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1. Definitionen

∙ Seiner etymologischen Bedeutung nach lässt sich „prekär“ mit „widerruflich“, „unsicher“ oder „heikel“ übersetzen. Sozialwissenschaftlich wird der Begriff genutzt, um die Ausbreitung unsicherer Beschäftigungs- und Lebensverhältnisse zu thematisieren.

∙ In einer weiten Fassung dient Prekarität als

zeitdiagnostische Kategorie, die Veränderungen an der Schnittstelle von Erwerbsarbeit, Wohlfahrtsstaat und Demokratie thematisiert.

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∙ Prekarität ist historisch gesehen zwar nichts Neues, sie nimmt seit den 1970er Jahren jedoch eine historisch neue Gestalt an. Es vollzieht sich ein Übergang von marginaler zu diskriminierender Prekarität, weil sukzessive auch solche Gruppen erfasst werden, die zuvor zu den gesicherten zählten.

∙ Von der zeitdiagnostischen Verwendung hebt sich eine eher eng gefasste arbeitsmarkt- oder ungleichheitssoziologische Kategorisierung ab, die Prekarität als eine Spezialform atypischer Beschäftigung oder als eine soziale Lage zwischen Armut und „Normalität“ fasst.

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∙ Nach der Definition unserer Jenaer Forschergruppe gilt ein Erwerbsverhältnis dann als prekär, wenn es nicht dauerhaft oberhalb eines von der Gesellschaft definierten kulturellen Minimums existenzsichernd ist und deshalb bei den Möglichkeiten zur Entfaltung in der Arbeitstätigkeit, den sozialen Netzwerken, den politischen Partizipationschancen und der Fähigkeit zur Lebensplanung dauerhaft diskriminiert. Prekär Beschäftigte sinken aufgrund ihrer Tätigkeit und deren sozialer Verfasstheit deutlich unter das Schutz- und Integrationsniveau, das in der Gegenwartsgesellschaft als Standard definiert wird. Ihr Beschäftigungsverhältnis und/oder ihre Arbeitstätigkeit sind daher auch subjektiv mit Sinnverlusten, Partizipations- und Anerkennungsdefiziten sowie Planungsunsicherheit verbunden.

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∙ Grundlegend ist die Unterscheidung zwischen einer Prekarität der Beschäftigung und der Prekarität von Arbeit.

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Entwicklung der Niedriglohnschwellen und der Stundenlöhne von Niedriglohnbeziehenden 1995 bis 2006 (alle abhängig Beschäftigten inklusive Teilzeit und Minijobs, in €): Quelle: SOEP 2006, eigene Berechnung.

1995 2000 2004 2005 2006

Niedriglohnschwelle West 8,19 8,89 9,71 9,77 9,61

Niedriglohnschwelle Ost 5,73 6,26 7,14 7,22 6,81

Ø Niedriglohn West 5,93 6,75 7,25 7,16 6,89

Ø Niedriglohn Ost 4,63 4,95 5,48 5,38 4,86

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Zwischen 1997 und 2008 sind knapp eine halbe Millionen atypische Beschäftigungsverhältnisse in Form von Zeitarbeit entstanden.

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Der Anteil von Frauen an Zeitarbeitern hat sich seit 1997 von 21% auf 30% im Jahr 2009 erhöht.

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Organisations-,Verwaltungs-,Büroberufe

Allgemeine Dienstleistungsberufe

Übrige Dienstleistungsberufe

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• Reform des AÜG zum 1.1.2003

• entfallen sind

Überlassungshöchstdauer

besondere Befristungsverbot

• eingeführt wurde

Gleichbehandlungsgrundsatz unter Tarifvorbehalt

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► Wettbewerbspolitik: Leiharbeit „neutralisiert“ als „Atmungsinstrument“ den gesetzlichen Kündigungsschutz

► Arbeitsmarktpolitik: Durch die Flexibilisierung des Arbeitsmarktes brach-liegende Beschäftigungspotenziale „ausschöpfen“

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Ad-Hoc Einsatz Flexibilitätspuffer Strategische Nutzung

Funktion des Flexibilisierungsinstruments Leiharbeit

Flexibilität Personalersatz (Suchkosten)

Schwankungen des Auftragsvolumens

(Rekrutierungskosten)

„Sicherheitsnetz“ für die Profitabilität

(Entlassungskosten)

plus Lohnkosten

Form des Leiharbeitseinsatzes

Nutzungsintensität minimal mittel bis hoch (>5%) mittel bis hoch (>5%)

Reichweite punktuellbegrenzt auf

Randbelegschaftumfassend in allen Arbeitsbereichen

Dauer temporär temporär verstetigt

Verhältnis Stammkräfte – Leiharbeitskräfte im Arbeitsprozess

punktuelle Interaktionen

Segmentierung in Kern- und

Randbelegschaft

Verflechtung von Stamm- und Leiharbeitskräften

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Personalleiter, Maschinenbaubetrieb,

600 Mitarbeiter, 21% Leiharbeiter

„Als Vorsichtsmaßnahme für schlechtere Zeiten sind wir dazu übergegangen, verstärkt Leiharbeitnehmer hier im Betrieb einzusetzen, um darüber für ein konjunkturelles Loch auch

letztendlich atmen zu können, […] um in solchen Situationen nicht in das Thema

Interessenausgleichsverhandlungen, Sozialplanverhandlungen, Kurzarbeit reinzurutschen. […] Dann rekrutieren wir uns Leute, die an der Mitbestimmung

vorbei relativ schnell wieder in ein Trennungsszenario geführt werden können.“ (B PA)

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(Des-)integrationspotentiale von Erwerbsarbeit – eine Typologie

Zone der Integration

1. Gesicherte Integration („Die Gesicherten“)

2. Atypische Integration („Die Unkonventionellen“ oder „Selbstmanager“)

3. Unsichere Integration („Die Verunsicherten“)

4. Gefährdete Integration („Die Abstiegsbedrohten“)

Zone der Prekarität

5. Prekäre Beschäftigung als Chance / temporäre Integration („Die Hoffenden“)

6. Prekäre Beschäftigung als dauerhaftes Arrangement („Die Realistischen“)

7. Entschärfte Prekarität („Die Zufriedenen“)

Zone der Entkoppelung

8. Überwindbare Ausgrenzung: („Die Veränderungswilligen“)

9. Kontrollierte Ausgrenzung / inszenierte Integration („Die Abgehängten“)

Die Typologie basiert auf einer qualitativen Erhebung mit ca. 100 Befragten aus allen Zonen der Arbeitsgesellschaft, die ich gem. mit K. Kraemer und F. Speidel durchgeführt habe. Die Prozentzahlen stammen aus einer quantitativen Befragung des INIFES, die auf einer geschichteten, zufällig ausgewählten Stichprobe (n=5.388) basiert. Die Prozentangaben müssen insofern relativiert werden, als die Zuordnung des repräsentativen Materials zu unseren Typen nur annähernd erfolgen konnte. 3,9 % der quantitativ Befragten waren nicht zuzuordnen

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Helfer Produktion, Zeitarbeiter, Logistik, 25 Jahre

„Ich streng mich schon an, meinen Job gut zu machen. Ich hab mich vom ersten Tag bemüht. Mein Chef sagt: Das ist

eine Chance, Du musst Dich hier jeden Tag aufs Neue bewerben.“

CNC-Dreher, Zeitarbeiter, 24 Jahre

„Ich habe mich gestern mit einem Kollegen unterhalten, der wurde dazu gezwungen sozusagen. Da wurde gesagt: Entweder du kommst zur Inventur oder du fliegst raus.“

Quelle: Eigene Forschungen (Hajo Holst), Maschinenbaubetrieb.

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Leiharbeiter, Facharbeiter in der Produktion, Maschinenbau, männlich,

"Na ja, gut. Hauptsache du bleibst hier." Alles andere ist erstmal zweitrangig. Nicht andauernd wechseln. Jedes Mal, wenn man irgendwo hingekommen ist muss man sich wieder neue wieder

reinfinden. Mit den Kollegen wieder neu und neue Arbeit und die Fahrt dorthin neu und nach hause. Man muss sich immer wieder ein bisschen umstellen. Ich sage: "Wenn du hier bist, ich setze

mich ins Auto und das Auto weiß schon. Hier runter fährt es von alleine." Das ist alles schon das geht alles schon automatisch. Hier hat man das Umfeld, was mir sehr gut gefällt, weil ich habe auch schon anderes erlebt. Also, was sie vorhin schon gefragt haben, zwischen den Kollegen und so, also da ging es richtig zur Sache.

Da war ich in [XXX] heißt das, also da ging's richtig ab.

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∙ Prekarität wirkt als Herrschafts- und Kontrollsystem, das auch formal integrierte Gruppen diszipliniert. Durch Konfrontation mit unsicher Beschäftigten forciert die Prekarisierung auch innerhalb der Stammbelegschaften ein Trend zur Produktion „gefügiger Arbeitskräfte“.

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Betriebliche Regulierung ist möglich, eine dauerhafte Entprekarisierung aber nur auf dem Wege einer politischen Re-Regulierung der Leiharbeit erreichbar:

„Auf dem Feld der Zeitarbeit zeigt sich eine deutliche Tendenz zur Spaltung zwischen Rand- und Kernbelegschaften ohne belastbare Hinweise auf eine Brückenfunktion. Ohne die originäre Funktion der Zeitarbeit als Puffer für Auftragsspitzen in Frage zu stellen, bietet sich eine Annäherung der Arbeitsbedingungen in der Zeitarbeit an die Entlohnung und die Arbeits-bedingungen der Kernbelegschaften sowie ein Zuwachs an Bestandssicherheit mit wachsender Verweildauer an.“

Bertelsmann Stiftung, Atypische Beschäftigung und Niedriglohnarbeit, April 2010.

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