Upload
ifm-archiv-sachsen-e-v
View
213
Download
0
Embed Size (px)
DESCRIPTION
2015-01-24 Rainer Mueller - Historiker ohne Abitur. Suedwest-Presse
Citation preview
URL: http://www.swp.de/3010462
Autor: ANDREAS DEHNE, 24.01.2015
Historiker ohne Abitur
SCHWÄBISCH HALL: Anlässlich des 25-Jahr-Jubiläums des Mauerfalls war der Bürgerrechtler und
Mitgestalter der Montagsdemonstrationen, Rainer Müller, kürzlich im Haus der Bildung zu Gast. Er sprach
über die DDR und Pegida.
Bürgerrechtler Rainer Müller (l inks) im Gespräch mit Fachbereichsleiter Marcel Miara. Fotograf: Andreas Dehne
"Jedes Kind wusste, was es sagen darf und was nicht." Wenn der 1966 geborene Bürgerrechtler Rainer
Müller aus Borna über seine Jugend in der ehemaligen DDR spricht, unterscheidet er sich sehr deutlich von
dem, was man sonst derzeit oft von den "Damals war nicht alles schlecht"-Zeitgenossen erfährt.
"Viele erinnern sich im Rückblick nur an die guten Dinge", sagt Müller im Gespräch mit Fachbereichsleiter
Marcel Miara. Nicht so der Historiker, der noch immer im "Neuen Forum" aktiv ist. "Die DDR war nie so schön,
wie sie heute oft dargestellt wird", ist er überzeugt. "Wir haben als Kinder schon gewusst, dass wir
eingesperrt sind." Und dank des Westfernsehens, das seinen Aussagen nach in seinem Freundeskreis fast
alle gesehen haben, waren sie auch relativ gut informiert.
Zur vielzitierten Solidarität unter den Bürgern des Sozialismus findet er klare Worte: "Ich habe nie erlebt, dass
der Inhalt eines Westpaketes solidarisch aufgeteilt worden ist." Aufgrund seiner systemkritischen Haltung ist
er nicht zum Abitur zugelassen worden und musste eine Maurerlehre absolvieren. Er spricht über die
"Sippenhaft" der damaligen Zeit, über die nahezu unbekannten "Bausoldaten" und über die Auswirkungen des
Wehrdienstes. "Viele junge Leute sind danach gebrochen zurückgekommen. Nur noch Dienst nach Vorschrift
und auf Befehle handeln", erzählt der Bürgerrechtler.
Für den zukünftigen Wehrdienstverweigerer war damals klar, "wenn ich sowieso ins Gefängnis komme, dann
kann ich auch vorher schon etwas machen - dieser Gedanke befreit". So ist Müller 1987 zu den ersten
Friedensgebeten in Leipzig gekommen, die laut ihm nur deswegen montags stattgefunden haben, weil da die
Pfarrer frei hatten. "Wir hatten kein Telefon, um uns abzusprechen. So mussten wir einen festen Ort und eine
feste Zeit finden."
Von den Westjournalisten, die wegen der Messen zweimal im Jahr in Leipzig waren, sind die Berichte der
montäglichen Friedensgebete aufgegriffen worden und haben dadurch immer mehr Zulauf erhalten. "Wir
hatten das Glück, dass sich zu uns Bürgerrechtlern noch die Ausreisewilligen gesellt haben, die sowieso
nichts mehr zu befürchten hatten. Denn die mehrfache Stellung eines Ausreiseantrages war als eine
"Beeinträchtigung der Tätigkeit der staatlichen Organe" eine strafwürdige Handlung, die mit Gefängnis
geahndet werden konnte.
Auch seine Haltung zur Diskussion über die aktuellen Montagsdemonstrationen der Pegida finden nicht
immer die Zustimmung der 25 Zuhörer im Haus der Bildung. "Ich habe jahrelang damit leben müssen, nichts
sagen zu können. Dann kann ich jetzt damit leben, wenn andere ihre Meinung sagen. Auch wenn sie mir nicht
gefällt. Das muss eine Gesellschaft aushalten", argumentiert Müller.
Marcel Miara hat einige Mühe, den redegewandten und kurzweilig erzählenden Aktivisten beim Thema des
Abends zu halten. Rainer Müller hat bei seinem Montagsgespräch so viel Spannendes aus dem Innenleben
des zweiten deutschen Staates zu erzählen, dass seine knapp 100-prozentige Überschreitung der Redezeit
für so einen symbolträchtigen Tag angemessen erscheint.
Alle Rechte vorbehalten
Vervielfältigung nur mit schriftlicher Genehmigung
Copyright by SÜDWEST PRESSE Online-Dienste GmbH - Frauenstrasse 77 - 89073 Ulm