-den sollten. Die AKP rudertezurück. Heute ist es Konsens,dass Ehebruch bestraft werdensollte. Seit 2008 wurde auch im-mer mehr Kunst verboten, zumBeispiel Ballettstücke, in denenes Berührungen zwischen Mannund Frau gibt. In der Stadt Karswurde das Menschenrechts-denkmal demontiert. Das sindDinge, die in der Türkei kontro-vers diskutiert wurden. Westli-che Medien hat das nicht inter-essiert. Hier lag der Fokus nurauf der Wirtschaft – wie die Tür-kei zur Wirtschaftsmacht wurde,wer davon profitiert, wie es um

Arbeitnehmerrechte bestellt ist?Danach hat keiner gefragt.

Was bedeutet diese Anspannungfür die Türken in Deutschland?Es gibt sehr unterschiedlicheMeinungen. Da gibt es diejeni-gen, die Angst um ihre Ver-wandten, ihre Freunde in derzweiten Heimat haben. Aber wiein Deutschland und anderen eu-ropäischen Ländern gibt es auchdiejenigen, die die klare Positio-nierung eines Einzelnen wie Er-dogan schätzen, die eindeutigeStrukturen und Sprache befür-worten. Es gibt derzeit insge-samt eine klare Tendenz zu poli-tischem Chauvinismus. Einessollte jedoch bedacht werden:Erdogan hat schon in seiner Zeitals Ministerpräsident um dieTürken in der Diaspora gewor-ben. In Deutschland dürfenMenschen mit türkischem Passnicht einmal bei einer Kommu-nalwahl abstimmen, weil sie kei-ne EU-Bürger sind. Erdogankam hierher, hat Wahlwerbunggemacht und gesagt, die Leutesollten sich integrieren, abernicht assimilieren. Das war Bal-sam und Anerkennung für dieSeele der Türkeistämmigen.

Wie soll sich Europa verhalten?

Mir macht es Sorgen, wenn ichhöre: Wenn es so und so ist,wenn die Todesstrafe wiedereingeführt wird, werden die Bei-trittsverhandlungen gestoppt.Nein! Europa muss zeigen, dasswir nicht locker lassen. Denn esgeht um sehr viele Menschen.

Das Interview führteNatalie Schalk.

Berlin — Fethullah Gülen (75) giltals einflussreichster islamischerPrediger der Türkei. Seine An-hänger haben ein Netzwerk ge-gründet, das in vielen Ländernaktiv ist – auch in Deutschland.Ziel der Bewegung ist es, Musli-me über Bildungseinrichtungen,Medien und Vereinsarbeit für ei-ne fromme Lebensweise zu ge-winnen. Fast genauso wichtigwie der Glaube ist den „Fethul-lahci“ das Streben nach Bildungund beruflichem Erfolg. Auchdeshalb sind viele von ihnen inder Türkei in den vergangenenJahren in Schlüsselpositionenaufgestiegen.

Von der RegierungsparteiAKP wurde das lange Zeit nicht

als Problem angesehen – im Ge-genteil. Man war anfangs froh,dass die Gülen-Anhänger in denstaatlichen Institutionen ein Ge-gengewicht zu den Kemalistenbildeten – der westlich orientier-ten alten Elite, die die Trennungvon Staat und Religion im Sinnedes Republikgründers MustafaKemal Atatürk hochhält.

Gülen und der heutige türki-sche Staatspräsident RecepTayyip Erdogan hatten bis voreinigen Jahren ähnliche Ziele:die politische Macht des Militärszurückdrängen und den from-men Anatoliern zum gesell-schaftlichen Aufstieg verhelfen.Zum Bruch kam es Ende 2013,als Erdogan die Gülen-Bewe-

gung bezichtigte, einen Korrup-tionsskandal angefacht zu ha-ben, durch den mehrere führen-de Politiker aus Erdogans Um-feld in Bedrängnis gerieten.

Gülen lebt seit 1999 zurück-gezogen im US-BundesstaatPennsylvania. Interviews gibtder Prediger, der von seinen An-hängern „verehrter Lehrer“ ge-nannt wird, nur selten. Ur-sprünglich war sein Aufenthaltin den USA mit einer medizini-schen Behandlung begründetworden. Doch dürfte sich Gülenauch ausgerechnet haben, dasssein großer Einfluss seinem eins-tigen Bruder im Geiste, Erdo-gan, eines Tages unheimlichwerden könnte. dpa

VON TAKIS TSAFOS

UND ALEXIA ANGELOPOULOU, DPA

Athen/Istanbul — Sie könntender zündende Funke sein, dereinen alten Konflikt neu ent-facht: Die acht türkischen Sol-daten, die sich am Samstagwährend des gescheiterten Mi-litärputsches in der Türkei miteinem Hubschrauber nachGriechenland absetzten unddort politisches Asyl beantrag-ten. Die Türkei forderte umge-hend die sofortige Auslieferungder mutmaßlichen Putschisten.Griechenland pocht auf die An-wendung internationalenRechts und die ordnungsgemä-ße Bearbeitung der Anträge.Die ersten Muskelspiele habenbereits begonnen.

Handelt es sich um einenÜbersetzungsfehler oder hatman einander absichtlich miss-verstanden? In einem Telefonatam Sonntag habe der griechi-sche Ministerpräsident AlexisTsipras zugesagt, die geflohe-nen Militärs innerhalb von 15Tagen auszuliefern, verkünde-te der türkische StaatspräsidentRecep Tayyip Erdogan.

Sache unabhängiger Gerichte

Kopfschütteln bei den Grie-chen. Egal was man von Tsiprashält, aber dass er einen Zeit-raum oder gar die eigentlicheAuslieferung fest zugesagt hät-te, glaubt nicht einmal die Op-position. Vielmehr war dieAthener Haltung zu den bri-santen Asylsuchenden von Be-ginn an klar: Man werde sichan geltendes internationalesRecht halten, wie jeder andereeuropäische Staat auch.

„Wir können uns nur poli-tisch äußern“, sagt der griechi-sche Vize-Verteidigungsminis-ter Dimitris Vitsas. Im Klar-text: Der Wille, die acht Män-ner und damit das Problem soschnell wie möglich loszuwer-den, ist da. Das werden jedochdie Gerichte entscheiden – unddie sind weisungsunabhängig.

Hinzu kommt der Zeitfaktor.Das Verfahren könnte gut undgerne länger als ein Jahr dau-ern, schätzt Jurist Makis Vori-dis, der für die konservativeOppositionspartei Nea Dimo-kratia (ND) im Parlament sitzt.Den acht Soldaten stünde derWeg durch sämtliche griechi-sche Gerichte offen.

Und selbst wenn die türki-sche Regierung diesen Zeitfak-tor akzeptiert, ist die wichtigsteFrage noch nicht beantwortet:Was passiert, wenn ein griechi-sches Gericht den Männern di-rekt Asyl gewährt? Beispiels-weise, weil die Türkei die To-desstrafe wieder einführt?

Das alte Feindbild

Dieses Szenario wäre dasschlimmste, heißt es hinter vor-gehaltener Hand, sowohl beiRegierung und Opposition alsauch bei Athener Diplomaten.Kaum vorstellbar, dass der tür-kische Staatspräsident es hin-nehmen würde, wenn mutmaß-liche Putschisten in Griechen-land Asyl bekommen und sichdort frei bewegen. Stattdessen,so die Angst in Athen, könnteErdogan auf dieser Basis dasaltbekannte Feindbild Grie-chenland wiederbeleben, umsein zerrissenes Volk zu einen.

MeltemKulaçatanist Politikwis-senschaftlerinund Religions-pädagogin.Für ihre Dok-torarbeit ander Friedrich-Alexander-Universität Erlangen hat sie sichsechs Jahre lang intensiv mit derGülen-Bewegung befasst, dieder türkische Präsident RecepTayyip Erdogan derzeit für denPutsch verantwortlich macht.Seit einem Jahr forscht die 40-Jährige an der Frankfurter Goe-the-Universität u.a. zu Islam undFeminismus und der Radikalisie-rung junger Frauen.

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Fethullah Gülen wirkt wie das Gegenteil von Präsident Erdogan. Foto: dpa

INTERVIEW Für ihr100-jähriges Bestehen2023 präsentiert dieTürkei ein neuesMenschenbild: fromm,wirtschaftlich orientiertund autoritätshörig.Die ErlangerPolitologin MeltemKulaçatan erklärt, wasdas mit dem Putsch zutun hat – und was mitDeutschland.

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