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Peter Weiss

Komlósi ZsuzsannaMolnár Ágnes

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„Ich war nie Deutscher” 1916: Peter Ulrich Weiss- in Nowawes bei Berlin

geboren(heute Babelsberg) Pseudonym:Sinclair Vater: Jenő Weiss,jüdisch-ungarischer,zum Christentum

übergetretener Textilkaufmann Mutter:Frieda Weiss,Hausfrau,Nebenrollen am Deutschen

Theater in Berlin Kindheit und Jugend in Bremen und Berlin:ein gesteigertes

Interesse für Kunst und Kultur Auf Druck des Vaters wechselt er vom Gymnasium zur

Handelschule

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Emigration Jenő Weiss versucht sich in dieser Zeit zu assimilieren:

bewirbt sich um die deutsche Staatsbürgerschaft,erwägt sogar einen Eintritt in NSDAP und SA!

1934:emigriert die Familie nach England.Besuch der Polytechnic School of Photography

Er malt( Die Maschinen greifen die Menschen an ) und schreibt( Bekenntnis eines großen Malers),eröffnet seine erste Ausstellung in einer Londoner Garage

Hesse wird für ihn wichtig! 1935: übersiedelt die Familie nach Nordböhmen in ein Dorf

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Prag 1936: Emigration nach Prag,wo er bis 1938 an der

Kunstakademie studiert Erhält den Akademiepreis für sein Gemälde

„Gartenkonzert” Weiss stellt Kontakt zu Herman Hesse her,1937 besucht ihn

in Montagnola 1938:nach der Besetzung des Sudetenlandes durch die

deutsche Wehrmacht emigrieren die Eltern nach Schweden,Peter Weiss geht in die Schweiz

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Schweden 1939:Emigration nach Schweden,wo er sich in Stockholm

niederlässt und bis zu seinem Tode lebt Verdient seinen Lebensunterhalt als Textilmusterzeichner

und an privaten Malschulen 1943:heiratet die schwedische Malerin Helga Henschen 1946:erhält die schwedische Staatsbürgerschaft 1947:geht nach Berlin,schreibt 7 Reportagen und den

Prosatext „Die Besiegten” 1949:heiratet Carlota Dethorey,entsteht das Hörspiel

„Rotundan” (dt.:„Der Turm”)

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1952:arbeitet als Lehrbeauftragter an der Stockholmer „Högskola” ,unterrichtet Malerei,Filmtheorie und –praxis und Theorie des Bauhauses; Mikroroman: „Der Schatten des Körpers des Kutschers”

1955:produziert die Experimentalfilme Studie I-V. Bis 1961 dreht 16 Dokumentarfilme 1959:dreht er mit dem Spielfilm „Hägringen/Fata Morgana

sein wohl wichtigtes filmisches Werk 1961:Veröffentlichung des autobiographischen Romans

„Abschied von den Eltern” 1962:Schweizer Charles-Veillon-Preis für den Roman „Der

Fluchtpunkt” 1963:Debüt als Dramatiker mit der Kasperle-Moritat „Nacht

mit den Gästen”

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1964:heiratet die schwedische Gunilla Palmstierna April:die Uraufführung von „Die Verfolgung und Ermordung

Jean Paul Marats, dargestellt durch die Schauspielgruppe des Hospizes zu Charenton unter Anleitung des Herrn de Sade” in West- Berlin

Wird zu einem sensationellen Erfolg Auch in Schweden,Frankreich,England,DDR ,New York wird

das Stück begeistert aufgenommen 1967 wird auch verfilmt.Regisseur:der britische Peter Brook

(Royal Shakespeare Company) 1965:Uraufführung des Oratoriums „Die Ermittlung”-

szenische Dokumentation des Frankfurter Auschwitz-Prozesses

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1966:Heinrich–Mann-Preis Auszeichnung der Deutschen Akademie der Künste, Ost-

Berlin 1967:Uraufführung des politischen Musicels „Der Gesang

vom Lusitanischen Popanz” Teilnahme an Bertrand Russels Tribunal gegen den

Vietnam-Krieg in Stockholm 1970:Uraufführung des Schauspiels „ Trotzki im Exil” in

Düsseldorf 1971:Uraufführung des Stückes „Hölderlin” in Stuttgart 1974:Reise in die Sowjetunion zum Schriftstellerkongress

nach Moskau

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1975-1981:Hauptwerk Nach einer Publikationspause veröffentlicht Weiss den

ersten Band der Trilogie „Die Aesthetik des Widerstands” 1978:der zweite Band 1981:der dritte Band Versuch,die historische und gesellschaftliche Erfahrung der

Zeit 1917 und 1945 sowie ihre ästhetischen und politischen Erkenntnisse darzustellen. Weiss entwirft dabei ein Gesamtbild der europäischen Linken in diesem Zeitraum

1982:bei der Uraufführung seines letzten Theaterstückes „Der neue Prozess” führt Weiss selbst die Regie

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Postum Georg-Büchner Preis 1982:stirbt im Alter von 65 Jahren in Stockholm

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Das Dokumentartheater Dramatische Darstellung historischer Ereignisse und

Personen mit demonstrativem Authentizitätsanspruch. erkennbare Referenz auf Faktisches, empirischer

Wahrheitsanspruch Ziel: politisch Aufklärung über Ereignisse und

Zusammenhänge Kipphardt (1964): "Wenn die Wahrheit von einer Wirkung

bedroht schien, opferte ich eher die Wirkung.“ Unterschied zum Geschichtsdrama: keine Interpretation,

sondern Präsentation des Quelllenmaterials Weiss: Die Ermittlung, Kipphardt: In der Sache J. Robert

Oppenheimer, Hochhuth: Der Stellvertreter Sonderform des politischen Theaters der 1960er Jahre

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es steht in der Tradition Brechts und seines epischen Theaters,das mittels der Bühnenpräsentation dramatischer Werke das Publikum zu politischen Handlungen motivieren wollte

Mehr oder weniger unverändert historisch-authentische Szenen oder Quellen auf die Bühne bringen

Das bekannteste dokumentarische Theaterstück:”Die Ermittlung”

Das Dokumentartheater wurde auch kritisiert:

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Es sei nicht künstlerisch Es wähle die Dokumente subjektiv aus und

verfälsche damit die Wirklichkeit Aber „trotzdem” große öffentliche Resonanz Bedeutung einer Thematisierung verschwiegener

bzw. verdrängter historischer Problemkomplexe

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Die ErmittlungOratorium in 11 Gesängen

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„ zur Endlösung: es ist ja unsere Generation, die etwas davon weiß, die Generation nach

uns kennt es schon nicht mehr. Wir müssen etwas darüber aussagen. Doch wir

können es noch nicht.“

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Frankfurter Auschwitzprozesse 1963-1965

Berichterstattung Bernd Naumanns im FAZ als Quelle nebst eigene Aufzeichnungen

Konzentrat der Verhandlung, keine Darstellung des Lagers oder des Prozesses

Das Werk war bereits abgeschlossen (1964 – 1965), als der Prozess noch lief → kein Prozessstück

18 Angeklagten, 9 (7+2) Zeugen Medium: Bericht

Dokumentartheater gr. Muster: Protagonist berichtet, Chor stellt Fragen und

kommentiert

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„Eine Ortschaft, für die ich bestimmt war und der ich entkam…”

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Auschwitz – Probleme der Darstellung Totalität der Lagerwelt ist nicht darstellbar, nur

Ausschnitte Lineare Darstellung des Leidensweges der

Häftlinge 1.Gesang: Gesang von der Rampe 2.Gesang: Gesang vom Lager 3.Gesang: Gesang von der Schaukel 4.Gesang: Gesang von der Möglichkeit des Überlebens 5.Gesang: Gesang vom Ende der Lili Tofler 6.Gesang: Gesang vom Unterscharführer Stark 7.Gesang: Gesang von der schwarzen Wand 8.Gesang: Gesang vom Phenol 9.Gesang: Gesang vom Bunkerblock10.Gesang: Gesang vom Zyklon B11.Gesang: Gesang von den Feueröfen

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Die Form, die sich eignet

11 jeweils dreiteilige Gesänge Gedanken über ein Welttheater Divina Commedia - die Hölle auf Erden Dok. Theater: Bedürfnis des Publikums: sich

informieren, sich ein neues Weltbild schaffen Sprache der authentischen Angeklagten "Ich hab mich ganz genau an die Aussagen

gehalten, wie sie protokolliert wurden, aber ich habe nichts hinzugedichtet. Es ist also nicht ein Kunstwerk, was nun Dichtung ist, wie man so schön sagt, sondern es ist ein Wirklichkeitsmaterial, das komponiert worden ist nach ganz strengen Kompositionsprinzipien."

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Das Oratorium

Genrebezeichnung Oratorium (bei Weiss immer bewusst): Vorführung dramatisch untereinander verknüpften Szenen mit handelnden Einzelpersonen nebst Chören.

Chor ist bei Wiess: Chor der Angeklagten, Chor der Zeugen

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Verteidiger Wir protestieren auf das Dringlichstegegen diese Angriffe auf unseren MandatenPauschale Beschuldigungensind ohne jegliche BedeutungZur Behandlung stehen nur klar bewiesene Fälle von Täterschaftund Mittäterschaftim Zusammnehang mit MordvorwürfenJeder auch nur leiseste Zweifelmuss zugunsten der Angeklagten ausschlagenDie Angeklagten lachen zustimmend(6.II.)

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Anmerkung„Bei der Aufführung des Dramas soll nicht der Versuch unternommen werden, den Gerichtshof, vor dem die Verhandlungen geführt wurden, zu rekonstruieren.”„Indem die Zeugen im Drama ihre Namen verlieren, werden sie zu bloßen sprachrohren. Die neun Zeugen referieren nur, was hunderte ausdrückten.Die Verschiedenheiten in den Erfahrungen können höchstens angedeutet werden in einer Veränderung der Stimme und Haltung.”

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Verteidiger Herr Zeugewurden Sie einer Behandlung auf dieser Maschieneunterzogen

Zeuge 8 JaVerteidiger Es war also doch möglich dies zu überleben

(3.II.)

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Zeuge 3 Ich spreche frei von HaßIch hege gegen niemanden den Wunschnach RacheIch stehe gleichgültigvor der einzelnen Angeklagtenund gebe nur zu bedenkendaß sie ihr Handwerknicht hätten ausführen könnenohne die Unterstützung von Millionen anderen(11.III.)

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Typisierung und Individualisierung

Anmerkung Aller Anspruch des Individuums erlischt vor der

Realität von Auschwitz. (Vormweg) Chorhaftigkeit Sprache der authentischen Angeklagten Regieanweisungen (zunicken) Angeklagten – A priori eine stärkere

Individualisierung; Charakterisierungsmittel: Sprache

Gemeinsamkeit: Wörter und Floskeln der Schuldreduzierung: nur, bloß, höchstens ; und die „Verdrängung“: Ich kann mich nicht erinnern, ich weiß nicht

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Typisierung und Individualisierung Verteidiger: Arroganz, Menschenverachtung Zeugen der Anklage (vor allem 7) sachliche

Aufheller der Unfassbaren, keine Emotionen ausgedrückt

'Paradox des Zeugens.' (Primo Levi): die Überlebenden können eigentlich gar nicht Auskunft geben über das ganze Ausmaß des Leidens und Schreckens der KZ. 'vollständige' Zeugen wären die Untergegangenen oder die Muselmänner

Zeugen- Kollektiv- und Einzelschicksal; auch im Werk: Lili T., alle Deportierten

Zeuge 3: dominierende Stellung – Beispiel dafür, dass in nuce Charaktere entstehen können

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Entschuldigungsstrategien Die Angeklagten versuchen ihr Handeln zu

verharmlosen, abzustreiten oder zu rechtfertigen Sie...

stellen die Vorwürfe als Lüge dar geben ausweichende Antworten weisen ihre Schuld ab berufen sich darauf, von all dem nichts gewusst zu

haben verkleinern ihre Schuld und weisen darauf hin, dass sie

auch nur ein Rädchen im getriebe gewesen seien verweisen auf Befehlsnotstand stellen ihre eigenen guten Taten (vor, während und nach

Auschwitz) in den Vordergrund stellen sich selbst als Opfer dar berufen sich auf damalige Gesetze und Werte

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Kapitalismuskritik Andeutungen: Konzentrationslager hätten vor

allem den Profitinteressen der deutschen Industrie gedient. (Diese 'Kontinuitätsthese' zwischen Kapitalismus und Faschismus hat anläßlich der ersten Aufführungen des Stücks Empörung ausgelöst.)

Notizen zu D. C. – Kapitalismuskritik Diese Gedanken Haben Die Ermittlung stark geprägt.

Angriffe: diese Behauptungen sind nicht bewiesen – sie sind keine Behauptungen, die Sprachröhre(Zeugen und Angeklagten) sagen sie bloß

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Die Verhandlung der Ermittlung führt zu keinerlei Urteilsfindung

Die Ermittlung setzt ein in medias res und endet ebenso abrupt. → Eindruck eines andauernden, nicht-enden wollenden Vorgangs

Verhandelt wird nicht nur Auschwitz, sondern gleichzeitig diese Verhandlung selbst. Das Drama vollzieht eine Art Kritik an dem Versuch, die zur Verhandlung stehenden Verbrechen gesetzlich in den Griff zu bekommen.