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3.2 Wie die Freiheit in den Glauben kam1
I Inhaltlicher Einfhrungstext [fr die Lehrkraft/fr Oberstufenkurse]
Im Unterrichtsprojekt reformation reloaded geht es nicht nur
um historische und wirkungsgeschichtliche Erinnerungen an die
Zeit zwischen 1500 und 1530. Vielmehr soll die Reformationszeit
zugleich als ein kritischer Spiegel fr uns selbst und fr unsere
Zeit wahrgenommen werden. Dies kann geschehen, indem
damals wie heute virulente Grundfragen unseres persnlichen,
gesellschaftlichen und politischen Lebens an historischem und
gegenwrtigem Material errtert werden. Thematische Zugnge
bzw. Schlsselbegriffe dafr knnten z. B. sein: Gott und
Mensch, Freiheit, Frieden, Gerechtigkeit, Armut und
Reichtum, Herrschaft, Gewalt, Krieg, Tod u.a.m. (oder
auch deren Kombinationen).
Die folgenden Materialien und Unterrichts-/ Bearbeitungs-
vorschlge (siehe II. Schlermaterialien) beziehen sich
schwerpunktmig auf das Thema Freiheit, das (wie alle
anderen Themen auch) seine spezifische Schrfe natrlich aus
seinem jeweiligen geschichtlichen Kontext bezieht. Darum hier
zunchst ein paar allgemeine Hinweise zu dem epochalen
Hintergrund, auf dem sich die Auseinandersetzungen in der
Reformationszeit vollziehen:
1 Die Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert
Die Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert brachte vor allem fr
Deutschland als dem volksreichsten (12/13 Millionen) und
vorbergehend wirtschaftlich strksten Land Europas eine Flle
grundlegender konomisch, sozialer und politischer Um-
wlzungen mit sich. Die gesellschaftlichen Voraussetzungen der
Reformation knnen grob vereinfachend folgendermaen
beschrieben werden knnen:
1.1 konomisch
Neue Technologien (Bergbau, Textil und Metallverarbeitung)
ermglichten eine gesteigerte Warenproduktion (grerer Markt
durch Bevlkerungsvermehrung und Entwicklung des Fern-
handels, Entdeckungen), die ihrerseits einen erhhten Kapital-
bedarf (Investitionen zur Ausweitung der Produktion) mit sich
1 Das Zitat ist der Titel der Rezension von Friedrich Wilhelm Graf ber Thomas Kaufmanns Reformations-
geschichte (ZEIT Online, 30. Dezember 2009).
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brachte; Erleichterung von Kapitalinvestition und Kapital-
konzentration entstand durch Einfhrung von Geld als
universalem Zahlungsmittel. Groe Kapitalgesellschaften (Fugger)
griffen in die handwerkliche Produktion ein (Verlagswesen),
trieben ber Geldverleih an den kleinen Mann und hohe Zinsen
(Wucher) die Verschuldung und Verarmung von Bauern und
Handwerkern voran (die groen Hansen, die schinden und
schaben) und nahmen ber riesige Kredite an Kaiser, Frsten
und hohe Geistlichkeit wichtigen Einfluss auf die Reichspolitik.
Die hinter diesen konomischen Umwlzungen stehende Schicht
war das gesellschaftlich aufsteigende Brgertum.
1.2 Sozial
Das Aufkommen der durch das Brgertum verkrperten
frhkapitalistischen Produktionsweise verschrfte den bereits
bestehenden gesellschaftlichen Grundwiderspruch zwischen
Bauerntum und Feudaladel und brachte die alte mittelalterliche
Stndeordnung durcheinander:
Whrend die Territorialfrsten durch die wachsenden Steuer-
einnahmen ihre wirtschaftliche und politische Macht (gekaufte
Sldnerheere, die allein noch von den Frsten bezahlt und
ausgerstet werden knnen) steigerten, stieg der untere und
mittlere Adel (Ritterschaft) ab. Beide wlzten ihren erhhten
Geldbedarf durch verschrfte Ausbeutung (Erhhung von Steuern
und Abgaben und Ausdehnung der Leibeigenschaft) auf die
Bauern ab.
In den Stdten wuchs der gesellschaftliche Widerspruch zwischen
dem Patriziat (im Wesentlichen die Brger) und den nach
demokratischer Mitsprache drngenden Znften (Handwerk). In
den im Bergwerk und im Textil- und Metallbereich ttigen Hand-
werksburschen (Bergknappen) wuchs die knftige Unterschicht
heran.
Fast alle Schichten und Klassen standen im Widerspruch zur
Kirche; denn sie partizipierte mit Ritterschaft und Territorial-
frsten an der Ausbeutung der Bauern; sie hatte in den Stdten
im Bereich von Justiz, Bildung und Sozialwesen eigene Rechte
gegenber dem auf mehr politische Macht und Selbststndigkeit
drngenden Brgertum, weckte durch ihren Reichtum die
Begehrlichkeit der Territorialfrsten, griff als rmische, d.h.
politisch von Italien gelenkte Kirche in die Politik des deutschen
Reiches ein und zog durch Steuern, Abgaben und Ablasshandel
eine riesige Summe aus Deutschland heraus; deshalb
konzentrierte sich die Sozialkritik breiter Volksschichten in
Deutschland am Vorabend der Reformation in einer
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grundstzlichen Kritik an der Papstkirche. Ein wesentlicher
Angriffspunkt bei der Kritik an der Papstkirche war wiederum der
Ablasshandel (vgl. auch Baustein Die Zeit).
1.3 Politisch
Politischen Ausdruck fanden die konomischen und sozialen
Unruhen am Vorabend der Reformation in
- zunehmenden Bauernrevolten
- Kmpfen zwischen Patriziat und Znften um eine
demokratische Stadtverfassung in den stdtischen Zentren
- zunehmender Macht der Territorialfrsten gegenber der
kaiserlichen Zentralgewalt
- Forderungen aller Stnde des Reiches nach einer Reform
der Kirche an Haupt und Gliedern
(vgl. auch Baustein Die Zeit)
1.4 Religis
In der Volksfrmmigkeit spiegelten sich die religise Unsicherheit
und Sehnsucht zum einen in der Angst vor dem Fegefeuer und
vor dem Jngsten Gericht (Christus als Weltenrichter); zum
anderen gewann Maria eine zentrale Bedeutung als Frbitterin
fr das Seelenheil, aber auch als Klgerin gegen soziale
Ungerechtigkeit und Herrschaftsmissbrauch. Zwischen Gerichts-
angst und Erlsungshoffnung floh der sptmittelalterliche
Mensch einerseits in die kirchlichen Heilsmittel und bte
andererseits radikale Kritik an der Kirche, bei der Anspruch und
Wirklichkeit auseinanderklafften. Die innere Bedrohung durch die
Religion konnte auch zur Flucht nach innen oder zur Flucht in die
Ekstase fhren.
Die Lebens- und Glaubenskrise des jungen Luther seine neue
Gotteserkenntnis und Selbsterfahrung - sind Hintergrund fr
seine Position im Ablassstreit. Das kirchliche Ablasswesen und
Luthers Einwnde dagegen hatten erhebliche uere und innere,
kirchliche und gesellschaftliche Konsequenzen. Die Aufnahme der
reformatorischen Freiheitsbotschaft durch die Zeitgenossen lie
den Theologenstreit zu einer Volksbewegung werden, die sich
schnell nicht nur zu einer breiten religisen, sondern auch zu
einer sozialen und politischen Freiheitsbewegung entwickelte.
Luther sah dadurch den Kern seines Freiheitsverstndnisses
bedroht und sprach vor allem den (leibeigenen) Bauern das Recht
ab, sich in ihren Forderungen auf das Evangelium zu berufen
(siehe Luthers Antwort auf die 12 Artikel der Bauernschaft zu
Schwaben). Mit seiner Zwei-Reiche-Lehre legitimierte er die
bestehende Herrschaft als politischen Ordnungsfaktor. Eine
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Folge davon war, dass knftige politische Erneuerungs-
bewegungen z.B. die demokratische Revolution von 1848 oder
auch die Arbeiterbewegung - sich unabhngig und zu einem
groen Teil auch gegen die protestantischen Kirchen vollzogen.
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II Didaktische Hinweise
2.1. Unterrichtsschwerpunkte Es geht in der UE ber die Zeit von 1500-1530, dem Zeitalter der Reformation, um erste Orientierungen zu einer wichtigen europischen Epoche. Eine Karte und Zeittafeln zu Martin Luthers Leben und zur Reformationsgeschichte (M5, Z6 und Z6a) bieten einen knappen berblick. Eine Strukturskizze (Z1), die Unterrichtsschwerpunkte verdeutlicht, ist fr Lehrerinnen und Lehrer gedacht. Die Voraussetzungen des Jahres 1517 spiegeln sich auch in Biographien von Personen und in sozial-politischen Bewegungen zum Ende des 15. Jahrhunderts und zu Beginn des 16. Jahrhunderts. Die Sehnsucht nach religiser, sozialer und politischer Befreiung und Erneuerung findet in ihnen ihren vielfltigen Ausdruck. Anstze zu Kritik und Widerstand zeigen sich sowohl hinsichtlich der sozialen, wirtschaftlichen und politischen Situation um 1500 als auch zur geistigen und religisen Situation. Zu Beginn der Unterrichtseinheit soll das eigene Vor-Verstndnis zum Thema Freiheit geklrt werden. Dies kann mit Hilfe eines Clusters geschehen, das in zwei Minuten erstellt wird. In der anschlieenden Schreibphase von acht Minuten entsteht aus dem Cluster ein Text von einer halben bis dreiviertel Seite zum Thema Freiheit. Der Text kann auch ein Gedicht oder Lied sein. Aus den Assoziationen der Schlerinnen und Schler, die sich in den Texten zeigen, soll eine Typologie des Freiheitsverstndnisses erstellt werden. Ziel ist es, zwei Grundformen unseres Freiheitsverstndnisses herauszuarbeiten: Freiheit als politisch-gesellschaftlich vermittelte Emanzipation aus konomisch-politischen Abhngigkeitsverhltnissen und Freiheit als geistig-seelische Befreiung aus psycho-sozialen Zwngen.
Die entstandenen Texte werden von den Schlerinnen und Schlern vorgetragen, das sich in ihnen zeigende Freiheitsverstndnis geordnet, e