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Leitfaden zur Vorlesung: Theorien der visuellen Wahrnehmung; WS 02/03, P. Wolff 2. Wahrnehmung als Organisation: Figurale Wahrnehmung 2.1. Kritik des Elementarismus 2.1.1. Konstanzphänomene 2.1.2. Stroboskopische Scheinbewegung 2.2. Phänomenologie vs. Introspektion 2.3. Gestaltqualität 2.4. Produktive Psychophysik 2.5. Figur-Grund-Gliederung 2.5.1. Phänomenologische Unterschiede zwischen Figur und Grund 2.5.2. Der PASS-Effekt 2.6. Gestaltgesetze 2.6.1. Figur-Grund-Gliederung 2.6.2. Binnengliederung 2.6.3. Gruppierung 2.7. Gesetz der „guten Gestalt“ Prägnanzprinzip 2.7.1. Definition 2.7.2. Beispiele für das Prägnanzprinzip 2.7.2.1. Optische Täuschungen 2.7.2.2. Die 3-dimensionale Wahrnehmung 2-dimensionaler Figuren 2.7.2.3. Amodale Wahrnehmung 2.7.3. Prägnanztendenz als grundlegendes Prinzip des psychischen Geschehens 2.8. Theorie der psychophysischen Gestalten 2.8.1. Das ISOMORPHIE-PRINZIP des Psychophysischen Zusammenhangs 2.8.2. Das Prinzip der PHYSISCHEN GESTALTEN 2.8.3. Das FELDPRINZIP des psychophysischen Niveaus. 2.9. Kurze Würdigung der Gestaltpsychologie 2.10. Neuere Untersuchungen 2.10.1. Informationstheoretische Definition der Prägnanz als Redundanz 2.10.2. Bewegungswahrnehmung: 2.10.2.1. Untersuchungen von Restle (1979) 2.10.2.2. Perzeptive Vektoranalyse (Perceptual Vector Analysis) 2.10.2.3. Biologische Bewegung 2.10.3. Neuere Untersuchungen zur Gliederung und Gruppierung 51

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Leitfaden zur Vorlesung: Theorien der visuellen Wahrnehmung; WS 02/03, P. Wolff

2. Wahrnehmung als Organisation: Figurale Wahrnehmung

2.1. Kritik des Elementarismus

2.1.1. Konstanzphänomene2.1.2. Stroboskopische Scheinbewegung

2.2. Phänomenologie vs. Introspektion

2.3. Gestaltqualität

2.4. Produktive Psychophysik

2.5. Figur-Grund-Gliederung

2.5.1. Phänomenologische Unterschiede zwischen Figur und Grund2.5.2. Der PASS-Effekt

2.6. Gestaltgesetze

2.6.1. Figur-Grund-Gliederung2.6.2. Binnengliederung2.6.3. Gruppierung

2.7. Gesetz der „guten Gestalt“ Prägnanzprinzip

2.7.1. Definition2.7.2. Beispiele für das Prägnanzprinzip

2.7.2.1. Optische Täuschungen2.7.2.2. Die 3-dimensionale Wahrnehmung 2-dimensionaler Figuren2.7.2.3. Amodale Wahrnehmung

2.7.3. Prägnanztendenz als grundlegendes Prinzip des psychischen Geschehens

2.8. Theorie der psychophysischen Gestalten

2.8.1. Das ISOMORPHIE-PRINZIP des Psychophysischen Zusammenhangs2.8.2. Das Prinzip der PHYSISCHEN GESTALTEN 2.8.3. Das FELDPRINZIP des psychophysischen Niveaus.

2.9. Kurze Würdigung der Gestaltpsychologie

2.10. Neuere Untersuchungen

2.10.1. Informationstheoretische Definition der Prägnanz als Redundanz2.10.2. Bewegungswahrnehmung:

2.10.2.1. Untersuchungen von Restle (1979)2.10.2.2. Perzeptive Vektoranalyse (Perceptual Vector Analysis)2.10.2.3. Biologische Bewegung

2.10.3. Neuere Untersuchungen zur Gliederung und Gruppierung

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2. Wahrnehmung als Organisation: Figurale Wahrnehmung

2.1. Kritik des Elementarismus

2.1.1.Konstanzphänomene

Die psychophysischeWahrnehmungsforschung,mit der wir uns bisher befasst haben,untersuchtdie Wahrnehmung einzelner Reizdimensionen(Länge,Helligkeit, Lautstärke,etc.), bzw. die durch die einzelnen Reizdimensionen ausgelösten Empfindungen.

Schon früh wurde eingewandt,dasswir keine Einzelempfindungenwahrnehmen,sondernObjekte, unddassdie wahrgenommenenObjekteigenschaftensich nicht als Empfindungenerklären lassen, die durch Reizdimensionen ausgelöst werden.

So reflektiert z.B. Kohle in der Sonne mehr Licht, als weißes Papier im Schatten.Trotzdemnehmeich die Kohle in derSonnealsschwarzunddasPapierim Schattenalsweißwahr. Die wahrgenommeneHelligkeit ändert sich also nicht linear mit der objektivenLichtmenge, sondern bleibt für den jeweiligen Gegenstandüber einen weiten Bereichkonstant.Dies Phänomen heißt Helligkeitskonstanz:

1. Helligkeitskonstanz: Die wahrgenommene Helligkeit bleibt konstant im Wechselder Beleuchtung

Entsprechendgibt es eine ganzePalettevon Konstanzphänomenen.Sie alle sind dadurchgekennzeichnet,dass die Wahrnehmungvon Objekten trotz der Variation der retinalenAbbilder der Objekte konstant bleibt, z.B.:

• Formkonstanz: Die wahrgenommeneObjektformbleibt konstantim WechseldesBlickwinkels: Zum Beispielwird einequadratischeTischplatteauchbei seitlicherDraufsichtals Quadratwahrgenommen,obwohl ihr retinalesAbbild unterdiesemBeobachtungswinkel trapezoid ist.

• Größenkonstanz:Die wahrgenommeneGrößeeinesObjektesbleibt konstantimWechselder Entfernungen,obwohl die GrößeseinesretinalenAbbildes mit demwachsender Objektentfernung sinkt.

Überlegen Sie selbst, welche weiteren Konstanzphänomene es gibt.

TITCHENER (Elementarist wie Wundt, gewissermaßender „englische“ Wundt) erklärtedie Konstanzphänomeneals Reizfehler, d.h. als VerwechslungdesReizesmit demWissen:WennderWahrnehmendedie Kohle in derSonnealsschwarzunddasPapierim Schattenalsweiß bezeichnet,bzw. die Größeeinessich entfernendenObjektesals konstant,etc., dannberichtet er nicht das, was er wahrnimmt, sondern das, was er weiß.

Die Elementaristen versuchten, diese vermeintlichen Reizfehler durch verschiedeneMaßnahmen zu verhindern

• Introspektions- (Selbstbeobachtungs-)training der Vpn: Die Vpn wurdendaringeschult,ihre Empfindungenunbeeinflusstvon ihrem Wissenzu berichten.Diesführte allerdings dazu, dass die IntrospektionenverschiedenerInstitute kaummiteinander übereinstimmten, da verschiedene Institute verschiedenes trainierten.

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• Verwendung eines Reduktionsschirms (Lochmaske): Er reduziert die

Reizsituationauf einenkleinen Ausschnittund vermittelt einenEindruck davon,welcheFarb- und Helligkeitswertetatsächlichvorliegen,bzw. welche Farb- undHelligkeitsempfindungenisolierten Reizelementenentsprechen.DieseFarb-undHelligkeitsempfindungen waren als Elemente der Wahrnehmung gemeint.(ProbierenSieselbstaus,wie sichdie wahrgenommeneFarbeund Helligkeit einerOberfläche verändert, wenn Sie sie durch eine Lochmaske betrachten).

2.1.2. Stroboskopische Scheinbewegung

Die elementaristischeAuffassung,dass sich die Wahrnehmungsweltaus Empfindungenzusammensetzt,die durchReizdimensionenausgelöstwerden,scheitertspätestensbei solchenWahrnehmungseigenschaften,denen sich nicht ohne weiteres Reizdimensionenzuordnenlassen.Im Film z.B. sehenwir Bewegung,obwohlnur eineSeriestehenderBilder dargebotenwird. Es lässtsich keineReizdimensionangeben,derenTransformationdie wahrgenommeneBewegungerklärt. DiesesPhänomenheißt stroboskopischeScheinbewegungoder PHI-PHÄNOMEN. Es lässt sich nicht als Reizfehler abtun.

Wahrnehmungseigenschaften,denen keine Reizdimensionenentsprechen,findet mannatürlichdannnicht, wennman reizorientiert vorgehtund danachfragt, wie einegegebeneReizeigenschaftin derWahrnehmungrepräsentiertist. Wahrnehmungseigenschaften,die sichnicht unmittelbarauseinzelnenReizdimensionenherleitenlassen,findet manerstdann,wennman die Frage umkehrt: Wie sind die Reizverhältnisse bei gegebenenWahrnehmungsinhalten, vgl. Prinz, 1992). DieseFrageumkehrkennenwir schonausderklassischenPsychophysik.Dort aber war sie nur ein psychometrischerTrick, um zurpsychophysischenFunktion zu gelangen. Die wissenschaftliche Frage blieb aberreizorientiert.

Die Umkehr der Frage und die Untersuchung der Reizverhältnissebei gegebenenWahrnehmungsinhaltenführtevor fasthundertJahrenzu einemwissenschaftsgeschichtlichenDurchbruch.Er wurdesehreinflussreichdurchdieGestaltpsychologie,auchBerliner Schulegenannt (nicht zu verwechseln mit der Leipziger Schule, die ebenfalls einenganzheitspsychologischenAnsatzvertrat).Als Begründerder Gestaltpsychologiegilt MAXWERTHEIMER (Abb. 34), der 1912 eine Arbeit über das PHI-Phänomen veröffentlichte.

Abb. 34: Max Wertheimer (aus Lück & Miller, 1999)

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Die Entdeckungder stroboskopischenScheinbewegungmachtedamalsin ähnlichemMaßeFurore, wie in neuererZeit die Erfindung der Autostereogramme.Es gab damalsallerleiKinderspielzeug,mit dem sich dieseScheinbewegungerzeugenließ. Hier ein Beispiel: DieStroboskop-Scheiben (Abb. 35):

Abb. 35: Stroboskop-Scheibe mit Beschreibung

Die stroboskopische Scheinbewegung war und ist der Paradefall einerWahrnehmungseigenschaft,die sich nicht auf die Empfindung einer Reizdimensionreduzieren lässt.

Wertheimeruntersuchteihre zeitlichenBedingungen.Er zeigteseinenVpn abwechselndzweiReize:EinegeradesenkrechteLinie links undeinewaagerechteLinie rechtsunten(Abb. 36).WurdenbeideReizeabwechselndgezeigt,und zwar in einemZeitabstandvon ca.60 ms,sosahendieVp stattzwei Linien anverschiedenenOrteneineeinzigeLinie, die sichhin undherbewegte(Scheibenwischerbewegung).Folgtendie Linien zu schnellaufeinander,nahmendieVpn sie als simultanwahr.War der Zeitabstandgrößerals 150ms,soentstandderEindruck

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der Sukzessivität. Wertheimer bezeichnetedie wahrgenommeneBewegung als Phi-Phänomen.

Abb. 36: Anordnung der Reize in Wertheimers Versuch zur stroboskopischen Bewegung.

2.2. Phänomenologie vs. Introspektion

ThemaderGestaltpsychologieist nicht die WahrnehmungisolierterReizdimensionenin einerreduzierten Laborwelt, sondern die Alltagswahrnehmung. Insofern ist dieGestaltpsychologieder Wegbereiter des ökologischen Ansatzes: Zu erklären ist dieWahrnehmungso, wie wir sie naiv antreffen.Dasbedeutet:Die Methodeder Wahl ist nichtdie Introspektionbzw. dieSelbstbeobachtung,sonderndieBeschreibungderErlebniswelt,diePhänomenologie. Unterschied zwischen Selbstbeobachtung und Erlebnisbeschreibung:

• Die SelbstbeobachtungrichtetsichnachINNEN: Wasist in meinemBewusstsein,vor meinemgeistigenAuge?Das Subjektive,der Bewusstseinsinhalt,wird selbstzum Objekt.

• Die Erlebnisbeschreibung richtet sich nach AUSSEN: Wie erscheintmir dieWelt.

Die Wahrnehmungsweltwird beschriebenmit demZiel, sie zu erklären.Die erlebte Welt istnachgestaltpsychologischerAuffassung,der genuin psychologischeForschungsgegenstand.Die Psychologie ist, wie Metzger, der letzte große Gestaltpsychologe, es 1952 formulierte:

„... die Wissenschaft vom Erleben und Verhalten von Lebewesen und von der Eigenartihrer Welt, soweitdiese - als Inbegriff desihnenErscheinenden(im SinneKants) -auf Eigentümlichkeitenihrer eigenen Natur zurückzuführenist und sofern ihrbesonderesVerhalten nur im Rahmen der ihnen jeweils zugeordnetenWeltverständlich wird.“ (Metzger, W., 1952, S. 142, Hervorhebungen im Original).

Als Wissenschaftvom Erlebenist die Psychologienicht auf Annahmenangewiesen,die ausanderenWissenschaftenabgeleitetsind. Als Phänomengilt alles, was der Wahrnehmendevorfindet, sofern er sich naiv dem schlichten Erleben überlässt.

Die Gestaltpsychologie wendet sich gegen den• Elementarismus der klassischen Psychophysik und den• Behaviorismus, der nur das Verhalten beschreibt.

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Abb. 37: Kurt Koffka (links) und Wolfgang Köhler

Hauptvertreterder Gestaltpsychologiesind nebenMax WertheimerWolfgang Köhler undKurt Koffka (Abb. 37).

2.3. Gestaltqualität

Woherkommt der NameGestalt? Gestaltbedeutet:Einheit, Figur. Christian v. Ehrenfelsprägte 1890 den Begriff "Gestaltqualität" zur Bezeichnung vonWahrnehmungseigenschaften,die sichnicht ausdenEigenschaftenderTeile herleitenlassen,sonderndie durch die Organisationder Teile zu einem übergeordnetenGanzen entstehen(vgl. Abb. 8-10).Dahersprichtmanauchvon Ganzqualitäten. Der NameGestaltpsychologiebringt zum Ausdruck, dassdie Gestaltenals die psychischenGrundeinheitenangesehenwerden.

Ein Paradebeispielfür eine Gestaltqualitätist die Melodie, da sie sich nicht aus denEigenschaftender einzelnenTöneableitenlässt. Wird die Melodie transponiert,so bleibt sieerhalten,auchwennkein einzigerTon gleich bleibt. Spielt mansie rückwärts , nimmt maneineganzandereMelodiewahr,obwohldie Tönegleichbleiben.Die Melodiewird alsonichtdurch die Eigenschaften der Töne alleine, sondern durch ihre Beziehung zueinander gestiftet.

Dies Beispiel illustriert einenSachverhalt,der bisweilenals Übersummativität bezeichnetwird: "DAS GANZE IST MEHR ALS DIE SUMME SEINERTEILE!" Aber dieseAussagetrifft nicht ganz, denn

das Ganze ist nicht nur mehr, sondern auch anders als seine Teileund die Eigenschaften der Teile werden vom Ganzen beeinflusst.Dies ist das genaue Gegenteil der elementaristischen Perspektive(vgl. Abb. 9, S. 10 und Abb. 40).

Die DDR-Hymne und der Schlager"Good-Bye Johnny" habendenselbenAnfang, d.h. die ersten 9 Töne gemeinsam.Manbemerktdasabernicht,dadie Melodieanfängeihre Identitätdurchihre Funktion im jeweiligen Gesamtzusammenhang gewinnen.

Abb. 38: Linien als Körperkonturen oder als Gesichtsfalten (aus Rock, 1985)

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Wertheimer(1924) hat dieses,die GestalttheoriekennzeichnendeGrundproblemin einemVortrag vor der Kant-Gesellschaft folgendermaßen beschrieben:

„Es gibt Zusammenhänge,bei denennicht, was im Ganzengeschieht,sich darausherleitet,wie die einzelnenStückesind und sich zusammensetzen,sondern umgekehrt,wo - imprägnantenFall - sichdas,wasan einemTeil diesesGanzengeschieht,bestimmtvoninnerenStrukturgesetzen dieses seines Ganzen.“

Die Abbildungen9 und 38 zeigen,dassGestalteigenschaftendurchdie Relation der Teilezueinander entstehen.Dassdie Teile gleicherGestaltensehrverschiedenseinkönnen,zeigtAbb. 39: Gestaltqualitätenentstehennicht durchdie Eigenschaftender Teile, sonderndurchdie Relation der Teile zueinander. Sie sind abstrakter als die Teile, aus denen sie bestehen.

Abb. 39: Gemälde von Corot und Plastik von Moore: Verschiedene Teile schaffen die gleiche Gestalt (ausArnheim 1969/1996)

DasssichGestaltqualitätennicht ausdenEigenschaftenderTeile ableitenlassen,zeigenauchneuropsychologischeBeobachtungen,die schon damalsbekannt wurden. Holmes (1918)berichtetvon Patienten,welchedieLängeverschiedenerLinien nicht miteinandervergleichenkönnen,aberRechteckeund Ellipsensehrgenauvon Quadratenund Kreisenunterscheidenkönnen. Holmes & Horrax (1919) berichten von einem Patienten, der bei LinienLängenunterschiedevon 50% nicht beurteilenkann, bei Quadratenund RechteckenaberUnterschiedevon 2 % bemerkt.DieserPatientgibt an, dasser nicht die Längender Seitenvergleicht,um zu entscheiden,ob ein Viereck ein Quadratist odernicht,. Vielmehr siehterdas ganze Viereck in einem Blick und weiß sofort, ob es ein Quadrat ist oder nicht.Inzwischengibt esan gesundenProbandengewonneneBelegdafür,dassbei derBeurteilungein- und zweidimensionalerFiguren verschiedeneHirnregionenbeteiligt sind (Fink, et al.2000).

2.4. Produktive Psychophysik

KOFFKA (1935) fragte: Warum sehen die Dinge so aus, wie sie aussehen ? (hörensichsoan...,fühlensichso an ... ? ... etc.). Koffka diskutierte3 Antwortenauf dieseFrage,zweifalsche und eine richtige, wie er sagt.

Erste falsche Antwort: Die Dinge sehen so aus, wie sie aussehen,

... weil sie so sind, wie sie aussehen.

Aber, wie sind die Dinge?:

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• MancheDinge sehenandersaus,als sie sind (optischeTäuschungen,s. Abb.40-43)und mancheDinge sehenzu verschiedenenGelegenheitenverschiedenaus.Die wahrgenommeneGrößedesMondesz.B. hängtdavonab wo er steht:Am Horizont erscheint er groß, im Zenit klein (Mondtäuschung).

Abb. 40: Die Rückwanderscheintbreiter als die Teppichvorderkante,ist esabernicht. Der vordereHund erscheint kleiner als der hintere, ist es aber nicht.

Abb. 41: Quadrat mit Taille? (nach Rock 1985) Abb. 42 Die Ponzo-Täuschung

Abb. 43: Die Kehrseiten eines Gesichtes. Drehen Sie das Bild mal um! (Whistler, 1946)

Zweite falsche Antwort: Die Dinge sehen so aus, wie sie aussehen,

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... weil sie entsprechende proximale Reize erzeugen. Aber:

• Alle KONSTANZPHÄNOMENE (s.o.) sind Gegenbeispiele: DieKonstanzphänomenebestehenja geradedarin, dassdie WahrnehmungtrotzvariablerproximalerReizungkonstantbleibt: Wennsich z.B. einePersonaufmich zu bewegt, bleibt ihre wahrgenommene Größe konstant.

• Natürlich gibt esauchBeispielefür Wahrnehmungsänderungenohne, dasssich an den Reizverhältnissenetwas ändert. Die Mondtäuschungist auchhier wieder einschlägig. Die retinale Abbildung des Horizontmondesistgenausogroßwie die retinaleAbbildungdesZenitmondes.Trotzdemerscheintder Horizontmondgrößer.Einige weitereBeispielezeigendie Abb. 44 - 46(vgl. Abb. 10, S. 10)

Abb. 44: Ein Fisch für den kleinen oder großen Hunger?

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Abb.: 45: Der Kontext ändert Form und Neigung der Flächen (nach Rock, 1985).

Abb. 46: Ein amerikanischer Eingeborener; aber welcher?

Dritte richtige Antwort : Die Dinge sehen so aus, wie sie aussehen,

... weil die GESAMTSTRUKTUR der jeweiligen Reizverhältnisseentsprechendist: Ich sehe den Tisch im Wechsel des Blickwinkels formkonstant, weil ihminnerhalbdesGanzeneine bestimmte Rolle zukommt.Was ich an einer Stelle imWahrnehmungsfeldsehe,hängtnicht nurvom lokalenReizanderkorrespondierendenStelle ab, sondern vom Gesamtzusammenhang, d.h. von den Relationen aller Reizezueinander.

Der Grund hierfür ist, dass die Wahrnehmung nicht einfach die ReizdimensioneninpsychischeDimensionentransformiert,sonderndasssie das Reizmaterialorganisiert undstrukturiert . Durch die Organisation entstehenneue Eigenschaften des Ganzen, die

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Gestaltqualitäten.BISCHOF (1966)bezeichnetdie GestaltpsychologiedaheralsproduktivePsychophysik.

2. 5. Figur-Grund-Gliederung

Wie wird das Wahrnehmungsfeldorganisiert? Die einfachste Gliederung ist einQualitätssprung (Abb. 47):

Abb. 47: Qualitätssprung

Schwarzeund weiße Flächesind gleichberechtigt.Dieser Fall ist aber unökologisch.DereinfachsteökologischeFall ist die Gliederungin Figur undGrund:z.B. derStift alsFigur aufder Overheadfläche.Dass sich bestimmtePartienzu Figuren zusammenschließen,anderehingegennicht, ist sogrundsätzlichin unsererWahrnehmungswelt,dassdie BedeutungdieserGliederungsorganisation erst 1921 entdeckt wurde durch EDGAR RUBIN (1921).

Nach der Idee desbekanntenRubin’scheBecherswurde zur SilberhochzeitdesenglischenKönigspaares folgende Vase hergestellt (Abb. 48):

Abb. 48: Vase oder Majestäten?

2.5.1.1.Phänomenologische Unterschiede zwischen Figur und Grund

Figur und Grundsind nicht gleichrangig,sondernunterscheidensich phänomenologisch:DieKontur begrenzt nur die Figur, nicht den Hintergrund. Der Hintergrundgeht hinter derFigur weiter (Abb. 49).

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a bAbb. 49: Links begrenzen die Innenkonturen die schwarze Fläche, rechts die graue.

In Abb. 49asehenwir eineschwarzeFigur auf weißemGrund.Die weißenFlächeninnerhalbder schwarzenerscheinenals Löcher der Figur, durch die man den Grund sieht. DieseInnenkonturenbegrenzennicht die weiße sonderndie schwarzeFläche. Sobald aber dieFlächeninnerhalbder schwarzengrau gefärbtsind Abb. 49b, werdensie selbstals (graue)Figuren auf dem schwarzenGrund gesehen.Nun begrenzendie Innenkonturendie grauenFlächen und nicht mehr die schwarze Fläche, die jetzt hinten den grauen Flächen weitergeht.

Abb. 49b zeigteeine Figur-Grund-Hierarchie: Die schwarzeFlächeist Grund der grauenFlächen,aberzugleichFigur auf demweißenHintergrund.HierarchischeOrganisationenvonbeträchtlicherKomplexität sind der ökologischeRegelfall: Das Haus in der Straße,dasWappen auf der Hauswand, das Pferd auf dem Wappen, der Sattel auf dem Pferd etc.

a bAbb. 50: Kleckern kann helfen.Abb. 50 zeigt, wie folgenschwerdie Zugehörigkeiteiner Kontur zu einemObjekt ist. DiegrauenFlächenin Abb. 50awerdenalszufällig verstreute,zufällig geformteFigurengesehen.Sobaldaber der schwarzeKlecks die Abbildung ergänzt(Abb. 50b), verlieren die grauenFlächenüberall dort ihre Grenzen,wo schwarzeund graueTeilflächen sich berühren.DieKonturen, die zunächstdie grauen Flächenbegrenzten,werden an die schwarzeFläche„abgegeben“.Da dieseKonturendie grauenFlächennun nicht mehrbegrenzen,könnensiesich zu anderen Gestalten (den Buchstaben „B“) neu zusammenschließen.

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Abb. 51: „Circle Limit IV“ von M.C. Escher

NatürlichhatderFigur-Grund-WechselmancheKünstlerinspiriert (Abb. 51). Dassdie Figur-Grund-Gliederungeine bewundernswerteLeistung ist, wird erst klar, wenn man versucht,diese Leistung mit Hilfe eines Computers zu simulieren ("machine vision", Marr, 1982).

Abb. 52: SpektrogrammFigur-Grund-Gliederunggibt es natürlich nicht nur beim Sehen, sondern bei allenWahrnehmungsmodalitäten. Z.B.: beim Hören: Wörter grenzen sich in derWahrnehmung gegeneinander ab, obwohl es keine akustischen (physikalischen)Grenzen gibt (Abb. 52).

Abb. 52 zeigt ein SpektrogrammdesenglischenSatzes„I owe you a yoyo“. Die Abszissezeigt die Zeit, die Ordinatedie FrequenzderbeteiligtenSinusschwingung.JeintensivereineSinuskomponente,destodunkler der Punkt.Man entnimmtder Abbildung, dassdie Stellengeringster Lautheit im Spektrogramm keineswegs mit den Wortgrenzen übereinstimmen.

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2.5.2. Der PASS-Effekt

Der Pass (perceptualauditory streamsegregation)-Effekt ist ein Figur-Grund-PhänomenausdemBereichderMusikwahrnehmung.Abbildung53 zeigtzwei Melodienin Viertelnoten,dieum eine Viertelpause gegeneinanderverschobensind. Die obere Melodie (Töne derungeradenPositionen1, 3, 5, etc.) ist eine modifizierte Version von „Ode an die Freude“(Beethoven),die untere Melodie (Töne der geradenPositionen 2, 4, 4, etc.) ist einemodifizierteVersionvon „Hänschenklein“. Ist der FrequenzabstandbeiderMelodiengeringundwird die gemischteTonfolgelangsamgespielt(Abb. 53a),so ist wederdie eine,nochdieandereder beidenbekanntenMelodien zu erkennen.Die aus beidenMelodien gemischteTonfolge ergibt eine neue unbekannte Melodie. Mit zunehmendem Tempo undFrequenzabstand(Abb. 53b) jedoch erkennt man Vertrautes:Das Kinderlied „HänschenKlein“ hebtsich als Melodiefigur vor Hintergrundtönenab. NacheinerWeile entdecktmanBeethovens„Ode andie Freude“.BeideMelodienhört manallerdingsnicht gleichzeitig.Manhört immer nur eine der beidenMelodien als Figur auf dem Hintergrundder anderen DieerkannteMelodie ist danndie Figur, die nicht erkannteist der Hintergrund.Die Töne imHintergrundhört mannatürlich,aberebennicht als Melodie.Bei erneutemHörenkannmandasFigur-Grund-Verhältnisumkehren,analogzum Figur-Grund-Wechselbeim Rubin`schenBecher. Das zugrundeliegendePrinzip wurde in der Kompositionstechnikdes Barocksgenutzt,und zwar bei Werken für Soloinstrumente,die ohne Begleitunggespieltwurden.(Literaturangaben fehlen noch)

a b

Abb. 53: Zwei Tonfolgen(a und b), beidegemischtausden Melodien „Ode an die Freude“von Beethoven(jeweils oben) und „Hänschenklein“ (jeweils unten). In Abb. 53a sind Frequenzabstandder Melodien undSpieltempo gering in Abb. 53b sind sie groß.

2.6. Gestaltgesetze

2.6.1. Figur-Grund-Gliederung

Nach welchenPrinzipienwird dasReizmaterialorganisiert?Die Gestaltgesetze nennendieFaktoren, die bestimmen, was zur Figur, was zum Grund wird.

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Abb. 54 : Das Gesetz der Geschlossenheit DasGesetzder Geschlossenheit(Abb. 54): Flächen,die von einerKonturumschlossensind,werden bevorzugt zur Figur.

Abb. 55: Das Kleine wird bevorzugt zur Figur.

Das Gesetz des Kleinen: Der Schriftzug rechts in Abbildung 55 ist nicht so leicht zuerkennenwie links, da die schwarzenFlächenzur Figur werden,weil sie kleinersind als dieweißen.

a bAbb. 56: Das Gesetz der Symmetrie

Das Gesetzder Symmetrie: In Abbildung 56a sieht man schwarzeFiguren auf weißemGrund, weil die schwarzenFlächensymmetrischsind. In Abbildung 62b sieht man weißeFiguren auf schwarzem Grund, weil die weißen Flächen symmetrisch sind.

Das Gesetzder Nähe: Die Strichein Abbildung 57 werdenzu GrenzenschmalerBänder,weil sie benachbart sind.

Abb. 57: Das Gesetz der Nähe

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Abb. 58: Das Gesetz des Aufgehens ohne Rest

Das Gesetz des Aufgehens ohne Rest: Abbildung 58 enthältgenaudieselbenStriche,wieAbbildung 57. Trotzdemwerden sie nun zu Grenzenbreiter Bänder.Die Organisationerfolgt bevorzugt so, dass keine isolierten Teile übrig bleiben.

Dies sind nur einige der vielen Gestaltgesetzeder Figur-Grund-Gliederung. DieGestaltgesetzebestimmennicht nur die F-G-Gliederung,sondern auch die Gliederunginnerhalb der Figuren (Binnengliederung) sowie den Zusammenschlussvon Figuren zugrößeren Figuren (Gruppierung):

2.6.2. Binnengliederung

Das Gesetz der durchgehende Linie oder guten Fortsetzung: In Abbildung 59asiehtmanein Dreieckund ein Rechteck,in Abb. 59ceinerundeund eineeckigeFigur. Die möglichenOrganisationen(Abb. 59bundd) siehtmannicht, weil die Gliederungsoerfolgt, dassLinienan Schnittpunkten ihre Richtung fortsetzen

Abb. 59: Das Gesetz der durchgehenden Linie.

Das Gesetz der durchgehenden Linie ermöglicht das Lesen eines Schnittmusters (Abb. 60).

Abb. 60: Schnittmusterbogen (aus Metzger, 1975)

Man kann sogar Bekanntes verschwinden lassen: So genannte Vexierbilder

65

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Abb. 61: Wo steckt die Vier?

2.6.3. Gruppierung

Die Gestaltgesetze bestimmen auch, wie sich Figuren zu Gruppen zusammenschließen.DasGesetzder Nähe: BenachbarteFigurenschließensichbevorzugtzu Gruppenzusammen.In Abbildung62agruppierensich die Punktezu Spalten,in Abbildung 62b zu Zeilenund inAbbildung 68c ist keine der beiden Organisationsformen bevorzugt.

Abb. 62: Das Gesetz der Nähe.

Das Gesetz der Ähnlichkeit: Ähnliche Figuren bilden bevorzugt eine Gruppe (Abb. 63).

Abb. 63: Das Gesetz der Ähnlichkeit.

Will mansich tarnen,so mussmandie Gruppierungsgesetzeausnutzen.Abb. 64 zeigt zweiberitteneIndianer.Obwohl sie unverdecktsind, sind sie genausounsichtbar,wie dasHerz(Abb. 65b) im rechten Punkteschwarm (Abb. 65a) unsichtbar bleibt.

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Abb. 64: Zwei Indianer zu Pferde.

a b

Abb. 65: Das Gesetz des gemeinsamen Schicksals.

Nach dem Gesetz des gemeinsamen Schicksals erfolgt derZusammenschlussbevorzugtso,dasssichTeiledesGanzenraum-zeitlichparallelverhalten.DasHerzin Abbildung65bist imPunkteschwarmder Abbildung 65a versteckt.Sobald es im Punkteschwarmbewegtwird,wird essichtbarund seineKonturensind klar zu erkennen.Stopptdie Bewegung,so zerfälltdas Herz und seine Konturen lösen sich auf.

Wie wir sehen,werdenFigur-Grund-Gliederung,Binnengliederungund Gruppierungdurchdieselben Gestaltgesetze bestimmt. Die in den Gestaltgesetzen beschriebenenOrdnungsprinzipien haben immer wieder Künstler angeregt (Abb. 66).

67

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Abb. 66: “Gerade Kurve” von Bridget Riley „Supernovae“ von Victor Vasarely

2.7. Gesetz der „guten Gestalt“und Prägnanzprinzip

In derAbbildung58 tretenzwei Gestaltgesetzein Wettstreit:Das„GesetzderNähe“unddas„Gesetz des Aufgehens ohne Rest“. Letzteres setzt sich durch. Ein solcher Wettstreitzwischen verschiedenen Gestaltgesetzen ist keine Ausnahme (Quinlan & Wilton, 1998).

Abb. 67: Zinne und Wellenlinie

Abbildung 67 zeigt ein weiteresBeispiel. Hier setzt sich das Gesetzder "DurchgehendenLinie" gegenüberdemGesetzderGeschlossenheitdurch.Kinder beschreibendasGebildeinAbbildung 67 übrigensnicht als Zinne und Wellenlinie. Bei ihnen siegt das GesetzderGeschlossenheitundsie redenvon „Backsteinen“(Abb. 68).Die GestaltpsychologenerklärendiesenWechseldurchdie Annahme,dasssich im Laufe der Entwicklungdie RangfolgederGestaltgesetze ändert.

Abb. 68: „Backsteine“

Aber, washat manvon Gesetzenzu halten,die sich widersprechen,und wovonhängtesab,welchesGesetz„siegt“? Die Antwort der Gestaltpsychologen:Es setztsich immer die (nachdengegebenenBedingungenmögliche)prägnantesteGestalt durch.Der Grundist, dassdieGestaltgesetzeKonkretisierungen einesallgemeinenOrganisationsprinzips sind, dassie"PRÄGNANZPRINZIP" oder das Gesetz der GUTEN GESTALT nennen. DieGestaltgesetzenennenalso lediglich die Faktoren (z.B. „Nähe“, „Aufgehen ohne Rest“,„Geschlossenheit“etc.), welche prägnanteOrganisationenerlauben.Wenn mehreredieserFaktoren gegeben sind, setzt sich die jeweils prägnanteste Organisation durch. Die Prägnanztendenzist das übergeordnete,abstrakteRahmenprinzip.Die Gestaltgesetzesystematisierendie WirkungenderPrägnanztendenzin bestimmtenkonkretenSituationen.Esist daherein Wettstreit zwischenverschiedenenGestaltgesetzenmöglich.Essetztsichstetsdas Gesetz durch, das die prägnanteste Organisation erzeugt.

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2.7.1. Definition von Prägnanz

Wasist mit Prägnanzgemeint?Metzger(1963)bieteteinedisjunktiveund einekonjunktiveDefinition des Prägnanzbegriffs:

disjunktiver Begriff , d.h. es ist immer nur der eine oder der andere Sachverhalt anzutreffen:„die gegebenenElementeschließensich stetsso zusammen,daßmöglichsteinfache,einheitliche(nach Material und Form möglichstglatte, ungebrochene,organische),möglichstdichte (geballte),geschlossene,auf die Dauer möglichstfeste(form- undmaterialbeständige),ferner möglichst symmetrische,gleichgewichtige,ebenbreite,konzentrische usw., sich mit ihren Haupterstreckungen möglichst in dieHauptrichtungendes Raumeseinfügende,endlich möglichst „vollständige“ unduntereinander(nach Farbe, Form, Eindringlichkeit, Ausrichtungusw.) gleichartigeGanzgebilde entstehen.“ (S. 109)

konjunktiver Begriff, d.h. der Sachverhalt ist immer anzutreffen:„Wir bezeichneneine Struktur als prägnant, wenn sie eine ausgezeichneteundinfolgedessen beständige Ordnung aufweist.“ (S. 23).

Während der disjunktive Begriff gewissermaßendie Gestaltfaktorenauflistet, bringt derkonjunktive Begriff zum Ausdruck, dassdie Organisationdes WahrnehmungsfeldesaufausgewogeneEndzustände bezogen ist. Die Organisation ist stets so einfach undregelmäßig,wie esunterdengegebenenRandbedingungennur möglich ist. SoerscheintdasUnprägnante als Abweichung von möglicherbessererOrdnung.Ein Winkel von 85° z.B.erscheintals ein nicht ganzrechterWinkel. Das Umgekehrtegilt nicht: Ein rechterWinkelerscheint nicht als Abweichung von 85°.

Das Unprägnante drängt auf bessere Ordnung, wie die Abbildung 69 illustrieren soll.

Abb. 69: Spitze und Punkt

Blickt man die Vorlage längere Zeit an, so fängt der Punkt an zu zittern, scheint zu wandernoder droht herunterzufallen.Die Abweichung des Unprägnantenvon möglicher bessererOrdnung ist nicht so zuverstehen,dassaußerdergegebenenWahrnehmungsgestaltnocheinebesseregespeichertist,gegenwelchedie gegebeneverglichenwird, sondern:Entscheidendist die Abweichung,diein dem Gebilde selbst angelegt ist, aber noch nicht verwirklicht ist. So hört einmusikalischer Mensch die Fehler einesStückesauch dann,wenn er es noch nie zuvorgehört hat.

2.7.2. Erklärung Optischer Täuschungen

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Die Gestaltpsychologenerklären optische Täuschungen mit der Tendenz zu bessererOrdnung (Prägnanztendenz), die als Entzerrungstendenz wirkt. Abb. 70 zeigt dieSander’scheTäuschung:Die rechteDiagonaleerscheintkürzerals die linke, obwohl beideinWirklichkeit gleich langsind.Gestaltpsychologischwird dieseTäuschungdamiterklärt,dassdie 2-dimensionaleFigur 3-dimensionalgesehenwird, nämlichals ein in die Tiefe geneigtesRechteck.In einemsolchenRechteckmussdie rechteDiagonalenatürlichkürzerseinals dielinke.

Abb. 70: Sander’sche Täuschung: Welche Diagonale ist länger?

2.7.3. Die 3-dimensionale Wahrnehmung 2-dimensionaler Figuren

Ein weiteres Beispiel für die Tendenz zur Guten Gestalt zeigt die Abb. 71:

Abb. 71: Kopferman-Würfel

Warumwird dieses2-dimensionaleGebilde3-dimensionalgesehen?Die Gestaltpsychologenantworten:

Die 3. Dimension schafft Ordnung:

• alles rechte Winkel statt einer Vielzahl verschiedener Winkel• alles gleich lange Kanten statt verschieden langer Linien• alles gleiche und symmetrische Flächen statt vieler verschiedener Flächen.

Ist die Ordnung schon im 2-dimensionalenGebilde prägnant, dann wird es nicht 3-dimernsional gesehen (Abb. 72 u. 73).

Abb. 72: Prägnante 2-Dimensionale Abbildung des Kopferman-Würfels

70

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Abb.73: Die Prägnanz der 2-dimensionalen Gebilde nimmt von links nach rechts ab, die 3-dimensionaleWirkung nimmt hingegen zu.

Kipp-Figuren sind Beispiele dafür, dass verschiedeneOrganisationsformengleichwertigsind. Die Abb. 74 und 75 zeigen Figuren, die mehr als eine Organisation erlauben.

Abb. 74: Stern?Oderein Dreieckhinter einemPropeller(3 Flügel)?Odergar StühleohneBeine?Oderzweisich gegenseitig durchdringende Vs? Oder was?

Abb. 75: Genießen Sie Vielfalt und Wechsel der Formen

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2.7.4. Amodale Wahrnehmung

Die Prägnanztendenzwird besondersdeutlich bei der Wahrnehmungvon Figurteilen, dieverdeckt sind (Abb. 76):

Abb. 76: Gekreuzte Äste? Nein!

Das Besonderehieran ist natürlich nicht, dass man die Form der Äste nicht korrektvorhersehenkann.Sondern:Dassmaneine ganz bestimmte Erwartung hat, die in diesemFall enttäuscht wird. Man ist überrascht. Aus der unendlichen Vielfalt möglicherOrganisationen wird eine ganz bestimmte als „die richtige“ erlebt.

Die Ergänzungdes „blinden Flecks“ ist ein weiteres Beispiel für die Wirksamkeit derPrägnanztendenz:In der PAPILLE, wo der SehnervdasAuge verlässt(Abb. 77) befindensich keinePhotorezeptoren,so dassReize,die auf dieseRetinastelleprojiziert werden,nichtanalysiert werden können. Zwar wird derselbeRaumpunktniemals gleichzeitig auf diePapillenbeiderAugen projiziert, so dassbeim beidäugigenSehendie Information, die imlinken Auge auf die Papille trifft, im rechtenAuge zugänglichist und umgekehrt.Aber wirnehmenauch monokulareine kontinuierlicheWelt wahr. Wie der „blinde Fleck“ ergänztwird, lässt sich mit der Figur aus Abb. 78 demonstrieren:

SchließenSie ihr rechtesAuge und fixieren Siemit demlinken dasKreuz.VariierenSie dieEntfernungderVorlagesolange,bis die schwarzeScheibeim ZentrumdesSpeichenradesim„blinden Fleck“ verschwindet.In diesemAugenblickfällt dasretinaleAbbild derschwarzenScheibegenauauf die Papille,die für Licht unempfindlichist. Wenn Sie nun die Speichensich kreuzen sehen, dann wurde Ihr „blinder Fleck“ auf prägnante Weise ergänzt.

Papille =

Abb. 77: Papille (blinder Fleck) im linken Auge.

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Abb. 78: Prägnante Ergänzung des blinden Flecks.

Die Wahrnehmungvon Konturenbzw. Figuren,denenkeine Helligkeits- oder Farbgrenzen(Gradienten) in der Reizvorlage entsprechen, nennt man AMODAL (Abb. 79-82).

Abb. 79: Der “amodale” Dalmatiner

Abb. 80: Kanizsas amodale Figuren (aus Kanizsa, 1974)

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a bAbb. 81: Das amodale Dreieck verschwindet in b, so wie in Abb. 50a die „B“s verschwunden sind. (aus

Kanizsa, 1974)

Wie wirklich sind die amodalen Figuren? Abb. 82 zeigt, dass sie sich zur Herstellung einerTäuschung in gleicher Weise eignen, wie modale Figuren auch.

Abb. 82: Ponzo-Täuschung(s.o. Abb. 42) durch amodaleFigur (links). Lässt man das amodaleDreieckverschwinden(rechts),dannverschwindetauchdie Ponzo-Täuschung:Die Linien erscheinendannwiesie sind, nämlich gleich lang (aus Kanizsa, 1974).

DasBeispiel in Abb. 82 zeigt, dassdie Gestaltfaktoren selbstErlebnis-Tatbeständesind:Die Dreieckseiten,die in derAbbildungdie Ponzo-Täuschungerzeugen,existierennur in derWahrnehmungswelt,sie sind Gestaltqualitätenund beeinflussendie wahrgenommeneLängeder senkrechtenLinien. Entsprechendesgilt für alle Gestaltgesetze.Im Gesetzder Näheistmit Nähedie phänomenaleodererlebteNähe gemeint,nicht die proximaleNähe,d.h. dieNähederObjektabbilderauf derRetina.im Gesetzder Geschlossenheitist die phänomenaleGeschlossenheit gemeint etc.

Die Gestaltfaktoren, die in den Gestaltgesetzensystematisiertsind und von denen dieOrdnung und Organisationder Wahrnehmungsweltbestimmt wird, sind also keineswegsEigenschaftendes proximalen Reizes auf der Retina. Dies lässt sich anhand einerVersuchsanordnungvon Rock & Brosgole(1964) illustrieren:Die AutorenverwendeteneinPunktmuster,dessenPunktevertikal näherwarenals horizontal,so dasssich die PunktezuvertikalenSpaltengruppierten(Abb. 83a).DannbotensiedasPunktemustersodar,dassesindie Tiefe geneigterschien(Abb. 83b). Unter diesenVoraussetzungenwaren die retinalenAbbilder derPunktehorizontaleinandernäherals vertikal. Trotzdemblieb die spaltenweiseGruppierung der Punkte erhalten.

Die Gestaltgesetze beschreiben also Zusammenhänge zwischen phänomenalen Variablen.

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Abb. 83: Gruppierung von Elementen auf Grund ihrer wahrgenommenen Nähe.

2.7.5. Prägnanztendenz als grundlegendes Prinzip des psychischen Geschehens

Die Prägnanztendenzist ein grundlegendesPrinzipnicht nur der Wahrnehmung,sonderndespsychischenGeschehensschlechthin.Die Gestaltpsychologiehat esauf alle psychologischenBereicheangewendet.Von besondererBedeutungsind ihre Beiträgezur Psychologiedesproduktiven Denkens.

Abbildung 84 zeigt ein Beispiel aus dem Bereich des Gedächtnisses.Vergessenwirdgestaltpsychologischnicht einfach als Verlust von Inhalten verstanden,sondernals Folgeeines Organisationsprozesses.Gemäß der Prägnanztendenz verändert sich die„Gedächtnisspur“ in Richtung auf eine bessere Gestalt. Was als Verlust vonGedächtnisinhaltenerscheint,ist in WahrheitdasResultateiner Umstrukturierung.Um denOrganisationsprozesssichtbarzu machen,hat BARTLETT (1932)eineMethodeverwendet,die dem Kinderspiel „stille Post“ gleicht. Eine Nachricht wird einer erstenVp mitgeteilt.DieseVp gibt dieseNachrichtnacheinemvereinbartenBehaltensintervallan einezweiteVpausdemGedächtnisweiter.Die zweiteVp gibt die von dererstenVp gehörteNachrichtnacheinemBehaltensintervallaneinedritte Vp ausdemGedächtnisweiter,etc.WennjedeVp dieNachricht während des Behaltensintervallsein wenig in Richtung auf eine prägnantereStruktur verändert, so müsste am Ende eine einfache Gestalt übrig bleiben.

Abb. 84 zeigtdie „stille Post“ für dasErinnerneinergezeichnetenFigur. Vp 1 sahfür 5 s dieAusgangsfigur(obenlinks) undzeichneteausdemGedächtnisdasBild Nr. 1, Vp 2 sahdieses

a

b

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Bild Nr.1 und zeichneteausdemGedächtnisdasBild Nr. 2 etc. Wie mansiehtwerdendieReproduktionen immer einfacher und prägnanter.

Abb. 84: Stille Post

2.8. Theorie der psychophysischen Gestalten

Die Gestaltpsychologenhabenes nicht für nötig gehalten,die Prägnanztendenzweiter zuerklären.Die Frage,warumdie WahrnehmungsweltnachprägnanterOrdnungstrebt,warumdie Gestaltgesetze die „Gesetze des Sehens“ (Metzger, 1975) sind, haben sie nicht gestellt.

Dies wird verständlich,auf dem Hintergrundvon Köhlers Theorie der psychophysischenGestalten.WolfgangKöhler hat dieseTheorie1924u. 1933in FormallgemeinerAnnahmenund Prinzipien, später dann, 1958, durch eine spekulative hirnphysiologischeTheoriespezifiziert.Auf die hirnphysiologischeTheoriewerdeich nicht eingehen,wohl aberauf dieallgemeinen Annahmen und Prinzipien.

Drei Prinzipien sind zu unterscheiden:

2. das ISOMORPHIE-PRINZIP des Psychophysischen Zusammenhangs1. das Prinzip der PHYSISCHEN GESTALTEN

2. das FELDPRINZIP des psychophysischen Niveaus.

2.8.1 Das ISOMORPHIE-PRINZIP des Psychophysischen Zusammenhangs

Es besagt:Den psychischenProzessenund Strukturender Wahrnehmungliegen ISOMORPHE,d.h. gleichgestaltete hirnphysiologische Vorgänge zugrunde. Wenn also die

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WahrnehmungsphänomeneeineTendenzzur Einfachheitund Regelmäßigkeitzeigen,so giltdas auch für die korrespondierendenHirnprozesse.Die ganzheitliche Organisation derWahrnehmungswelt ist schon in den materiellen Trägerprozessen, also denhirnphysiologischen Prozessen, angelegt und nicht eine Zutat der Seele. Jederwahrgenommenenraum-zeitlichen Organisation entspricht eine raum-zeitlich identischorganisierte Erregungsstruktur in der Großhirnrinde. Abb. 85 illustriert dieseIdee fürdas Phi-Phänomen (stroboskopische Scheinbewegung).

Abb. 85: S1und S2sinddie retinalenAbbilder zweierLichtpunkte,die abwechselndaufleuchten.A1 undA2sind die korrespondierendencorticalenErregungen.Von jedemdiesencorticalenErregungenbreitetsicheinelektrischesFeldaus.Im ÜberlappungsbereichbeiderFelderentstehtdie Phi-Bewegung.(nachPetermann, 1932; aus Gordon, 1997)

2.8.2. das Prinzip der PHYSISCHEN GESTALTEN

Nach dem ISOMORPHIE-PRINZIP sind Die Organisationsgesetzeder Wahrnehmungsweltalso inWahrheitdie Organisationsgesetzeder hirnphysiologischenProzesse.Dies ist möglich,weilsich die Prozesse und Zusammenhänge der physischen Welt ebenfalls durchGanzheitlichkeit ihrer inneren Organisation sowiedurch die Tendenzzur WahrungoderHerstellungvon ZuständenhöhererOrdnungauszeichnen.Dies ist dasPrinzipder PHYSISCHEN

GESTALTEN. Köhler,selbstPhysiker,verweistin diesemZusammenhangaufselbstorganisierteSysteme, wie z.B. Magnetfelder, Tiefdruckgebiete, Seifenblasen, die stabileOrdnungszuständeund „Gute Gestalten“repräsentieren.Ein anderesBeispiel von Köhler(1920)ist dieses:Wennzwei elektrolytischeLösungenin osmotischemKontaktsind,dannistdaselektrischePotential, dasentsteht,eineneueEigenschaftdesSystemsals Ganzem,alsoeine Gestaltqualität.

2.8.3. das FELDPRINZIP des psychophysischen Niveaus.

SolchestabilenOrdnungszuständesind nur möglich, wenn ein Kräfteausgleich stattfindet.Voraussetzungist also ein homogenesMedium. DerartigeSystemebezeichnetman in derPhysik als Felder (z.B. Gravitationsfeld,elektrischesFeld, Magnetfeld).Köhler nimmt an,dassdiejenigenAreale im Cortex, in denendie psychophysischeUmsetzungstattfindet,dassogenannte„psychophysische Niveau“, wie Felder funktionieren, d.h. wie homogene

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Medien, in denenein ungehinderterKräfteausgleichmöglich ist. Nach diesemPrinzip sindnicht die Erregungsvorgängeinnerhalbisolierter Nervenbahnenund Zellen der eigentlicheTrägerprozess der Wahrnehmung, sondern die Interaktion zwischen den Zellen.

KöhlersTheoriehatsichnicht durchgesetztundist von manchenKritikern mit Bemerkungenfolgender Art ad absurdumgeführt worden: Nach dem ISOMORPHIE-PRINZIP müsste diekortikale Grundlageder FarbeBlau ebenfallsblau sein. Nach Köhler ist dies aber nichtgemeint.Gemeint ist vielmehr, dasseine Isomorphiebestehtzwischenden funktionalenBeziehungen innerhalb der kortikalen Sachverhalteeinerseits und den funktionalenBeziehungeninnerhalb der phänomenalenSachverhalteandererseits.„Experiencedorder inspaceis alwaysstructurallyidenticalwith a functionalorderin the distributionof underlyingbrain processes.“(Köhler, 1947). Zur Erläuterung vergleicht Köhler den funktionalenBegriff „ ZWISCHEN“ , mit demgeometrischenBegriff „ ZWISCHEN“ : Der ProzessA istfunktional zwischenden ProzessenB und C dann, wenn B und C sich nur vermittels Abeeinflussenkönnen,egalwie nahsich A, B und C geometrischgesehensind (vgl. Henle,1984).

Wie ist das Isomorphie-Prinzip aus heutiger Sicht zu beurteilen? WährenddasIsomorphie-Prinzipnur von wenigenexplizit verteidigtwird (z.B. Henle,1984),wird esdochvon sehrvielenWahrnehmungsforschernimplizit akzeptiert.Zwar versteigtsichniemand zu der unsinnigen Annahme, dass das hirnphysiologische Korrelat derWahrnehmungswelt,alle Eigenschaftender Wahrnehmungsweltbesitzt,wie z.B. die Farbeder Wahrnehmungsdinge,ihre Helligkeit etc. Eine derartige Annahme haben auch dieGestaltpsychologenniemals gemacht.Aber in Bezug auf die raum-zeitlicheStruktur derWahrnehmungwird eine funktionale Isomorphievon vielen Wahrnehmungsforschernauchheutenochimpliziert. Der Grunddafür ist, dasssowohldie Wahrnehmungsweltals auchdiehirnphysiologischeStruktur im selben raum-zeitlichenBezugssystembeschriebenwerdenkönnen:Sowohl die hirnphysiologischenProzesseals auch die Wahrnehmungsdingesindraum-zeitlicheEreignisse.Es verwundertdahernicht, dassdas Isomorphieprinzipbei derWahrnehmung raum-zeitlicher Ereignisse aktuell geblieben ist.

Hier ein Beispiel für die gegenwärtigeAktualität des Isomorphie-Prinzips:Eine der vielenEntdeckungderNeurophysiologieder letzten20 Jahreist die Erkenntnis,dassdie Merkmale(Farbe,Form, etc.) ein- und desselbenObjektesan ganz verschiedenenStellen im Gehirnverarbeitetwerden.DieseErkenntnisführt zum so genannten„Binding“-Problem,der Frage,wie die Objektmerkmale wieder zu einer Wahrnehmungseinheit integriert werden: „Given that the activity evokedby the feature comprisingan object is distributed, somemechanismis necessaryto identify the membersof a representationas belongingtogetherand to distinguishthemfrom other representationsthat may be presentat the sametime.“(Gray, 1999, S.36).

DiesesZitat impliziert, dassohne einen zusätzlichenIntegrationsprozess(„binding“) diewahrgenommenenEigenschafteneines Objektes nicht integriert werden, weil sie anverschiedenenanatomischenPositionenim Gehirnverarbeitetwerden.Als wenndie verteilteVerarbeitungvon Merkmalean verschiedenenOrtenim GehirneineverteilteWahrnehmungderMerkmaleanverschiedenenPositionenin derWahrnehmungswelterzeugenwürde.Grayimpliziert also eineIsomorphiezwischendenräumlichenEigenschaftenhirnphysiologischerund wahrgenommener Strukturen.

Die Tatsache,dasssich die Wahrnehmungsweltund ihre neuraleGrundlageim selbenraum-zeitlichenBezugssystembeschreibenlassen,verführtdazu,dasGehirnmit seinenLeistungen

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zu verwechseln.Die neuronaleAktivität verhältsich nämlichzur Wahrnehmungsinhalt,wiedasZeichenzu seinerBedeutung(Bischof,1995).WennmandasGehirnals ein Instrumentversteht, dessenLeistung die Wahrnehmungist, dann wird klar, dass man die raum-zeitlichen Strukturen der hirnphysiologischenProzessenicht mit den wahrgenommenenraum-zeitlichen Strukturen verwechseln darf. Was hirnphysiologisch raum-zeitlichbenachbartist, mussnicht auch als raum-zeitlichbenachbartwahrgenommenwerdenundumgekehrt.

DasIsomorphie-Prinzipist dahernicht geeignet,Wahrnehmungzu erklären.In neuesterZeitbeginnt sich die Auffassungdurchzusetzen, die bereits Creutzfeld (1979) formuliert hat:”there is no unified representationof the world in any single cortical area“ … ”no stateofbrain activity canbe definedas consciousness“(Creutzfeld,1979,p. 217 f). NirgendwoimGehirn gibt es eine stabile topographischeKarte, die mit der stabilenWahrnehmungsweltkorreliert. Im Gegenteil:Der ZustanddesZentralnervensystemsist in fortwährendemWandelbegriffen. Der Grund hierfür ist, dassder Wahrnehmendeständig in Bewegungist undfortwährendseine Beziehungzur Außenwelt, und somit auch dessenhirnphysiologischeRepräsentationändert.Es mehrensich Befunde,wonachdie raum-zeitlichenStrukturenderWahrnehmungsweltmehr zu tun haben mit den raum-zeitlichenStrukturen der auf dieUmwelt und ihre Objekte gerichtetenBewegungenund Handlungenals mit den raum-zeitlichen Strukturen der hirnphysiologischen Prozesse.

2.9. Kurze Würdigung der Gestaltpsychologie

Die Gestaltgesetze nennen diejenigen Faktoren, welche die Organisation desWahrnehmungsfeldesbestimmen.Als generalisierendeBeschreibungensystematisierensiephänomenologischeTatbestände.Sie sind dahernur ErklärungenersterOrdnungim Sinnevon Laucken & Schick (1978). Die Gestaltpsychologenhaben die Gestaltgesetzenichthinterfragt,weil sieandie TheoriederpsychophysischenGestaltenglaubten.Damithabensievon vornhereindaraufverzichtet,die Gestaltgesetzeselbstzu erklären,d.h.nachErklärungenzweiter Ordnung zu suchen.

Trotzdem ist der Beitrag der Gestaltpsychologie sehr bedeutend:

3. Die GestaltpsychologenhabenerstenswichtigePhänomeneentdecktundbeschrieben.Siehaben viele Eigenschaften der Wahrnehmungswelt überhaupt erst alsWahrnehmungsleistungen erkannt (z.B. das Figur-Grund-Phänomen).Damit habensiepsychologischeUntersuchungsgegenständegeschaffen,deren Erforschungnoch längstnicht abgeschlossenist, unddie nachwie vor einegroßeHerausforderungandie moderneWahrnehmungspsychologie darstellen.

4. Zweitens haben die Gestaltpsychologenden Blick auf die Relationen in der„Reizmannigfaltigkeit“gelenkt.Sie habenüberzeugenddie Erkenntnisvertreten,dassesdie Relationensind, welche die wahrnehmungsrelevanteInformation enthalten.DieseErkenntnis lebt in späteren Ansätzen fort, z.B. im ökologischen Ansatz.

2.10. Folgeuntersuchungen

2.10.1. Informationstheoretische Definition der Prägnanz als Redundanz

Der Prägnanzbegriff ist aufgrund seiner schlechten Definition immer ein Ärgernisgeblieben.Dasssichim LaufederOntogenesedie RangfolgederGestaltgesetzeändert(Abb.

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67 u. 68), bedeutet,dass„Prägnanz“nicht unabhängigvom Beobachterdefiniertwerdenkann.Dies berücksichtigen die Definitionen von Metzger nicht.

In den60erJahrenhatesVersuchegegeben,PrägnanzdurchdeninformationstheoretischenBegriff der Redundanz zu präzisieren und zu quantifizieren (Attneave, 1965). EineNachrichtist in demMaßeredundant,in welchemder Informationsbetrag,der aufgrundderAnzahl der verwendeten Symbole maximal möglich ist, unterschritten wird.

PrägnanteFiguren sind informationsärmerals unprägnanteFiguren. So hat z.B. der 3-dimensionaleWürfel, denmanin Abb. 71 sieht,einengeringerenInformationsbetragals das2-dimensionale Gebilde, dessen Winkel und Schnittpunkte Stellen mit hohemInformationsgehalt sind. Die Versuche,Prägnanzdurch Redundanzzu messenund zuquantifizieren haben aber nur noch historische Bedeutung.

2.10.2. Bewegungswahrnehmung

2.9.2.1.Untersuchungen von Restle (1979)

In neuererZeit gibt eseinigeinteressantereWeiterentwicklungen.Restle(1979)befasstsichmit der Bewegungswahrnehmung: Wie kann man Punktbewegungen objektivbeschreibenund in welcher BeziehungstehensolcheBeschreibungenzu dem, was mantatsächlich sieht?

Wir nehmen ein ganz einfaches Beispiel: Punkte A bewegt sich hin und her (Abb. 91).

Abb. 91: Bewegung von Punkt A

Diese Bewegung soll durch folgende 6 Parameter beschrieben werden:

• X-Koordinate des Start-Punkts• Y-Koordinate des Start-Punkts• Start-Zeitpunkt• Neigung, bzw. Richtung der Bahn• Amplitude• Geschwindigkeit

Nun fügenwir einenPunktC hinzu (Abb. 92), dersich raum-zeitlich parallel zu A bewegt.Auch für die Beschreibungder BewegungdiesesPunktesbrauchenwir 6 Parameter.Wennwir beide Punkte unabhängig behandeln,dann brauchenwir also 12 Parameter.DieseBeschreibungwäre vollständigobjektiv und könntegenutztwerdenum einenComputerzuprogrammieren, der diese Punktbewegungen realisieren soll.

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Abb. 92: Bewegungen der Punkte A und C

Ökonomischerwäre es jedoch,die PunkteA und C als „Tandem“ zu beschreiben, da siegemeinsameParameterhaben: Für sie ist nur die Y-Koordinate des Start-Punktesverschieden, alles andere ist gleich. Eine solche Beschreibung spart 5 Parameter.

Restle verwendetenun Vorlagen, mit vielen Punkten, die sich in komplizierter Weisebewegten,und bei denenman intuitiv nicht vorhersehbareBewegungensah(Abb. 93). Erfand: Man sieht diejenige Organisation, die einer objektiven Reizbeschreibungmit dergeringsten Anzahl von Parametern entspricht. Hier erfolgt also die Messung derPrägnanz durch die Anzahl der Parameter, die zur objektiven Reizbeschreibungmindestens nötig ist.

Abb. 93: VorlagebewegterReizevon Restle(1979)(oben)und möglicheBeschreibungen(A-C). Die von denVpn berichteten Wahrnehmungen entsprechen meist C.

Hierzu noch ein älteresBeispiel, das nicht von Restlestammtund das wir in der letztenSitzung des Semesters im Film sehen werden: Das wunderbare Rad Abb. 94:Ein Punktekreis mit dem Durchmesserd rollt in einem unsichtbarenKreis mit demDurchmesser2d ab. Ist nur einer der Punkte zusehen, so sieht man eine lineareSchwingbewegungdes Punktesauf einem Durchmesserdes großenKreises. TatsächlichbewegtsichjederPunktauf einemDurchmesserdesgroßenKreiseshin undher.Schonwenn

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drei Punkte zu sehen sind, ist man jedoch nicht mehr in der Lage, die linearenPunktbewegungsbahnen zu sehen. Stattdessen nimmt man einen rollenden Kreissektor wahr.

a bAbb. 94: Punkte-Kreis, der in einem unsichtbaren Kreis abrollt. Der Durchmesser des großen Kreises ist doppelt

so groß wie der Durchmesserdes Punktekreises.a: Wahrnehmung;b: lineare Bewegung,die jedereinzelne Punkt auf einem Durchmesser des großen Kreises tatsächlich ausführt.

2.9.2.2. Perzeptive Vektoranalyse (Perceptual Vector Analysis)

Restles Bewegungsmusterstammen von Gunnar Johansson, von dem sich ein sehrlesenwerterArtikel im Spektrum Band: „Wahrnehmung und visuellesSystem“ befindet.JohanssonnenntseinenAnsatz:Perceptual Vector Analysis = perzeptive Vektoranalyse.DieseBezeichnungbesagt:DasvisuelleSystemverfährtbei derAnalysederReizinformationnachRegelnder Komponentenzerlegung, wie sie ausder mathematischenVektorrechnungbekannt sind.

Ein Vektor hat einen Startpunkt (Angriffspunkt) , eine Richtung und eine Größe. DieBewegungder PunkteA und C (Abb. 92) lässtsich als Vektor darstellen.Was ist nun mitVektorzerlegung gemeint?

Abb. 95: Bewegungen der Punkte A, B und C.

Die BewegungdesPunktesB in Abb. 95 lässtsich als die Resultierendevon 2 Vektorenbeschreiben:Ein Vektor für diehorizontale,ein Vektor für die vertikaleRichtung.Bis aufdenAngriffspunkt ist der Vektor für die horizontale Richtung identisch mit demBewegungsvektor der Punkte A und C (Abb. 96).

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Abb. 96: Vektorzerlegung

Nach der Theorie der perzeptiven Vektoranalyse von Johansson erfolgt dieVektorzerlegung so, dasssich möglichst viele gemeinsame(gleiche) Vektoren ergeben.Diese gemeinsamenVektoren definieren eine Einheit, die als Bezugssystemfür dierestlichenKomponentendient (siehedasGesetzdesgemeinsamenSchicksals).In unseremBeispielstiftendie gemeinsamenVektorenderhorizontalenBewegungeineEinheit,die aus3Punkten besteht und sich als Ganzes horizontal hin und her bewegt (Abb. 97).

Abb. 97: Wahrnehmung der Konfiguration von Punktbewegungen in Abb. 95

Die verbleibendeVektorkomponenteführt dazu,dasssich der Punkt C innerhalb diesesBezugssystemsauf und ab bewegt. In dieser Bewegungshierarchieist die DiagonaleBewegung nicht mehr sichtbar, weil ihre Vektoren verschiedenen hierarchischenEbenen angehören,nämlich der horizontalen Bewegungdes ganzen Systemsund dervertikalen Bewegung des Punktes C.

2.9.2.3. Biologische Bewegung

Johansson wendet seinen Ansatz auf die Wahrnehmung der Bewegung von Lebewesen an unddemonstriert dies folgendermaßen: Es werden Lampen an Schultern, Ellbogen,Handgelenken, Hüften, Knien und Fußgelenken einer Person befestigt. Die Personbefindetsich in absoluterDunkelheit,d.h. es sind nur die Lampenzu sehen.WährendderEröffnungsszene, in derdie Personbewegungslosin einemStuhl sitzt, sehendie Betrachtereinezufällige Anordnung der 12 Lichtpunkte , mit der sie nichtsanfangenkönnen.Sobaldsich aber der Darsteller erhebtund zu gehenbeginnt, nehmendie Betrachtersofort dengehenden Menschen wahr (Abb. 98). Wenn der Darsteller geht enthalten alle

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Lichtpunktebewegungeneine gemeinsame (translatorische) Komponente, welche dieBewegungsrichtung spezifiziert. Subtrahiert man diese Komponente, so bleibenPendelbewegungen übrig, für die wieder dieselbe Zerlegungsprozedur gilt; etc. ...

Abb. 98: Biologische Bewegung: Rechts: Anordnung (rechts) und Lichtspuren (links) der Lampen.

Abb. 99 zeigt mit Lichtern bestückteTanzpaare: Häufig genügt1/10 sec,das ist die für dieProjektion von 2 Film-Einzelbildern benötigteZeit, damitein unwissenderBeobachterdieBewegung identifizieren kann.

Abb. 99: Biologische Bewegung: Tanzpaare2.10.3. Neuere Untersuchungen zur Gliederung und Gruppierung:

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Olson & Attneave (1970) untersuchtendie Gruppierung aufgrund von Ähnlichkeit.Dargebotenwurde ein kreisförmigesFeld von Elementen.Die ElementeeinesQuadrantenunterschiedensich von den übrigen. Die Vp sollte den Quadrantenmit abweichendenElementen finden.

Abb. 100: Reizvorlagen von Olson & Attneave (1970). Welcher Quadrant fällt auf?

Ergebnis:Wennsichdie TeilederElementedeskritischenQuadrantenvon denübrigenin derOrientierung unterscheiden,dann resultiert gute Abgrenzung. Keine gute Abgrenzungresultiert bei verschiedenerIdentität aber gleicher Orientierung.Diese Befunde sprechengegen das Gesetz der Ähnlichkeit.

EntsprechendeErgebnisseberichtetBeck (1966, 1982: u. werdenzwar als ähnlicherbeurteiltals u. , trotzdemgrenzensich u. bessergegeneinanderabals u. (Abb.101):

Abb. 101: Ähnlichkeit vs. Orientierung

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Abgrenzungsparadoxon: Die Webstrukturdes oberen linken Quadrantenin Abb. 102aweicht von denanderenQuadrantenab,wie mansieht.Werdendie Grenzenverdeckt(Abb.102b), danngrenztsich der abweichendeQuadrant(jetzt rechtsunten)nicht mehr ab. Dielokale Änderung ist also wichtig.

a bAbb. 102: Das Abgrenzungsparadoxon

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