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5 239 5 Kleinhirn 5.1 Äußere Struktur .............. 240 5.2 Innerer Aufbau ............... 243 5.3 Verbindungen des Kleinhirns mit anderen Abschnitten des Nervensystems ............ 246 5.4 Funktionen des Kleinhirns und Kleinhirnsyndrome ........ 251 5.5 Erkrankungen des Kleinhirns .... 256 Bähr, Frotscher, Neurologisch-topische Diagnostik (ISBN 3135358089) © 2003 Georg Thieme Verlag

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5 Kleinhirn

5.1 Äußere Struktur . . . . . . . . . . . . . . 240

5.2 Innerer Aufbau . . . . . . . . . . . . . . . 243

5.3 Verbindungen des Kleinhirnsmit anderen Abschnittendes Nervensystems . . . . . . . . . . . . 246

5.4 Funktionen des Kleinhirnsund Kleinhirnsyndrome . . . . . . . . 251

5.5 Erkrankungen des Kleinhirns . . . . 256

Bähr, Frotscher, Neurologisch-topische Diagnostik (ISBN 3135358089) © 2003 Georg Thieme Verlag

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5 KleinhirnDas Kleinhirn ist ein zentrales Organ für die Feinabstimmung der Motorik:Es verarbeitet Informationen verschiedener Sinneskanäle (insb. vestibuläreund propriozeptive) mit motorischen Impulsen und moduliert dann wie-derum die Aktivität motorischer Kerngebiete in Gehirn und Rückenmark.

Anatomisch setzt sich das Kleinhirn aus zwei Hemisphären und dem me-dial gelegenen Kleinhirnwurm zusammen. Über die drei Kleinhirnstiele ist esmit dem Hirnstamm verbunden. Im Schnittpräparat unterscheidet man dieaußen gelegene Rinde vom darunter gelegenen Mark, das verschiedeneKerngebiete beherbergt. Die Kleinhirnrinde ist vornehmlich für die Integra-tion und Verarbeitung afferenter Impulse zuständig und projiziert zu denKleinhirnkernen. Diese wiederum entsenden den Hauptteil der zerebellärenEfferenzen.

Nach funktionellen (und phylogenetischen) Gesichtspunkten gliedertman das Kleinhirn in Vestibulo-, Spino- und Cerebrocerebellum. Der ältesteAbschnitt, das Vestibulocerebellum, erhält seine Afferenzen v.a. aus demVestibularorgan und dient der Gleichgewichtsregulation. Das Spinocerebel-lum verarbeitet v. a. propriozeptive Impulse der spinozerebellären Bahnenund sorgt für einen reibungslosen Ablauf von Stand und Gang. Der entwick-lungsgeschichtlich jüngste Kleinhirnabschnitt, das Cerebrocerebellum, stehtin enger funktioneller Verbindung mit den motorischen Kortexarealen desTelencephalons und ist für den zielsicheren Ablauf aller hoch differenziertenBewegungen zuständig. Läsionen des Kleinhirns äußern sich entsprechend ingestörten Bewegungsabläufen und Gleichgewichtsstörungen.

5.1 Äußere Struktur

Das Kleinhirn liegt in der hinteren Schädelgrube und wird vom Tentorium cere-belli überdacht, einer zeltförmigenDuraduplikatur, die es vomGroßhirn trennt.

Die Oberfläche des Kleinhirns (Abb. 5.1) weist im Gegensatz zum Großhirnzahlreiche schmale, regelmäßig quer verlaufende Windungen (Foliae) auf, diedurch Furchen (Fissurae cerebelli) voneinander getrennt sind. Den mittlerenschmalen Kleinhirnanteil, der die beiden seitlich liegenden Kleinhirnhemi-sphärenmiteinander verbindet, hat man wegen seiner wurmähnlichen GestaltVermis genannt.

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An der Vorder- und Unterseite des Kleinhirns (Abb. 5.2) erkennt man zwi-schen den Kleinhirnstielen den oberen Anteil des IV. Ventrikels. Dieser kom-muniziert seitlich durch jeweils eine Apertura lateralis ventriculi quarti (Fora-men Luschkae) und median über eine Apertura mediana ventriculi quarti (Fora-men Magendii) mit dem äußeren Liquorraum (Subarachnoidalraum). Kaudalvon den unteren und mittleren Kleinhirnstielen findet sich ein paariges Ge-bilde, das als Flocculus bezeichnet wird und mit einem Wurmanteil, dem sog.Nodulus, in Verbindung steht. Beide werden zum Lobus flocculonodularis zu-sammengefasst.

Die verschiedenen Wurm- und Hemisphärenanteile haben durch die altenAnatomen zahlreiche Namen erhalten (wie z. B. Culmen, Declive etc.), die zwarin Abb. 5.1 und 5.2 enthalten, aber funktionell und klinisch ohne größere Be-deutung sind. Heute unterscheidet man anhand phylogenetischer und funktio-neller Kriterien drei verschiedene Kleinhirnanteile:

Das Archicerebellum (Urkleinhirn) ist eng mit dem Vestibularapparat verbun-den und besteht in erster Linie aus Nodulus und Flocculus. Dieser als Lobusflocculonodularis bezeichnete Kleinhirnanteil ist phylogenetisch am ältesten.Da er seine Afferenzen vornehmlich aus den Vestibulariskernen erhält, wird erauch als Vestibulocerebellum bezeichnet. In diesem Kapitel wird nachfolgendnur dieser Begriff weiter verwendet.

Das Paleocerebellum (Altkleinhirn) erhält seine Afferenzen vorwiegend ausdem Spinalmark und wird deshalb auch Spinocerebellum (im Folgenden ver-wendeter Begriff) genannt. Es besteht aus den Wurmanteilen Culmen und Lo-bus centralis, die zum Vorderlappen, Lobus anterior, gehören (Abb. 5.1), sowieaus Uvula und Pyramis des unteren Wurmanteils (Vermis inferior). Dazukommt noch der sog. Paraflocculus. Etwas vereinfachend kann man festhalten,dass sich das Spinocerebellum aus dem Hauptteil des Kleinhirnwurmes undder paravermalen Zone (Pars intermedialis) zusammensetzt.

Das Neocerebellum (Neukleinhirn) ist der größte Teil des Kleinhirns und hatsich phylogenetisch zuletzt mit der Entfaltung des Großhirns und der Fähigkeitdes aufrechten Ganges entwickelt. Es wird von den beiden Kleinhirnhemisphä-ren (Pars lateralis cerebelli) gebildet und steht in enger Verbindung mit derGroßhirnrinde, die über die pontinen Kerne in das Neocerebellum projiziert.Aus diesem Grund wird das Neocerebellum auch Pontocerebellum oder Cere-brocerebellum (im Folgenden verwendeter Begriff) genannt.

5.1 Äußere Struktur ·

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Abb. 5.1 Kleinhirn, Ansicht von oben. Linke Seite: Gliederung in Vermis, Pars intermedialis undPars lateralis. Rechte Seite: Gliederung in Vermis, Lobus anterior und Lobus posterior. Lobus ante-rior und Lobus posterior werden durch die Fissura prima voneinander getrennt.

Abb. 5.2 Kleinhirn, Ansicht von unten

· 5 Kleinhirn

Culmen

Lobulus centralis

Lingula

Velum medullare superius

Paraflocculus

Lobus anterior

Fissura postero-lateralis

Vermisinferior

Flocculus

Nodulus

Lobusflocculo-

nodularis

Aperturalateralis

ventriculiquarti

Pedunculus cerebellarissuperiormediusinferior

Ventriculus IV

UvulaPyramisTuberTonsilla cerebelli

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5.2 Innerer Aufbau

Obwohl das Kleinhirn gewichtsmäßig nur 10 % des Gesamthirns ausmacht,enthält es mehr als 50 % aller Gehirnneurone. Diese Neurone verteilen sich aufdie graue Substanz der stark gefalteten Kleinhirnrinde und der vier verschiede-nen Kleinhirnkerne bzw. Kerngruppen (s. u.).

Kleinhirnrinde

Die Kleinhirnrinde setzt sich aus drei Schichten zusammen (Abb. 5.3). Von au-ßen nach innen unterscheidet man:

Molekularschicht (Stratum moleculare). Diese Schicht besteht überwiegendaus Fasern (vor allem aus den Axonen der Körnerzellen, den Parallelfasern, s. u.,und den Dendritenbäumen der Purkinjezellen). Dazwischen finden sich ein-zelne wenige Neurone (Sternzellen, Korbzellen, Golgizellen), die als inhibitori-sche Interneurone fungieren.

Purkinjezellschicht (Stratum ganglionare). Diese Schicht besteht lediglich ausden Seite an Seite in einer Reihe angeordneten großen Zellkörpern der Purkin-jezellen. Die mächtigen, weit verzweigten Dendritenbäume dieser Zellen sindnach außen in die Molekularschicht gerichtet, wo sie sich in einer Ebene senk-recht zum Verlauf der Foliae ausbreiten. Die Axone der Purkinjezellen bildendie einzigen Efferenzen der Kleinhirnrinde. Sie projizieren überwiegend aufdie Kleinhirnkerne, deren Zellen sie mit ihrem Transmitter GABA (Gamma-Aminobuttersäure) hemmend beeinflussen. Daneben gehen vom Vestibuloce-rebellum auch Efferenzen aus, die unter Umgehung der Kleinhirnkerne direktnach extrazerebellär projizieren.

Körnerzellschicht (Stratum granulosum).Diese Schicht besteht fast ausschließ-lich aus den dicht gepackten Perikaryen der kleinen Körnerzellen, die mehr als95% aller zerebellären Neurone ausmachen. Die Axone dieser Zellen sind vor-nehmlich in die Molekularschicht gerichtet, wo sie als Parallelfasern dem Ver-lauf einzelner Foliae folgen und mit den senkrecht dazu stehenden Dendriten-bäumen der Purkinjezellen Synapsen bilden (ca. 200 000 Parallelfasern endenan einer Purkinjezelle). Die zerebellären Körnerzellen sind glutamaterg undwirken als einzige Zellen der Kleinhirnrinde erregend auf ihre Zielzellen.

Afferenzen zur Kleinhirnrinde

Die afferenten Faserverbindungen zur Kleinhirnrinde stammen vorwiegendaus den ipsilateralen Vestibulariskernen (z. T. sogar direkt aus dem Vestibularor-

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Abb. 5.3 Aufbau der Kleinhirnrinde mit den afferenten und efferenten Verbindungen, schemati-sche Darstellung.

gan ohne synpatische Umschaltung in den Vestibulariskernen), dem ipsilatera-len Rückenmark, den kontralateralen pontinen Kernen (und damit indirekt ausder kontralateralen Großhirnrinde) und dem kontralateralen Olivenkernkom-plex (kurz: Olive) in der Medulla oblongata. Die Fasern aus der Olive enden alssog. Kletterfasern an den Purkinjezellen der Kleinhirnrinde, an deren Dendri-tenbäumen sie sich schlingpflanzenartig emporranken. Alle übrigen Afferen-zen enden alsMoosfasern an den Körnerzellen der Kleinhirnrinde, die die ent-sprechenden Impulse in modulierter Form über ihre Axone (Parallelfasern inder Molekularschicht) an die Dendriten der Purkinjezellen weitergeben. So-

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wohl Moos- als auch Kletterfasern geben auf ihrem Weg zur Rinde wichtigeKollateralen an die Kleinhirnkerne ab.

Es gibt noch eine dritte Sorte vornehmlich in die Rinde projizierender Affe-renzen, die aus monoaminergen Hirnstammkernen der Formatio reticularisstammen (v.a. aus den serotoninergen Raphe-Kernen und dem noradrenergenLocus coeruleus). Die entsprechenden Impulse haben eine weitreichende erre-gungsmodulierendeWirkung auf die Kleinhirnneurone, sind aber wahrschein-lich nicht direkt in die unten beschriebenen intrazerebellären Neuronenschalt-kreise eingebunden.

Da nicht nur die Moosfasern, sondern auch die Körnerzellen (und damitmehr als 90% aller Kleinhirnneurone) glutamaterg sind, ist es verständlich,dass man bei Kleinhirnkranken eine deutliche Verschlechterung der Kleinhirn-funktion bei der Gabe von Glutamatantagonisten beobachten kann.

Kleinhirnkerne

Im Horizontalschnitt erkennt man in jeder Kleinhirnhälfte vier Kerngebiete(s. Abb. 5.5). Ganz medial im Dach des IV. Ventrikels liegt der Nucleus fastigii(„Dachkern“). Afferente Fasern erhält er vor allem von Purkinjezellen des Lobusflocculonodularis (Vestibulocerebellum). Seine efferenten Fasern ziehen direktzu den Vestibulariskernen (Tractus fastigiobulbaris) (Abb. 5.5) oder kreuzen aufdie Gegenseite des Kleinhirns, um von dort zur Formatio reticularis und zu denVestibulariskernen zu gelangen (Fasciculus uncinatus).

Etwas lateral vom Nucleus fastigii liegen zwei kleinere Kerngebiete, der Nu-cleus globosus (meist geteilt in 2–3 Nuclei globosi) sowie der Nucleus emboli-formis. Beide Kerngebiete erhalten Zuflüsse aus der Rinde der paravermalenZone und z. T. des Vermis (Spinocerebellum) und projizieren efferent zum Nu-cleus ruber der Gegenseite (Abb. 5.5).

Im Mark der Kleinhirnhemisphären liegt schließlich lateral der größte derKleinhirnkerne, derNucleus dentatus. Dieser erhält seine Zuflüsse vornehmlichvon der Rinde der Kleinhirnhemisphären (Cerebrocerebellum), im geringerenMaße auch von der Rinde der paravermalen Zone. Er projiziert efferent überden Pedunculus cerebellaris superior zum Nucleus ruber der Gegenseite sowiezum Thalamus (Nucleus ventralis lateralis thalami) (Abb. 5.5). Hier erfolgt eineUmschaltung zur motorischen Großhirnrinde (Area 4 und 6) (Abb. 6.4, S. 266).

Verschaltung von Kleinhirnrinde und Kleinhirnkernen

Die neuronale Verschaltung innerhalb des Kleinhirns erfolgt nach einem ein-heitlichen Muster (Abb. 5.4): Die Kleinhirnafferenzen projizieren zur Klein-hirnrinde und mit Kollateralen zu den Kleinhirnkernen. In der Rinde werden

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Abb. 5.4 Prinzip der neuronalen Verschaltung innerhalb des Kleinhirns

die afferenten Informationen über mehrere komplex verschaltete Neuroneverarbeitet, deren Efferenzen schließlich auf die Purkinjezellen konvergieren.Diese wiederum leiten das Ergebnis dieses Verarbeitungsprozesses in Form in-hibitorischer (GABAerger) Impulse zu den Kleinhirnkernen weiter. Dort wer-den ursprüngliche (aus den Kollateralen der Kleinhirnafferenzen) und modu-lierte Informationen (von den Purkinjezellen/aus der Rinde) integrierend ver-arbeitet und in Form der Kleinhirnefferenzen zu den Zielen zerebellärer Pro-jektionen weitergeleitet.

5.3 Verbindungen des Kleinhirns mit anderenAbschnitten des Nervensystems

Alle für die Orientierung wichtigen Sinne (v.a. vestibuläre, taktile und proprio-zeptive, selbst visuelle und auditorische) projizieren zum Kleinhirn. Es erhältalso über die drei Kleinhirnstiele Meldungen aus sehr weiten Bereichen desNervensystems und ist durch die Kleinhirnkerne im Nebenschluss mit allenmotorischen Systemen verbunden.

Im Folgenden sei die Vielzahl der afferenten und efferenten zerebellärenVerbindungen sowie deren Verteilung auf die drei Kleinhirnstiele dargestellt.Eine schematische Darstellung der wichtigsten Bahnen zeigt Abb. 5.5.

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5.3 Verbindungen des Kleinhirns mit anderen Abschnitten des Nervensystems ·

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Pedunculus cerebellaris inferior

Durch den unteren Kleinhirnstiel (Corpus restiforme) ziehen afferent:� Fasern vom N. vestibulocochlearis sowie von den Nuclei vestibulares zum Lo-

bus flocculonodularis und zum Nucleus fastigii (Abb. 5.5);� Axone von der kontralateralen Olive, die als Tractus olivocerebellaris über

Kletterfasern direkt zu den Dendriten der Purkinjezellen des gesamtenKleinhirns gelangen (wobei der Nucleus olivaris inferior vor allem zum Ce-rebrocerebellum projiziert, die Nuclei olivares accessorii hingegen zumVes-tibulo- und Spinocerebellum);

� der Tractus spinocerebellaris posterior, der seinen Ursprung an Zellen desNucleus dorsalis (Ncl. thoracicus, Clarke-Nucleus) an der Basis des Hinter-horns nimmt (Abb. 2.16 und 2.17, S. 42 f.); dieser Tractus übermittelt vor al-lem Impulse von den Muskelspindeln der Beine und des Rumpfes zur para-vermalen Zone des Vorder- und Hinterlappens;

� Axone, die von Kernen des Zervikalmarkes oberhalb des Nucleus thoracicusausgehen, im lateralen Anteil des Fasciculus cuneatus aszendieren und imNucleus cuneatus accessorius der Medulla oblongata umgeschaltet werden;sie verlaufen zusammen mit den Axonen des Tractus spinocerebellaris pos-terior zum Kleinhirn;

� Fasern von der Formatio reticularis (nicht dargestellt in Abb. 5.5).

Durch den Pedunculus cerebellaris inferior ziehen efferent:� als größte Bahn der Tractus fastigiobulbaris zum Vestibulariskerngebiet; er

schließt damit einen vestibulozerebellären Regelkreis, über den das Klein-hirn Einfluss auf die spinale Motorik gewinnt);

� Fasern aus demNucleus fastigii zur Formatio reticularis (Tractus cerebellore-ticularis) sowie aus dem Nucleus dentatus zur Olive (Tractus cerebellooliva-ris).

Pedunculus cerebellaris medius

Durch den ausschließlich Afferenzen führenden mittleren Kleinhirnstiel (Bra-chium pontis) ziehen die Fasern des� Tractus pontocerebellaris nach Kreuzung in der Brücke als dickes Bündel zur

Kleinhirnrinde der Hemisphären. Diese Fasern nehmen ihren Ausgang vonden Nuclei pontis der Brückenbasis (= des Brückenfußes) und bilden damitdie Fortsetzung der im Pons verschalteten kortikozerebellären Projektio-nen, die von allen Großhirnlappen, besonders aber von den frontalen Zen-tren ihren Ursprung nehmen. Nach Verschaltung in den Nuclei pontis kreu-zen die Fasern direkt zur Gegenseite.

· 5 Kleinhirn

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� Weitere afferente Fasern gelangen von den monoaminergen Raphe-Kernendurch den mittleren Kleinhirnstiel zum Cerebellum.

Pedunculus cerebellaris superior

Efferente Bahnen. Durch den oberen Kleinhirnstiel (Brachium conjunctivum)verläuft der Hauptteil der zerebellären Efferenzen. Sie nehmen ihren Ursprungin den Kleinhirnkernen und sind vorwiegend in folgende Zentren gerichtet:� den kontralateralen Thalamus (Nucleus ventralis lateralis thalami und Nu-

cleus centromedianus, Abb. 6.4 und 6.6, S. 266 ff.);� den kontralateralen Nucleus ruber;� die Formatio reticularis.

Efferenzen zum Thalamus. Die zum Thalamus gerichteten Fasern des oberenKleinhirnstiels stammen v.a. aus dem Nucleus dentatus (Cerebrocerebellum).Vom Thalamus gelangen die Impulse weiter zur motorischen und prämotori-schen Großhirnrinde, von der wiederum ein Teil des Tractus corticopontinusausgeht. Es wird dadurch ein großer Regelkreis geschlossen, der von der Groß-hirnrinde über die Brückenkerne zur Kleinhirnrinde und von dort aus über denNucleus dentatus und den Thalamus zurück zum Kortex verläuft (Abb. 5.5und 5.6).

Efferenzen zu Nucleus ruber und Formatio reticularis. Ein weiterer Regelkreisschließt das Guillain-Mollaret-Dreieck ein und verläuft über: Nucleus ruber –zentrale Haubenbahn (Tractus tegmentalis centralis) – Olive – Kleinhirn zu-rück zum Nucleus ruber (Abb. 5.7). Über die spinalwärts ziehenden Fasern ausNucleus ruber und Formatio reticularis gewinnt das Kleinhirn Einfluss auf diespinale Motorik (vgl. Abb. 3.5, S. 62).

Afferente Bahnen. Als eine der ganz wenigen afferenten Bahnen zieht derTractus spinocerebellaris anterior durch den oberen Kleinhirnstiel, um im glei-chen Gebiet (Spinocerebellum) wie der Tractus spinocerebellaris posterior zuenden. Beide vermitteln propriozeptive Impulse von der Peripherie, also vonMuskelspindeln, Golgi-Sehnenorganen und Gelenkrezeptoren.

Ganz medial im oberen Kleinhirnstiel, bereits im Bereich des Velummedul-lare superius, ziehen Fasern vom Tectum als Tractus tectocerebellaris mit audi-torischen (von den Colliculi inferiores) und wahrscheinlich auch visuellen (vonden Colliculi superiores) Impulsen zum Kleinhirnwurm.

Topik der Kleinhirnefferenzen

Jede Kleinhirnhälfte beeinflusst die Motorik der ipsilateralen Körperhälfte, dadie efferenten Fasersysteme z. T. doppelt kreuzen: So kreuzen sowohl der

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Abb. 5.6 Zerebellärer Regelkreisüber die Brückenkerne

Abb. 5.7 Zerebellärer Regelkreis über die Olive mit Guillain-Mollaret-Dreieck, das vom Nucleusruber über den Tractus tegmentalis centralis, die Olive und das Cerebellum zum Nucleus ruber zu-rückführt.

· 5 Kleinhirn

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Tractus cerebellorubralis nach Eintritt in den Hirnstamm von dorsal als auchder Tractus rubrospinalis unmittelbar nach Austritt aus demNucleus ruber (Fo-rel-Kreuzung). Ebenso kreuzen die cerebellothalamischen Fasern, deren Im-pulse nach Umschaltung im Thalamus ungekreuzt zum Kortex gelangen, vondort aus über die Pyramidenbahn aber wiederum zur Gegenseite – und damitauf die ursprüngliche Seite – wechseln.

5.4 Funktionen des Kleinhirnsund Kleinhirnsyndrome

Drei wichtige Punkte müssen für das Verständnis der Funktion des Kleinhirnshervorgehoben werden:� Das Kleinhirn erhält ausgesprochen viele sensible und sensorische Zuflüsse,

spielt aber bei der bewussten Reizwahrnehmung und -diskrimination keinebedeutende Rolle.

� Das Kleinhirn beeinflusst die Motorik; Kleinhirnläsionen gehen aber nichtmit Lähmungen einher.

� Das Kleinhirn ist zwar für die Mehrzahl kognitiver Vorgänge unwesentlich,besitzt aber dennoch für motorisches Lernen und motorisches Gedächtniseine herausragende Bedeutung.

ImWesentlichen ist das Kleinhirn ein Koordinationszentrum, das durch Regel-kreise und komplizierte Rückkopplungsmechanismen der Gleichgewichtser-haltung und der Kontrolle des Muskeltonus dient sowie für eine präzise undzeitgerechte Ausführung aller zielmotorischen Aktivitäten sorgt. Die erforder-lichen Koordinationsvorgänge laufen dabei vollkommen unbewusst ab.

Den einzelnen Abschnitten des Kleinhirns (Vestibulo-, Spino-, Cerebrocere-bellum) kommen bei der Koordination der Motorik jeweils unterschiedlicheAufgaben zu. Mithilfe experimenteller Untersuchungen ist es gelungen, dieseFunktionen zu präzisieren, auch aus der Beobachtung heraus, dass bei Läsionendefinierter Kleinhirnabschnitte unterschiedliche neurologische Ausfälle resul-tieren. In Reinform kommen die nachfolgend beschriebenen Symptomkom-plexe im üblichen Verlauf einer Kleinhirnerkrankung jedoch relativ selten vor,da Krankheitsprozesse nur in Ausnahmefällen auf einen der drei Kleinhirnab-schnitte begrenzt bleiben und langsam progrediente Prozesse, wie z. B. dasWachstum eines gutartigen Tumors, lange Zeit kompensiert werden können.Andere Anteile des Gehirns sind offensichtlich in der Lage, bestimmte Klein-hirnfunktionen zu übernehmen. Sind allerdings die Kleinhirnkernemit geschä-digt, ist die Rückbildung der Funktionsstörung nur im geringen Maße möglich.

5.4 Funktionen des Kleinhirns und Kleinhirnsyndrome ·

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Aus Gründen der Übersichtlichkeit ist es dennoch hilfreich, die Funktionenvon Vestibulo-, Spino- und Cerebrocerebellum sowie typische klinische Symp-tome bei deren Läsion separat für jeden der genannten Kleinhirnabschnitte zubeschreiben.

Vestibulocerebellum

Funktion. Vom Vestibularapparat erhält das Vestibulocerebellum Impulse, dieüber die Stellung des Kopfes im Raum und über die Bewegungen des Kopfesorientieren. Durch seine Efferenzen vermag das Vestibulocerebellum die oku-läre und spinale Motorik synergistisch so zu beeinflussen, dass bei jeder Hal-tung und Bewegung das Gleichgewicht erhalten bleibt.

Verschaltung. Für die Aufrechterhaltung des Gleichgewichts sorgt v.a. folgen-der Reflexbogen: Vom Gleichgewichts- (Vestibular-)organ verlaufen die Im-pulse sowohl direkt als auch indirekt über die Vestibulariskerne zur vestibulo-zerebellären Rinde und weiter zum Nucleus fastigii. Von der vestibulozerebel-lären Rinde gelangen die Kleinhirnimpulse zurück zu den Vestibulariskernensowie zur Formatio reticularis und nehmen über den Tractus vestibulospinalis,den Tractus reticulospinalis und den Fasciculus longitudinalis medialis Einflussauf die spinale Motorik und die Okulomotorik (Abb. 5.5, S. 247). Auf dieseWeise werden Stand und Gang sowie die Augenstellung stabilisiert und dieBlickfixation gewährleistet.

Läsion des Vestibulocerebellums

Bei Erkrankungen des Lobus flocculonodularis oder des Nucleus fastigii hat derBetroffene Schwierigkeiten, sich im Schwerefeld der Erde zu orientieren undbei Eigenbewegungen seinen Blick auf fest stehende Objekte zu fixieren.

Gleichgewichtsstörungen. Der Patient ist unsicher beim Stehen (Astasie) undGehen (Abasie). Sein Gangwird schwankend und breitbeinig wie bei einem Be-trunkenen (Rumpfataxie), der Seiltänzergang ist nicht mehr möglich. Die Unsi-cherheit beruht nicht auf einer Minderung der zum Bewusstsein gelangendenpropriozeptiven Impulse, sondern auf einer mangelhaften Koordination derMuskulatur bei der Auseinandersetzung mit der Schwerkraft.

Störungen der Okulomotorik, Nystagmus. Zerebellär bedingte Störungen derOkulomotorik äußern sich in einer Störung der Blickstabilisation auf bewegtenoder ruhenden Blickzielen (Läsion des Flocculus/Paraflocculus). Die Folgensind eine Sakkadierung der Blickfolge sowie ein Blickrichtungsnystagmus: Fi-xiert der Patient ein bewegtes Objekt, lässt sich ein vermehrtes Gegenruckenseiner Bulbi beobachten (Square Wave Jerks), d. h. die Amplitude der auch beim

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Gesunden vorhandenen, aber normalerweise nicht sichtbaren Mikrosakkadenist vergrößert. Der Blickrichtungsnystagmus tritt insbesondere bei Bulbusbe-wegungen zur Seite der Kleinhirnläsion auf und kann sich bei anhaltendemBlick zur Seite leichtgradig abschwächen; kehren die Augen zur Mittellinie zu-rück, kommt es u. U. zu einer Umkehrung der Schlagrichtung, was als Rebound-Nystagmus bezeichnet wird.

Ferner kann bei Läsion des Vestibulocerebellums der vestibulo-okuläre Re-flex (VOR) (S. 191) nicht unterdrückt werden: Bei Drehbewegungen des Kopfeskommt es zu einem sakkadischen Gegenrucken der Augen. Bei Fixation auf einBlickziel kann der Gesunde dieses Gegenrucken unterdrücken, ein Patient miteiner Läsion des Vestibulocerebellums kann es nicht (gestörte Fixationssup-pression des VOR). Läsionen von Nodulus und Uvula vermindern ferner die Fä-higkeit zur Habituation des VOR (also des rotatorischen Nystagmus) und kön-nen zum Auftreten eines periodisch alternierenden Nystagmus führen, der ca.alle 2–4 Minuten die Schlagrichtung wechselt.

Daneben können bei Kleinhirnläsionen sehr komplexe Nystagmen wie z. B.ein Opsoklonus (rasche konjugierte Hin- und Herbewegungen der Bulbi in ver-schiedenen Ebenen) oder ein Ocular Flutter (Opsoklonus nur in der horizonta-len Ebene) auftreten, deren lokalisatorische Zuordnung nicht eindeutig geklärtist.

Spinocerebellum

Funktion. Das Spinocerebellum kontrolliert den Muskeltonus und gewährleis-tet ein reibungsloses Zusammenspiel antagonistischer Muskelgruppen beimGehen und Stehen. Es nimmt über seine Efferenzen Einfluss auf die Aktivitätvon Muskeln, die der Schwerkraft entgegenwirken, und kontrolliert bewe-gungsinduzierte Kräfte (z. B. Trägheit oder Fliehkraft).

Verschaltung. Die Rinde des Spinocerebellums erhält ihre Zuflüsse vom Rü-ckenmark über den Tractus spinocerebellaris posterior, den Tractus spinocere-bellaris anterior und den Tractus cuneocerebellaris (vom Nucleus cuneatus ac-cessorius). Die Rinde der paravermalen Zone projiziert dann vor allem zumNu-cleus emboliformis und globosus, die Rinde des Vermis vor allem zum Nucleusfastigii. Die Efferenzen dieser Kerne gelangen über den Pedunculus cerebellarissuperior zum Nucleus ruber sowie zur Formatio reticularis und nehmen überden Tractus rubrospinalis, rubroreticularis und reticulospinalis Einfluss auf diespinalen Motoneurone (Abb. 5.5). Jede Körperhälfte wird dabei von der ipsila-teralen Kleinhirnrinde angesteuert, es besteht jedoch keine strenge somatoto-pische Anordnung. Neuere Befunde legen eher das Vorliegen einer fleckförmi-gen Organisation nahe.

5.4 Funktionen des Kleinhirns und Kleinhirnsyndrome ·

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Ein Teil der Efferenzen des Nucleus emboliformis erreicht über den Thala-mus den motorischen Kortex, v.a. Neurone, die die proximale Extremitäten-(Becken- und Schultergürtel-) und Rumpfmuskulatur ansteuern. Über diesenWeg nimmt das Spinocerebellum auch Einfluss auf die willkürliche Zielmotorikdieser Muskelgruppen.

Läsionen des Spinocerebellums

Die herausragenden Symptome bei einer Schädigung des Kleinhirnwurms undder paravermalen Zone sind:

Bei einer Läsionmittelliniennaher Anteile des Lobus anterior und des Oberwur-mes sind Gang und Stand beeinträchtigt, wobei die Gangataxie stärker ausge-prägt ist als die Standataxie. Der Betroffene weist ein breitbasig-ataktischesGangbild auf und hat eine Fallneigung zur Seite der Läsion bzw. weicht beimGehen in diese Richtung ab. Im Romberg-Versuch wird auch eine Standunruhedeutlich: Bei einem leichten Stoß gegen die Brust beginnt der Patient mit einerTremorfrequenz von 2–3 Hz vorwärts und rückwärts zu schwanken. Der Fin-ger-Nase- und auch der Knie-Hacke-Versuch können bei streng auf den Ober-wurm begrenzter Läsion sicher sein.

Bei einer Läsion im Unterwurm überwiegt die Standataxie gegenüber derRumpfataxie: Der Patient sitzt und steht unsicher, im Romberg-Versuchschwankt er ohne Richtungspräferenz langsam hin und her.

Cerebrocerebellum

Verschaltung. Das Cerebrocerebellum erhält den Großteil seiner Zuflüsse indi-rekt von ausgedehnten Gebieten der Großhirnrinde, v.a. von den Brodmann-Areae 4 und 6 (motorischer und prämotorischer Kortex) über den Tractus corti-copontinus (Abb. 5.6, S. 250), in geringerem Ausmaß von den Oliven über denTractus olivocerebellaris (Abb. 5.7, S. 250). Von jeder in der Großhirnrinde ge-planten Willkürbewegung erhält das Kleinhirn im voraus Meldung und kannsofort über die dentato-thalamo-kortikale Bahn (Abb. 5.5, S. 247, und Abb. 5.6),die im motorischen Kortex endet, modifizierend und korrigierend auf alle mo-torischen Bewegungsimpulse einwirken. Der Nucleus dentatus projiziert auchzum parvozellulären Anteil des Nucleus ruber. Dieser Teil des Kernes leitetseine Impulse nicht über den Tractus rubrospinalis ins Rückenmark weiter,sondern ist über den Tractus tegmentalis centralis mit der Oliva inferior ver-bunden. Die Oliva inferior projiziert wiederum zurück zum Cerebrocerebel-lum. Diese dentato-rubro-olivo-zerebelläre Neuronenschleife dient der rück-koppelnden Weiterverarbeitung der neozerebellären Impulse.

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Funktion. Durch seine komplexe Verschaltung gewährleistet das Cerebrocere-bellum einen glatten und präzisen Ablauf aller Zielbewegungen. Zeitgleich er-hält es über die sehr rasch leitenden spinozerebellären Bahnen fortlaufendMeldungen über die motorischen Aktivitäten in der Peripherie. Auf dieseWeise kann es aus Fehlern im Ablauf der Willkürbewegungen lernen und Kor-rekturen vornehmen, bis alle Bewegungen reibungslos und zielsicher ablaufen.Wahrscheinlich werden im Laufe des Lebens die Ablaufschemata verschiede-ner Bewegungsmuster im Kleinhirn wie in einem Computer gespeichert. Dortkönnen sie jederzeit abgerufen werden. So ist es möglich, dass wir unter derpräzisen Kontrolle des Kleinhirns ab einem bestimmten Entwicklungsstadiumalle eingeübten diffizilen Bewegungsmuster rasch und ohne größere Überle-gung bzw. Anstrengung ausführen können.

Über diese koordinativen Funktionen hinaus hat das Kleinhirn offenbar einewichtige Bedeutung bei der Verarbeitung sensorischer Stimuli sowie für dieVerarbeitung gedächtnisrelevanter Informationen. Auf diese Aspekte kannaber im Rahmen dieses Buches nicht näher eingegangen werden.

Läsion des Cerebrocerebellums

Aus den letzten Abschnitten geht hervor, dass ein Ausfall des Cerebrocerebel-lums keine Lähmungen zur Folge hat, es resultiert aber eine schwere Störungbei der Durchführung von Willkürbewegungen. Die Symptome manifestierensich immer ipsilateral zur Seite der Läsion:

Dekomposition von Willkürbewegungen. Die Bewegungen der Extremitätensind ataktisch und unkoordiniert – im Einzelnen sind eine Dysmetrie, Dyssyn-ergie, Dysdiadochokinese und ein Intentionstremor zu beobachten. Die Armesind stärker als die Beine und komplexe mehr als einfache Bewegungen betrof-fen. Die Dysmetrie, d. h. die Unfähigkeit, eine Zielbewegung rechtzeitig zustoppen, führt dazu, dass z. B. der Finger bei einer Zielbewegung über das Zielhinausschießt (Hypermetrie). Die Dyssynergie macht das exakte Zusammen-spiel verschiedener Muskelgruppen zur Durchführung einer bestimmten Be-wegung unmöglich. Die an einer Bewegung beteiligten Muskelgruppen wer-den jede für sich, aber nicht gemeinsam innerviert. Aufgrund derDysdiadocho-kinese gelingt das rasche Zusammenspiel antagonistischer Muskelgruppennicht. Die Bewegungen, z. B. bei rascher Pro- und Supination der Hände, sindlangsam, stockend und arrhythmisch. Der Intentions- – besser Aktionstremor– tritt vor allem bei Zielbewegungen auf und wird um so stärker, je mehr sichder Finger dem Ziel nähert. Außerdem kann ein Haltetremor mit einer Fre-quenz von 2–3 Hz beobachtet werden, insbesondere bei dem Versuch, die pro-nierten Hände gestreckt geradeaus zu halten.

5.4 Funktionen des Kleinhirns und Kleinhirnsyndrome ·

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Rebound-Phänomen.Wenn der Krankemit voller Kraft gegen die Hand des Un-tersuchers drückt und dieser dann plötzlich seine Hand wegzieht, fehlt die so-fortige Bremsung. Der Arm des Kranken schlägt weit aus.

Muskelhypotonie und Hyporeflexie. Nach akuter Hemisphärenläsion ist dermuskuläre Widerstand bei passiver Dehnung gemindert, und es kann zu ab-normen Haltungen, z. B. der Hand, kommen. Die Eigenreflexe der hypotonenMuskeln sind ebenfalls gemindert.

Skandierende Sprache und Dysarthrophonie. Diese tritt vorwiegend bei para-vermalen Läsionen aufgrund der fehlenden Synergie der Sprechmuskulaturauf. Das Sprechen erfolgt langsam, stockend, schlecht artikuliert und mit un-gleicher Betonung der einzelnen Silben.

5.5 Erkrankungen des Kleinhirns

Zerebelläre Ischämien und Blutungen

Die Versorgung des Kleinhirns erfolgt über die drei Kleinhirnarterien (A. cere-belli inferior posterior, A. cerebelli inferior anterior sowie A. cerebelli supe-rior). Ursprung, anatomischer Verlauf sowie typische klinische Symptome beieinem Verschluss einzelner Kleinhirnarterien sind im Gefäßkapitel auf S.429 ff. beschrieben. Das typische klinische Bild einer Kleinhirnblutung ist auf S.481 f. dargestellt.

Kleinhirntumoren

Kleinhirntumoren sind selten auf einen Kleinhirnabschnitt beschränkt.

Gutartige Kleinhirntumoren (wie z. B. pilozystische Astrozytome) können in-sofern problematisch werden, als sie infolge der Plastizität des Kleinhirns erstdann zerebelläre Symptome auslösen, wenn der Tumor bereits eine beachtli-che Größe erreicht hat. Eine Stauungspapille als indirekter Hinweis auf eine in-trakranielle Raumforderung kann bei Erwachsenen lange Zeit fehlen, findetsich bei Kindern aber in ca. 75 % der Fälle. In der Mehrzahl der Fälle (90 %) ma-nifestieren sich Kleinhirntumoren initial durch okzipito-zervikal betonte Kopf-schmerzen und Nüchternerbrechen. Eine Kopfzwangshaltung ist klinischesZeichen einer drohenden Einklemmung der Kleinhirntonsillen im Hinter-hauptsloch.

DasMedulloblastom ist ein maligner Tumor, der bevorzugt im Kindes- und Ju-gendalter auftritt und in dieser Alterklasse 1/3 aller Hirntumoren ausmacht

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(bezogen auf alle Altersklassen beträgt seine Häufigkeit 8 %). Das Medulloblas-tom wächst initial häufig flächig vom Dach des IV. Ventrikels in den Wurman-teil des Lobus flocculonodularis hinein und kann über den Subarachnoidal-raum nach intrakraniell und spinal metastasieren. Weil der Tumor häufig vomVestibulocerebellum ausgeht, kommt es klinisch typischerweise zu Gleichge-wichtsstörungen. Das betroffene Kind geht breitbeinig, torkelnd und schwanktvon einer Seite zur anderen. Erst wenn der Tumor auf die seitlichen Kleinhirn-anteile übergreift, kommen allmählich die übrigen zerebellären Symptomewie Ataxie, Dysmetrie, Asynergie, Adiadochokinese und Intentionstremorhinzu. Durch Verlegung des IV. Ventrikels oder des Aquädukts entsteht im fort-geschrittenen Krankheitsstadium ein Hydrocephalus occlusus mit klinischenZeichen des gesteigerten Hirndrucks (Abb. 5.8).

Astrozytome und Hämangioblastome. Ähnliche Symptomewie beimMedullo-blastom treten auch beim pilozystischen Astrozytom auf, einem weiteren fürdie hintere Schädelgrube charakteristischen, mittelliniennahen Tumor. Häm-angioblastome im Rahmen eines v. Hippel-Lindau-Syndroms und zystischeAstrozytome manifestieren sich dagegen bevorzugt in den Kleinhirnhemi-sphären und rufen als typische klinische Zeichen einen Blickrichtungsnystag-mus sowie eine gliedkinetische Ataxie hervor.

Abb. 5.8 Medulloblastom, kontrastangehobene T1-gewichtete MRT-Untersuchung. Abbildung azeigt einen großen, stark homogen kontrastierten Tumor im Kleinhirnoberwurm, der den IV. Ven-trikel komprimiert. Die Temporalhörner der Seitenventrikel sind stark dilatiert als Zeichen eines Hy-drocephalus occlusus. Die Abbildung b veranschaulicht die Lokalisation des Tumors im Oberwurmund die starke Dilatation der Seitenventrikel.

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5.5 Erkrankungen des Kleinhirns ·

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Akustikusneurinom. Dieser Tumor ist für die Kleinhirnbrückenwinkel-Regioncharakteristisch. Er entwickelt sich aus den Schwann-Zellen des VIII. Hirnnervsund dehnt sich allmählich im Kleinhirnbrückenwinkel aus, wo er eine be-trächtliche Größe erreichen kann. Das klinische Bild ist auf der S. 194 f. be-schrieben.

Abb. 5.9 Akustikusneurinom, axiale T1-gewichteteMRT-Aufnahme nach Kontrastmittelgabe in Höhedes inneren Gehörgangs. Rechts erkennt man ein ty-pisches intra- und extrameatales Neurinom, dessenäußerer Anteil kolbenförmig aufgetrieben ist.

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