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Erinnerungs- und Weitererzählgeschichte zum 25. Jahrestag des Super-GAUs in Tschernobyl mit Zeichnungen von Anike Hage Im Rahmen unserer Arbeit zum 25. Jahrestages des Super-GAUs in Tschernobyl haben wir mit den Mitmacher/inne/n unserer Online-Community GreenAction eine Weiterschreib- und Erinnerungsgeschichte initiiert. Sie soll die Verantwortlichen mahnen, endlich zu den Erneuerbaren Energien zu wechseln. Nun ist die Geschichte fertig geschrieben und Anike Hage hat die sechs Kapitel mit sehr schönen Zeichnungen abgerundet. Weil uns die Geschichte so gut gefällt, wollen wir sie euch noch mal im Ganzen vorstellen. Autor/inn/en: Esthäää Richard Reamon Daniel Schulz Pixelmaid

25 Jahre Tschernobyl

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Erinnerungs- und Weitererzählgeschichte zum 25. Jahrestag des Super-GAUs in Tschernobyl mit Zeichnungen von Anike Hage

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Erinnerungs- und Weitererzählgeschichte zum 25. Jahrestag des Super-GAUs in Tschernobyl

mit Zeichnungen von Anike Hage

Im Rahmen unserer Arbeit zum 25. Jahrestages des Super-GAUs in Tschernobyl haben wir mit den Mitmacher/inne/n unserer Online-Community GreenAction eine Weiterschreib- und Erinnerungsgeschichte initiiert. Sie soll die Verantwortlichen mahnen, endlich zu den Erneuerbaren Energien zu wechseln. Nun ist die Geschichte fertig geschrieben und Anike Hage hat die sechs Kapitel mit sehr schönen Zeichnungen abgerundet. Weil uns die Geschichte so gut gefällt, wollen wir sie euch noch mal im Ganzen vorstellen. Autor/inn/en: Esthäää Richard Reamon Daniel Schulz Pixelmaid

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Die Katastrophe beginnt Mein Name ist Faina und ich bin 86 Jahre alt. Manch einer fragt sich, wie es denn sein kann, dass ich so alt geworden bin. Ich muss Ihnen sagen, ich weiß es nicht. Wahrscheinlich wollte es der liebe Gott so. Vielleicht liegt es aber auch daran, dass ich es einfach nicht einsehe, aufzugeben und zur Ruhe zu kommen. Denn wenn ich das gewollt hätte, hätte ich das vor 25 Jahren tun sollen… Ich bin geboren in einem sehr kleinen Ort in Belarus, Weißrussland namens Bartolomäi. Dieser Flecken befindet sich im Kreis Wjetka in der Nähe von Gomel (Homel). Ich erinnere mich gerne an meine Kindheit. Wir hatten nicht viel, aber wir hatten uns. Meine Familie war sehr groß und wie es sich für anständige Sowjetbürger gehörte, hielten wir zusammen wie Pech und Schwefel. Ich liebe die Natur und bin der Meinung, die Natur liebt auch mich. Wie genoss ich es mit meinen Brüdern am Bach zu spielen, das Wasser aus dem Brunnen zu pumpen und meiner Mutter zu bringen, damit sie uns einen Borschtsch kochen konnte. Ich habe nie viel verlangt von meinem Leben, denn ich war glücklich, so wie es war. Ich konnte in die Schule gehen und hatte das Glück mit 19 Jahren meinen späteren Ehemann Vladimir kennen zu lernen. Wir heirateten und bekamen zwei Kinder namens Olga und Alexander. Wir waren keine wirklich glückliche Familie, ich müsste lügen, wenn ich es behaupten würde. Es waren aber auch schwere Zeiten. Vladimir verlor seine Arbeit und widmete sich ab diesem Zeitpunkt ausschließlich dem Schnaps brennen. Na immer hin hatte er ein Hobby. Dieses Hobby wurde ihm zum Verhängnis denn seine Leber kapitulierte. Meine Kinder waren schon erwachsen und standen auf eigenen Beinen. Sie waren schon fort gegangen aus Bartolomäi, immer der Arbeit hinterher. Ich war nicht damit einverstanden, als erst meine Tochter und dann mein Sohn uns

verlassen hatten. Was war nur aus dem Familienzusammenhalt geworden? Reichte es denn nicht, dass wir uns ernähren und kleiden konnten, dass wir nicht frieren mussten? Im Nachhinein bin ich froh, dass die Kinder weg gegangen sind. Sie sind beide nach Russland gegangen, weit genug weg… Ich erinnere mich noch, als wäre es gestern gewesen. Ich hatte gerade meinen 61. Geburtstag gefeiert mit meinen Nachbarn und meiner besten Freundin Natascha. Eine Woche später, als der Briefträger wieder kam, traf es mich, wie einen Schlag. Es soll einen Reaktorunfall gegeben haben in Tschernobyl! Wann? Bereits am 26. April? Aber das ist ja schon 10 Tage … müssen wir da nicht??? Was sollen wir jetzt tun? Dima, der Briefträger zitterte. Räumen sollen wir – alles! Wir müssen das Dorf verlassen, weil es zu verstrahlt ist. Wir werden alle sterben. Aber… Ich musste mich erst einmal setzen. Ich atmete tief durch und ging die Straße herunter zu Natascha. Sie lag im Bett, es ging ihr gar nicht gut. Sie konnte nicht aufhören, sich zu übergeben. Ihr Gesicht war puterrot. 3 Tage später war sie tot. Also packten wir. Das ganze Dorf verstaute in Kisten und Tüten das nötigste zum Überleben. Dann wurden wir abgeholt mit LKWs, die uns in eine Siedlung brachte. Hier sei unser neues Zuhause…. (Autorin: Esthäää) Die Evakuierung Es war nicht viel, was ich zu packen hatte. Olga und Sascha, wie ich meinen Sohn liebevoll nenne, wollten ins Dorf kommen, um mir zu helfen, doch ich habe sie gebeten, Russland nicht zu verlassen. Wir halfen uns gegenseitig, das ganze Dorf war emsig dabei, nur das Nötigste, wie es uns gesagt wurde, einzupacken. Emsig? Es war, wenn ich ehrlich bin, eher lethargisch. Eine unheimliche Stille

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herrschte über dem Dorf an diesen strahlenden Frühlingstagen. Dann kamen die LKWs, MAZ und GAZ, die weißrussischen Modelle. Wir hörten sie schon aus der Ferne anrollen. Das Geräusch erinnerte ein wenig an eine Panzerkompanie. Meine Nachbarin Valentina und ich stellten uns an die Straße und sahen ihnen entgegen. Immer mehr Dorfbewohner gesellten sich dazu. Niemand sagte etwas. Als die Kolonne in der Dorfmitte stehen blieb, sprangen uniformierte Milizionäre von den Ladeflächen und verteilten sich. Sie trugen Gasmasken. Sie gingen in die Häuser und hielten uns an, uns zu beeilen. “Dawai, Dawai!” Sie seien nicht zum Spaß hier. Sie schnappten das Gepäck und warfen es auf einen Wagen, wir Menschen wurden auf mehrere andere Wagen “verladen”. Dann ging es los. Noch immer sagte niemand etwas. Schweigend fuhren wir nach Gomel. Am Stadtrand tat sich eine Siedlung auf, die an Betonklötze erinnerte. Was sag ich denn? Es waren Betonklötze. Es ging alles sehr schnell. Unser Gepäck wurde abgeladen, jeder suchte sich sein Hab und Gut zusammen und wartete, dass er aufgerufen und einer Wohnung zugeteilt wurde. Meine neue Behausung war im Dom (Haus) 13, Appartement 173, 1. Stock. 2 Zimmer, Küche, Bad. Ein junger Milizionär führte mich wortlos hin. Ich bekam zwei Schlüssel, musste irgend etwas unterschreiben. Do Swidanja (Auf Wiedersehen)! Er schloss die Tür. Da stand ich nun. Einsam. Fremd. Eingesperrt. Mir liefen die Tränen die Wangen runter. Ich atmete tief durch. Ich dachte an meine Mutter. Ach Mamotschka, wie gerne würde ich jetzt in deinen Armen liegen! Ich fühlte mich mit meinen 61 Jahren wie ein verlassenen Kind. Meine Mutter war lange tot und in dem Moment wünschte ich, ich wäre es auch. Nach einer Weile fing ich mich wieder. Ich sah mich um. In der Küche gab es einen Gasherd, einen kleinen Tisch mit zwei Stühlen, eine Spüle, einen Kühlschrank, einen Küchenschrank mit Geschirr,

Besteck und ein paar Töpfen. Ich ging in das Badezimmer. Waschbecken, Badewanne. Die Toilette in einem Nebenraum. Und das hier, wird wohl das Wohnzimmer sein. Ein Sofa, ein Couchtisch, ein Schrank. Im Schlafzimmer stand ein Bett mit Matratze und Bettzeug, ein Nachtisch, eine Nachtischlampe, eine Bibel. Es gab auch noch eine Abstellkammer. Dort befand sich ein kleiner Vorrat an Lebensmitteln, Putzmittel, Handtücher, Toilettenpapier, Kerzen, Streichhölzer. Ich packte meine wenigen persönlichen Dinge aus und räumte soweit ein. Dann verließ ich fluchtartig die Wohnung. Ich hielt es nicht mehr aus. Mir fehlte mein Dorf, mein Haus mit meinem kleinen Garten, das selbst angebaute Gemüse, die Bäume und Sträucher, die Äcker, die ich von meinem Küchenfenster aus sehen konnte. Die Sonnenauf- und -untergänge. Das Lachen der Kinder, die auf den Straßen spielten, das Bellen der Hunde, das Erzählen der Nachbarn. Mir fehlte die frische Luft, der Brunnen in der Dorfmitte, an dem wir Frauen uns trafen, um Wasser zu holen und uns über Neuigkeiten auszutauschen. Mir fehlte mein Leben, so wie ich es liebte! Ich ging spazieren. Einsam, allein, verlassen. Mamotschka, wo bist du nur? Ich ging durch die Siedlungen und staunte, wie viele Menschen auf so engem Raum zusammen lebten. Hinter den beleuchteten Fenstern zeichneten sich Schatten ab, Menschen huschten durch das Bild, Menschen standen an den Fenstern und sahen hinaus. Geschrei aus einem Block. Es klang nach Streit, ein Mann wehrte sich gegen das Gekreische und die Vorwürfe einer Frau, vielleicht seiner Freundin oder Frau, es hagelte Vorwürfe, weshalb er denn schon wieder betrunken sei. Eine Horde Jugendlicher liefen an mir vorbei, Bierflaschen in den Händen. Mädchen in den Armen der jungen Männer, betrunken, leicht bekleidet. Ich ging lange durch die Nacht, es zog mich nicht zurück in mein neues Zuhause. Als ich schließlich doch wieder rein ging, war ich dankbar, dass die Bibel auf dem Nachttisch lag… (Autorin: Esthäää)

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Allein in der Stadt Ich las noch lange, bis mir die Augen zufielen. Früh morgens wachte ich auf und wusste nicht, wo ich war. Ich erschrak heftig, schaute mich verwirrt um, bis mir einfiel, dass ich ja in meiner “neuen Wohnung” war. Ich blieb regungslos liegen und horchte. Draußen war es dunkel. Es war ruhig. Langsam dämmerte es draußen und Geräusche drangen an mein Ohr. Schritte im Treppenhaus, Stimmen über mir, unter mir, neben mir. Überall erwachten die Bewohner des Blocks 13. Mein Magen knurrte. Mir fiel ein, dass ich nichts gegessen hatte, seit ich mein geliebtes Dorf verlassen hatte. Ich seufzte tief, dann nahm ich mich zusammen und stand auf. Ich wusch mich, zog mich an und schaute dann nach etwas Essbarem. Getreide fand ich, also gab es Getreidebrei, dazu Tee. Mir ging es nicht besonders gut. Mir war übel und so schwer ums Herz. Ich sah aus dem Fenster. Draußen gingen Menschen hin und her, Kinder spielten in der Sonne. Es hätte wirklich idyllisch sein können, wäre da nicht… Strahlung sieht man nicht, riecht man nicht, spürt man nicht! Mein Herz hüpfte auf! Valentina! Ich öffnete das Küchenfenster und rief hinaus, aus voller Kehle schrie ich: “Valentina! Warte!” Sie sah sich um, suchte die Blöcke ab, die sie wie eine Mauer umringten, konnte nicht zuordnen, woher die Stimme kam. Ich schrie lauter und winkte, fiel dabei fast aus dem Fenster. “Valentina, liebe Valentina!” Endlich erblickte sie mich. Sie winkte und wir verabredeten mit Handzeichen, dass wir uns unten am Hauseingang treffen wollten. Ich zog mir schnell Schuhe an und eilte die Treppen hinunter. Als ich Valentina sah, lief ich zu ihr und wir fielen uns in die Arme. Tränen flossen. Es fühlte sich an, als hätten wir uns eine Ewigkeit nicht gesehen, dabei waren es nicht einmal 24 Stunden gewesen. “Wie geht es dir?” fragten wir uns zeitgleich. Wir hakten uns ein und gingen spazieren. Wir erzählten uns, wie wir uns fühlten, wie es uns ergangen war in den ersten Stunden

in unserem “Gefängnis”. Valentina ging es ähnlich. Einen kleinen Trost hatte sie, ihren kleinen Hund Vladi. Er war ihr ein treuer Begleiter in einsamen Stunden, er hielt zu ihr, er hörte ihr zu, er gab ihr Geborgenheit. Nach unserem Spaziergang ging es uns beiden etwas besser. Valentina kam mit in meine Wohnung und wir tranken zusammen einen Tee. Wir vereinbarten, soviel Zeit wie möglich miteinander zu verbringen. Wir wollten uns abwechselnd bei ihr und bei mir treffen, mit Vladi spazieren gehen und füreinander kochen. Dies war ein schöner Gedanke und so konnte ich diesen Abend besser einschlafen. Als ich am nächsten Morgen aufwachte, freute ich mich schon, meine alte Freundin wiederzusehen. Nach dem Frühstück ging ich zu ihr, holte sie zu einem Spaziergang ab. Wir aßen zusammen Mittag, erledigten zusammen die Hausarbeit und verabschiedeten uns abends mit einem dankbaren Gefühl, so eine gute Freundin in der Nähe zu haben. So ertrugen wir gemeinsam die Umstellung unseres Lebens, so wurde es uns etwas leichter. Woche um Woche verbrachten wir zusammen wie Schwestern. Doch ein Gefühl blieb. Wir waren dort fehl am Platz. Dies war einfach nicht unser Zuhause! Wir spürten es beide, und obwohl niemand etwas sagte, wussten wir doch, dass die andere genauso empfand. Aber wir fügten uns unserem Schicksal. “Es war sicher besser so”, redeten wir uns ein. “Wären wir in dem Dorf geblieben, wären wir bestimmt schon tot bei der hohen Strahlung.” So lebten wir Tag um Tag, Woche um Woche, Monat um Monat vor uns hin. Es gab nichts zu tun, keinen Garten zu bestellen, kein Haus zu pflegen, keine Tiere zu versorgen, kein Wasser zu holen. Eines Morgens, als ich Valentina zum Spaziergang abholen wollte, kam sie nicht hinunter wie üblich, als ich klingelte, sondern betätigte den Türöffner. Ich ging nach oben. Als ich sie sah, erschrak ich. Sie sah elend aus. Es ginge ihr nicht gut. Gut, sie schleppte seit langem schon eine

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Erkältung mit sich herum und war nicht besonders fit, aber nun sah sie sehr krank aus. Sie war kreidebleich, schwitzte, zitterte, war ganz schwach. Ich brachte sie in ihr Bett zurück und gab ihr etwas Wasser. Ich blieb bei ihr, den ganzen Tag. Nur um Vladi auszuführen ging ich für eine Weile vor die Tür. Valentina klagte über starke Schmerzen im Bauch. Nachdem sie am Nachmittag in Ohnmacht gefallen war, ging ich los, um einen Arzt zu holen. Dank der vielen Spaziergänge wusste ich, wo der nächste Arzt war, also lief ich so schnell ich konnte zu ihm. Ich flehte ihn an mitzukommen, um meiner Freundin zu helfen. Er nahm seine Arzttasche und kam mit mir. Auf dem Weg erzählte ich ihm, wie es Valentina ergangen war. Er sah bedrückt aus. Valentina war wach als wir ankamen. Vladi knurrte und setzte sich demonstrativ vor sein Frauchen. Ich nahm ihn zur Seite, damit der Arzt Valentina untersuchen konnte. Es stünde nicht gut um sie, sie müsse sofort in ein Krankenhaus. Er gab ihr eine Spritze, um ihr die Schmerzen zu nehmen und damit sie etwas schlafen konnte. Ich konnte meine Tränen nicht mehr zurückhalten. Mit Vladi auf dem Arm sah ich zu, als die Sanitäter sie in den Krankenwagen hoben, der eine halbe Stunde später vor ihrer Tür stand. “Vladi wird dir ein guter Begleiter sein, bitte kümmere dich um ihn!” waren ihre letzten Worte. Ich durfte nicht mitfahren und Besuchszeit sei im Krankenhaus nun auch vorbei, ich sollte morgen wiederkommen um sie zu besuchen… (Autorin: Esthäää) 4. Freude und Leid liegen nah beieinander Ich habe eine schreckliche Nacht hinter mir, denn ich habe kein Auge zu bekommen, so viele Gedanken habe ich mir um Valentina gemacht. Ich hoffe sie hat die Nacht überstanden, sie sah gestern so schwach aus. Wer weiß wo diese Strahlung schon überall ist und was

sie noch anrichten kann, wenn sie in der Lage ist Menschen innerhalb von kürzester Zeit qualvoll zu töten. In der Hoffnung irgendetwas Neues über die unsichtbare Gefahr heraus zu finden, habe ich das Radio angeschaltet. Doch es wurde nur ständig wiederholt man solle Ruhe bewahren und in den Gebieten in die wir evakuiert wurden, sei alles sicher. Wenn ich es mir recht überlege, wissen sie doch selber nicht so richtig, was da überhaupt abläuft. Sie haben mit einer Technik gespielt, die sie nicht kontrollieren können und wir einfachen Menschen sind die Leidtragenden. Das vertrieb mir den Appetit vollends, also habe ich mir Vladi geschnappt und mich auf dem schnellsten Wege zum Krankenhaus begeben. Als ich dort angekommen bin, war ich total entsetzt, denn es war hoffnungslos überfüllt, vom einem Tag auf den anderen. Alle Leute hatten plötzlich diese Übelkeit und dieses Schwächegefühl. Die wenigen Jod-Tabletten die das Krankenhaus hatte, waren beinahe aufgebracht. Es ging drunter und drüber. Ich kämpfte mich durch das überfüllte Gebäude, die Bilder der Menschen, die ich auf dem Weg zu Valentinas Zimmer gesehen habe, haben sich in mein Gedächtnis gebrannt wie der letzte Atemzug meines Mannes. Sie sahen schrecklich aus, hatten Haarausfall und es stank überall stark nach Erbrochenem. Es ist der blanke Horror, wie sich bildhübsche Frauen und starke Burschen innerhalb kürzester Zeit in armselige hilflose Geschöpfe verwandeln. Der Weg zum Zimmer schien mir endlos, doch irgendwann hatte ich es geschafft. Behutsam öffnete ich die Türe und schaute in den Raum. Dort standen nun sieben Betten – und Valentina? Wo war Valentina? Mir lief ein kalter Schauer den Rücken hinunter. Sie wird doch nicht “Nein” Sie wird doch nicht – das kann nicht sein! Mir wurde unvorstellbar heiß und genau diese Hitze trieb mir den Angstschweiß auf die Stirn. Da kam die Krankenschwester in das Zimmer. Sofort packte ich sie an den Armen, schüttelte sie und fragte sie

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ängstlich: “Wo ist Valentina?” Sie sah mich entgeistert an und entgegnete: “Es tut mir Leid gute Frau, aber sie hat es nicht geschafft. Bitte gehen sie zur Seite ich muss mich nun um die anderen Patienten kümmern.” Von da an dauerte es keine Minute und ich viel in Ohnmacht. Als ich wieder erwachte lag, ich zusammen mit vielen anderen in Decken gebettet auf dem Krankenhausboden. Ein Fernseher war an und ich hörte wie die Rede von irgend einer Wolke war. Von ihr sollte u. a. Deutschland betroffen sein. Und ich hörte von erhöhter radioaktiver Strahlung in der Nähe eines schwedischen Kernkraftwerkes. “Hallo!, du bist wieder wach, hast aber ganz schön lange geschlafen”, sagte eine alte, raue Stimme hinter mir. Erschrocken drehte ich mich herum. “Hallo, ich bin Wladimir, tut mir Leid, ich wollte dich nicht erschrecken.” “Ist schon in Ordnung Wladimir, ich heiße Faina.” Wladimir war bestimmt so alt wie ich und er sah schwer mitgenommen aus. Er hatte viele Falten im Gesicht und neben ihm lag ein ganzes Büschel seiner grauen zerzausten Haare. “Sag mal stimmt das eigentlich, was die da im Fernsehen erzählen?”, fragte ich neugierig. “Nicht die Hälfte von dem was sie sagen, ist wahr Faina”, entgegnete Wladimir. “Die Sachen, die da gerade kommen, sind schon vor Monaten passiert. Die Schweden haben zuerst gedacht, sie hätten einen Störfall in einem ihrer Atomkraftwerke, doch es war die radioaktive Wolke aus Tschernobyl. Sie ist bis dort oben hoch gezogen.” “Die Schweden haben uns erst gesagt, dass die Radioaktivität von hier kommt, dabei hätten die Leute zu diesem Zeitpunkt schon längst evakuiert sein müssen”, erklärte Wladimir. “Das ist ja schrecklich”, antwortete ich fassungslos. “Ja, das ist es in der Tat. Und wie ich gehört habe, versuchen sie jetzt Schlimmeres zu verhindern, indem sie 500.000 Menschen dort reinschicken, um die Strahlung zu beseitigen. Sie nennen sie Liquidatoren.. Aber das können sie nicht machen, die sind doch so gut wie Tod”, entgegnete ich. Wladimir nickte nur.

Das war zu viel für mich, ich musste an die frische Luft. Mühsam raffte ich mich auf, der Krankenhausboden war nicht das Richtige für meine alten Knochen. Der Einzige, der noch richtig fitt zu sein schien, war Vladi. Er bellte mich an und wedelte mit dem Schwanz. Ratlos und verwirrt stand ich da im vollkommen überfüllten Krankenhaus und fragte mich, wie es weiter gehen sollte. Vorsichtig bahnte ich mir den Weg durch das fast unpassierbare Gelände. Draußen war es bereits dunkel und es regnete in Strömen. Ein LKW nach dem anderen fuhr durch die Straßen. Einer hielt direkt vor dem Krankenhaus. Männer stiegen aus mit Atemschutzmasken und Schutzkleidung. Sie sahen gespenstisch aus und mich schauderte es vor ihrem Anblick. Das war kein gutes Zeichen, was hatte das zu bedeuten? Ist die Strahlung nun selbst hier so hoch, dass sie derartige Ausrüstung benötigen?, fragte ich mich. Schließlich hatten sie solche Schutzkleidung bisher nur in der Evakuierungszone an. (Autor: Richard_Reamon) 5. Angst und Mut Einige der Männer kamen auf mich zu und schienen mich hinter ihren Schutzmasken zu mustern. Kurz bekam ich es mit der Angst zu tun. Sollten wir etwa wieder auf Lastwagen verfrachtet werden? Aber die Männer gingen an mir vorbei und verschwanden im Krankenhaus. Ich überlegte, ob ich auch wieder herein gehen sollte. Vielleicht hatten sie ja ein Medikament oder wir würden untersucht werden oder sonst irgendwas. Aber einige andere Gestalten in Schutzanzügen in dem kleinen Park gegenüber machten mich auf einmal neugierig. Sie hatten einen kleinen Stand aufgebaut und einer rief etwas mit einem Megafon. Aber ich konnte das verzerrte Gekrächze nicht verstehen. Während ich also langsam in Richtung Park ging, Vladi mir immer auf den Fersen, sah ich wie sich dort eine Schlange bildete. Jetzt

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konnte ich auch so langsam verstehen, was der Megafonträger rief. Es ging darum, Freiwillige für die Aufräumarbeiten in der Sperrzone anzuwerben. Langsam ging ich an der wachsenden Schlange vor dem Stand entlang und blickte in die Gesichter der Männer, die sich freiwillig zu dieser gefährlichen Arbeit meldeten. In ihren Augen stand deutlich ihre Angst geschrieben. Aber auch Entschlossenheit. Auf einmal sah ich ein bekanntes Gesicht, in dem die Angst noch viel deutlicher zu sehen war als bei all den anderen. Nikolai aus meinem Dorf. Er stand da, aschfahl, kalter Schweiß stand ihm auf der Stirn. Als er mich sah, hellte sich seine Mine auf. “Nikolai” rief ich voller Freude jemanden aus meinem Dorf gefunden zu haben. “Wie schön dich zu sehen.” “Faina, was machst du denn hier?” Er umarmte mich kurz, wurde dann aber sofort wieder ernst. “Das sollte ich dich fragen”, antwortete ich. “Willst du wirklich in die Sperrzone? Warst du nicht im Krankenhaus? Hast du nicht gesehen, was die Strahlung anrichten kann?” “Genau deswegen möchte ich ja dahin” sagte er. “Sie sagen, die Strahlung kann sich noch weiter ausbreiten wenn wir nichts tun. Wir müssen dort aufräumen. Ich möchte nicht für immer an diesem furchtbaren Ort bleiben. Ich möchte zurück in mein Dorf. Und das geht nur wenn ich jetzt mithelfe.” Er lächelte traurig und strich mir über die Wange. “Nun sieh mich nicht mit großen Augen an. Mir passiert schon nichts.” Ich lächelte nun auch, aber in meinem Kopf überschlugen sich die Gedanken. Über die Ausbreitung der Strahlung hatte ich noch gar nicht nachgedacht. Würden wir wirklich einmal in unser Dorf zurückkehren können? Wie lange bleibt denn die Strahlung und wieso konnte man davon noch Wochen und Monate später krank werden? Ich beschloss zurück ins Krankenhaus zu gehen und die anderen Männer mit den Schutzmasken zu suchen. Die könnten mir doch bestimmt einige Antworten geben.

Ich umarmte Nikolai noch einmal und machte mich auf den Weg. Als ich dort ankam, musste ich mir einen Weg hinein freikämpfen, so viel Andrang war dort. Ich nahm den kleinen Vladi auf den Arm, damit er nicht zertrampelt würde, und fand schließlich einen der Männer mit Schutzmaske. Er sprach gerade mit einigen Ärzten, schien sie dann geradezu wegzuscheuchen und wandte sich dann auf einmal so abrupt mir zu, dass ich zuerst kein Wort herausbrachte… (Autor: Daniel Schulz) 6. Die verbotene Rückkehr Ich schluckte, nahm mir dennoch schnell ein Herz und platzte heraus: “Wann kann ich zurück nach Hause? Wann kann ich zurück nach Bartolomäi? Wann kann ich zurück in meine Heimat? Können Sie mir helfen?” Der Mann betrachtet mich verwundert. Er hat sicher nicht mit einem solchen Überfall gerechnet. Ich sah ihn um eine Antwort bittend an und legte dabei meine Hände auf mein Herz. Brummig raunte mir der Uniformierte zu: “Nie wieder. Du kannst nie wieder zurück! Deine Heimat ist verloren.” Ich wurde weiß wie Schnee im Gesicht und taumelte. Der Fremde schaute mich mitleidig aus seiner Gasmaske an und stützte mich kurz. “Brauchst du einen Arzt?” Ich schüttelte nur leicht den Kopf und lehnte mich an die Flurwand im Krankenhaus. Dabei drückte ich Vladi so fest an mich, so dass er anfing sich zu wehren und leicht zu fiepen. Schnell nahm ich ihn sanfter und er kuschelte sich wohlig an mich. Ich sah den Mann mit der Gasmaske noch einmal an, drehte mich dann um und ging hoffnungslos zurück in die neue, kalt wirkende Wohnung. Dort angekommen, musste ich heftig weinen. Unter Tränen gab ich Vladi etwas zu essen. Ich weiß nicht wie lange ich dann in der Küche gesessen habe und weinte. Alles war verloren. Alles! Aber ich sehnte mich so sehr nach der Wärme des kleinen Dorfes, der Schönheit der Natur und nach meinem Haus, meinem

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Wohnzimmer, meinem Garten und meinen Freunden. Ich weinte solange bis ich keine Tränen mehr hatte. Vladi versuchte mich zu trösten und umspielte ständig meine Beine. Schließlich sprang er auf meinen Schoss und leckte mir die Tränen vom Gesicht. Darüber musste ich dann doch lächeln. So ein lieber Zwerg, dachte ich. Spät am Abend ging ich Schlafen und nahm mir vor meine ehemaligen Nachbarn zu suchen. Ich wollte in dieser kalten Stadt nicht allein sein. Nein, ganz bestimmt nicht. Lieber ginge ich zurück nach Bartolomäi! In der Nacht träumte ich unruhig und wachte am nächsten Morgen zerschlagen auf. Dennoch machte ich mich nach einem Tee mit Vladi auf den Weg zu den Behörden. Sie mussten wissen wo ich meine Nachbarn finden kann. Dort angekommen traf ich nur auf wenig hilfreiche Beamte. Unfreundlich wurde ich abgewiesen mit dem Hinweis, ich solle mich um meine neuen Nachbarn kümmern. Aber so schnell gab ich nicht auf. Ich setzte mich in den Bus und fuhr in andere Stadtrandsiedlungen. Ich hoffte so sehr, andere Dorfbewohner zu finden. Jeden Tag schnappte ich mir Vladi, setzte mich in den Bus und fuhr in eine andere Ecke der Stadt. Nach einer Woche wollte ich schon aufgeben, als ich traurig durch eine Grünanlage eines Vorstadtviertels ging. “Faina, Faina bist du das?” Es dauerte etwas bis die Worte mich erreichten. “Faina!” Ich schaute auf und sah Eva vor mir. “Eva”, stammelte ich. Ich muss sie wie einen Geist angeschaut haben. Sie lachte und hakte sich unter. Eva war eine fröhliche, junge Frau, die einige Häuser weiter gewohnt hat. Sie plapperte gleich los: “Faina, mein Mann und ich gehen zurück nach Bartolomäi. Wir halten es in der Stadt nicht aus. In spätestens drei Monaten sind wir wieder zu Hause!” Als sie das sagte, strahlten ihre Augen voller Glück. “Nehmt ihr mich mit? Ich will auch Heim, bitte!” “Hast du keine Angst?” “Doch,” sagte ich ihr etwas bedrückt, “aber ich kann hier nicht leben.” “Dann kommst du mit uns!” Ihr Strahlen wurde noch schöner und steckte mich an.

Wir blieben in engem Kontakt und planten unsere Reise zurück nach Hause. Wir trafen uns fast täglich, fassten Hoffung und freuten uns jeden Tag mehr. Doch wir wussten, es würde nicht einfach werden. Aber das war uns egal und nach nicht allzu langer Zeit waren wir schon zu siebt. Wir hatten weitere Dorfbewohner getroffen und ihnen von unserem Entschluß erzählt. Alle wollte mit uns kommen. Wir träumten gemeinsam von unserem Dorf. Das gab uns jeden Tag neue Kraft. Mit der Zeit schafften wir es sogar in Gomel im gleichen Stadtviertel zu wohnen. So hatten wir uns eine neue kleine Dorfnachbarschaft geschaffen. Es tat gut und brachte etwas Wärme in die Stadt. Aber aus den drei Monaten war schon fast ein Jahr geworden. Täglich trafen wir uns nach der Arbeit zum Tee, redeten und träumten von unserem Dorf. Überlegten was wir machen würden, wenn wir wieder zu Hause wären. So ging es Tag für Tag, Woche für Woche, Monat für Monat und Jahr für Jahr. Nie gaben wir unsere Träume auf und trafen uns täglich. Doch unser Dorf lag in der verbotenen Zone. Wir durften nicht zurück, noch kontrollierte die Regierung streng. Aber wir warten auf den Moment, wo sie unaufmerksam wird. Dann gehen wir gemeinsam zurück. Und der Tag kam, als wir alles packten und die Stadt verließen. Heute bin ich 86 Jahre alt. Und ich bin wieder zu Hause, zu Hause in Bartolomäi. Manch einer fragt sich, wie es denn sein kann, dass ich so alt geworden bin. Ich muss sagen, ich weiß es wirklich nicht. Wahrscheinlich wollte es der liebe Gott so oder es liegt daran, dass ich es einfach nicht einsehe, aufzugeben. Ich habe viel Glück gehabt in meinem Leben und kann es, wenn der Tag kommt, voller Freude verlassen. Wer kann das schon von sich sagen. (Autorin: Pixelmaid)