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2016-08-16 11-32-36 --- Projekt: transcript.anzeigen ... · Aus: Teresa Kovacs Drama als Störung Elfriede Jelineks Konzept des Sekundärdramas September 2016, 314 Seiten, kart.,

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Aus:

Teresa Kovacs

Drama als StörungElfriede Jelineks Konzept des Sekundärdramas

September 2016, 314 Seiten, kart., 39,99 €, ISBN 978-3-8376-3562-1

»Aufstörung«, »Verstörung«, »Zerstörung« – damit wurde Jelineks dramatischesSchreiben von Beginn an belegt, ohne jedoch den Begriff der Störung zu definierenoder zu differenzieren. Ging es zunächst um die Zerstörung des bürgerlichen Dramasund Repräsentationstheaters, sucht das Sekundärdrama eine Auf- und Verstörung, einkomplexes Miteinander von Drama und »postdramatischem« Theatertext.Ausgehend von kommunikations-, medien-, kultur-, literatur- und theaterwissen-schaftlichen Ansätzen beschreibt Teresa Kovacs erstmals Jelineks Ästhetik der Störungund zeigt, was passiert, wenn Jelineks Sekundärdramen auf ihre »Vorlagen«, auf Goe-thes »Urfaust« und Lessings »Nathan der Weise« treffen.

Teresa Kovacs (Dr. phil.) ist Wissenschaftlerin an der »Forschungsplattform ElfriedeJelinek« der Universität Wien.

Weitere Informationen und Bestellung unter:www.transcript-verlag.de/978-3-8376-3562-1

© 2016 transcript Verlag, Bielefeld

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Inhalt

Einleitung – Nach dem Drama? | 9 Dramen- und Theatertraditionen bei Jelinek | 12 Drama als Formzitat | 18 Jenseits der Parodie | 20 Forschungsstand und Methode | 23

I STÖRUNG

Theoretische Grundlagen | 31 Störung, Noise, Rauschen | 31 Die Figur des Dritten: Störung als Parasit | 42 Zwischen den Kategorien | 44 Wucherung und Expansion | 48 Schnittpunkte und Kreuzungen | 51 Störung als analytischer Begriff in Literatur- und Theaterwissenschaft | 57 Ein Forschungsüberblick | 57 Definitionsversuche | 62 Störung als ästhetisches Prinzip | 73 Fragmentierung und Unterbrechung | 77 Umkehrung und Non-Hierarchie | 87 Ambivalenz, Dialogizität, Polyphonie | 97 Selbstreflexivität | 108

II SEKUNDÄRDRAMA ALS STÖRUNG

Sekundärdrama als Störung | 119 Textstörungen | 127 (Post-)Dramatische Einlagerungen | 127 (Auf-)Gebrochene Texte | 130 (Aus-)Gebrochene Figuren | 142 Zeitschichtungen | 154 Parasitäre Wucherungen | 165

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pater familias und bürgerliche Familie | 174 (Hausvater – Inzestuöse Familienbeziehungen) Freiheit und Toleranz | 195 (Mündige Bürger – Erbauer und Zerstörer) Gold und Geld | 211 (Körperwert und Geldwert – Göttliches Geld) Störungen des Literatur- und Theaterbetriebs | 223 Der literarische Kanon, das Drama und das weibliche Verdrängte | 223 Bedingungen des Theaterbetriebs | 234 Inszenierungsformen | 240 Programmankündigung und -gestaltung | 248 Ökonomie und Hierarchie | 251 Theater und Gender-Gap | 260

Conclusio – Kein neues Drama | 271

ANHANG

Siglenverzeichnis | 279 Literaturnachweise | 281 Abbildungsnachweise | 309 Danksagung | 311

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Einleitung – Nach dem Drama?

Die beiden im Titel der Studie angeführten Begriffe „Drama“ und „Störung“ er-öffnen im Kontext von Elfriede Jelineks dramatischem Schaffen einen weitrei-chenden Assoziationsraum und benennen gleichzeitig zwei zentrale Aspekte ih-rer Theatertextarbeit, die durch das Konzept des „Sekundärdramas“ auf besonde-re Weise enggeführt werden. Mit dem Drama nämlich ist jene historische Kate-gorie angesprochen, an der sich Jelinek seit Beginn ihres Schreibens für das Theater abarbeitet, die Störung wiederum ruft ein Prinzip in Erinnerung, das seit ihrem ersten Theatertext Was geschah, nachdem Nora ihren Mann verlassen hatte oder Stützen der Gesellschaften (1979) charakteristisch für ihr Schreiben ist.

„Wie ist es möglich, Theater ausschließlich mit Texten aufzustören?“1 Diese Frage stellt die Theaterwissenschaftlerin Ulrike Haß in Bezug auf Jelineks dra-matisches Gesamtwerk und fokussiert damit bereits das spezifische Verhältnis von Text und Theater. In der Forschung herrscht breiter Konsens hinsichtlich des Widerstandspotentials von Jelineks Theatertexten gegenüber dem Theaterbe-trieb, hinsichtlich der kritischen Reflexion des bürgerlichen Dramas sowie des Repräsentationstheaters und damit verbunden der Forderung eines „anderen“ Theaters jenseits herkömmlicher Dramaturgien. So wurde der Titel eines 1989 mit der Autorin geführten Interviews Ich will kein Theater. Ich will ein anderes Theater, in dem sie dem psychologischen Theater eine Absage erteilt, zu einem zentralen Schlagwort der Jelinek-Forschung.2 Dieses „andere Theater“ ist jedoch keineswegs als „neues Theater“ in dem Sinn zu beschreiben, als es sich völlig

1 Haß, Ulrike: Textformen. In: Janke, Pia (Hg.): Jelinek-Handbuch. Stuttgart: Metzler

2013, S. 62-68, S. 62. 2 Vgl.: Roeder, Anke: Ich will kein Theater. Ich will ein anderes Theater. In: Roeder,

Anke (Hg.): Herausforderungen an das Theater. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1989, S. 143-161.

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lösen will von allem Vorhandenen, sondern Jelineks Theatertexte befragen das Theater aufbauend auf eine intensive Arbeit mit und an der Dramen- und Thea-tertradition. Die Reflexion vorwiegend europäischer Dramen- und Theatertradi-tionen, die die Theatertexte leisten, wird in der Forschungsliteratur häufig mit Begriffen der Störung in Verbindung gebracht. Es ist vom Auf-, Ver- und sogar Zerstören vorhandener Konventionen und Strukturen die Rede. Die Frage nach dem Störpotential stellt sich bei der Auseinandersetzung mit Jelineks Konzept des Sekundärdramas in besonderer Weise, da die Texte quasi als Störgeräusch konzipiert sind. Diesem Potential wird im Rahmen dieser Publikation auf ver-schiedenen Ebenen nachgegangen.

Der Titel der Studie lenkt den Fokus auf die beiden zentralen Aspekte, die die vorliegende Analyse leiten: Auf die historische Kategorie Drama und auf ei-ne Theorie der Störung. Der Begriff des „Sekundärdramas“ enthält selbst bereits beide Elemente und stellt sie zueinander in Bezug: er greift die Gattungsbe-zeichnung „Drama“ auf, verbindet diese jedoch mit dem „Sekundären“, das dem neuzeitlichen Drama laut Szondi unvereinbar entgegensteht,3 und schreibt so die Störung als konstitutives, untilgbares Element in das Konzept ein. Mit der For-mulierung „Drama als Störung“ soll jedoch auch eine Verunsicherung entstehen, die auf die Ambivalenzen verweist und auf ein nie vollständig greifbares Ver-hältnis von Drama bzw. Sekundärdrama und Störung. Im Sinne des der Studie vorangestellten Mottos, das die Frage aufwirft, „Wer hat hier am Ende das letzte Wort? Wer sät Unordnung, wer stiftet eine neue, andere Ordnung?“4, soll betont werden, dass Drama, Sekundärdrama und Störung in ihren Positionen beweglich sind, sich der Fassbarkeit entziehen und damit nie eindeutig und unveränderlich festgelegt werden können.

Wenn das Drama als Störung bezeichnet wird, stellt sich unweigerlich die Frage, wer stört und wer gestört wird. Es sind Jelineks jenseits der historischen Kategorie Drama operierenden Theatertexte, die als Störung des Dramas begrif-fen werden können, es ist aber auch das „Drama“, das durch die Bezeichnung „Sekundärdrama“ mit Jelineks Theatertexten in Bezug gesetzt wird und so eine Störung erzeugt. Nicht zuletzt bestimmt jede Inszenierung am Theater selbst darüber, wie sich die Störung äußert, ob Jelineks Theatertexte das System vor-geben, das vom Drama gestört wird oder umgekehrt bzw. liegt es an den Rezipi-entInnen selbst, deren Wahrnehmungsgewohnheiten mitbestimmend sind für das

3 Vgl.: Szondi, Peter: Theorie des modernen Dramas (1880-1950). Frankfurt am Main:

Suhrkamp 1963, S. 16-17. 4 Serres, Michel: Der Parasit. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1987 (= suhrkamp ta-

schenbuch wissenschaft 677), S. 11.

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Funktionieren der Störung. So beschreibt „Drama als Störung“ zuallererst ein of-fenes, unbestimmtes und wandelbares Verhältnis zwischen Texten, dramatischen Formen, Schreibweisen und Zeiten.

Die Bezeichnung Sekundärdrama stammt von Jelinek selbst. Sie bringt den Begriff erstmals 2009 in dem in der Zeitschrift Theater heute abgedruckten Statement Reichhaltiger Angebotskatalog als Antwort auf die Frage „Was heißt hier Kunst?“ ein. In diesem kurzen Text stellt sie ironisch ihre neue „Geschäftsi-dee“ für den Theaterbetrieb vor, nämlich sogenannte „Sekundärdramen“, die zu vorhandenen Dramentexten verfasst werden und die „kläffend neben den Klassi-kern herlaufen sollen“ (REI). Durch die Betonung des sekundären Charakters und der Vergänglichkeit dieser Texte, die im besten Fall an der Dauerhaftigkeit und Ewig-Gültigkeit der „Klassiker“ partizipieren, wie es in diesem kurzen Statement formuliert wird, stellt das Sekundärdrama den Dramen ein alternatives Denken von AutorInnenschaft und Werk gegenüber, das sich nicht über Origina-lität und Authentizität definiert. Jelinek verfasste bislang zwei Theatertexte, die sie selbst als Sekundärdrama ausweist: Abraumhalde (2009) zu Gotthold Ephraim Lessings Nathan der Weise und FaustIn and out (2011) zu Johann Wolfgang von Goethes Urfaust.

Den Anstoß zur Entwicklung des Sekundärdramas gab Nicolas Stemanns Neuinszenierung von Lessings Nathan der Weise. Stemann beauftragte Jelinek mit einem Zusatztext, der Lessings Stück konterkarieren sollte. Der für diese In-szenierung entstandene Theatertext Abraumhalde wurde von der Autorin später als erstes Sekundärdrama bezeichnet. Die von Stemann hergestellte Verbindung von Nathan der Weise und Abraumhalde inspirierte Jelinek dazu, mit dem Se-kundärdrama ein Konzept einzuführen, das abhängig ist von der Kombination zweier Texte im Moment der Inszenierung (vgl. VO). Im Jahr 2010 erweiterte sie ihren Kommentar Reichhaltiger Angebotskatalog zum Essay Anmerkung zum Sekundärdrama, der als ein poetologischer Grundlagentext bezeichnet werden kann. In diesem Essay stellt die Autorin das Spezifische des Konzepts vor, be-schreibt es ausführlich und gibt Anregungen für mögliche Realisierungen der Texte auf der Bühne. Jelinek formuliert darin die zentrale Forderung, dass die Sekundärdramen ausschließlich gemeinsam mit den Dramen, die sie als Bezugs-texte heranziehen, umgesetzt werden dürfen. So heißt es: „Das Sekundärdrama darf niemals als das Hauptstück und alleine, sozusagen solo, gespielt werden. Eins bedingt das andre, das Sekundärdrama geht aus dem Hauptdrama hervor und begleitet es, auf unterschiedliche Weise, aber es ist stets: Begleitung. Das Sekundärdrama ist Begleitdrama.“ (AN)

Formal dahingehend mit ihren anderen Theatertexten vergleichbar, als die Sekundärdramen ebenso wie andere Stücke Jelineks (verfremdete) Zitate aus den

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herangezogenen dramatischen Texten zitieren und mit Versatzstücken aus wis-senschaftlichen, philosophischen, religiösen Werken und Trivialem anreichern, gehen sie über diese hinaus, indem sie im Moment der Inszenierung eine noch-malige Kombination und gegenseitige Einschreibung der Texte fordern. Jelineks Sekundärdramen stellen dadurch in doppelter Hinsicht Bezug zu den Primär-dramen her: sie greifen Zitate daraus auf und sind an die Vorlagen gebunden. Diese spezifische Form unterscheidet die Sekundärdramen deutlich von anderen Theatertexten Jelineks bzw. von Bearbeitungen anderer AutorInnen. Das Den-ken der Kombination und des gleichzeitigen Präsent-Seins zweier Theatertexte, das beim Konzept des Sekundärdramas zentral gesetzt wird, muss daher auch bei der Analyse immer reflektiert werden.

Der Begriff des Sekundärdramas wird mittlerweile interessanterweise nicht nur an den Theatern und in Kritiken, sondern auch in der Forschungsliteratur auf andere Texte Jelineks übertragen. Er scheint ein ähnliches „Eigenleben“ zu ent-wickeln wie der Begriff der „Textfläche“, der, von Jelinek selbst eingebracht, heute in der Germanistik und Theaterwissenschaft eine zentrale Kategorie für die Beschreibung zeitgenössischer Theatertexte darstellt. Auch das macht es notwendig, das Konzept des Sekundärdramas einer umfangreichen wissenschaft-lichen Analyse zu unterziehen.

DRAMEN- UND THEATERTRADITIONEN BEI JELINEK Elfriede Jelineks Schreiben für das Theater ist seit ihrem ersten Theatertext 1979 deutlich geprägt durch den Bezug auf die Dramentradition und die Arbeit mit und an dramatischen Strukturen. Wie konstitutiv der Rückgriff auf bestehende Theatertexte für Jelineks Schreiben ist, zeigt sich daran, dass kaum einer ihrer Texte ohne das Heranziehen eines bereits vorhandenen Stückes auskommt. Das Spektrum der zitierten Theatertexte ist breit, es reicht von antiken griechischen Tragödien bis zu Theatertexten des späten 19. Jhdts.

Dabei sind einige Schwerpunkte auszumachen, nämlich beziehen sich die Texte besonders häufig auf griechische Tragödien und auf Stücke, die dem Wie-ner Volkstheater zuzurechnen sind. Darüber hinaus gibt es in Jelineks Werk eine intensive Beschäftigung mit Komödientraditionen des französischsprachigen und englischsprachigen Raums, wie es die Übertragungen von Eugène Labiche, Georges Feydeau und Oscar Wilde belegen, die im Auftrag von Jelineks Verlag als Übersetzungen entstanden sind, wie es aber auch die zahlreichen Bezüge zu Shakespeare zeigen. Einen weiteren Schwerpunkt bilden Stücke, die formal dem bürgerlichen Drama zuzurechnen sind – auch wenn sie diese Dramenform selbst

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bereits kritisch reflektieren und aufbrechen, wie es etwa bei Ibsen der Fall ist. Nicht unerwähnt darf bleiben, dass Jelinek neben Dramentexten auch Musikthe-atervorlagen und Libretti verarbeitet, in ihrer Auseinandersetzung mit Theater also deutlich über das Sprechtheater hinausgeht. Trotz der vielfältigen Bezüge sind es sehr spezifische Traditionen, die Jelineks Texte in Erinnerung rufen, und es kann konstatiert werden, dass es sich um ein komplexes Verhältnis zwischen Selbst-Einschreibung in und subversivem Unterlaufen von dieser Dramen- und Theatergeschichte handelt.

Grundsätzlich muss betont werden, dass es nicht nur Stoffe vorhandener Theatertexte sind, die Jelineks Texte aufgreifen, fort- und neuschreiben, sondern dass es v.a. auch dramatische Formen sind, derer sie sich bedienen. Wie die Theaterwissenschaftlerin Monika Meister dargelegt hat, sind Jelineks neuere Stücke bestimmt durch formale Grundstrukturen der antiken griechischen Tra-gödie, die in den Texten neu kontextualisiert werden und damit eine neuartige Wirkungsweise entfalten.5 Besonders deutlich wird die Arbeit mit diesen Form-elementen etwa im Theatertext Rechnitz (Der Würgeengel) (2008), der den Bo-tenbericht aufgreift, in Ein Sportstück (1998), Das Werk (2003) und Die Schutz-befohlenen (2013), die den Chor der griechischen Tragödie heranziehen, oder in Die Kontrakte des Kaufmanns (2009) und im Epilog? (2012) zum Theatertext Kein Licht. (2011), die die Form der antiken Klage neu interpretieren. Inhaltliche Bezüge etwa werden in Bambiland (2003) zu Aischylos’ Die Perser hergestellt, in Das Werk zu Euripides’ Die Troerinnen, in Rechnitz (Der Würgeengel) zu Eu-ripides’ Die Bakchen und ganz aktuell in Die Schutzbefohlenen zu Aischylos’ Die Schutzflehenden, in Das schweigende Mädchen (2014) zu Euripides’ Elektra und in Wut (2016) zu Euripides’ Der rasende Herakles. Kaum ein neuerer Thea-tertext kommt ohne ein offensichtliches Andocken an die griechische Tragödie aus, auch Abraumhalde zitiert trotz Bindung an Lessings Nathan der Weise do-minant Sophokles’ Antigone. Zwar streichen einige Theatertexte das Chorische deutlicher hervor, dennoch ist das Formprinzip des Chors für alle neueren Thea-tertexte Jelineks konstitutiv. Auch der Botenbericht ist als eine Form des unei-gentlichen Sprechens grundlegend für ihre Theatertexte sowie das tragische Pa-thos, das Jelinek zitiert und vielfältig bricht. Die Arbeit mit diesen Strukturen lässt vielstimmige Texte entstehen, die sich der Zuordnung zu bestimmten Spre-

5 Vgl.: Meister, Monika: Bezüge zur Theatertradition. In: Janke, Pia (Hg.): Jelinek-

Handbuch. Stuttgart: Metzler 2013, S. 68-73, S. 69.

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cherInnen und Individuen entziehen und die prinzipiell offen lassen, wer in die-sen Texten spricht.6

Auf die Tradition des Wiener Volkstheaters rekurrieren v.a. Jelineks frühere Theatertexte. Auch hier sind es nicht nur Themen und Stoffe, sondern formale Grundstrukturen, die die Stücke reflektieren. Burgtheater (1982) etwa greift die Posse, das Zauberspiel und das Allegorisches Zwischenspiel auf. „In der Art ei-nes Altwiener Zauberspiels (Raimund, schau oba)“7, heißt es beispielsweise in der kursiv abgesetzten Passage zu Beginn des vom übrigen Text unterschiedenen Zwischenspiels. Mehrere frühe Theatertexte orientieren sich deutlich an be-stimmten Stücken von Nestroy und Raimund, Präsident Abendwind (1987) nutzt etwa Nestroys Häuptling Abendwind als Folie bzw. bezieht sich Burgtheater auf Ferdinand Raimunds Der Alpenkönig und der Menschenfeind. Auch in diesem Bereich lassen sich wiederum für Jelineks Theatertexte konstitutive Verfahren benennen wie etwa Wort- und Sprachspiele (v.a. Kalauer, Alliterationen, Neolo-gismen). Für das Sekundärdrama relevant ist die von dieser Tradition herrühren-de (komische) Fort- und Neuschreibung von Dramentexten. Die Sekundärdra-men sind ohne den Bezug auf die parodistische Tradition des Wiener Volksthea-ters sicherlich nicht zu denken.

Neben der komischen Tradition des Wiener Volkstheaters ist für die Analyse der Sekundärdramen jedoch v.a. das Aufgreifen der bürgerlichen Dramentraditi-on wesentlich. Bereits der erste Theatertext Was geschah, nachdem Nora ihren Mann verlassen hatte oder Stützen der Gesellschaften bezieht sich dezidiert auf zwei Stücke von Ibsen, nämlich Nora oder ein Puppenheim und Stützen der Ge-sellschaft. Ibsens Nora wird dabei gleich zu Beginn eindeutig als Vorlage mar-kiert, wenn sich die mit dem Namen „Nora“ ausgewiesene Sprechinstanz des Je-linek-Textes mit den Worten vorstellt: „Ich bin keine Frau, die von ihrem Mann verlassen wurde, sondern eine, die selbsttätig verließ, was seltener ist. Ich bin

6 Zur Frage „Wer spricht?“ vgl. aktuell: Hochholdinger-Reiterer, Beate: Spricht wer?

Zwischenbilanz textanalytischer Annäherungen. In: Janke, Pia / Kovacs, Teresa (Hg.): „Postdramatik“. Reflexion und Revision. Wien: Praesens Verlag 2015 (= DISKURSE. KONTEXTE.IMPULSE. Publikationen des Elfriede Jelinek-Forschungszentrums 11), S. 98-111.

7 Jelinek, Elfriede: Burgtheater. Posse mit Gesang. In: Jelinek, Elfriede: Theaterstücke. Was geschah, nachdem Nora ihren Mann verlassen hatte oder Stützen der Gesell-schaften. Clara S. musikalische Tragödie. Burgtheater. Krankheit oder Moderne Frau-en. Reinbek: Rowohlt 1992, S. 129-189, S. 143.

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Nora aus dem gleichnamigen Stück von Ibsen.“8 Szondi folgend macht zwar be-reits Ibsen selbst das bürgerliche Dramenschema des 18. Jhdts. brüchig,9 den-noch dient er Jelinek als beispielhaft für jenes Dramenmodell, das auf Identifika-tion, Handlung und Repräsentation aufbaut. Besonders eindringlich zeigt sich die Arbeit am klassischen Dramenschema beim Theatertext Ulrike Maria Stuart (2006), der Schillers Maria Stuart als formale und inhaltliche Grundlage wählt. Auch im Bereich dieser Tradition lässt sich ein Grundprinzip benennen, das für alle Theatertexte Jelineks von Bedeutung ist, nämlich das klassische Pathos des Sprechens bzw. das beständige Sprechen, das ex negativo auf die Stille verweist, das die Autorin vornehmlich mit Schillers Dramen in Verbindung bringt.10

Was den Rückgriff und die Arbeit an der dramatischen Tradition betrifft, können zwei grundlegende Tendenzen innerhalb Jelineks Theater-Œuvre be-stimmt werden: nämlich produktive Aufnahme und Fortschreibung der Tradition sowie kritische, dekonstruktive Relektüre, wobei in allen Fällen der Bezugnah-me auf Traditionen beide Tendenzen wirksam sind, da die Grenze zwischen Kri-tik und produktiver Fortschreibung bei Jelineks Texten immer fließend ist. Den-noch zeigt sich, dass das Aufgreifen von Texten, bei denen man die Geste der Dekonstruktion bereits vorfindet, wie etwa bei Stücken des Wiener Volksthea-ters, weniger durch eine dekonstruktive Lektüre befördert wird als eher durch ein daran Weiterarbeiten und einer Fortsetzung der Tradition. Anders verhält es sich hingegen mit dramatischen Texten der Klassik bzw. des bürgerlichen Thea-ters, deren Modell dominant einer kritischen, dekonstruktiven Relektüre unter-zogen wird.

Jelinek übt in ihren ästhetischen Reflexionen seit Beginn ihres dramatischen Schreibens Kritik am Repräsentationstheater. Dies äußert sich etwa im frühen Essay Ich schlage sozusagen mit der Axt drein, wo sie dem bürgerlichen Drama eine Absage erteilt und sich mit Bezug auf Brecht gegen die Erzeugung indivi-dueller Figuren am Theater ausspricht.11 Auch in Ich möchte seicht sein wird das

8 Jelinek, Elfriede: Was geschah, nachdem Nora ihren Mann verlassen hatte oder Stüt-

zen der Gesellschaften. In: Jelinek, Elfriede: Theaterstücke. Was geschah, nachdem Nora ihren Mann verlassen hatte oder Stützen der Gesellschaften. Clara S. musikali-sche Tragödie. Burgtheater. Krank8heit oder Moderne Frauen. Reinbek: Rowohlt 1992, S. 7-78, S. 9.

9 Vgl.: Szondi, Peter: Theorie des modernen Dramas (1880-1950), S. 22-31. 10 Vgl.: Jelinek, Elfriede: Sprech-Wut (ein Vorhaben). In: Literaturen special 1-2/2005,

S. 12-15, S. 12. 11 Vgl.: Jelinek, Elfriede: Ich schlage sozusagen mit der Axt drein. In: TheaterZeitSchrift

7 (1984), S. 14-16.

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identifikatorische Prinzip vehement abgelehnt, dies setzt sich fort in den Texten Sinn egal. Körper zwecklos. sowie in den neueren Essays Es ist Sprechen und aus und Textflächen.12

In diesem Ansatz, für das bürgerliche Drama konstitutive Elemente wie Fi-gur, Dialog und Handlung aufzulösen, wäre Jelineks Schreiben für das Theater in der Nähe Bertolt Brechts und Heiner Müllers zu verorten, worauf Monika Meister unter dem Schlagwort des „Politischen Schreibens“ hinweist.13 Diese Tradition ist für das Konzept des Sekundärdramas nicht unwesentlich, da sich der kritische Umgang mit der historischen Kategorie Drama auch bei Brecht und Müller im Aufgreifen und Bearbeiten bestehender Stücke äußert. Brechts und Müllers Klassikerbearbeitungen ähneln Jelineks Konzept des Sekundärdramas. So etwa erinnert die Behandlung vorhandener Dramen als Material an Brechts frühe Beschreibungen seiner Arbeit mit klassischen Texten. Besonders interes-sant scheinen Brechts Reflexionen hinsichtlich seiner Faust-Rezeption am Thea-ter, da er dort betont, der falschen Harmonisierungstendenz der klassischen Fas-sung entgegenarbeiten zu wollen.14 Auch Jelineks FaustIn and out könnte als ei-ne solche Zurücknahme des Klassischen gelesen werden, nennt sie doch im Un-tertitel dezidiert Goethes frühe Sturm-und-Drang-Fassung, den so genannten Urfaust, als zugrundeliegendes Primärdrama. Der Eintrag in Brechts Arbeits-journal vom 10.12.1940 lässt sich sogar wie eine direkte Vorstufe von Jelineks Anmerkung zum Sekundärdrama lesen, in dem Brecht andenkt, neue Stücke zu Klassikern (konkret zu Goethes Faust-Komplex) zu verfassen, die nach der Klassiker-Inszenierung gespielt werden könnten:

12 Vgl.: Jelinek, Elfriede: Ich möchte seicht sein. In: Schreiben 29/30 (1986), S. 74; Je-

linek, Elfriede: Sinn egal. Körper zwecklos. 1996 (auf der Rückseite des Plakats zu Symposium (17.-20.10.1996) und Ausstellung (17.10.-10.11.1996 Echos und Mas-ken); Jelinek, Elfriede: Es ist Sprechen und aus. http://204.200.212.100/ej/fachtung. htm (30.11.2015), datiert mit 15.11.2013 (= Elfriede Jelineks Website, Rubriken: Ak-tuelles 2013, zum Theater); Jelinek, Elfriede: Textflächen. http://a-e-m-gmbh.com/ wessely/ftextf.htm (15.7.2014), datiert mit 17.2.2013 (= Elfriede Jelineks Website, Rubriken: Aktuelles 2013, zum Theater).

13 Vgl.: Meister, Monika: Bezüge zur Theatertradition, S. 68. 14 Zu Brechts Klassikerbearbeitungen vgl.: Hinck, Walter: Kritisch-produktive Aneig-

nung des „Erbes“. Bertolt Brechts Goethe-Rezeption („Urfaust“-Inszenierung). In: Hinck, Walter: Literatur als Gegenspiel. Essays zur deutschen Literatur von Luther bis Böll. Tübingen: Klöpfer & Meyer 2001 (= Promenade), S. 179-213, S. 183-184.

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[…] zb könnte der staat übersetzungen klassischer werke bezahlen. – solche aufträge ge-hörten zum kulturaufbau jedes staates. es gäbe noch andere. so könnte man die alten wer-ke ohne viel kommentar aufführen, die neuen ohne viel zensur, wenn man zeitgenössische dichter kleine stücke dichten ließe, komische oder tragische, die man nach den betreffen-den werken aufführen kann. keine faust-aufführung ohne nachfolgende satire.15

Zwar dominiert bei Brecht noch das Nach dem Drama, dennoch weist der Ge-danke einer Satire, die dem Klassiker in der Gegenwart zu einer neuen Kennt-lichkeit verhilft, eine deutliche Nähe zum Konzept des Sekundärdramas auf.

Noch offensichtlicher ist die Ähnlichkeit zu Müllers Arbeit mit Dramentex-ten, die ebenfalls nicht mehr ausschließlich – wie noch bei Brecht – das Nachei-nander von zwei Stücken betont, sondern bereits eine gemeinsame Inszenierung andenkt und das tatsächliche ineinander Eindringen von Texten fordert. Ein Bei-spiel für diesen Versuch des Ineinander-Schichtens von Texten wäre Müllers ei-gene Inszenierung seiner Hamletmaschine, die er gemeinsam mit Shakespeares Hamlet umsetzte.16 Müller, der griechische Tragödien ebenso wie Texte von Shakespeare bearbeitete bzw. „übermalte“, verfasste Kommentare zu diesen Stücken, die sich wiederum in die bereits bestehenden Texte hineindrängen und diese unterbrechen sollten. Das Ineinanderschieben wurde für Müller schließlich immer bedeutender und so integrierte er die späteren Kommentare direkt in die Texte, auf die sie sich beziehen, sodass sie tatsächlich auch gemeinsam insze-niert und die Kommentare nicht nur in Programmheften etc. abgedruckt wer-den.17 In diesem Denken des gleichzeitigen Präsent-Werdens verschiedener Tex-te im Moment der Inszenierung ähnelt Müllers Verfahren Jelineks Konzept des Sekundärdramas, es unterscheidet sich jedoch auch in zentralen Punkten von diesem. So geht mit dem Begriff des Kommentars im Sinne Walter Benjamins ein „souveräner Gestus“ einher,18 während Jelinek mit der Betonung des Sekun-dären sehr bewusst eine „untergeordnete“ Position einnimmt. Zwar den politi-schen Anspruch und den Wunsch nach Auflösung einer zeitlichen Aufeinander-folge, der Eindeutigkeit und -stimmigkeit teilend, ist Jelineks Sekundärdrama-Konzept doch anders ausgerichtet und verfolgt eine andere Strategie als Müllers Bearbeitungen. Bei ihrem Konzept nämlich geht es um die Infragestellung der Kategorie Drama und den damit verbundenen Konventionen, Müller hingegen

15 Brecht, Bertolt: Arbeitsjournal 1938-1955. Berlin: Aufbau-Verlag 1977, S. 134. 16 Premiere: 24.3.1990, Deutsches Theater Berlin. 17 Vgl.: Primavesi, Patrick: Theater des Kommentars. In: Lehmann, Hans-Thies / Prima-

vesi, Patrick (Hg.): Müller-Handbuch. Stuttgart: Metzler 2003, S. 45-52, S. 50-51. 18 Vgl.: Ebd., S. 46-47.

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bearbeitet auf diese spezifische Weise Texte, die nicht der historischen Katego-rie Drama zuzuordnen sind wie etwa griechische Tragödien und Texte von Shakespeare.

DRAMA ALS FORMZITAT Jelineks Was geschah, nachdem Nora ihren Mann verlassen hatte oder Stützen der Gesellschaften und Ulrike Maria Stuart sind am deutlichsten mit dem Kon-zept des Sekundärdramas verwandt. Wie Ulrike Haß herausgearbeitet hat, han-delt es sich bei der Verwendung des neuzeitlichen Dramenschemas bei Jelinek immer bereits um ein Formzitat, was sie exemplarisch am Beispiel von Jelineks Nora nachweist.19 Haß konstatiert, dass gerade durch die scheinbare Verwen-dung des Dramenschemas, dessen Konventionen jedoch nicht mehr erfüllt wer-den, ein Widerspruch entsteht, der das Modell des Dramas selbst problematisch werden lässt. Eben in diesem Kontext sind auch Jelineks Sekundärdramen zu be-trachten, jedoch als Fortführung bzw. Steigerung dieses Ansatzes.

Eine erste deutliche Auseinandersetzung mit dem idealistischen Theaterent-wurf der Weimarer Klassik findet mit dem 2006 uraufgeführten Theatertext Ul-rike Maria Stuart statt, über den Jelinek in ihrem Essay Sprech-Wut (ein Vorha-ben) festhält:

Ich möchte mich so gern in Schillers „Maria Stuart“ hineindrängen, nicht um sie zu etwas anderem aufzublasen wie einen armen Frosch, der dann platzt, sondern um mein eigenes Sprechen in diese ohnehin schon bis zum Bersten vollen Textkörper der beiden Großen Frauen, dieser Protagonistinnen, auch noch hineinzulegen.20 Vergleicht man dies mit der von Jelinek in Bezug auf FaustIn and out formulier-ten Intention, sich mit dem Sekundärdrama in Goethes Text „hineinquetschen“ (BÜ) zu wollen, fällt auf, dass es hier Parallelen gibt, also mit Ulrike Maria Stu-art bereits Ansätze entwickelt werden, die später mit dem Sekundärdrama auf-gegriffen und potenziert werden. Ulrike Maria Stuart verwendet die metrisch gebundene Sprache von Schillers Drama und schreibt diese als Grundstruktur in den Text ein. Indem das Metrum Schillers auf Jelineks „Textflächen“ trifft, wird die dramatische Struktur jedoch brüchig. Schillers Dialogstruktur wird durch Je-lineks Textblöcke überlagert, an manchen Stellen sogar gänzlich aufgegeben und

19 Vgl.: Haß, Ulrike: Textformen, S. 62. 20 Jelinek, Elfriede: Sprech-Wut (ein Vorhaben), S. 12.

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durch andere Strukturelemente ersetzt, wie beispielsweise das chorische Spre-chen. In der dem Text vorangestellten kursiv abgehobenen Passage wird für mögliche Realisierungen des Textes auf der Bühne ausgeführt, dass die Regie die „Höhe“ von Schillers Dramensprache unbedingt „konterkarieren“ muss, in-dem sie eine Differenz erzeugt, die die Figuren „quasi neben sich selber herlau-fen“21 lässt. Da der Text einen Weg sucht, um die Form von Schillers Drama bewusst zu machen und eben diese Form als Transporteur von Ideologien zu markieren, kann Ulrike Maria Stuart als Vorstufe des späteren Sekundärdramas bezeichnet werden. Das Sekundärdrama steigert dieses Anliegen, versucht nicht, die Form des Dramas in den eigenen Text zu integrieren, um dadurch Form-schichtungen zu erzeugen, sondern will das Drama mittels der Kombination zu-nächst als Ganzes präsent werden lassen und damit das Eindringen und Aufbre-chen noch deutlicher nachvollziehen.

Monika Meister spricht in Bezug auf Ulrike Maria Stuart von einer „empha-tischen Intervention“22, die den idealistischen Theaterentwurf der Weimarer Klassik dekonstruiert, „die verdrängten Traumata der Machtpolitik“ zum Vor-schein bringt und somit das „Modell des aufgeklärten Humanismus gänzlich in-frage“23 stellt. Es handelt sich bei Jelinek um die Demontage einer positiven Sinnsetzung, wie sie etwa die Klassik verkörpert. Mit dem Sekundärdrama wird dieses Eingreifen in einen vorhandenen Text gesteigert, nämlich geht es nicht mehr bloß um das Dazwischentreten und die Unterbrechung, sondern um ein Denken des Zugleich und der Koexistenz zweier Texte und Dramenmodelle. In dieser Gleichzeitigkeit entsteht ein offensichtlicherer Bruch und eine stärkere Reibung und Differenz zur historischen Kategorie Drama als dies bei Ulrike Ma-ria Stuart der Fall ist. Dadurch wird dominanter als bei anderen Theatertexten Jelineks die Gattung Drama als Gattung mit all ihren Konventionen und den pa-triarchalen Macht- und Herrschaftsdiskursen, an denen sie partizipiert, sichtbar gemacht.

21 Jelinek, Elfriede: Ulrike Maria Stuart. In: Jelinek, Elfriede: Das schweigende Mäd-

chen. Ulrike Maria Stuart. Zwei Theaterstücke. Reinbek: Rowohlt 2015, S. 7-149, S. 9.

22 Meister, Monika: Bezüge zur Theatertradition, S. 70. 23 Ebd., S. 70.

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JENSEITS DER PARODIE Wie die Bezüge zur Dramen- und Theatertradition zeigen, ist Jelineks Schreiben für das Theater von Beginn an durch ein intertextuelles Verfahren geprägt. Die-ses Verfahren wird in der Forschung seit den 1980er Jahren intensiv diskutiert und es wird danach gefragt, welche Funktion der Intertextualität in Jelineks Schreiben zukommt. Für die Theatertexte wurde festgestellt, dass durch die Ar-beit mit öffentlicher und veröffentlichter Sprache Diskurse hörbar gemacht wer-den, die jedes authentische Sprechen und damit die Aussprache eines souveränen Subjekts unmöglich machen. Die Forschungsarbeiten unterstreichen die politi-sche Funktion des Zitats bei Jelinek und betonen die Negation des Denkens von UrheberInnenschaft und Original. Sie verweisen aber auch darauf, dass Jelineks intertextuelle Schreibpraxis darauf abzielt, die Tiefenschichten der Sprache und deren ideologischen Gehalt freizulegen.24

Konkret bezogen auf jene Theatertexte, die sehr offensichtlich mit dramati-schen Vorlagen arbeiten, gibt es in der Forschung verschiedene Vorschläge der Kategorisierung. So etwa wird Was geschah, nachdem Nora ihren Mann verlas-sen hatte oder Stützen der Gesellschaften als Paraphrase (Perthold), Fortsetzung (Perthold, Surowska, Jezierska), Aktualisierung (Saletta), Neubearbeitung (Je-zierska, Caduff) und Palimpsest (Jezierska) ausgewiesen.25 Präsident Abendwind

24 Vgl. bspw.: Pflüger, Maja Sibylle: Vom Dialog zur Dialogizität. Die Theaterstücke

von Elfriede Jelinek. Tübingen: Francke 1996; Caduff, Corinna: Ich gedeihe inmitten von Seuchen. Elfriede Jelinek – Theatertexte. Bern: Peter Lang 1991 (= Zürcher ger-manistische Studien 25); Kecht, Maria-Regina: Elfriede Jelinek in absentia oder die Sprache zur Sprache bringen. In: Seminar. A Journal of Germanic Studies 3/2007, S. 351-365; Meister, Monika: „Theater müßte eine Art Verweigerung sein“. Zur Drama-turgie Elfriede Jelineks. In: Meister, Monika: Theater denken. Ästhetische Strategien in den szenischen Künsten. Wien: Sonderzahl 2009, S. 275-290.

25 Vgl.: Perthold, Sabine: Elfriede Jelineks dramatisches Werk. Theater jenseits konven-tioneller Gattungsbegriffe. Analyse des dramatischen Werks der Schriftstellerin Elfriede Jelinek unter Einbeziehung einiger Hörspiele und Prosatexte, sofern diese mit dem dramatischen Werk thematisch oder formal in Verbindung stehen. Wien, Diss. 1991; Surowska, Barbara: Ist das noch die Nora? Bemerkungen zu Elfriede Je-lineks Theaterstück Was geschah, nachdem Nora ihren Mann verlassen hatte oder Stützen der Gesellschaften! In: Zittel, Claus / Holona, Marian (Hg.): Positionen der Jelinek-Forschung. Beiträge zur Polnisch-Deutschen Elfriede Jelinek-Konferenz Olsztyn 2005. Bern: Peter Lang 2008 (= Jahrbuch für Internationale Germanistik Rei-he A, Kongressberichte 74), S. 257-278; Jezierska, Agnieszka: Das ambivalente Wort

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und Burgtheater werden als Paraphrase und Fortschreibung beschrieben (Helfer, Haß),26 Ulrike Maria Stuart wird von Evelyn Annuß mit dem Begriff der Relek-türe in Verbindung gebracht.27

Parodie und Palimpsest scheinen am ehesten auch auf die Sekundärdramen zuzutreffen, denn immerhin entstand die Parodie als Zwischenspiel und trans-portiert somit, wenigstens von ihrer Herkunft her, den Gedanken des Zusam-menspannens zweier Texte auf der Bühne. Mit dem Palimpsest wird die Schich-tung von Texten und Texturen hervorgehoben, auch das betrifft ein wesentliches Charakteristikum des Sekundärdramas. Dennoch erlauben sie nicht, die tatsäch-liche Koexistenz von Texten im Moment der Inszenierung adäquat zu beschrei-ben. Lässt sich Jelineks erster Theatertext eventuell noch nach Ibsen verorten, sind die in der Forschungsliteratur präsenten Begrifflichkeiten seit Ulrike Maria Stuart nicht mehr geeignet, um den komplexen Text-Text-Bezug zu fassen. Um das Mit und die Kopräsenz von dramatischen Strukturen und Formationen zu fassen, müssen neue Begrifflichkeiten gefunden werden.

Karen Jürs-Munby wählt, um die Besonderheit des Sekundärdramas zu beto-nen und die doppelte Bezugnahme der Texte auf den Prätext begrifflich zu mar-

in Was geschah, nachdem Nora ihren Mann verlassen hatte oder Stützen der Gesell-schaften von Elfriede Jelinek. In: Zittel, Claus / Holona, Marian (Hg.): Positionen der Jelinek-Forschung. Beiträge zur Polnisch-Deutschen Elfriede Jelinek-Konferenz Olsztyn 2005. Bern: Peter Lang 2008 (= Jahrbuch für Internationale Germanistik Rei-he A, Kongressberichte 74), S. 279-301; Saletta, Ester: Die Rezeption Ibsens in Je-lineks Theaterstück Was geschah nachdem Nora ihren Mann verlassen hatte oder Stützen der Gesellschaften. In: Arteel, Inge / Müller, Heidy Margit (Hg.): Elfriede Je-linek – Stücke für oder gegen das Theater? Brüssel: Koninklijke Vlaamse Academie van België 2008, S. 233-240; Caduff, Corinna: Ich gedeihe inmitten von Seuchen. Elfriede Jelinek – Theatertexte.

26 Vgl.: Helfer, Viktoria: (Dis-)Kontinuität zur österreichischen Tradition bei Elfriede Jelinek in Burgtheater und Präsident Abendwind. In: Zittel, Claus / Holona, Marian (Hg.): Positionen der Jelinek-Forschung. Beiträge zur Polnisch-Deutschen Elfriede Je-linek-Konferenz Olsztyn 2005. Bern: Peter Lang 2008 (= Jahrbuch für Internationale Germanistik Reihe A, Kongressberichte 74), S. 315-330; Haß, Ulrike: Textformen.

27 Vgl.: Annuß, Evelyn: Schiller offshore: über den Gebrauch von gebundener Sprache und Chor in Elfriede Jelineks Ulrike Maria Stuart. In: Arteel, Inge / Müller, Heidy Margit (Hg.): Elfriede Jelinek – Stücke für oder gegen das Theater? Brüssel: Ko-ninklijke Vlaamse Academie van België 2008, S. 29-42.

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kieren, den Begriff der „Parallel-(Inter)Textualität“28, führt jedoch nicht weiter aus, wie diese zu definieren wäre. Die vorliegende Studie will darüber hinausge-hen und das Prinzip der Störung fruchtbar machen, um das Konzept des Sekun-därdramas zu beschreiben. Der Begriff der Störung, der in der Literaturwissen-schaft erst seit einigen Jahren produktiv aufgegriffen wird, ermöglicht es, das Verhältnis von Drama und Sekundärdrama zu fokussieren und die wechselseiti-gen Eingriffe zu beschreiben, ohne dabei wiederum den Begriff der Intertextuali-tät ins Zentrum zu stellen. Als ein Begriff, der unterschiedliche theoretische Be-zugsrahmen eröffnet und der es erlaubt, teils sehr divergierende Ansätze mitei-nander zu verbinden, scheint er der Komplexität des Konzepts bzw. der einzel-nen Texte gerecht zu werden. Er verspricht, die Texte damit nicht vorschnell auf eine Ebene zu reduzieren, sondern den vielschichtigen möglichen Eingängen des Textes nachzuspüren. Der allgemeinsprachlich stark technisch konnotierte Be-griff eignet sich darüber hinaus für die Auseinandersetzung mit Jelineks Theater-texten allein deshalb, weil die Autorin selbst immer wieder technische Störungen im Rahmen der Inszenierung ihrer Texte anregt und technische Begrifflichkeit für die Beschreibung ihres ästhetischen Verfahrens einbringt. Außerdem ist mit der Störung eine sehr intensive und nachhaltige Irritation gemeint, die über an-dere Formen des Aufmerksam-Machens – wie etwa den Schock – hinausgeht und die ein langfristiges Einwirken auf bestehende Systeme und Modelle meint.

Dass der Begriff der Störung geeignet ist, um Jelineks Konzept zu beschrei-ben, bestärkte schließlich ein Kommentar von Jan Assmann zur Uraufführung von Abraumhalde, dem ich im Laufe der Erarbeitung dieser Studie begegnet bin. Ausgehend von der Behauptung, dass Lessings Text ein polyphones Kunstwerk sei, merkte er zur Kombination mit dem Jelinek-Text an: „Da empfinde ich den Jelinek-Text und die ganze ‚Amstetten-Affäre‘ als eine zu schrille Beigabe, als eine destruktive Schicht. An diesem Punkt wird nicht mehr Polyphonie erzeugt, sondern – informationstheoretisch gesprochen – eher ein störendes Rauschen.“29

28 Jürs-Munby, Karen: Abraumhalde; FaustIn and out. In: Janke, Pia (Hg.): Jelinek-

Handbuch. Stuttgart: Metzler 2013, S. 203-207, S. 203. 29 Jan Assmann in: Blomberg, Benjamin von: „...wir müssen die ‚Pseudospeziation‘

überwinden“. Diskussion mit Jan Assmann, Ortrud Gutjahr und Alexander Honold, moderiert von Benjamin von Blomberg. In: Gutjahr, Ortrud (Hg.): „Nathan der Wei-se“ von Gotthold Ephraim Lessing. Texterprobungen mit „Abraumhalde“ von Elfrie-de Jelinek in Nicolas Stemanns Inszenierung am Thalia Theater Hamburg. Würzburg: Könighausen & Neumann 2010 (= Theater und Universität im Gespräch 11), S. 117-124, S. 121.

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Der Eindruck eines störenden Rauschens entstand auch bei mir, als ich die Sekundärdramen gemeinsam mit den Primärdramen umgesetzt sah. Die Reduk-tion der Sekundärdramen auf ein destruktives Element, wie sie bei Assmann vorgenommen wird, soll in der vorliegenden Studie jedoch rückgängig gemacht werden: das Sekundärdrama ist Rauschen bzw. Störung, gerade dadurch ist es jedoch nicht auf den Begriff der Destruktion zu reduzieren, sondern darin äußern sich gleichsam, so eine zentrale These, das konstruktive Potential und der politi-sche Anspruch des Konzepts. Darüber hinaus will die Arbeit hervorheben, dass umgekehrt die Primärdramen als Störung der Sekundärdramen begriffen werden könnten, auch, wenn diesem Einwirken in der vorliegenden Studie nur am Rande nachgegangen wird.

FORSCHUNGSSTAND UND METHODE Zu den beiden Sekundärdramen Abraumhalde und FaustIn and out wurden be-reits einzelne Aufsätze publiziert, die spezifische inhaltliche Analysen vorneh-men bzw. einzelne Umsetzungen am Theater besprechen und die in diesem Rahmen auch auf die Besonderheit des Konzepts verweisen. Noch fehlt jedoch eine umfassende wissenschaftliche Analyse der spezifischen Form und eine Kontextualisierung des Konzepts innerhalb von Jelineks Œuvre, darüber hinaus gibt es bislang kaum Aufsätze, die beide Sekundärdramen miteinander in Bezug setzen.

Die grundlegendsten Beiträge zu Jelineks Sekundärdrama, die tatsächlich beide Stücke berücksichtigen, stammen von Karen Jürs-Munby, nämlich ein zu den beiden Texten verfasster Überblicksartikel für das im Metzler Verlag er-schienene Jelinek-Handbuch sowie ein englischsprachiger Artikel, der sich je-doch eher mit den Uraufführungsinszenierungen als mit den Texten selbst ausei-nandersetzt.30

Zu Abraumhalde gibt es darüber hinaus einen fundierten wissenschaftlichen Beitrag von Bärbel Lücke, der die Verschränkung von Religion und Ökonomie im Text untersucht und Jelineks Sekundärdrama mit Hermann Brochs 1918.

30 Vgl.: Jürs-Munby, Karen: Abraumhalde; FaustIn and out; Jürs-Munby, Karen: Para-

sitic Politics: Elfriede Jelinek’s „Secondary Dramas“ „Abraumhalde“ and „FaustIn and out“. In: Carroll, Jerome / Giles, Steve / Jürs-Munby, Karen (Hg.): Postdramatic Theatre and the Political. International Perspectives on Contemporary Performance. London: Bloomsbury 2013, S. 209-231.

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Huguenau oder die Sachlichkeit (Die Schlafwandler) vergleicht.31 Eine zweite Publikation, die sich mit Jelineks Abraumhalde beschäftigt, ist der von Ortrud Gutjahr veröffentlichte Sammelband „Nathan der Weise“ von Gotthold Ephraim Lessing. Texterprobungen mit „Abraumhalde“ von Elfriede Jelinek in Nicolas Stemanns Inszenierung am Thalia-Theater Hamburg.32 Dieser Band entstand aus Anlass der Inszenierung von Nathan der Weise durch Nicolas Stemann am Thalia Theater Hamburg, für die Jelinek das Sekundärdrama Abraumhalde ver-fasste. Die Publikation legt den Fokus auf Lessings Drama, auf dessen Rezepti-onsgeschichte und aktuelle Forschungsansätze. Jelineks Sekundärdrama wird nur am Rande im Kontext der Inszenierung von Stemann behandelt, daher lassen sich daraus kaum allgemeinere Ansätze zum Sekundärdrama ableiten. Darüber hinaus diskutiert Christian Schenkermayr Abraumhalde im Kontext von Jelineks Theatertexten, die sich mit dem Islam, Märtyrertum und islamistischem Terror auseinandersetzen und vergleicht es mit den beiden Monologen Irm sagt: und Margit sagt:, die gemeinsam mit Peter sagt: das Stück Babel bilden.33

Das Sekundärdrama FaustIn and out wurde bislang – neben den beiden Bei-trägen von Jürs-Munby – in drei wissenschaftlichen Aufsätzen und zwei kurzen essayistischen Textbeiträgen beschrieben. Die ausführlichste Analyse legt auch hier Bärbel Lücke mit ihrem dekonstruktivistischen Beitrag Faust und Marga-rethe als Untote. Zu Elfriede Jelineks „FaustIn and out. Sekundärdrama zu Urfaust“ – offene/verdrängte Wahrheiten in freiheitlichen Zeiten34 vor. Lücke

31 Vgl.: Lücke, Bärbel: Hermann Brochs „1918. Huguenau oder die Sachlichkeit“

(„Die Schlafwandler“) und Elfriede Jelineks „Abraumhalde“. Zwischen Zerfall und Restituierung religiöser und ökonomischer Paradigmen – eine Engführung. In: Wei-marer Beiträge 4/2010, S. 485-500.

32 Vgl.: Gutjahr, Ortrud (Hg.): „Nathan der Weise“ von Gotthold Ephraim Lessing. Texterprobungen mit „Abraumhalde“ von Elfriede Jelinek in Nicolas Stemanns In-szenierung am Thalia-Theater Hamburg. Würzburg: Königshausen & Neumann 2010 (= Theater und Universität im Gespräch 11).

33 Vgl.: Schenkermayr, Christian: Vom Inzesttabu zum „Märtyrertod“. Interreligiöse Störungen als Tabubrüche in Elfriede Jelineks Theatertexten „Babel“ und „Abraum-halde“. https://jelinektabu.univie.ac.at/religion/interreligioese-stoerungen/christiansch enkermayr/ (15.7.2014) (= TABU: Bruch. Überschreitungen von Künstlerinnen. In-terkulturelles Wissenschaftsportal der Forschungsplattform Elfriede Jelinek).

34 Vgl.: Lücke, Bärbel: Faust und Margarethe als Untote. Zu Elfriede Jelineks „FaustIn and out. Sekundärdrama zu Urfaust“ – offene/verdrängte Wahrheiten in freiheitlichen Zeiten. In: JELINEK[JAHR]BUCH. Elfriede Jelinek-Forschungszentrum 2012, S. 23-62.

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geht darin auf Jelineks Montage- und Collagetechnik ein und gibt einen sehr aufschlussreichen Überblick über die aktuellere Faust-Rezeption in Österreich (Jandl, Turrini, Schwab, Bauer). Ein zweiter Beitrag von Lücke beschäftigt sich ausgehend von der Frage nach Tabubrüchen bei Jelinek mit den Krankheits- und Untoten-Metaphern in Jelineks Gesamtwerk und verweist dabei auch auf Faust-In and out.35 Dieser Beitrag zeigt, dass Jelineks FaustIn and out thematisch deut-lich an frühe Theatertexte wie Clara S. und Krankheit oder Moderne Frauen, aber auch Romane wie Lust anknüpft und damit nicht ausschließlich im Kontext jener Stücke Jelineks zu diskutieren ist, die dezidiert dramatische Werke bear-beiten.

Delphine Klein konzentriert sich in ihrem Aufsatz Polarité et métamorpho-ses dans „FaustIn and out“ d’Elfriede Jelinek36 auf die Verschränkung der Gretchenfigur mit Elisabeth Fritzl. Ein weiterer Artikel von ihr stellt den Text kurz vor und bespricht die Uraufführungsinszenierung von Dušan David Pařízek.37 Neben diesen wissenschaftlichen Beiträgen veröffentlichte Roland Koberg, der Dramaturg der Uraufführungsinszenierung von FaustIn and out, ei-nen längeren essayistischen Text, der einen Überblick über die besonderen An-forderungen gibt, die Jelinek mit FaustIn and out an das Theater stellt und der das Stück eindeutig als literarische Bearbeitung des sogenannten „Inzestfalls von Amstetten“ festlegt.38 Der Beitrag des Dramaturgen Harald Wolf hingegen lenkt den Fokus auf die Thematik der Kinderschändung und unterstreicht, dass Je-lineks Sekundärdrama auf die sexuelle Gewalt aufmerksam macht, die in Klassi-kern wie Goethes Faust oder Heinrich von Kleists Käthchen von Heilbronn un-ter dem Schlagwort „Liebe“ rezipiert und damit verdeckt wird.39

35 Vgl.: Lücke, Bärbel: TABU:BRUCH. Krankheits- und Untoten-Metaphern in Bezug

auf „die“ Frau als Tabubruch bei Elfriede Jelinek. https://jelinektabu.univie.ac. at/moral/koerper-und-frau/baerbelluecke/ (15.7.2014) (= TABU: Bruch. Überschrei-tungen von Künstlerinnen. Interkulturelles Wissenschaftsportal der Forschungsplatt-form Elfriede Jelinek).

36 Vgl.: Klein, Delphine: Polarité et métamorphoses dans „FaustIn and out“ d’Elfriede Jelinek. In: Studia UBB Dramatica 2/2012, S. 85-100.

37 Vgl.: Klein, Delphine: „FaustIn and out“ dans les caves du Deutsches Theater. http:// jelinek.hypotheses.org/68 (15.7.2014), datiert mit 23.11.2012.

38 Vgl.: Koberg, Roland: Gretchenpalimpsest aus dem Keller. In: Theater heute. Jahr-buch 2011, S. 157-158.

39 Vgl.: Wolf, Harald: Goethe und der Kinderschänder. In: Programmheft des Theater Aachen zu FaustIn and out. Zu und mit Goethes Urfaust von Elfriede Jelinek, 2014.

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In nahezu allen Beiträgen zu den Sekundärdramen wird der feministische Aspekt der Texte betont, die Sekundärdramen werden als „weibliche Gegen-schreibung“ zu Lessing und Goethe charakterisiert. Die vorliegende Studie greift diese in der Forschungsliteratur eingenommene Perspektive auf, setzt sich selbst jedoch zum Ziel, das Sekundärdrama in einem breiteren Kontext zu diskutieren und über eine feministische Lesart hinauszugehen. So stehen hier das Verhältnis von Drama und Jelineks „Textflächen“ bzw. Text und Theater im Mittelpunkt, von dem ausgehend wiederum auch auf Gender-Aspekte verwiesen wird.40 Schließlich ist zu fragen, ob die Kategorien „Weiblichkeit“ und „Männlichkeit“ durch das Sekundärdrama nicht ebenso brüchig werden wie die Kategorie „Drama“.

Die Studie setzt sich daher zum Ziel, das Konzept des Sekundärdramas im Kontext einer Ästhetik der Störung zu untersuchen und mittels einer Analyse beider Sekundärdramen die Stücke miteinander in Beziehung zu setzen, um auf diese Weise konstitutive Merkmale herauszuarbeiten, die auf die Funktionsweise des Konzepts schließen lassen. Neben den beiden Theatertexten Abraumhalde und FaustIn and out sollen auch die essayistischen Texte Reichhaltiger Ange-botskatalog und Anmerkung zum Sekundärdrama sowie das E-Mail-Interview Die Bühne ist ein klaustrophobischer Raum und das Interview Vorspiel: Die Au-torin Elfriede Jelinek in die Analyse miteinbezogen werden, da gerade in diesen Texten auf prägnante Art die Funktionsweise des Konzepts zum Ausdruck ge-bracht wird und da sie als Paratexte wichtige Zusatzinformationen liefern.

Für die Studie sollen die Begriffe Sekundärdrama und Primärdrama – auch dieser Begriff wurde von Jelinek selbst eingebracht (vgl. VO) – übernommen werden, wobei es nicht darum geht, sie als neue Kategorien zu etablieren und damit Termini wie Prätext, Hypo- und Hypertext etc. zu ersetzen. Sekundär- und Primärdrama werden aufgegriffen, um bewusst nicht mit jenen Kategorien zu arbeiten, die durch das Konzept kritisch unterlaufen werden. Die Begriffe in der Analyse zu verwenden bietet sich aber auch deshalb an, weil dadurch auf die Sonderform des Konzepts verwiesen und so das Zusammenschalten und gemein-same Präsent-Werden beider Texte permanent mittransportiert wird, sodass das Ins-Verhältnis-Setzen auch für die LeserInnen dieser Studie stets bewusst bleibt. Sowohl der Begriff Sekundärdrama als auch Primärdrama werden dabei nicht

40 Vgl. erste Ansätze dazu bei: Kovacs, Teresa: Unterbrechung, Übermalung, Dialog.

Elfriede Jelineks „Sekundärdrama“ im Dialog mit Lessing / Goethe. In: Janke, Pia / Kovacs, Teresa (Hg.): „Postdramatik“. Reflexion und Revision. Wien: Praesens Ver-lag 2015 (= DISKURSE.KONTEXTE.IMPULSE. Publikationen des Elfriede Jelinek-Forschungszentrums 11), S. 226-241.

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unreflektiert übernommen, sondern als strategische Begriffe und Teil des Kon-zepts diskutiert.

Die Studie gliedert sich in zwei große Bereiche: im ersten Teil werden Stö-rungstheorien aus dem Bereich der Kommunikations- und Informationswissen-schaft, der Kybernetik, der Systemtheorie, aber auch medienwissenschaftliche und kulturwissenschaftliche Studien vorgestellt, um daran anschließend nach Störungsansätzen im Bereich der Literatur- und Theaterwissenschaft zu fragen und aus dieser Perspektive eine Definition der Störung vorzunehmen. Dabei ver-zichtet die Arbeit aber nicht darauf, bereits bei der Vorstellung einzelner Ansät-ze konkret auf Jelineks Werk bzw. die Sekundärdramen zu verweisen und so die Theorien direkt mit dem Konzept in Verbindung zu bringen sowie Fragen zu formulieren, die dann im zweiten Teil der Studie aufgegriffen werden. Miteinbe-zogen in die Überlegungen zu einer Ästhetik der Störung werden darüber hinaus Arbeiten zur Intertextualität und zur Dramentheorie sowie Konzepte aus dem Bereich der Postcolonial Studies und Gendertheorie. Ausgehend von den be-sprochenen Störungstheorien leitet die Studie zentrale ästhetische Kategorien ab, die im künstlerischen Bereich zur Erzeugung von Störungen beitragen und die für die Analyse des Konzepts fruchtbar gemacht werden können. Der zweite Teil der Studie fokussiert das Konzept des Sekundärdramas und die beiden so be-nannten Theatertexte, fragt dabei zunächst nach den Störungen auf Textebene, um danach auf Störungen im Bereich des Literatur- und Theaterbetriebs einzu-gehen. Für die Auseinandersetzung mit dem Eingriff des Sekundärdramas in den Theaterbetrieb ist es unumgänglich, Materialien zu den einzelnen Inszenierun-gen heranzuziehen, um auf diese Weise Tendenzen sichtbar zu machen und so auf Störmomente hinzuweisen. Da Jelineks Konzept in unterschiedlichste Berei-che eingreift und keine Analyse der Fülle an Störimpulsen gerecht werden kann, nimmt die vorliegende Studie einzelne, ausgewählte Bereiche in den Blick, im-mer in dem Wissen, dass vieles ausgespart bleiben muss und die Analyse fortge-schrieben werden könnte.

Dem Motto der Arbeit entsprechend, gehen Fragen, die die Studie leiten, immer vom Ins-Verhältnis-Setzen von Primärdrama und Sekundärdrama aus. Es soll in der Folge nicht nur diskutiert werden, inwiefern durch die Betonung des sekundären Charakters und den Bezug auf kanonisierte Literatur die Verbindung der Primärdramen zu patriarchalen Macht- und Herrschaftsdiskursen sichtbar gemacht wird, sondern es wird auch gefragt werden, inwieweit durch die Kom-bination zweier Texte Grenzziehungen zwischen Texten, Schreibweisen und Zeiten tangiert und eventuell sogar aufgelöst werden. Die Forderung der Kombi-nation lädt aber auch dazu ein, danach zu fragen, was passiert, wenn zwei unter-schiedliche Theatertextmodelle kombiniert werden. Das bürgerliche Drama und

Page 24: 2016-08-16 11-32-36 --- Projekt: transcript.anzeigen ... · Aus: Teresa Kovacs Drama als Störung Elfriede Jelineks Konzept des Sekundärdramas September 2016, 314 Seiten, kart.,

28 | DRAMA ALS STÖRUNG

dessen Konventionen symbolisieren innerhalb des Konzepts den aufklärerischen Gedanken eines selbstbestimmten Individuums. Wenn Jelineks vielstimmige Se-kundärdramen in diese eindringen, wird jenes Denken nachhaltig gestört. Wie diese Störung funktioniert und was sie bewirkt, dem soll in dieser Studie nach-gegangen werden.