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In: Widerspruch Nr. 23 Markt und Gerechtigkeit (1992), S. 13- 20 Autor: Elmar Treptow Artikel Elmar Treptow Schreckliche Ungerechtigkeit, durch Ge- rechtigkeit vermittelt Wir sind alle Bürger, die an der Produktion und der Konsumtion teil- nehmen, auerdem Staatsbürger, die die politische Herrschaft konstituie- ren und politische Rechte sowie staatliche Leistungen in Anspruch neh- men. Wie es offensichtlich ist, haben wir hieran nicht alle den gleichen Anteil: die Unterschiede an Reichtum, Einkommen und Macht sind un- verkennbar. Wie erklren sich die Unterschiede? Sind sie gerechtfertigt? 1. Die von Natur ungleichen Individuen sind als Warenbesitzer gesellschaftlich gleich und ungleich. Die alltglichen Vorstellungen sind: was jeder der Gesellschaft gibt, das sollte er zurückerhalten (das heit: was er ihr in der einen Form gibt, das sollte er in der anderen Form zurückerhalten); insofern die Individuen mit ihren Leistungen das Gleiche geben, sollten sie gleichgestellt sein; in- sofern sie Ungleiches leisten, sollten sie einen ungleichen Anteil an den Produktionsergebnissen und der politischen Macht erhalten; diejenigen, die nichts für andere leisten knnen, sollten dennoch Sozialleistungen in Anspruch nehmen knnen, und zwar nach Magabe ihrer Bedürftig- keit.

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In: Widerspruch Nr. 23 Markt und Gerechtigkeit (1992), S. 13-20 Autor: Elmar Treptow Artikel

Elmar Treptow Schreckliche Ungerechtigkeit, durch Ge-rechtigkeit vermittelt

Wir sind alle Bürger, die an der Produktion und der Konsumtion teil-nehmen, außerdem Staatsbürger, die die politische Herrschaft konstituie-ren und politische Rechte sowie staatliche Leistungen in Anspruch neh-men. Wie es offensichtlich ist, haben wir hieran nicht alle den gleichen Anteil: die Unterschiede an Reichtum, Einkommen und Macht sind un-verkennbar. Wie erklären sich die Unterschiede? Sind sie gerechtfertigt? 1. Die von Natur ungleichen Individuen sind als Warenbesitzer gesellschaftlich gleich und ungleich.

Die alltäglichen Vorstellungen sind: was jeder der Gesellschaft gibt, das sollte er zurückerhalten (das heißt: was er ihr in der einen Form gibt, das sollte er in der anderen Form zurückerhalten); insofern die Individuen mit ihren Leistungen das Gleiche geben, sollten sie gleichgestellt sein; in-sofern sie Ungleiches leisten, sollten sie einen ungleichen Anteil an den Produktionsergebnissen und der politischen Macht erhalten; diejenigen, die nichts für andere leisten können, sollten dennoch �Sozialleistungen� in Anspruch nehmen können, und zwar nach Maßgabe ihrer Bedürftig-keit.

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Schreckliche Ungerechtigkeit, durch Gerechtigkeit vermittelt

Nun sind die Individuen von Natur her hinsichtlich ihrer physischen und geistigen Fähigkeiten, für andere Nützliches zu leisten, unbestreitbar un-gleich (was nur noch wenige bestreiten, die die Gene vernachlässigen und das Milieu verselbständigen). Daraus resultiert der Anschein, daß die gesellschaftlichen Ungleichheiten - insbesondere die gerade herrschen-den Ungleichheiten (einschließlich der besonderen kompensatorischen Sozialleistungen) - aus der allgemeinen Natur des Menschen stammten, hiermit berechtigt seien und der menschlichen Vernunft entsprächen. D.h. verdeckt bleibt in den alltäglichen Vorstellungen - die konzeptuell von Ideologen ausgearbeitet werden -, durch welche besonderen gesell-schaftlichen Formen bzw. Verhältnisse der ungleiche Anteil der Indivi-duen an Reichtum und Macht produziert wird. Verdeckt bleibt vor allem, wie durch die Gleichheitsbeziehungen des Markts das Kapitalwachstum mit seinen Gegensätzen an Reichtum und Macht produziert wird. Diese gesellschaftlich produzierte Ungleichheit versuchen Ideologen immer wieder mit dem Hinweis auf die natürliche Ungleichheit der Indi-viduen als gerechtfertigt hinzustellen. Die natürliche Ungleichheit ist in ihren unendlichen Geschichten ein regelrechter �cliff-hanger�. Irgend-wann, versprechen sie, werden sie schlüssig erzählen, wie aus der natürli-chen Ungleichheit die gesellschaftliche Ungleichheit stammt. Einstweilen wird von der besonderen gesellschaftlichen Form, in der der Inhalt der nützlichen Arbeiten der von Natur ungleichen Individuen steht, und un-ter die er untergeordnet ist, einfach abstrahiert. Indem Inhalt und Form nicht differenziert, sondern identifiziert werden, wird die besondere Form als legitimiert unterstellt; der abstrakte Formalismus schlägt in be-stimmte Affirmation um. Eine Pointe ist, daß die Individuen in ihrer natürlichen Unterschieden-heit und Einzigartigkeit - dem ideologischen Bezugspunkt - dort gerade nicht als solche anerkannt werden, wo sie tatsächlich als gleiche auftre-ten, nämlich auf dem Markt, wo sie Waren kaufen und ihre Arbeitskraft gegen Lohn verkaufen. Der Austausch auf dem Markt setzt die Individu-en und ihre Arbeit ja gleich und reduziert sie auf das Vergleichbare und

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Gemeinsame, nämlich die verausgabte Arbeitskraft. D.h. der Markt tilgt die Individualität der Individuen, macht sie einander gleich-gültig und setzt sie ins gesellschaftliche Verhältnis über ihre produzierten Sachen, die als Äquivalente getauscht werden, wodurch die menschlichen Bezie-hungen versachlicht oder verdinglicht werden. Der Äquivalentenwert, der im Geld verselbständigt ist, ist der Gleichmacher oder Leveller schlechthin, der zugleich in quantitativer Hinsicht unterscheidet, wäh-rend das �Geld heckende Geld�, das Kapital, auch in qualitativer Hin-sicht unterscheidet, indem es die strukturelle Ungleichheit von Kapital-besitzer und Arbeitskraftbesitzer einschließt. Auf dem Markt werden die natürlich ungleichen Individuen außerdem dadurch gesellschaftlich �real abstrahiert� (und hinterrücks determiniert), daß nur die durchschnittlich erforderliche Arbeitszeit den Wert und Preis der produzierten Waren be-stimmt einschließlich der Ware Arbeitskraft. Z.B. ein Bauer auf der Pe-loponnes, der mit seinem individuellen Geschick viele Stunden für ein Produkt arbeitet, erhält dafür doch nur den Durchschnittspreis der �Eu-ropäischen Gemeinschaft�. Die gedankliche Reise geht hier also von der natürlichen Ungleichheit der Individuen über die gesellschaftliche Gleichheit zur gesellschaftlichen Ungleichheit. Sollte die reale Reise weitergehen in die nicht-warenproduzierende kommunistische Gesellschaft, dann haben wir die Kombination von natürlicher Ungleichheit und gesellschaftlicher Gleichheit. Hier käme - im Gegensatz zur Gerechtigkeit des Waren-tauschs - die individuelle Leistung als solche zur Geltung. Nur wenn der individuelle Beitrag von vornherein - ohne Tausch - für andere nützlich, also allgemein und gesellschaftlich wäre (wie etwa in der familiären Ver-teilung der Arbeit), würde von ihm nicht abstrahiert werden. �Der ge-meinschaftliche Charakter der Produktion würde von vornherein das Produkt zu einem gemeinschaftlichen machen ...�1 - Diese sozusagen partizipatorische Gleichheit oder Gerechtigkeit ist kein Ideal einer sich autonom dünkenden Vernunft, sondern ergibt sich aus der materialisti-schen Kritik der herrschenden Praxis des Warentauschs.

1 Karl Marx, Grundrisse, S.88 f.

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Zwar ist es somit nicht von Natur her das Interesse und der Nutzen der Individuen, als Warenbesitzer aufzutreten und sich in gesellschaftlicher struktureller Ungleichheit als Kapitalbesitzer und Arbeitskraftbesitzer ge-genüberzutreten aber: wenn einmal die warenproduzierende kapitalisti-sche Gesellschaft vorausgesetzt ist, dann ist es durchaus das besondere Interesse der Individuen, ihre Waren zu verkaufen (die ihnen den nützli-chen Gebrauchswert vermitteln) und zwar möglichst teuer, als Lohnab-hängige auch die Ware Arbeitskraft, und hierzu die natürlichen Fähigkei-ten als Mittel zu gebrauchen, und zwar nach möglichst umfassender Qualifikation, um im kapitalistischen Wachstumsprozeß integriert und angewendet zu werden, der nicht nur den Kapitalbesitzern zugute kommt. D.h. auf dieser Voraussetzung wird es das Interesse und der Nutzen der Individuen, daß der Grundsatz gilt: jedem nach seiner Leis-tung für das Wachstum. Für dieses Wachstum leistet eben mehr, wer als Ware Arbeitskraft seine natürlichen Fähigkeiten oder Ressourcen entwi-ckelt und durch Qualifikation produktiver macht (also die Arbeitszeit verkürzt, die zur eigenen Reproduktion erforderlich ist). Dem entspricht die Differenzierung der Lohneinkommen. Die steigenden Quoten von Abiturienten und Studenten zeigen jedem: �Bildung lohnt sich�. Die Ar-beitskraftbesitzer werden im Durchschnitt ihrem Wert und Preis ent-sprechend bezahlt, so daß die Lohneinkommen mit ihren Differenzie-rungen durchaus gerecht sind; jeder bekommt hier, was er verdient; �Lohnraub� ist nicht das �Problem� ... 2. Verteilungsgerechtigkeit und Chancengleichheit sind verträglich mit struktureller Ungleichheit. Da die Lohndifferenzierungen den unterschiedlichen Qualifizierungen der Arbeitskräfte entsprechen, scheinen wir hier die proportional verfah-rende �Verteilungsgerechtigkeit� zu haben. Und diese haben wir in der Tat, - Verteilungsgerechtigkeit im Rahmen des kapitalistischen Wachs-tums und seiner strukturellen Ungleichheit von Reichtum und Macht; d.h. Verteilungsgerechtigkeit, die nicht den ungleichen natürlichen Fä-

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higkeiten der Individuen, sondern den ungleichen natürlichen Fähigkei-ten der Individuen als Waren angemessen ist, die auf dem Markt gegen Lohn gekauft und angewendet werden zur Produktion des Wachstums, das nach eigener Logik automatisch fortschreitet. Die Verteilungsgerechtigkeit eignet sich hervorragend dazu, gesellschaft-liche Ungleichheiten als natürliche Ungleichheiten auszugeben. Sie ge-hört deshalb auch sozusagen zum Recycling-Programm von Ideologen. �Jedem das Seine�, �suum cuique�, ist die Formel der Gerechtigkeit und des �Gemeinwohls� von Plato über Aristoteles, den unvermeidlichen Ci-cero, den preußischen Orden vom Schwarzen Adler bis zu Heideggers Rektoratsrede wg. der angemessenen ständischen Verteilungen des Reichtums und der Macht in den Jahren 347 vor Christus und 1933 nach Christus und darüberhinaus. Aristoteles amicus, magis amica veritas. Sogar er hat mit dem Prinzip der proportional verfahrenden Verteilungsgerechtigkeit die herrschenden Verteilungen des Reichtums und der Macht in der Polis befestigt und be-stärkt. Er unterscheidet die �ausgleichende� und die �verteilende� Ge-rechtigkeit (�iustitia commutativa und �iustitia distributiva�): während die ausgleichende Gerechtigkeit des Tauschs absolute (arithmetische) Gleichheit ohne Ansehung der Person verlangt, und zwar bei Kauf und Verkauf sowie Schaden und Ersatz, wahrt die verteilende Gerechtigkeit die proportionale Gleichheit in der Behandlung der Personen, und zwar bei der Verteilung von Besitz, Ehren und Ämtern am Maßstab des �Werts� oder der �Würde� der Person2. Indem Aristoteles der verteilen-den Gerechtigkeit den Vorrang gibt, rechtfertigt er die bestehenden Ver-teilungen der aristokratischen Verhältnisse (die eine Konsequenz ihrer Grundlage waren, nämlich der Verteilungen der Produktionsbedingun-gen, wie in jeder Gesellschaft). Hätte übrigens Aristoteles statt der vertei-lenden Gerechtigkeit der - in der Polis erst keimhaft vorhandenen - aus-gleichenden Gerechtigkeit den Vorrang gegeben, dann hätte er implizit

2 Aristoteles, Nikomachische Ethik, 5, 6. 1131 a 26 ff.

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auch eine Verteilungsgerechtigkeit, eben die nicht-aristokratische Vertei-lungsgerechtigkeit, formuliert. Verteilungsgerechtigkeit, die nur proportional zu den natürlichen Fähig-keiten der Individuen ist (so daß diese für ihre Stellung in der Gesell-schaft maßgebend sind), ist unvereinbar mit der aristokratischen oder der kapitalistischen Verteilung von Reichtum und Macht; eine solche Vertei-lungsgerechtigkeit würde strukturelle gesellschaftliche Gleichheit erfor-dern. Erst in einer kommunistischen Gesellschaft würde nach Marx der Grundsatz gelten: �jeder nach seiner Fähigkeit, jedem nach seinem Be-dürfnis�, während dagegen in der kapitalistischen und auch noch in der sozialistischen Gesellschaft gilt: �jedem nach seiner Leistung�3. Rawls, der sich an Aristoteles anschließt, gibt dem Konzept der Vertei-lungsgerechtigkeit eine Variante. Sein Argumentationsmuster ist: unglei-che Verteilungen von Reichtum und Macht sind gerechtfertigt, wenn sie für alle nützlich sind. Dementsprechend heißen seine zwei Grundsätze (auf die man sich �im Urzustand einigen würde�): �... alle sozialen Wer-te... sind gleichmäßig zu verteilen, soweit nicht eine ungleiche Verteilung jedermann zum Vorteil gereicht. Ungerechtigkeit besteht demnach ein-fach in Ungleichheiten, die nicht jedermann Nutzen bringen�4. So gesehen, ist jede Gesellschaftsform mit ihrer besonderen strukturellen Ungleichheit gerechtfertigt: auch der Sklave hat den Nutzen, einen Anteil an den von ihm produzierten Lebensmitteln (den Gütern oder Gebrauchswerten) zu haben (und bei Produktivitätssteigerung hat er womöglich einen steigenden Anteil); auch der Fronarbeiter arbeitet nicht nur für den Fronherrn, sondern auch für sich selbst und seinen eigenen Nutzen; auch der Lohnarbeiter leistet nicht nur unbezahlte Mehrarbeit bzw. einen Mehrwert, dessen Aneignung und Reinvestition durch den Kapitalisten das Wachstum bewerkstelligt, sondern er leistet auch bezahl-te notwendige Arbeit, die ihm zugute kommt, d. h. mit der er seine eige-nen nützlichen Lebensmittel produziert. Die Teilung der Arbeitszeit in 3 Marx, Kritik des Gothaer Programms, MEW Bd. 19, S. 21. 4 J. Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt/Main 1975, S.83.

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notwendige (zur eigenen Reproduktion erforderliche) Arbeit und Mehr-arbeit, deren Ergebnisse herrschaftlich angeeignet werden, - diese gesell-schaftlichen strukturelle Ungleichheiten sind allemal für jeden auf beiden Seiten nützlich (und vereinbar mit dem sogenannten Pareto-Optimum). Die Unterordnung der nützlichen, gebrauchswertproduzierenden Arbeit bzw. der Produktivitätssteigerung unter die Kapitalakkumulation ist so-mit von Rawls legitimiert. Rawls macht letztlich nichts anderes als die von ihm kritisierten Utilita-risten. Sie behandeln das �Nützlichkeitsprinzip� bzw. die �Maximierung� des Nutzens - sei es des Gesamt-, sei es des Durchschnittsnutzens -, un-bekümmert darum, daß die Menschen zwar immer nützliche Gebrauchswerte produzieren und konsumieren, aber immer in besonde-ren gesellschaftlichen Formen, und daß die gegenwärtige Form der nütz-lichen produktiven Arbeit die Unterordnung unter die Imperative des Kapitalwachstums ist, also keineswegs eine allgemein menschliche Nor-malform ist. Indem der �Nutzen� für Utilitaristen nun einmal das Thema ist, bei dem alle Fische beißen, vergessen sie, daß er für sich nicht kalku-lierbar ist, sondern in der kapitalistischen Warengesellschaft über das Geld bzw. Einkommen vermittelt ist, das ein Moment innerhalb des Wachstums und seiner objektiven Logik und Kalkulation ist. Das betrifft auch den subjektiv geschätzten �Grenznutzen� der Bedürfnisbefriedi-gung sowie die Spielräume der individuellen �Präferenzen�, an denen ei-nige Utilitaristen geradezu einen Narren gefressen haben. Rawls scheint schließlich aber doch etwas anderes zu meinen, da er die �Chancengleichheit� einführt. Aber auch sie verträgt sich - wie das Kon-zept des �Nutzens� - mit der strukturellen Ungleichheit. Eine �Chance� besteht in dem �zu gewärtigenden Ablauf� bei �Vorliegen gewisser Tat-bestände� (Max Weber). Chancengleichheit, wie sie praktiziert oder pro-grammiert wird, besteht in den �gewissen Tatbeständen�, daß die von Natur ungleich befähigten Individuen ihre Ware Arbeitskraft nicht nur mit Hilfe des ungleich verteilten familiären Bildungsstands und Ein-kommens qualifizieren können, sondern unabhängig davon, indem die Bildungs- und Ausbildungskosten öffentlich aufgebracht werden. Der

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durch diese kompensatorische Bildungs- und Sozialpolitik �zu gewärti-gende Ablauf� ist, daß die natürlichen Fähigkeiten und Begabungen der Individuen entwickelt werden, so daß sie auf dem Arbeitsmarkt einen höheren Preis haben und in der Produktion mit größerer Produktivität das Wachstum steigern. Diese Chancengleichheit ist also direkt der Nut-zen und Vorteil der Individuen, und indirekt nur dann nicht ihr Schaden und Nachteil, wenn das Kapitalwachstum nicht ihr Schaden und Nach-teil ist ... 3. An der Vertragsgerechtigkeit werden Verhältnisse gemessen, von denen sie zuvor abstrahiert worden ist. Arbeitskraftbesitzer und Kapitalbesitzer, die auf dem Markt ihren wech-selseitigen Nutzen und ihr Privatinteresse haben und die notwendige Be-dingung für die Anwendung der Arbeitskräfte zur Produktion des Wachstums erfüllen, treten hier ins Verhältnis als rechtlich gleiche Ver-tragspartner. Die Zirkulationssphäre ist deshalb ein �wahres Eden der Menschenrechte�5. Um auf dem Markt die Waren Arbeitskraft und Geld bzw. Kapital auf-einander zu beziehen und auszutauschen, müssen die Besitzer dieser Wa-ren beide ihren Willen wechselseitig anerkennen und einen gemeinsamen Willensakt vollziehen; die rechtliche Form dieses Willensverhältnisses, das das ökonomische Verhältnis ausdrückt, ist der Vertrag6. Der Vertrag feiert wieder fröhliche Urständ bei Philosophen, weil sie hier in der Tat statt direkter physischer Gewalt eine freiwillige Anerkennung des Willens anderer und die freie Zustimmung zur Beschränkung der ei-genen Willensfreiheit finden. Einige sind darüber immer noch geradezu so begeistert wie Rousseau und Kant, daß sie ihn einfach aus der menschlichen Natur oder der reinen Vernunft herleiten, ohne den ge-ringsten Argwohn zu haben, daß er eine besondere ökonomische Grund- 5 Marx, Das Kapital, MEW Bd. 23, S.189. 6 Vgl. ebenda, S.99.

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lage haben könnte und die Voraussetzung und der vermittelnde Hebel des kapitalistischen Wachstums ist. So setzt O. Höffe die Gerechtigkeit wesentlich mit der vertraglich geregelten Tauschgerechtigkeit gleich und leitet hieraus die staatliche Zwangsbefugnis ab, wobei er Rawls Konzept der Verteilungsgerechtigkeit kritisiert.7 Hier wird so verfahren, wie die Gerechtigkeit meistens behandelt wird: ihre Bestimmungen werden an den Gleichheitsverhältnissen der gesell-schaftlichen Praxis unbewußt abgelesen und von ihnen abstrahiert, dann werden sie theoretisch verselbständigt und als von der Praxis unabhängig bzw. autonom betrachtet und schließlich als Ideal wieder an die gesell-schaftliche Praxis herangetragen, so daß diese mit dem Ideal verglichen und an ihm gemessen wird. Diese Verkehrung von gesellschaftlicher Praxis und philosophischer Theorie betrifft die Tauschgerechtigkeit, den gerechten Vertrag, die Verteilungsgerechtigkeit und den wechselseitigen Nutzen. In klassischer Weise hat diese Verkehrung Proudhon vorge-macht: �Proudhon schöpft erst sein Ideal der Gerechtigkeit, der justice éternelle, aus den der Warenproduktion entsprechenden Rechtsverhält-nissen, wodurch, nebenbei bemerkt, auch der für alle Spießbürger so tröstliche Beweis geliefert wird, daß die Form der Warenproduktion e-benso ewig ist wie die Gerechtigkeit. Dann umgekehrt will er die wirkli-che Warenproduktion und das ihr entsprechende wirkliche Recht diesem Ideal gemäß ummodeln.�8

4. Die kapitalistische Marktgerechtigkeit wird theologisch sanktioniert. Daß es auch ohne solche Umwege geht, zeigt Peter Koslowski: in seiner Konzeption einer �idealrealistischen Philosophie� des �ethischen Kapita-lismus� bilden kapitalistischer Markt und Gerechtigkeit, die Wirtschafts-ordnung der Bundesrepublik und die theologisch personalistische Meta-physik, umstandslos eine Einheit. Demnach haben sich die Individuen die kapitalistischen Marktgesetze einfach ehrlichen Herzens zu eigen zu 7 O. Höffe, Politik und Gerechtigkeit, Frankfurt/Main 1987. 8 Marx, Das Kapital, MEW Bd. 23, S. 99, Anmerkung.

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machen und als Norm ihres Willens zu akzeptieren. �Kapitalbildung und Kapitalrechnung sind selbst ein sittliches Verhältnis. Die Effizienz des Kapitalismus oder der Marktwirtschaft ist eine sittliche Leistung, die sich nicht von selbst herstellt, sondern gewollt werden muß. Die Wirtschafts-gesinnung, die auf Effizienz und Erweiterung des Kapitalstocks zielt, ist eine kulturelle Leistung, welche die Wirtschaftakteure individuell bejahen müssen ... Diese einfache Sittlichkeit des Marktes erfordert es, daß die Wirtschaftssubjekte nach der Gerechtigkeit in der Logik des Marktes handeln. Sie müssen die Preis- und die Vertragsgerechtigkeit einhalten.�9 Hier haben wir zugleich den Tenor und �Saft� der unzähligen Tagungen über �Wirtschaftsethik� und �Unternehmensmoral�. Neuerdings benutzt Koslowski das Prinzip der �Subsidiarität� der katho-lischen Soziallehre dazu, den �Bedürfnissen� des Kapitals nach Deregu-lierung, Flexibilisierung und Individualisierung bzw. nach Abbau kollek-tiver Schutz- und Sicherungssysteme der Lohnabhängigen Rechnung zu tragen (und hierbei deren Bedürfnisse nach individuellen Wahlmöglich-keiten und Lebensentwürfen auszunutzen).10

Das menschliche Experimentierfeld der Alliance von Subsidiarität und Kapitalwachstum in Polen liefert ein schreckliches Anschauungsmaterial. Die Folgen lassen sich gesinnungsethisch - wie alles unververdiente Leid - der Verantwortung Gottes anheimstellen: was auch immer geschieht, Gott jedenfalls bleibt gerecht; alles menschliche Laufen und Rennen und die ganze humanistische Werk-Gerechtigkeit helfen nichts, weil die Men-schen wegen der geerbten Sünde die unendliche Schuld nicht abarbeiten und dem Gläubiger zurückerstatten können; das beinhaltet die - in öko-nomischen Kategorien ausgedrückte - theologische �Logik des Schre-ckens�. 11

9 P. Koslowski, Nachruf auf den Marxismus-Leninismus, Tübingen 1991, S. 72 ff. 10 P. Koslowski, Der soziale Staat der Postmoderne. Ethische Grundlagen der Sozi-alpolitik und Reform der Sozialversicherung, in: Sicherheit und Freiheit, hg. v. C. Sachße u. H. T. Engelhardt, Frankfurt/Main 1990, S.28 ff.; dazu: U. Mückenberger, ebenda, S.158 ff. 11 Vgl. Logik des Schreckens, Augustinus, De diversis..., hg. v. K. Flasch, Mainz 1990 (excerpta classica).

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5. Die Gerechtigkeit des kapitalistischen Weltmarkts ist eine Metamorphose des Faustrechts. Was die kapitalistische Werk-Gerechtigkeit angeht, so ergibt sich also aus der gedanklichen Verselbständigung der Zirkulationssphäre und der Eli-minierung der Produktionssphäre der ideologische reale Schein, daß in der kapitalistischen Gesellschaft Gleichheit, Freiheit und wechselseitiger Nutzen herrschen. Der gerechte Tausch von Äquivalenten in der Zirku-lation ist gerade die Vermittlung der Anwendung der Arbeitskräfte zur Produktion des Kapitalwachstums. Diese Produktion greift über die Zir-kulation über, so daß der Tausch von Äqivalenten die Erscheinungsform und der reale Schein des kapitalistischen Wachstums ist.12

Früher hatten Ideologen es leichter. Inzwischen gefährdet es sogar die Existenz der Menschheit, daß durch die Marktgerechtigkeit das Wachs-tum und die Expansion des Kapitals produziert werden. Aber den Ideo-logen fällt auch angesichts der mit dem Kapitalwachstum verbundenen ökonomischen Krisen, der Naturzerstörung, der Kriegsgefahr und der Gefahr für die Existenz der Menschheit nicht viel Neues ein. Sie kon-zentrieren sich weiterhin auf die ja vorhandene Gleichheit der tauschen-den Individuen, die Vertragsfreiheit und den wechselseitigen Nutzen und Vorteil, ohne sie als notwendige Bedingung der strukturellen Ungleich-heiten, der Abhängigkeiten, des Schadens und der Nachteile der Indivi-duen zu erkennen. Zu erkennen wäre: für den äqivalenten Warentausch auf dem Markt ist maßgebend und regulierend die durchschnittliche Produktivität (Produk-te pro Zeiteinheit). Die Produzenten, deren Produktivität unter dem Durchschnitt liegt, bleiben zurück oder werden ruiniert. Der gerechte Tausch - die Gleichsetzung von Waren, die mit unterschiedlicher Pro-duktivität produziert sind - differenziert die Warenproduzenten in immer

12 Marx, Das Kapital, MEW Bd. 23, S.609; Grundrisse, S.409.

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reichere und ärmere. Die Logik der �fairen� unparteiischen Gleichheit fördert parteiisch die Ungleichheit; das �fairplay� ist eine Metamorphose des Faustrechts - besonders auf dem Weltmarkt. Die Gleichsetzung von Warenwerten am Maßstab der verausgabten Arbeitszeit begünstigt auf dem Weltmarkt die Produzenten, die die vorteilhafteren Produktionsbe-dingungen haben, also die entwickelteren Produktivkräfte oder die höhe-re Arbeitsproduktivität (vor allem auf Grund der entwickelteren Wissen-schaft und Technik). Dementsprechend wird vermittels des Marktes und der hier geltenden gleichen Beziehungen und freien Vereinbarungen das Produktivitätsgefälle zum Wohlstandsgefälle. Die Herstellung der Chancengleichheit des Zugangs zum Weltmarkt für unterentwickelte Länder und der Abbau von Subventionen und Zoll-Protektionismus in den industrialisierten kapitalistischen Ländern - also das Programm der �Weltbank� und des �IWF� - laufen deshalb entgegen dem Anschein darauf hinaus, daß die Ungleichheit zwischen diesen Län-dern zunimmt (abgesehen von kurzfristigen Vorteilen für bestimmte Fer-tigprodukte der unterentwickelten Länder). Wenn außerdem die reiche-ren kapitalistischen Industrieländer und die ärmeren Entwicklungsländer zum Schutz der Umwelt die gleichen Rechte und Pflichten erhalten - e-ventuell durch einen �Welt-Vertrag� der �UNO� -, dann werden die Entwicklungsländer auch hierdurch immer stärker benachteiligt, so daß sich ihre Lage weiter verschlechtert und sie tendenziell verelenden, - schreckliche Ungerechtigkeit, durch Gerechtigkeit vermittelt. - Wird die theologische Logik des Schreckens das letzte Wort haben?