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4 Sinnesorgane: Das Ohr 4.1 Information und Kommunikation 4.1.1 Das menschliche Nervensystem Es gibt im Köper eines Menschen im Wesentlichen 2 Kommunikationssysteme: ein chemisches System, wo der Informationsfluss ausschließlich durch Me- diatormoleküle (Hormone) vermittelt wird, und ein System mit festen Bahnen, das Nervensystem. Das Nervensystem hat zwei unterschiedliche Funk- tionsweisen: das animale (anima = Seele, Geist), so- matische oder willkürliche Nervensystem nimmt die Umweltreize auf, verarbeitet sie, steuert bewus- ste Handlungen und erzeugt Vorstellungen. Das au- tonome oder vegetative Nervensystem ist für die Körperfunktionen zuständig und kann nicht willent- lich beeinflusst werden. Die Zentren beider Syste- me befinden sich im Gehirn und Rückenmark. Im 19. Jahrhundert dachte man, die beiden Systeme wä- ren räumlich und funktionell voneinander weitge- hend unabhängig; aber inzwischen weiß man, dass zwischen beiden zahlreiche anatomische und funk- tionelle Verbindungen bestehen. Strukturell wird Nervensystems in zwei Teile unter- teilt. Der erste Teil befindet sich in der Wirbelsäule und dem Schädel und umfasst das Rückenmark und das Gehirn. Es besteht aus einem dichten Gewebe von Nervenzellen (und Gliazellen) und wird als zen- trales Nervensystem (ZNS) bezeichnet. Da die zur Haut und den Sinnesorganen gerichteten Nerven des animalen Nervensystems direkt aus dem Gehirn und dem Rückenmark stammen, wird dieses auch als ce- rebrospinales Nervensystem bezeichnet. Der zweite Teil des Nervensystems, das periphere Nervensystem (PNS) erstreckt sich in alle Berei- che des Körpers. Es ist weit verzweigt und besteht aus Nerven, Nervensträngen und kleineren Nerven- ansammlungen (Ganglien). Abbildung 4.1: Prinzipieller Aufbau des sensori- schen und motorischen Systems. Der Organismus tritt über das Nervensystem mit der Umwelt in Wechselwirkung. Die Umwelt wirkt auf den Organismus, und dies wird mit Hilfe des sensorischen Systems (”Merksystem”) abgebildet. Dies beginnt an speziell ausgebildeten Strukturen ei- ner peripheren Nervenzelle. Diese Umweltsensoren werden als Rezeptoren bezeichnet. Die Reaktionen der Rezeptoren werden als elektrische Signale über die angeschlossenen Nervenfasern in das ZNS über- tragen. Dort erfolgt die bewusste Empfindung und Wahrnehmung der Umwelt. Das Nervensystem steuert auch den Informations- fluss in umgekehrter Richtung: vom motorischen Sy- stem werden über Nervenimpulse Signale an Mus- keln übertragen. Auf diese Weise erfolgt die Rück- wirkung des Organismus auf die Umwelt. 4.1.2 Informationsgehalt Der Mensch nimmt Daten der Umgebung mit Hil- fe der Sinnesorgane auf und verarbeitet diese Infor- mation weiter. Um die Kapazität der Informations- 80

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4 Sinnesorgane: Das Ohr

4.1 Information undKommunikation

4.1.1 Das menschliche Nervensystem

Es gibt im Köper eines Menschen im Wesentlichen2 Kommunikationssysteme: ein chemisches System,wo der Informationsfluss ausschließlich durch Me-diatormoleküle (Hormone) vermittelt wird, und einSystem mit festen Bahnen, das Nervensystem.

Das Nervensystem hat zwei unterschiedliche Funk-tionsweisen: das animale (anima = Seele, Geist), so-matische oder willkürliche Nervensystem nimmtdie Umweltreize auf, verarbeitet sie, steuert bewus-ste Handlungen und erzeugt Vorstellungen. Das au-tonome oder vegetative Nervensystem ist für dieKörperfunktionen zuständig und kann nicht willent-lich beeinflusst werden. Die Zentren beider Syste-me befinden sich im Gehirn und Rückenmark. Im19. Jahrhundert dachte man, die beiden Systeme wä-ren räumlich und funktionell voneinander weitge-hend unabhängig; aber inzwischen weiß man, dasszwischen beiden zahlreiche anatomische und funk-tionelle Verbindungen bestehen.

Strukturell wird Nervensystems in zwei Teile unter-teilt. Der erste Teil befindet sich in der Wirbelsäuleund dem Schädel und umfasst das Rückenmark unddas Gehirn. Es besteht aus einem dichten Gewebevon Nervenzellen (und Gliazellen) und wird als zen-trales Nervensystem (ZNS) bezeichnet. Da die zurHaut und den Sinnesorganen gerichteten Nerven desanimalen Nervensystems direkt aus dem Gehirn unddem Rückenmark stammen, wird dieses auch als ce-rebrospinales Nervensystem bezeichnet.

Der zweite Teil des Nervensystems, das periphereNervensystem (PNS) erstreckt sich in alle Berei-che des Körpers. Es ist weit verzweigt und bestehtaus Nerven, Nervensträngen und kleineren Nerven-ansammlungen (Ganglien).

Abbildung 4.1: Prinzipieller Aufbau des sensori-schen und motorischen Systems.

Der Organismus tritt über das Nervensystem mitder Umwelt in Wechselwirkung. Die Umwelt wirktauf den Organismus, und dies wird mit Hilfe dessensorischen Systems (”Merksystem”) abgebildet.Dies beginnt an speziell ausgebildeten Strukturen ei-ner peripheren Nervenzelle. Diese Umweltsensorenwerden als Rezeptoren bezeichnet. Die Reaktionender Rezeptoren werden als elektrische Signale überdie angeschlossenen Nervenfasern in das ZNS über-tragen. Dort erfolgt die bewusste Empfindung undWahrnehmung der Umwelt.

Das Nervensystem steuert auch den Informations-fluss in umgekehrter Richtung: vom motorischen Sy-stem werden über Nervenimpulse Signale an Mus-keln übertragen. Auf diese Weise erfolgt die Rück-wirkung des Organismus auf die Umwelt.

4.1.2 Informationsgehalt

Der Mensch nimmt Daten der Umgebung mit Hil-fe der Sinnesorgane auf und verarbeitet diese Infor-mation weiter. Um die Kapazität der Informations-

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4 Sinnesorgane: Das Ohr

aufnahme des Menschen zu quantifizieren, muss zu-nächst der Begriff der Information präzisiert werden.

Der Informationsgehalt einer Nachricht hängt vomWissensstand des Empfängers ab. Wenn man liest,die Sonne würde morgen aufgehen, dann lernt manvon dieser Aussage wesentlich weniger als wenn ge-sagt wird, dass sie nicht aufgehen wird. In der Infor-mationstheorie wird dieser ”Überraschungsgehalt”quantifiziert. Dadurch ist es möglich, zum Beispielden Informationsgehalt einer Nachricht anzugebenoder auch die maximale Nachrichtenmenge pro Zeit-einheit, die über einen Übertragungskanal gesendetwerden kann, wenn auch Störungen mit berücksich-tigt werden. Wenn p(xi) die Wahrscheinlichkeit ei-ner Nachricht ist (zum Beispiel das Auftreten einesSymbols xi der Nachrichtenquelle), dann ist der zu-gehörige Informationsgehalt Ii gegeben durch

Ii := − log2 (p(xi)) .

Der Maßstab ist so festgelegt, dass eine Nachrichtmit p = 1/2 den Informationsgehalt 1 bit ergibt.(Wenn der natürliche Logarithmus zur Definition be-nutzt wird, dann spricht man nicht von Bits, sondernvon Nats.) Gleich wahrscheinliche binäre Zeichenbesitzen den Informationsgehalt von 1 bit pro Zei-chen.

Der mittlere Informationsgehalt einer Nachrich-tenquelle mit einem Vorrat aus N Symbolen ergibtsich durch die Bildung des Erwartungswertes überdie individuellen Informationsgehalte aller Symbole

H(x) := E{Ii} = −N∑

i=1

p(xi) · log2 (p(xi)) .

Diese Größe nennt man wegen ihrer formalen Ent-sprechung Entropie. Die Entropie ist bei gleichwahrscheinlichen Zeichen am größten: Hmax(x) =log2(N). Da dies auch die Anzahl der binären Ent-scheidungen ist, die notwendig sind um eines der NZeichen auszuwählen, wird diese Größe auch Ent-scheidungsgehalt genannt.

Bei einem sprachlichen Text z.B. sind die einzelnenSymbole nicht unabhängig voneinander. Daher müs-sen lange Symbolfolgen betrachtet werden um dieEntropie zu berechen:

H(x) = limn→∞

1n· E{In} .

Für einen deutschen Text erhält man eine Entropievon 1.3 bit pro Buchstabe, bei einem englischen Text1.0 bit pro Buchstabe. Der Maximalwert für 30 Zei-chen wäre durch den Entscheidungsgehalt gegebenund ist 4.9 bit pro Buchstabe. Die Differenz zwi-schen Entscheidungsgehalt und Entropie nennt manRedundanz. Sie ist bei englischen Texten höher alsbei deutschen (3.9 statt 3.6 bit pro Buchstabe).

4.1.3 Kapazität eines Übertragungskanals

Information wird zwischen unterschiedlichen Ortenübertagen, z.B. zwischen einer Sinneszelle und demGehirn. Man bezeichnet den Pfad zwischen Senderund Empfänger als Kommunikationskanal.

Sender Empfänger

H(x)

H(x|y) H(y|x)

H(y)T

Abbildung 4.2: Einseitig gerichteter Informations-oder Nachrichtenkanal.

Der sogenannte Shannonsche Nachrichtenkanal isteinseitig gerichtet, das bedeutet die Nachrichten-quelle (Sender) ist unabhängig vom Empfänger. (DieKommunikation zwischen Lebewesen ist dagegennicht unabhängig, da die erzeugten Symbole von denempfangenen Symbolen statistisch abhängig sind.Dieser allgemeinere Fall, die bidirektionale Kom-munikation nach Marko ist für das Folgende abernicht weiter wichtig.) Wir bezeichnen die Informa-tionseinheiten an der Quelle mit xi, diejenigen, diebeim Empfänger eintreffen mit yi. Im Idealfall giltxi = yi ∀i.

Informationsübertragung erfolgt in der Praxis nieperfekt, sondern unterliegt Störungen. Informations-technisch bedeutet eine Störung, dass ein Teil derempfangenen Zeichen yj sich von den gesendetenunterscheidet. Verschiedene xi können das gleicheZeichen yj ergeben (Rückschlussunsicherheit), diezugehörige Rückschlussentropie H(x|y) wird auchals Äquivokation bezeichnet.

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Unter Irrelevanz oder Streuentropie H(y|x) verstehtman, dass aus einem Zeichen xi verschiedene yj

werden. Sie ist gegeben als

H(a|b) := limn→∞

1n· E{p(a|b)} ,

d.h. durch die bedingte Wahrscheinlichkeit für dasAuftreten von a bei der Kenntnis von b benötigt.Von der Entropie H(x) gelangt nur die DifferenzT = H(x) − H(x|y) an das Kanalende. T ist dermittlere Transinformationsgehalt, oder die Synentro-pie. Für den Empfänger wirkt das Kanalende als In-formationsquelle der Entropie H(y) = T +H(y|x).Für den ungestörten Fall ist H(y) = T = H(x). Beieinem sehr stark gestörten Kanal werden die Zufalls-variablen x und y statistisch unabhängig, so dass mitH(x|y) = H(x) die Transinformation verschwin-det. H(y) besteht dann nur noch aus dem irrelevan-ten Anteil.

Der maximale Wert der Transinformation bestimmtdie Kanalkapazität C, also den Maximalwert desmöglichen Nachrichtenflusses (bei gegebenem Ka-nal). Wenn τ die mittlere Übertragungszeit je Nach-richt (Symbol) ist, dann gilt

C =(T

τ

)max

.

Bei einem symmetrischen Binärkanal mit einer Feh-lerwahrscheinlichkeit q und einer Schrittdauer τ ist

C =1τ

[1 + q log2 q + (1− q) log2 (1− q)] .

Für einen analogen Kanal mit der Bandbreite ∆f ,der Sendeleistung Ps und der Störleistung Pn er-gibt sich für Gaußsche Verteilungen von Sende- undStörsignal die Kanalkapazität

C = ∆f · log2

(1 +

Ps

Pn

).

Typische Werte für die Kanalkapazität technischerNachrichtensysteme sind:

• Telefonkanal: C = 5 · 104 bit/s

• Fernsehkanal: C = 7 · 107 bit/s

Diese Kanäle sind angepasst an die Informationska-paziät menschlicher Sinnesorgane, z.B.:

• Ohr: C = 4 · 104 bit/s

• Auge: C = 3 · 106 bit/s

Die von Menschen bewusst verarbeiteten Kapazi-tätswerte sind demhingegen erheblich kleiner. Bei-spiele:

• leise / laut lesen: C = 45 bit/s / C = 30 bit/s

• Schreibmaschineschreiben: C = 16 bit/s

• Klavierspielen: C = 23 bit/s

• Addieren / Multiplizieren: C = 12 bit/s

• Abzählen: C = 3 bit/s

Ein Mensch kann nur Informationsflüsse mit < 50bit/s bewusst aufnehmen und verarbeiten. Die not-wendige Informationsreduktion findet in der Deko-dierung der Sinneseindrücke durch das ZNS statt.

4.1.4 Datenaufnahme

Rezeptoren reagieren (nur) auf adäquate Reize undübersetzen ihn in eine elektrische Erregung. Es mussaußerdem eine Reizschwelle überschritten werdenum die Reizempfindung auszulösen. Häufig reichtdie Sensibilität von Rezeptoren bis an die physika-lischen Grenzen heran, zum Beispiel können nur 5Photonen als Lichtblitz wahrgenommen werden.

Als Transduktion (bioelektrische Wandlung) be-zeichnet man die Umwandlung eines Reizes in einkörpereigenes Signal, das Rezeptorpotential. DemBau nach können verschiedene Strukturen für dieRezeptorfunktion verantwortlich sein. Primäre Sin-neszellen sind spezialisierte Nervenzellen mit einemRezeptorteil (oft Sinneshärchen) und einem Neu-rit beziehungsweise Axon (zum Beispiel Sehzellen).Sie setzen den Reiz unmittelbar in Impulse (Aktions-potentiale) um.

Eine sekundäre Sinneszelle bildet eine Synapse mitdem Ende einer afferenten Nervenfaser. Es sind also

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4 Sinnesorgane: Das Ohr

Abbildung 4.3: Bioelektrische Wandlung an Sinnes-rezeptoren.

spezialisierte Epithelzellen mit synapsenähnlichenGebilden zur Reizweiterleitung an Nervenfaseren-dungen. Das Rezeptorpotential moduliert die Frei-setzung einer Transmittersubstanz, so dass der Im-puls im nachgeschalteten afferenten1 Neuron ent-steht.

4.1.5 Sinnesphysiologie

Die Sinnesorgane nehmen Reize auf und verarbeitendiese weiter zu (Nerven-)impulsen, welche an daszentrale Nervensystem weitergeleitet werden. Daszentrale Nervensystem bekommt die Gesamtheit al-ler Impulse von verschiedenen Rezeptoren und aufdiese Weise kann ein Abbild der Umwelt entstehen.Die subjektive Verarbeitung eines einzelnen Sinnrei-zes führt zu einem Sinneseindruck. In einer Sinnes-empfindung sind mehrere Sinneseindrücke zu ei-nem Gesamtbild zusammengefasst. Durch die Be-wertung dieser Empfindung und die Deutung mit derErfahrung gelangen wir zu der Wahrnehmung.

1afferens=hinführend

Das Gesamtbild einer Empfindung ist durch 4 Para-meter, die sogenannten ”Dimensionen”, beschreib-bar. Diese sind:

• Modalität. Zum Beispiel die klassischen 5 Sin-ne: Gesichts-, Gehör-, Tast-, Geschmacks- undGeruchssinn. Innerhalb einer Modalität kannman verschiedene Arten von Sinneseindrückenunterscheiden, die Submodalitäten.2

• Intensität. Eine Empfindung kann stark oderschwach sein.

• Räumlichkeit. Eine Empfindung kann lokali-siert werden (z.B. Berührung der Haut).

• Zeitlichkeit. Eine Empfindung hat einen zeitli-chen Beginn und eine Abklingzeit.

4.2 Akustische Grundlagen

4.2.1 Schallwellen

Wir berechnen im Folgenden die Fortpflanzung vonSchall in einer Dimension und betrachten hierfüreinen luftgefüllten Zylinder. Dies ist z.B. das ein-fachste Modell für den äußeren Gehörgang. EineSchallwelle entspricht einer zeitlich und räumlichperiodischen Auslenkung von Druck und Dichte desMediums. Dabei interessieren vor allem die Ände-rungen des Drucks, nicht der Mittelwert.

x x + dx x + χ(x,t) x + dx + χ(x + dx,t)

A A’

χ(x,t)

χ(x + dx,t)

p(x,t)

p(x+dx,t)

Abbildung 4.4: Beschreibung von Schallwellen.

Für den Druck schreiben wir

p = p0 + ∆p(x, t) ,

2In der klassischen subjektiven Sinnesphysiologie auch als”Qualität” bezeichnet.

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4 Sinnesorgane: Das Ohr

Tabelle 4.1: Beispiele:Rezeptortyp Empfindungsmodalität Submodalität (Qualität)

Photorezeptoren Gesichtssinn Helligkeit, Dunkelheit, Farben, Form, BewegungThermorezeptoren Temperatursinn Kälte, WärmeChemorezeptoren Geruchssinn verschiedene Gerüche

Geschmackssinn Säure, Salze, Süße, BitterkeitMechanorezeptoren u.a.: Gehörsinn Tonhöhen

und für die Dichte

ρ = ρ0 + ∆ρ(x, t) ,

wobei der Index 0 für die jeweiligen Gleichgewichts-werte steht (ohne Schallwelle).

Für die Beschreibung der Schallausbreitung benö-tigen wir drei Gleichungen: die erste gibt an, wieeine Gasbewegung zu einer Dichteänderung führt,die zweite beschreibt den Zusammenhang zwischenDichte- und Druckänderung, die dritte zeigt wie einDruckgradient eine Gasbewegung zur Folge hat.

Wenn ein Volumenelement in einem Gas bewegtwird, dann ändert sich die Dichte. Die Verschiebungder Luftmoleküle auf Grund des Schalls sei χ(x, t).Luft an der Stelle x bewegt sich zur neuen Positionx+χ(x, t), und Luft in der Nähe bei x+ dx bewegtsich nach x+ dx+ χ(x+ dx, t).

Aus der Massenerhaltung finden wir, dass die Gas-masse im neuen Volumen gleich der Masse im altenVolumen Adx sein muss:

ρ0Adx = ρA{x+dx+χ(x+dx, t)−x−χ(x, t)} .

Mit der Taylor-Entwicklung 1. Ordnung

χ(x+ dx, t) = χ(x, t) +∂χ

∂xdx

und der obigen Gleichung für die Dichte bekommtman:

∆ρ = −ρ0∂χ

∂x−∆ρ

∂χ

∂x.

Der zweite Term kann vernachlässigt werden wenndie Dichteänderung ∆ρ � ρ0 ist. Damit wird dieDichteänderung als Funktion der Auslenkung

∆ρ(x, t) = −ρ0∂χ(x, t)∂x

. (4.1)

4.2.2 Die Wellengleichung

Die Dichteänderung entspricht einer Druckände-rung. Druck und Dichte sind miteinander verbunden,p = f(ρ). Wir verwenden die Abkürzung

α =1ρ0κ

=∂p

∂ρ|ρ0 .

Damit gilt für kleine Verschiebungen undDichteschwankungen

p(x, t) = p0+∆p(x, t) = p0+α ·∆ρ(x, t) . (4.2)

Die dritte Gleichung, die für die Herleitung der Wel-lengleichung benötigt wird, ist die Navier-Stokes-Gleichung

ρ

(∂~v

∂t+ (~v · ~∇) · ~v

)= −~∇p + η∆~v .

Wenn die Reibung und die Nichtlinearität vernach-lässigt werden können ergibt sich daraus die Euler-Gleichung, welche in einer Dimension die Formρ∂v

∂t = − ∂p∂x hat. Die lokale Geschwindigkeit v er-

gibt sich als Ableitung der Auslenkung, v = ∂χ/∂t.Damit wird die Euler-Gleichung

ρ0∂2χ

∂t2= −∂p

∂x, (4.3)

wobei wir wiederum angenommen haben, dass dieDruckschwankungen klein sind, ρ ≈ ρ0. Elimiertman den Druck p mit Hilfe von Gl. (4.2), dann er-hält man

ρ0∂2χ

∂t2= −α∂∆ρ

∂x.

Mit (4.1) und der Umbenennung

c2 = α =1ρ0κ

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4 Sinnesorgane: Das Ohr

erhält man die Wellengleichung

∂2χ

∂t2= c2 · ∂

∂x2(4.4)

und Gleichung (4.2) ist dann

∆p = ∆ρ · c2 (4.5)

Analoge Wellengleichungen findet man für dieDichte

∂2ρ

∂t2= c2 · ∂

∂x2(4.6)

und den Druck

∂2p

∂t2= c2 · ∂

2p

∂x2(4.7)

weswegen man elastische Wellen in einem Gas auchals ”Druckwellen” bezeichnet.

4.2.3 Lösung der Wellengleichung

Die einfachsten Lösungen einer Wellengleichungsind ebene Wellen. In diesem Fall entspricht das

χ(x, t) = χ0 sin(ωt− kx), c = ω/k . (4.8)

Hier stellen ω die (Kreis-)frequenz, k die Wellenzahlund c die Phasengeschwindigkeit dar.

Für die Geschwindigkeit, mit der sich die Luftmole-küle infolge der Druckschwankungen hin- und her-bewegen, folgt

v(x, t) =∂χ

∂t= ωχ0 cos(ωt− kx) .

Man bezeichnet die Amplitude

v0 = ωχ0

dieser Geschwindigkeit als Schallschnelle.

Die Druckwelle muss die gleiche räumliche und zeit-liche Abhängigkeit aufweisen,

∆p(x, t) = ∆p0 sin(ωt− kx) .

Setzt man dies und (4.8) in die Euler-Gleichung (4.3)ein, dann erhält man

ρ0(−ω2)χ0 sin(ωt− kx) = ∆p0k sin(ωt− kx) .

Daraus folgt der wichtige Zusammenhang zwischender Schallschnelle, der Geschwindigkeit, dem Druckund der Dichte:

∆p0 = ρ0v0c . (4.9)

4.2.4 Schallimpedanz und Intensität

Die Schallschnelle ist proportional zum Schalldruck.Die Proportionalitätskonstante

Z :=∆p0

v0= ρ0c

wird als Wellenwiderstand oder Schallkennimpe-danz oder Schallimpedanz bezeichnet. In Luft be-trägt die Impedanz

ZLuft = 1.2 kgm−3 340ms−1 = 430Nsm−3,

in Wasser ist Z = 1.46 ·106 Ns/m3. Die Schallimpe-danzen der beiden Medien, welche für das Hören amwichtigsten sind, unterscheiden sich somit um einenFaktor 3400.

Weil ebenfalls

Z =√ρ0

κ

gilt, bekommt man für die Kompressibilität den Aus-druck

κ =1

ρ0c2.

Die Energiedichte einer Schallwelle ist gegebendurch die Summe aus kinetischer und Druckenergie.Bei der maximalen Geschwindigkeit v = v0 ver-schwindet die Druckenergie und wir haben nur ki-netische Energie

w =12ρ0v

20 .

Mit Hilfe der Schallimpedanz und der Kompressibi-lität schreiben wir dies als

w =12ρ0∆p2

0

1ρ20c

2.

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4 Sinnesorgane: Das Ohr

Daraus ergibt sich die Intensität

I = wc =12ρ0ω

2χ20c =

12κ∆p2

0c .

Mit Hilfe des Ausdruckes für die Kompressibilitäterhalten wir

I =1

2ρ0c∆p2

0 =1

2Z∆p2

0 .

4.2.5 Schalldruckskala und Schallpegel

Der Schalldruck (die Amplitude) und die Frequenzder Schallschwingung sind für das Hören wich-tig. Der Frequenzbereich des menschlichen Gehörsreicht von

ν = 16Hz bis 20kHz .

Schwingungen mit großem Schalldruck bewirkenHörempfindungen größerer Lautstärke als Schwin-gungen mit geringem Schalldruck. Von dem lei-sesten noch wahrnehmbaren 2 kHz-Ton bis zurSchmerzgrenze erstreckt sich der Bereich 20 µPa...20 Pa (Effekivwerte).

An der Hörschwelle (20µPa) beträgt die IntensitätI0 = 10−12W/m2; an der Schmerzschwelle etwaImax = 1 W/m2.

Das Gehör nimmt den Schalldruck in etwa logarith-misch wahr. Deswegen, und weil die akustisch wahr-nehmbaren Schalldrücke 6 Zehnerpotenzen umfas-sen, wird eine logarithmische Schalldruckskalaverwendet. Um den Schalldruck dimensionslos zumachen, wird ein Referenzdruck benötigt. Die De-finition des Schallpegels L lautet:

L = 20 · log(

∆p∆p0

)dB = 10 · log

(I

I0

)Wenn man als Bezugsgröße die Wahrnehmungs-grenze des menschlichen Gehörs nimmt, dann ist∆p0/

√2 = 20 µPa (I0 = 10−12W/m2). Die so be-

rechneten Schallwerte werden mit dB SPL (SoundPressure Level) bezeichnet.

Diese physikalische Definiton ist in der Audiolo-gie und Akustik üblich. Sie berücksichtig jedoch

Abbildung 4.5: Schalldruck und Schallpegel für ver-schiedene Geräusche.

nicht den physiologischen Lautstärkeeindruck. Da-für verwendet man ein anderes Maß: das Phon oderdB(A). Da hierbei bewertete Schallpegel verwendetwerden, ist dies keine physikalische Messgröße. Beieiner Frequenz von 1 kHz stimmt die dB(A)-Skalamit der dB SPL-Skala überein. Für andere Frequen-zen werden zur Umrechnung Frequenzbewertungs-kurven verwendet, das sind Kurven gleicher Laut-stärke.

4.2.6 Reflexion und Transmission vonSchallwellen

Wir betrachten eine Welle, die vom Gebiet 1 mit ρ1,c1 und Z1 = ρ1c1 in ein Gebiet 2 (ρ2, c2) mit an-derer Wellenimpedanz Z2 = ρ2c2 übertritt. Für je-de Art von Wellen findet man in einem solchen Fall,dass ein Teil der Welle reflektiert wird. Wir nehmenan, dass das System sich linear verhält, dass also ei-ne Proportionalität zwischen einfallender, reflektier-ter und transmittierter Welle besteht.

Wir betrachten den einfachsten Fall, dass die Welle

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4 Sinnesorgane: Das Ohr

Abbildung 4.6: Kurven gleicher Lautstärke. Bei1kHz stimmen dB SPL-Skala undPhon- oder dB(A)-Skala überein.

Abbildung 4.7: Reflexion an einer Grenzfläche

senkrecht auf die Grenzfläche einfällt und berech-nen die Reflexions- und Transmissionskoeffizientenaus der Energieerhaltung: Die auf die Grenzflächeeinfallende Energie wird entweder transmittiert oderreflektiert. Somit gilt für senkrechten Einfall

Ie = Ir + It .

Wir schreiben den Ausdruck I = 12ρ0ω

2χ2c für dieSchallintensität als I = 1

2Zω2χ2. Damit wird die

Energieerhaltungsgleichung zu

Z1χ2e = Z1χ

2r + Z2χ

2t .

Zusammen mit der Stetigkeitsbedingung für dieAuslenkung, χe + χr = χt, erhalten wir ein quadra-tisches Gleichungssystem für die beiden Amplitudenχr und χt. Lösen des Gleichungssystems ergibt dieTransmissions- und Reflexionskoeffizienten:

χr

χe=Z1 − Z2

Z1 + Z2;

χt

χe=

2Z1

Z1 + Z2.

Für die Intensitäten erhält man

ItIe

= 4Z1Z2

(Z1 + Z2)2

und

IrIe

=(Z1 − Z2)2

(Z1 + Z2)2.

Möchte man Reflexionen vermeiden, so muss offen-bar Z1 = Z2 sein, d.h. die Impedanzen der beidenMedien müssen gleich sein.

4.3 Anatomie undSchallübertragung

4.3.1 Anatomische Übersicht

Abbildung 4.8: Anatomischer Aufbau des menschli-chen Ohrs.

Im menschlichen Ohr sind zwei Sinnesorgane loka-lisiert: das Gleichgewichtsorgan und das Gehöror-gan. Anatomisch bilden beide eine Einheit im Innen-ohr. Im Folgenden beschäftigen wir uns ausschließ-lich mit dem Gehörorgan.

Zum äußeren Ohr gehört die Ohrmuschel, sowieder etwa 3 cm lange äußere Gehörgang mit demTrommelfell als Abschluss. Dieses trennt das äu-ßere Ohr vom Mittelohr. Die Schallleitung erfolgtüber das Trommelfell und die drei Gehörknöchel-chen (Hammer, Amboss und Steigbügel) bis zum

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4 Sinnesorgane: Das Ohr

ovalen Fenster. An diesem ovalen Fenster beginntdas Innenohr. Es ist in Knochen eingebettet und be-steht aus der Cochlea (Schnecke) und den Bogen-gängen, welche das Gleichgewichtsorgan enthalten.Es liegt nahe beim Gehirn und ist durch die Einbet-tung in Knochen gut von störenden Einflüssen iso-liert, wie z.B. Bewegungen von Muskeln.

Die Hohlräume im Knochen sind mit einer Flüs-sigkeit gefüllt (Perilymphe); Gehör- und Gleichge-wichtsorgan befinden sich darin eingelagert im häu-tigen Labyrinth. Dieses ist mit einer etwas anderenFlüssigkeit gefüllt, welche als Endolymphe bezeich-net wird. Peri- und Endolymphe unterscheiden sichvor allem im Gehalt an Natrium- und Kaliumionen.

Die Schnecke ist etwa 3 cm lang, hat ungefähr 2.5Windungen und verjüngt sich zu ihrem Ende hin.In der Schnecke gibt es drei voneinander getrenn-te Räume: die Vorhoftreppe, die am ovalen Fen-ster beginnt und bis zur Schneckenspitze läuft. Dortschließt sich die Paukentreppe an, die sich am ande-ren Ende bis zum runden Fenster erstreckt.

Das äußere Ohr dient der Schallverstärkung und derrichtungsabhängigen Filterung einlaufender Schall-wellen. Im Mittelohr findet eine Impedanzanpas-sung statt, von Luft zur Perilymphe. Das Innenohrnimmt eine Frequenz- und Amplitudenanalyse derSchallwellen vor. Die Hörner kodieren die akusti-sche Information, und im Cortex (Hirnrinde) findetdie Spracherkennung statt.

4.3.2 Äußeres Ohr

Das äußere Ohr und das Mittelohr dienen der Zu-leitung der Schallwellen. Es gibt die Knochenlei-tung, bei der unter Umgehung von äußerem Ohr undMittelohr die Schallwellen durch Schwingungen desSchädelknochens ins Mittelohr transportiert werden.Normalerweise spielt er für das Hören keine Rolle,da der Knochenschall ungeführ −50 dB unter demLuftschall liegt. Wichtig ist die Knochenleitung fürdas Hören der eigenen Stimme, die deswegen auchanders klingt als wenn man von sich eine Tonaufnah-me anhört.

Das äußere Ohr besitzt eine wenig ausgepräg-te Richtungscharakteristik, aber einen unterschied-

Abbildung 4.9: Zuleitung der Schallwellen. [1]

lichen Frequenzgang (insbesondere vorne / hinten).Der äußere Gehörgang kann als einseitig abge-schlossener Resonator modeliert werden (Q ≈ 1).Den Abschluss des Rohres bildet das Trommelfell(reflexionsfrei).

4.3.3 Mittelohr

Das Mittelohr ist von dem äußeren Ohr durch dasTrommelfell getrennt. Für den Druckausgleich gibtes eine Verbindung zum Rachenraum, die sogenann-te eustachische Röhre oder Ohrtrompete. Da die-se durch das Gaumensegel üblicherweise geschlos-sen ist, findet nur ein einseitiger Schalldruck auf dasTrommelfell statt, so dass die eigene Stimme nichtzu laut hörbar ist. Außerdem ergibt sich so nur eineinseitger Schalldruck auf das Trommelfell, was dasHören äußerer Geräusche begünstigt.

Abbildung 4.10: Mittelohr

Die Mittelohrmuskeln dienen zum einen demSchutz des Gehörs bei lautem Knall: sie können dasTrommelfell spannen und dadurch die Schallüber-tragung reduzieren, sowie den Steigbügel kippen -mit dem gleichen Resultat. Die Latenzzeit beträgtfür hohe Schallpegel etwa 35 ms und für niedrige et-wa 150. ms Weiterhin dämpfen sie das Ausschwin-

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gen des Sprachschalls und vergrößern den Arbeits-bereich des Mittelohrs. Ansonsten wären nur Schal-lereignisse < 40 db SPL außerhalb des Sättigungs-bereichs der Sinneszellen.

Im Mittelohr findet außerdem die Impedanzanpas-sung statt. Im Außenohr und der Paukenhöhle befin-det sich Luft mitZL = 414 kg/m2s, und im Innenohrist die Lymphflüssigkeit mit Zc = 1.4 · 106 kg/m2s,daher gibt es Reflexionen bei einem Übergang vonLuft zu Lymphflüssigkeit.

Um eine grobe Vorstellung von der Reflexion zu er-halten betrachten wir die Reflexion einer Schallwel-le an einer unendlichen Grenzfläche zwischen Was-ser und Luft bei senkrechtem Einfall. Dafür ist derTransmissionskoeffizient

T =ItIe

= 4Z1Z2

(Z1 + Z2)2≈ 9 · 10−4 .

Das heisst, ohne Mittelohr würde weniger als 0.01%der vom Außenohr empfangenen Energie auf das In-nenohr übertragen werden, der Rest würde reflek-tiert. Dies entspricht einer Abschwächung um rund30 dB.

Dieses Modell ist allerdings zu grob. Insbesonderedie Näherung, das Innenohr als unendlichen Halb-raum zu beschreiben, ist zu ungenau, da die Di-mensionen, z.B. des ovalen Fensters, klein sind imVergleich zu allen akustischen Frequenzen. Eine ge-nauere Analyse ergibt deshalb eine frequenzabhän-gige Reflexion. Bei Frequenzen im Bereich von etwa3 kHz ist die Impedanzanpassung praktisch perfektKillion and Dallos [10].

Abbildung 4.11: Trommelfell, Gehörknöchelchenund Steigbügelfussplatte.

Die Reflexionen können reduziert werden, wenn dieImpedanz auf beiden Seiten der Grenzfläche (=Mit-telohr) gleich gemacht wird. Die Impedanz ist Z =

∆pv0

, d.h. sie ist proportional zur Druckänderungdurch die Welle. Die Druckänderung wird im Mittel-ohr folgendermaßen angepasst: Auf das Trommelfellwirkt die Kraft

Fa = ∆paAT ,

wobei ∆pa die Drückänderung durch die äußere(einlaufende) Welle darstellt und AT die Fläche desTrommelfells. Auf der Innenseite wirkt die Kraft

Fi = ∆piAF ,

wobei AF die Fläche des Fensters und ∆pi dieDruckamplitude im Innenohr darstellen.

Hammer und Ambos setzen diese Kräfte in Drehmo-mente um, welche gleich sein müssen,

Fala = Fili .

Damit erhöht sich die Druckamplitude im Innenohrauf

∆pi = ∆paF1

F2· l1l2.

Dies entspricht einer Änderung der effektiven Impe-danz um den Faktor F1

F2· l1

l2≈ 26. Die transmittierte

Intensität steigt um etwa diesen Faktor an.

Wir haben hier ein sehr einfaches Modell verwen-det, welches verschiedene Näherungen enthält, diein der Praxis nicht erfüllt sind, wie z.B. die Annah-me, dass die Grenzfläche räumlich undendlich aus-gedehnt sei. In Wirklichkeit sind sowohl Trommel-fell wie auch das ovale Fenster klein im Vergleichzur akustischen Wellenlänge und das Innenohr istkein unendlicher Halbraum. Die wirkliche Schal-limpedanz ist dadurch frequenzabhängig wie auchdie Impedanzanpassung im Innenohr. Weiterhin hilftauch das Außenohr bei der Impedanzanpassung. Ei-ne relativ detaillierte Analyse ist Killion and Dallos[10].

4.3.4 Das Innenohr

Das Innenohr enthält das Gleichgewichtsorgan unddie Schnecke (Cochlea), die das eigentliche Höror-gan darstellt. Die Aufgabe des Innenohres im Bezug

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Abbildung 4.12: Innenohr. [1]

auf das Hören ist die Reizweiterleitung an Sinneszel-len und die Reiztransformation von mechanischenSchwingungen in Nervenimpulse.

Die Schnecke ist abgerollt ungefähr 30 mm lang, undsie verjüngt sich von 0.9 mm auf 0.3 mm. Sie istaufgeteilt in die Vorhoftreppe (scala vestibuli), dievom ovalen Fenster, auf dem der Steigbügel sitzt, zurSpitze der Schnecke läuft, die Paukentreppe (scalatympani), die von der Spitze der Schnecke zum run-den Fenster läuft (beide sind mit Perilymphe gefüllt).Zwischen den beiden liegt der mittlere Schnecken-gang (scala media), der mit Endolymphe gefüllt ist.

Der mittlere Schneckengang ist von der Vorhof-treppe durch die Reissner-Membran, und von derPaukentreppe durch die Basilarmembran getrennt.Die Reissner-Membran ist sehr flexibel, so dass dieVorhoftreppe und die Paukentreppe hydrodynamischpraktisch eine Einheit bilden. Die Basilarmembranenthält das Corti-Organ mit etwa 15000 Sinnes-zellen, den inneren und äußeren Haarzellen, diein Reihen angeordnet sind. Die Sinneshaare sindmit der darüber liegenden Deckplatte, einer gallert-artigen Schicht, verbunden. Hier findet der eigent-liche Hörprozess, die Umwandlung mechanischerSchwingungen in Nervenimpulse, statt.

Abbildung 4.13: Cochlea (Schnecke).

Die Basilarmembran verändert ihre mechanischen

Eigenschaften während ihres Verlaufs vom basalenzum apicalen Ende (Helicotrema). Auf diesem Wegnimmt die Steifigkeit ab. Gleichzeitig verbreitert sichdie Basilarmembran von 1/6 mm auf 1/2 mm. DieÄnderung der mechanischen Eigenschaften ist einewichtige Voraussetzung für die dem Schallereignisentsprechende Reizverteilung an die Sinneszellen.

Abbildung 4.14: Transformationsorgan. [1]

Die Schallwelle, welche über den Steigbügel in dasInnenohr eingekoppelt wird, läuft durch die Scalavestibuli zum Ende der Schnecke und durch die Sca-la tympani zurück zum runden Fenster. Die Flüssig-keit ist praktisch inkompressibel. Damit die Wellesich im Innenohr überhaupt ausbreiten kann benötigtes deshalb einen Druckausgleich; das ist die Funkti-on des runden Festers zum Mittelohr.

4.4 Detektion und Verarbeitung

Das Innenohr ist ein Sensor, welcher die akustischenSchwingungen in elektrische Nervenimpulse um-wandelt. Es ist so konstruiert, dass es einen großenDynamikbereich aufweist und Frequenzen im Be-reich von etwa 20 - 20000 Hz wahrnehmen und un-terscheiden kann. Es liefert auch eine erste Stufe derDatenreduktion.

4.4.1 Ortskodierung der Tonhöhe

Technische Tonaufzeichnungen unterscheiden unter-schiedliche Frequenzen indem sie diese mit einerhohen zeitlichen Rate digitalisieren. Der menschli-che Gehörsinn ist dazu nicht in der Lage. Außerdem

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würde die dabei anfallende Datenmenge das Gehirnüberfordern. Statt dessen werden einzelne Frequen-zen getrennt detektiert und in Nervensignale umge-wandelt.

Um Schwingungen unterschiedlicher Frequenz un-terscheiden zu können, müssen die entsprechendenSchwingungen getrennt werden. Das Ohr verwendetdafür eine räumliche Codierung.

Abbildung 4.15: Signalstärke einzelner Nervenfa-sern einer Katze als Funktion derFrequenz

Dies kann man z.B. belegen, indem man die Si-gnalstärke einzelner Nervenfasern misst. Figur 4.15zeigt als Beispiel die Signalstärke von drei Nervenfa-sern einer Katze, jeweils als Funktion der Tonhöhe.Offenbar sind die drei Nerven auf unterschiedlicheTonhöhen empfindlich.

Abbildung 4.16: Frequenzabhängige Amplituden-maxima in der Schnecke.

Figur 4.16 zeigt wo in der Cochlea die einzelnenFrequenzen maximale Anregung erzeugen. Die Fre-quenzselektivität wird jedoch nicht durch die Sin-neszellen erreicht, sondern durch einen geeignetenAufbau der Cochlea.

Abbildung 4.17: Die Wanderwelle erzeugt in derCochlea eine ortsabhängige Aus-lenkung der Basilarmembran. DerOrt der maximalen Auslenkunghängt von der Frequenz ab.

4.4.2 Oszillatormodell

Um dies zu verstehen betrachten wir die Ausbrei-tung der Flüssigkeitswelle in der Cochlea. Die Wan-derwelle in der Flüssigkeit koppelt dabei an die Ba-silarmembran und über die Basilarmembran an dengegenläufigen Kanal. Die Stärke der Kopplung istdabei unter anderem von der Elastizität der Basilar-membran abhängig.

Abbildung 4.18: Modell einer Kette von Oszillato-ren

Als einfaches Modell für diesen Prozess betrach-ten wir ein System von harmonischen Oszillatoren,zunächst ohne Kopplung, welche jeweils in Stückder Basilarmembran und die entsprechende Flüssig-keitssäule darstellen. Die Rückstellkraft, welche aufjedes Massenelement wirkt, ist

mixi + hixi + kixi = fi(t) .

Hier stellt hixi eine Dämpfung dar und fi eine peri-odische äußere Kraft, in diesem Fall also der Druck-

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welle. Die Rückstellkraft ki ist proportional zumElastizitätsmodul der Membran.

Wie bei jedem harmonischen Oszillator besitzt dasSystem eine Resonanzfrequenz, welche durch dasVerhältnis aus Kraftkonstante und bewegter Masse

gegeben ist, ν =√

Em . Bei dieser Frequenz wird

die Schwingungsamplitude maximal und damit derTransfer durch die Membran. Hier stellt E die Ela-stizität der Membran und m die bewegte Masse dar.

Bei tiefen Frequenzen ist es möglich, die gesamteFlüssigkeit in der Cochlea zu bewegen, während beihohen Frequenzen die Kopplung durch die Memranleichter fällt. Da die Elastizität der Basilarmembranzum Ende der Cochlea zunimmt wird dort die Über-tragung niedriger Frequenzen zusätzlich erleichtert.

Abbildung 4.19: Resonanzüberhöhung als Funktiondes Ortes

Löst man die Wellengleichung für die Cochlea, so er-hält man tatsächlich eine gewisse Ortsauflösung. Al-lerdings ist diese nicht och genug um die Fähigkei-ten unseres Gehörs befriedigend erklären zu können.Die empirisch gefundene Fähigkeit des Menschen,Töne mit einer Frequenzdifferenz von< 1Hz unter-scheiden zu können, deutet darauf hin, dass hier zu-sätzlich ein aktiver Entdämpfungsmechanismus ein-gesetzt wird, welcher die Maxima verschärft.

Die bisherige Diskussion gilt für eine gestreckte wiefür eine aufgewickelte Cochlea. Modellrechnungendeuten darauf hin, dass das Aufwickeln neben derPlatzersparnis zusätzlich eine Verstärkung für dietiefen Töne bringt: Die Flüssigkeitswelle wird an dieAußenseite des Rohres gedrückt und dadurch ver-stärkt.

4.4.3 Hydrodynamische Kopplung

Abbildung 4.20: Hydrodynamik und Membran-schwingung bei der Schallausbrei-tung im Innenohr

Die einzelnen Oszillatoren sind in der Realität nichtunabhängig voneinander: eine Auslenkung an ei-ner Stelle erzeugt eine Druckänderung und regt aufGrund der Scherviskosität des Mediums die benach-barten Oszillatoren an. Wir betrachten ein einfachesModell gekoppelter harmonischer Oszillatoren: \ci-te{Nobili:1998lr} Nobili et al. [12]

si(xi+1−xi)+si(xi−1−xi) ≈ si(xi+1+xi−1−2xi) .

Hier stellt si den Kopplungsterm zwischen benach-barten Oszillatoren dar. Hier wurde angenommen,dass die Kopplung symmetrisch wirkt (dass beideTerme auf der linken Seite den gleichen Kopplungs-term enthalten), dass die Kopplungsstärke aber orts-abhängig sein kann.

Damit erhält man ein gekoppeltes Gleichungssy-stem. Als Resultat hat man nicht mehr einzelne Os-zillatoren, sondern das System beschreibt jetzt dieAusbreitung einer Wanderwelle durch die Cochlea.Sie läuft der Basilarmembran entlang und erreicht anunterschiedlichen Orten eine maximale Amplitude.

Der maximale Transfer, d.h. die Frequenzselektivi-tät, ist durch die hydrodynamische Kopplung deut-lich schärfer geworden.

Der experimentelle Nachweis, dass solche Wellenim Ohr existieren, gelang von Békésy; er erhielt da-für 1961 den Nobelpreis. Er führte seine Messungenmit stroboskopischen optischen Methoden durch.Spätere, präzisere Messungen verwendeten Möß-bauer Spektroskopie: dabei wir ein Kristall auf dieBasilarmembran aufgebracht, welcher γ−Quantenemittiert. Damit wurde eine wesentlich höheere Prä-zision möglich und die Abstimmkurven lagen näher

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Abbildung 4.21: Wanderwelle: Effekt der hydrody-namischen Kopplung

Abbildung 4.22: Gemessene Frequenzabhängigkei-ten der neurophysiologischen Emp-findlichkeit: Aufgetragen ist derPegel eines Sinustons, in Abhän-gigkeit von seiner Frequenz, dernotwendig ist, um eine bestimm-te Auslenkung der Basilarmembranzu erreichen.

an den physiologisch gemessenen. Noch später ver-wendete man Laser-Interferometrie. Dazu wird aneinem lebenden Tier ein kleiner Reflektor auf dieBasilarmembran befestigt und deren Auslenkung ge-messen.

Als vereinfache Modelle betrachtet man häufig auchmechanische oder elektrische Analoga, bei denen dieOszillatoren durch Federn und Massen, respektiveInduktivitäten, Kapazitäten und Widerstände gege-ben sind.

4.4.4 Reizumwandlung

Die akustischen Schwingungen der Luft werden so-mit mehrfach umgewandelt, bevor sie als Nervenim-

Abbildung 4.23: Mechanisches und elektrisches Os-zillatormodell des Innenohrs.

pulse detektiert werden: Auf dem Trommelfell zu-nächst in Schwingungen einer Membran, von dortin Bwegungen der Gehörknöchelchen, wiederum ei-ne Membranschwingung, Flüssigkeitswellen in derCochlea, Schwingungen von Basilar- und Tektorial-membran. Die Membranschwingungen haben einersehr geringe Amplitude: Bei normaler Sprachlaut-stärke (60 dB) beträgt sie≈ 0.1 nm.

Abbildung 4.24: Die Relativbewegung von Basilar-und Tektorialmembran erzeugt ei-ner Scherung der Haarzellen.

Die Relativbewegung dieser beiden Membranen er-zeugt schließlich eine Scherung der Haarzellen. Die-se Scherung wird von den Haarzellen als Nervenim-pulse an das Gehirn gemeldet.

Man unterscheidet zwischen inneren und äußerenHaarzellen. Beide besitzen etwa 90 Stereozilien(Hörhärchen), welche untereinander verbunden sind.Werden diese ausgelenkt, so öffnen sich Kalzium-

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Abbildung 4.25: Links: innere Haarzellen, rechts:äußere Haarzellen.

kanäle in die Zelle. Dadurch wird das Potenzial vonrund 155 mV zwischen dem Inneren der Zelle undder Scala media abgesenkt. Dieser elektrische Im-puls wird über die Nerven ins Gehirn übertragen.

Abbildung 4.26: Innere und äußere Haarzellen.

Innere und äußere Haarzellen unterscheiden sich be-züglich Funktionsweise: Die inneren Haarzellen lö-sen bei einer Bewegung der Basilarmembran direkteinen Impuls aus. Bei den äußeren Haarzellen hinge-gen werden die Signale von mehreren Zellen in ei-nem Spiralganglion zusammengefasst. Es ist zu ver-muten, dass sie dadurch besser auf besonders schwa-che Signal reagieren können.

Die äußeren Haarzellen sind außerdem zu einer ak-tiven Kontraktion fähig, welche von Nervensignalengesteuert werden kann. Man vermutet zwei möglicheAnwendungen dieser aktiven Steuerung: zum einenkann die Empfindlichkeit angepast werden, zum an-deren könnte dadurch ein aktiven Entdämpfungssy-stem konstruiert werden. Eine solche aktive Entdäm-pung kann zum einen die Empfindlichkeit verbes-sern, zum andern die Frequenzauflösung. Man be-obachtete, dass ein Ausfall der aktiven Prozesse zuInnenohr-Schwerhörigkeit führt.

Die Nervenimpulse codieren die Amplitude der Aus-lenkung wiederum in eine Frequenz. Da Nerven-

zellen maximal 300 Impulse pro Sekunde übertra-gen können und die Sinneszellen auch eine gewisseSpontanaktivität aufweisen, ist der dynamische Be-reich auf etwa 40 dB beschränkt.

4.4.5 Aktives Detektionssystem

Das oben diskutierte Modell der passiven Wan-derwellen kann weder die hohe Frequenzauflö-sung des menschlichen Gehörs erklären ( ∆ν

2kHz ≈0, 5%, ∆ν

100Hz ≈ 3%) noch die beobachtete (nicht-lineare) Empfindlichkeit. Diese wird erreicht durchdie äußeren Haarzellen, die selber eine Kraft auf dieMembranen ausüben können. Diesen Einfluss kannman in den Bewegungsgleichungen durch einen wei-teren Term beschreiben, welcher der Dämpfung ent-gegen wirkt. So gelangt man zu aktiven Wanderwel-len.

Die nichtlineare Auslenkung der Basilarmembranzusammen mit der Rückkopplung auf die Schallwel-le ergibt eine nichtlineare Wellengleichung. Das Ver-halten des Systems, wie es durch diese Gleichungvorhergesagt wird, passt in vielen Aspekten gut mitden Beobachtungen überein.

Ist die Entdämpfung zu stark, so beginnt das Systemselbständig zu schwingen; dies ist offensichtlichfür ein Sinnesorgan kein sinnvoller Betriebszustand.Wählt man die Verstärkung aber so, dass das Sy-stem im Ruhezustand knapp unterhalb der Schwellefür spontante Schwingungen bleibt, so kann es durcheine kleine Anregung in einen Schwingungszustandversetzt werden und wird dadurch sehr empfindlich.

Abbildung 4.27: Nichtlineare Verstärkung im Mo-dell mit aktiver Entdämpfung

Bei höherem Schallpegel wird der Effekt der Ent-dämpfung durch die Haarzellen geringer, die Ver-

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stärkung nimmt somit ab. Dieser Aspekt des Modellserklärt sehr gut die beobachtete nichlineare Verstär-kung und die Änderung dieses Verhaltens wenn dieäußeren Haarzellen geschädigt werden.

Im realen Ohr sind die Parameter des Gleichungssy-stems wie zum Beispiel die dort auftauchenden Mas-sen nicht mehr diskret, sondern kontinuierlich undortsabhängig. Diese Größen können aus Messungender Cochlea gewonnen werden: Breite, Masse, Dich-te, Elastizität, ...

4.4.6 Übertragungsfunktionen

Wegen der Beugungs- und Brechungserscheinungender Schallwellen am Körper unterscheiden sich dieOhrsignale, die vor den Trommelfellen auftreten vondenen welche in Abweseheit der Person vorhan-den gewesen wären. Die Freifeldübertragungsfunk-tion ist der Unterschied zwischen dem Schallfeldsig-nal ohne Person und dem Ohrsignal.

Abbildung 4.28: Freifeldübertragungsfunktion beifrontaler Beschallung. [1]

Der äußere Gehörgang kann als abgeschlossenesRohr modelliert werden.

Abbildung 4.29: Einfaches Modell für das Innenohr.[1]

Bei einem abgeschlossenen Rohr mit der Länge25mm und dem Durchmesser von 8mm findet man

eine Resonanzfrequenz von 3430Hz. Dieses ist beider Auftragung der Ruhehörschwelle gegen die Fre-quenz als Minimum zu erkennen, bei dieser Fre-quenz ist der benötigte Schalldruckpegel am gering-sten. Daher ergibt sich ein Minimum bei der Ruhe-hörschwelle bei dieser Frequenz.

Abbildung 4.30: Verlauf der Ruhehörschwelle. [1]

Mit der Übertragungsfunktion des Mittelohres wirddas Verhältnis der Steigbügelschnelle im ovalen Fen-ster zum Schalldruck am Trommelfell beschrieben.Sie besitzt ein Tiefpassverhalten mit der Grenzfre-quenz 1.5 kHz.

Abbildung 4.31: Übertragungsfunktion des Mittel-ohres. [1]

Auch das Innenohr besitzt eine Übertragungsfunkti-on. Dies ist das Verhältnis der Auslenkung der Basi-larmembran zur Auslenkung des Steigbügels im ova-len Fenster. Das beobachtbare Maximum ist abhän-gig vom Messpunkt.

4.4.7 Richtungshören

Wenn sich eine Schallquelle genau hinter oder voreiner Person befindet, dann sind die Signale derbeiden Ohren gleich. Bei anderen Winkeln ist diesnicht mehr der Fall. Der menschliche Kopf ist ein

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Abbildung 4.32: Übertragungsfunktion des Inne-nohres für eine feste Stelle derBasilarmembran. [1]

Schallhindernis und die unterschiedliche geometri-sche Lage der Ohren zur Quelle führen dazu, dassdie Signale unterschiedlich sind. Dieser Unterschiedwird durch die interaurale Übertragungsfunktion be-schrieben.

Abbildung 4.33: Interaurale Intensitätsdifferenz. [1]

Die Intensitätsdifferenz ist u.a. auch abhängig vonder Frequenz (Wellenlänge). Bei einer Frequenz von= 660Hz beträgt die Wellenlänge

λ =330660

m = 0.5m .

Aufgrund der großen Wellenläge sind die Druckun-terschiede an den beiden Ohren klein.

Für ν < 500Hz kann das Gehör Intensitätsun-teschiede von ca. 0.5 dB unterscheiden. Dies ent-spricht einem relativen Intensitätsunterschied von∆I/I ≈ 100.05 − 1 ≈ 0.12.

Es tritt auch noch ein zweiter Effekt auf, eine Lauf-zeitdifferenz. Die Laufzeitdifferenzen und die fre-quenzabhängige Abschattung des Schalls durch denKopf spielen eine wichtige Rolle für die Schallquel-lenlokalisation und das räumliche Hören.

Abbildung 4.34: Laufzeitunterschiede. [1]

Die Laufzeitdifferenz beträgt

∆t =d sinθ

c=

0.2m330m/s

sinθ ≈ 600µs sinθ .

Experimentell findet man dass unter optimalen Be-dingungen eine Winkelauflösung von ca. 1◦ möglichist. Dies bedeutet, dass unser Gehör eine Zeitauflö-sung von ∆t ≈ 10µs erreicht.

Auch die Kombination von Amplituden- und Pha-seninformation erlauben keine eindeutige Lokalisa-tion. So erlauben sie keine Unterscheidung, ob eineQuelle sich oben oder unten befindet. Dafür wertetdas Gehör offenbar zusätzliche Informationen aus,welche mit der Beugung von Schall am Kopf, resp.der Knochenleitung zusammenhängen.

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