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657 aus: Rüedi u.a., AO-Prinzipien des Frakturmanagements (ISBN 9783131296627), 2008 Georg Thieme Verlag KG 1 2 3 RS IS US 6.3.3 Distaler Radius und Handgelenk Autoren Daniel A. Rikli, Doug A. Campbell Übersetzer Guido Wanner 1 Fraktur- und Weichteilbeurteilung 1.1 Biomechanik Das Drei-Säulen-Konzept (Abb. 6.3.3-1) [1] ist ein biomechani- sches Modell, welches erheblich zum Verständnis der Pathome- chanik der Handgelenkfrakturen beiträgt. Die radiale Säule be- steht aus dem Processus styloideus radii und der Fossa scapho- idea. Die intermediäre Säule beinhaltet die Fossa lunata und die Incisura ulnaris (Sigmoid Notch); (Fossa der Articulatio radioulna- ris distalis, distales Radioulnargelenk, DRUG), während zur ulna- ren Säule die distale Ulna (DRUG) mit dem triangulären fibrokarti- laginären Komplex (TFCC) gehört. Der Processus styloideus radii ist ein wichtiger Stabilisator des Handgelenks. Es ist sowohl knöcherne Abstützung als auch An- satzpunkt der extrinsischen karpalen Bänder. Unter normalen, physiologischen Bedingungen wird nur ein Minimum an Kraft über die radiale Säule geleitet. Durch die Fossa lunata hingegen wird eine erhebliche Last auf die intermediäre Säule übertragen. Die Ulna ist der stabile Partner, um die sich der Radius bei der Un- terarmrotation dreht. Radius und Ulna sind mit Bändern auf Höhe des distalen Radioulnargelenks und über die Membrana interos- sea straff miteinander verbunden. Die ulnare Säule bildet das dis- tale Ende dieses stabilen Drehpunkts. Der TFCC erlaubt unabhän- gige Flexion/Extension, Radial-/Ulnarduktion, Pronation und Su- pination im Handgelenk. Der TFCC spielt somit eine zentrale Rolle für die Stabilität von Karpus und Unterarm. Vor allem beim Faust- schluss werden signifikante Kräfte über die ulnare Säule übertra- gen. 1.2 Pathomechanik und Klassifikation Praktisch alle Frakturen des distalen Radius, mit Ausnahme der Avulsionsfraktur des dorsalen Randes, entstehen durch Hyperex- tensionskräfte [2]. Je nach Stellung der Hand im Moment des Auf- pralls wirken verschiedene Kräfte auf das Handgelenk. Bei Unfäl- len mit geringer Energie führen Beugungskräfte zu dorsal dislo- zierten intra- oder extraartikulären Frakturen. Scherkräfte führen zu teilweiser Dislokation der palmaren Gelenkfläche und somit zu instabilen Verletzungen. Kompressionen entstehen vor allem bei Hochenergietraumata in axialer Richtung. Sie führen zur Impak- tierung artikulärer Fragmente. Ein wesentlicher Frakturdislokati- onsmechanismus ist die Avulsionsverletzung, wobei die abgeris- senen Fragmente oftmals knöchernen Ansatzstellen von Bändern entsprechen. Zur Einteilung der Handgelenkfrakturen existieren zahlreiche Klassifikationen. Die Müller-AO-Klassifikation (Abb. 6.3.3-2) ba- Abb. 6.3.3-1 Das Drei-Säulen-Konzept. 1 Radiale Säule (RS). 2 Intermediäre Säule (IS). 3 Ulnare Säule (US). 23-B1 23-B2 23-B3 Abb. 6.3.3-2 Müller-AO-Klassifikation – partielle Gelenkfrakturen.

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RS IS US

6.3.3 Distaler Radius und Handgelenk

Autoren Daniel A. Rikli, Doug A. CampbellÜbersetzer Guido Wanner

1 Fraktur- und Weichteilbeurteilung

1.1 Biomechanik

Das Drei-Säulen-Konzept (Abb. 6.3.3-1) [1] ist ein biomechani-sches Modell, welches erheblich zum Verständnis der Pathome-chanik der Handgelenkfrakturen beiträgt. Die radiale Säule be-steht aus dem Processus styloideus radii und der Fossa scapho-idea. Die intermediäre Säule beinhaltet die Fossa lunata und dieIncisura ulnaris (Sigmoid Notch); (Fossa der Articulatio radioulna-ris distalis, distales Radioulnargelenk, DRUG), während zur ulna-ren Säule die distale Ulna (DRUG) mit dem triangulären fibrokarti-laginären Komplex (TFCC) gehört.

Der Processus styloideus radii ist ein wichtiger Stabilisator desHandgelenks. Es ist sowohl knöcherne Abstützung als auch An-satzpunkt der extrinsischen karpalen Bänder. Unter normalen,physiologischen Bedingungen wird nur ein Minimum an Kraftüber die radiale Säule geleitet. Durch die Fossa lunata hingegenwird eine erhebliche Last auf die intermediäre Säule übertragen.Die Ulna ist der stabile Partner, um die sich der Radius bei der Un-terarmrotation dreht. Radius und Ulna sind mit Bändern auf Höhedes distalen Radioulnargelenks und über die Membrana interos-sea straff miteinander verbunden. Die ulnare Säule bildet das dis-

tale Ende dieses stabilen Drehpunkts. Der TFCC erlaubt unabhän-gige Flexion/Extension, Radial-/Ulnarduktion, Pronation und Su-pination im Handgelenk. Der TFCC spielt somit eine zentrale Rollefür die Stabilität von Karpus und Unterarm. Vor allem beim Faust-schluss werden signifikante Kräfte über die ulnare Säule übertra-gen.

1.2 Pathomechanik und Klassifikation

Praktisch alle Frakturen des distalen Radius, mit Ausnahme derAvulsionsfraktur des dorsalen Randes, entstehen durch Hyperex-tensionskräfte [2]. Je nach Stellung der Hand im Moment des Auf-pralls wirken verschiedene Kräfte auf das Handgelenk. Bei Unfäl-len mit geringer Energie führen Beugungskräfte zu dorsal dislo-zierten intra- oder extraartikulären Frakturen. Scherkräfte führenzu teilweiser Dislokation der palmaren Gelenkfläche und somit zuinstabilen Verletzungen. Kompressionen entstehen vor allem beiHochenergietraumata in axialer Richtung. Sie führen zur Impak-tierung artikulärer Fragmente. Ein wesentlicher Frakturdislokati-onsmechanismus ist die Avulsionsverletzung, wobei die abgeris-senen Fragmente oftmals knöchernen Ansatzstellen von Bändernentsprechen.

Zur Einteilung der Handgelenkfrakturen existieren zahlreicheKlassifikationen. Die Müller-AO-Klassifikation (Abb. 6.3.3-2) ba-

Abb. 6.3.3-1 Das Drei-Säulen-Konzept.1 Radiale Säule (RS).2 Intermediäre Säule (IS).3 Ulnare Säule (US).

23-B1 23-B2 23-B3

Abb. 6.3.3-2 Müller-AO-Klassifikation – partielle Gelenkfrakturen.

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siert auf einer anatomischen Grundlage, während die Fernandez-Klassifikation [3] auf der eingangs beschriebenen Pathomechanikberuht (Tab. 6.3.3-1).

1.3 Bildgebung

Durch radiologische Untersuchungen ist ein besseres Verständnisdes Frakturmusters und verwandter Verletzungen möglich.

Konventionelle RadiologieAlle Radiusfrakturen sollten mittels üblicher a.-p. und seitlicherRöntgenbilder evaluiert werden. Schrägaufnahmen sowie Ver-gleichsaufnahmen der gesunden Gegenseite können in Einzelfäl-len hilfreich sein.

Anhand der Lage einzelner Fragmente kann im Seitenbild be-sonders gut das Ausmaß der metaphysären Knochenimpression(und damit der effektive Verlust an Knochensubstanz) beurteiltwerden. Dies ist ein Zeichen für mögliche Instabilität und somitein wichtiges radiologisches Beurteilungskriterium.

� Die wichtigsten Kriterien zur radiologischen Beurteilungeiner Instabilität [4] sind:

� signifikante Trümmerzone,� Abkippung � 10 �,� Verkürzung � 5 mm,� Gelenkstufe � 2 mm.

Die meisten zur Planung eines operativen Eingriffs relevanten In-formationen können dem konventionellen Röntgenbild entnom-men werden. In komplexen Fällen können jedoch CT-Aufnahmenhilfreich sein.

Computertomographie (CT)

� CT-Bilder geben sehr genau Auskunft über Größe und Lage derGelenkfragmente sowie die Gelenkkongruenz.

Typ IBiegefraktur der Meta-physe

Typ IIScherfraktur der Ge-lenkoberfläche

Typ IIIKompressionsfrakturder Gelenkoberfläche

Typ IVAvulsionsfrakturen, Ra-diokarpalfraktur, Dislo-kation

Typ VKombinierte Frakturen(I, II, III, IV); Hochge-schwindigkeitsverlet-zung

Tabelle 6.3.3-1 Fernandez-Klassifikation.

6 Spezifische Frakturen6.3 Vorderarm und Hand

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Besonders gut sichtbar ist im CT die Incisura ulnaris (Abb. 6.3.3-3).Keine andere Form der Bildgebung bringt über dieses Gebiet sopräzise Informationen. 3D-Rekonstruktionen der CT-Bilder mitdigitaler Subtraktion von Karpus und Ulna (Abb. 6.3.3-4) zeigen einvollständiges Bild der Fraktur und sind in komplexen Fällen hilf-reich.

1.4 Zusatzverletzungen

Bei allen Handgelenkfrakturen muss an Zusatzverletzungen ge-dacht werden. Insbesondere offene Wunden, vor allem über derUlna, und Nervenverletzungen (N. medianus und N. ulnaris) sindhäufig. Bei Hochenergietraumata muss auch an ein Kompart-mentsyndrom gedacht werden.

Verletzungen der proximalen Handwurzelreihe und des TFCCDistale Radiusfrakturen können mit Verletzungen des TFCC sowieder karpalen Bänder vergesellschaftet sein. Besonders häufig be-troffen sind die skapholunären und lunotriquetralen Bänder. Die-se Verletzungen kommen zwar auch bei extraartikulären Verlet-zungen vor, sind aber häufiger bei Gelenkfrakturen [5]. Röntgen-

bilder und, so vorhanden, CT-Bilder sollten sehr genau auf folgen-de Veränderungen hin untersucht werden: Verbreiterungen desskapholunären Gelenkspalts, Unterbrüche von Gilula-Linien,Frakturen, welche die Fossa scaphoidea von der Fossa lunata tren-nen, sowie Zeichen karpaler Instabilität mit Dorsalkippung desSkaphoids (Abb. 6.3.3-5). Hochenergieverletzungen können mitFrakturen durch die Taille des Skaphoids kombiniert sein.

1.5 Entscheidungsfindung

Verschiedene Faktoren fließen bei der Entscheidungsfindung mitein: die „Persönlichkeit“ der Fraktur (und des Patienten), der Zu-stand der Weichteile und die Art der Fraktur. Die distale Kompres-sionsfraktur beim älteren Patienten mit osteoporotischem Kno-chen ist anders einzustufen als die schwere Kompressionsverlet-zung durch ein Hochenergietrauma beim jungen Erwachsenen. Esist entscheidend, den Patienten vor der Operation darüber aufzu-klären, dass ein optimales Endergebnis nur im Team erreicht wer-den kann: Es braucht eine kompetente Chirurgie, einen engagier-ten Physiotherapeuten und – vor allem – einen Patienten mit opti-maler Bereitschaft zum Mitmachen.

Abb. 6.3.3-3 Das CT zeigt die Fehlstellung imBereich der Incisura ulnaris.

Abb. 6.3.3-4 CT-Rekonstruktion in3D. Die vier artikulären Hauptfrag-mente des distalen Radius sind gutsichtbar.

Abb. 6.3.3-5 Verbreiterung des ska-pholunären Gelenkspaltes als Folge ei-ner karpalen Instabilität mit assoziierterFraktur des Processus styloideus radii.

6.3.3 Distaler Radius und Handgelenk

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Bevor ein Behandlungsplan erstellt wird, müssen die Behand-lungsziele formuliert werden. Es muss klar sein, ob die Fraktur-fragmente bereits in einer akzeptablen Stellung stehen. Obschones Richtlinien gibt, hängt die Entscheidung auch von patientenbe-zogenen Faktoren ab. Zum Beispiel sollte eine intraartikuläre Stufevon mehr als 2 Millimetern in jedem Fall reponiert werden – es seidenn, der Patient zeigt bereits eine fortgeschrittene radiokarpaleArthrose. Die Länge des Radius wird ebenfalls als wichtiger Para-meter betrachtet und sollte eine Schlüsselrolle in der Entschei-dungsfindung spielen.

2 Chirurgische Anatomie

2.1 Einleitung

Profunde Kenntnisse der Anatomie des Handgelenks und des Kar-pus sind die Voraussetzung für die Planung eines operativen Ein-griffs. In den folgenden Abschnitten wird die Anatomie, die für dasVerständnis der Bildgebung und der chirurgischen Zugänge rele-vant ist, beschrieben.

2.2 Radiologische Anatomie

Radiologische Standardparameter werden verwendet, um dendistalen Radius zu beurteilen.

A.-p. Bild (Abb. 6.3.3 – 6)� Höhe des Radius: Gemessen wird die Distanz zwischen zwei

parallelen Linien, die senkrecht zur Achse des Radius gezogenwerden: die eine auf Höhe des Processus styloideus radii, dieandere auf Höhe der ulnaren Ecke der Fossa lunata. Im Durch-schnitt = 12 mm.

� Neigung der radialen Gelenkfläche: Gemessen wird der Winkelzwischen zwei Linien – die eine wiederum senkrecht zur Radi-usachse von der ulnaren Ecke der Fossa lunata verlaufend, dieandere von eben dieser Ecke zur Spitze des Processus styloi-deus radii. Im Durchschnitt = 23 �.

� Ulnavorschub: Ein Maß für das Längenverhältnis von Radiusund Ulna auf Höhe des Handgelenks. Gemessen wird die Dis-tanz zweier zum Radiusschaft senkrecht verlaufender, paralle-ler Linien: auf Höhe der distalen Ulnagelenkfläche und auf Hö-he der Incisura ulnaris (Sigmoid Notch) des Radius. Bei 60% derBevölkerung ist der Ulnavorschub 0, d. h. Radius- und Ulnage-lenkfläche stehen auf gleicher Höhe.

Seitenbild (Abb. 6.3.3 – 7)� Palmarer Neigungswinkel: Der Winkel zwischen der Senkrech-

ten zur Radiuslängsachse und der Linie zwischen volarer unddorsaler Gelenklippe misst im Durchschnitt = 12 �.

� Skapholunärer Winkel: Der Winkel zwischen der Skaphoid-achse (einer Linie zwischen der palmaren Begrenzung des dor-salen und ventralen Pols) und der Lunatumachse (einer senk-rechten Linie zur Verbindung der palmaren und dorsalen Lippedes Os lunatum). Dieser Winkel misst durchschnittlich30 – 80 � und hängt von der Stellung des Handgelenks ab.

Abb. 6.3.3-6 Normale radiologische Anatomie. A.-p. Aufnahme. Mes-sung der Radiushöhe und -neigung sowie des Ulnavorschubs.

6 Spezifische Frakturen6.3 Vorderarm und Hand

MöglicherUlnavorschub

Radiushöhe = 12 mm

Radiusneigung = 23°

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I

II

III

2.3 Präoperative Planung

Das Ziel der Behandlung ist die Wiederherstellung von Anatomie(Länge des Radius, Winkel, Gelenkflächenkongruenz und distalesRadioulnargelenk) und Funktion. In einfachen Fällen genügen dieStandardröntgenaufnahmen a.-p. und seitlich für die Planung desEingriffs. Bei Frakturen, die das Gelenk mit einbeziehen, empfiehltsich zusätzlich die CT-Untersuchung. Schlüsselfragmente im Ge-lenkbereich können so identifiziert werden: dorsoulnar, palmo-ulnar, hyperextendiertes palmares Fragment, radiales Styoloidund impaktierte Gelenkfragmente (Abb. 6.3.3-8). Das Drei-Säulen-Konzept ist dabei hilfreich für die Entwicklung einer Repositions-und Fixationsstrategie der entsprechenden Fragmente. Die inter-mediäre Säule ist der Schlüssel zur radiokarpalen Gelenkfläche.Wenn impaktierte Fragmente direkt angegangen werden müssen,empfiehlt sich ein dorsaler Zugang zur intermediären Säule miteiner umschriebenen Arthrotomie. Wenn die CT-Bilder oder ge-haltene Aufnahmen eine erhebliche Verletzung der Bänder ver-muten lassen, ist eine intraoperative Arthroskopie und/oder er-weiterte Arthrotomie (zur direkten Inspektion) angezeigt.

Die Stabilisierung mittels Fixateur externe kann hilfreich sein,entweder als temporäre Fixation während des Eingriffs oder alsNotlösung, wenn keine stabile innere Fixation erzielt werdenkann. Eine intraoperative Bildwandlerkontrolle ist empfehlens-wert zur Beurteilung der Reposition, Implantatlage, Stabilität derKonstruktion und der karpalen Kinematik.

Abb. 6.3.3-7 Normale radiologische Anatomie. Seitliche Aufnahme. Mes-sung der palmaren Neigung.

Abb. 6.3.3-8 Häufige radiale Frakturfragmente.I Radius-Styloid.II Palmoulnar.III Dorsoulnar.

6.3.3 Distaler Radius und Handgelenk

Palmare Neigung = 11–12°

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2.4 Zugänge

2.4.1 Dorsaler ZugangÜber dem Tuberculum Listeri wird ein gerader Hautschnitt ausge-führt (Abb. 6.3.3-9 a), der distal über die Handgelenklinie verläuftbis ca. 1 cm proximal des zweiten karpometakarpalen Gelenks.Proximal wird die Inzision entlang des Radiusschaftes um 3 – 4 cmverlängert. Der Zugang zur intermediären Säule verläuft durch dasdritte Strecksehnenfach (Abb. 6.3.3-9 b). Das Retinaculum extenso-rum wird entlang der Sehne des M. extensor pollicis longus (EPL)gespalten, die Sehne wird freigelegt und geschont. Das distale En-de der Inzision durch das Retinaculum extensorum ist V-förmig,so dass das distale Ende der Sehne die Richtung beibehält. Das Vkann später als Lappen zur Deckung der Platte verwendet werden.Die intermediäre Säule wird nun nach subperiostaler Dissektionsichtbar (Abb. 6.3.3-9 c). Das zweite Strecksehnenfach kann subpe-riostal angehoben werden, um den dorsalen distalen Radius dar-zustellen. Dieser Zugang ist geeignet, um standardmäßig dorsalePlatten einzubringen. Wenn hingegen eine Doppelplattenosteo-synthese geplant ist, empfiehlt es sich, die radiale Säule durch Er-öffnung des ersten Strecksehnenfachs darzustellen. Die radialeAbstützplatte kann so unter die Sehnen der Mm. abductor pollicislongus (APL) und extensor pollicis brevis (EPB) eingebracht wer-den. Der oberflächliche Ast des N. radialis verläuft im darüberlie-genden Hautlappen und muss geschont werden. Das zweite undvierte Strecksehnenfach wird nicht eröffnet. Entlang des dorsalenRandes des Radius wird eine umschriebene quere Arthrotomiedurchgeführt, so dass eine offene Reposition artikulärer Fragmen-te durchgeführt und die proximale Handwurzelreihe hinsichtlichvorhandener Bandverletzungen inspiziert werden kann. Nach-dem die Gelenkfläche rekonstruiert ist, wird die intermediäreSäule mittels einer dorsalen Platte stabilisiert. Die Platte wird ent-weder angebogen oder, falls der palmare Kortex intakt ist, als Ab-

stützplatte eingebracht. Beim Wundverschluss wird die EPL-Seh-ne mittels des V-Lappens aus dem Retinaculum extensorum par-tiell nach subkutan verlagert. Bei Frakturtypus B1.1 und B1.2 kannein direkter Zugang zum Radiusstyloid gewählt werden. Es wirdeine gerade Inzision über der Tabatière und dem Radiusstyloiddurchgeführt. Die oberflächlichen Äste des N. radialis und der A.radialis müssen dabei geschont werden. Der Zugang zum Radius-styloid erfolgt zwischen dem ersten und zweiten Strecksehnen-fach.

2.4.2 Palmarer ZugangDie Haut wird in Längsrichtung entlang der Sehne des M. flexorcarpi radialis (FCR) inzidiert (Abb. 6.3.3-10 a). Die FCR-Sehnen-scheide wird eröffnet und die Sehne nach radial gezogen, um denBlick auf die ulnare Ecke des Radius freizugeben. Von hier aus kannerweitert werden, um den Karpaltunnel freizulegen. Die FCR-Seh-ne wird nach ulnar gezogen, um das Radiusstyloid und die Fossascaphoidea einzusehen. Jeglicher Druck auf den N. medianusmuss dabei vermieden werden (Abb. 6.3.3-10 b). Unter der FCR-Sehnenscheide liegt die Sehne des M. flexor pollicis longus (FPL).Durch ulnaren Zug an dieser Sehne wird der M. pronator quadra-tus (PQ) sichtbar. Der M. pronator quadratus wird von seinem ra-dialen Ansatz abgelöst und nach ulnar geklappt, damit ist der dis-tale Radius freigelegt (Abb. 6.3.3-10 c). Ist die Fraktur sehr distal ge-legen, ist es nicht notwendig, den ganzen Muskel abzulösen. Umdie Gelenkfläche einzusehen, sollten die palmaren extrinsischenradiokarpalen Bänder nicht vom Radius abgelöst werden, da sonsteine Instabilität des Handgelenks resultieren kann. Es gibt selteneinzelne palmare Fragmente, Zertrümmerung ist häufig. JedesFragment muss dargestellt, aufgerichtet und reponiert werden. Dadie palmare Oberfläche des distalen Radius flach ist, wird das Ein-bringen eines flachen Implantats auf diese Fläche automatisch ei-ne Korrektur fehlrotierter Fragmente zur Folge haben.

6 Spezifische Frakturen6.3 Vorderarm und Hand

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V

VI

IV

I

II

III

1

VI

VIV III

II

Abb. 6.3.3-9 a – c Dorsaler Zugang zum Handgelenk.a Die Inzision ist auf das Tuberculum Listeri zentriert.b Nach dem Hautschnitt kann der Radius zwischen den Strecksehnenfä-

chern I und II, II und III oder III und IV dargestellt werden.c Der Zugang zwischen den Strecksehnenfächern hängt vom Frakturmus-

ter ab und muss anhand der Röntgen- und CT-Bilder sorgfältig geplantwerden.

I Mm. abductor pollicis longus und extensor pollicis brevis.II Mm. extensor carpi radialis brevis und longus.III M. extensor pollicis longus.IV Mm. extensor digitorum longus und extensor indicis.V M. extensor digiti minimi.VI M. extensor carpi ulnaris.1 Oberflächlicher Ast des N. radialis.

a b c

6.3.3 Distaler Radius und Handgelenk

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3

1

3 2 1

5

5

Abb. 6.3.3-10 a – c Palmarer Zugang zum Radius.a Zugang durch das Bett der Sehne des M. flexor carpi radialis (FCR).b Zugang zwischen der FCR-Sehne und der A. radialis.c Darstellung des Radius nach Ablösung des M. pronator quadratus.

1 A. radialis.2 Sehne des M. flexor carpi radialis (FCR).3 N. medianus.4 Motorischer Ast des N. medianus.5 M. pronator quadratus.

a b c

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3 Chirurgische Behandlung

Die Anatomie des distalen Radius birgt besondere chirurgischeHerausforderungen. Dorsal platzierte Implantate sind nur von ei-nem dünnen Weichteilmantel bedeckt und beeinträchtigen oftdie darüber verlaufenden Extensorensehnen, wohingegen palma-re Implantate gut durch den M. pronator quadratus bedeckt sind.Die dünne Kortikalis der Radiusmetaphyse stellt ein Problem dar,indem konventionelle Schrauben oft nicht genügend Halt habenund deshalb keine absolute Stabilität erreicht werden kann. Be-sonders gilt dies für osteoporotische Knochen. Aus diesen Grün-den wurde eine palmare Plattenosteosynthese früher nur im Sin-ne einer Abstützung bei palmaren partiellen Gelenkfrakturenempfohlen. Externe Fixation war die Methode der Wahl. Für dieReposition wurde auf Ligamentotaxis und Zug von außen gesetzt.Komplikationen in Zusammenhang mit dem Fixateur externeführten zu verschiedenen Versuchen, das Problem mit dorsalenImplantaten zu lösen. Obschon speziell dünne Platten und Schrau-ben mit sehr flachem Profil entwickelt wurden, bestehen dieProbleme mit dem dorsalen Weichteilmantel weiterhin.

Die Einführung des Prinzips des Fixateur interne (Kapitel 3.3)und damit der sog. Kopfverriegelungsschrauben hat, zusammenmit einem besseren Verständnis der Biomechanik des Handge-lenks, zur Entwicklung von speziellen Plattenfixateuren geführt.

Diese werden im Sinne von Doppelplatten angeordnet und stüt-zen die radiale und intermediäre Säule ab. Die Kurzzeitergebnisesind vielversprechend. Vermutlich wird die Indikationsstellungfür die innere Fixation der distalen Radiusfrakturen in Zukunft er-weitert werden können.

3.1 Typ A – Extraartikuläre Frakturen

Stabile metaphysäre Frakturen mit minimaler Verkürzung oderDorsalkippung können mittels Gipsruhigstellung behandelt wer-den. Diese Verletzungen, oft als Colles-Frakturen bezeichnet, sindhäufig bei älteren Patienten und können gut konservativ behan-delt werden. Ähnliche Verletzungen beim jüngeren Patienten er-fordern mehr Aufmerksamkeit, was die Wiederherstellung anato-mischer Verhältnisse anbelangt. Frakturen mit deutlicher Dorsal-kippung beinhalten eine größere dorsale Trümmerzone und eineZone mit effektivem Knochenverlust. Diese Frakturen könnenleicht reponiert werden, sind aber instabil und neigen dazu, imGips wieder zu dislozieren. Unter diesen Umständen ist eine Fixa-tion mit Kirschner-Drähten meist die Methode der Wahl. Zur An-wendung kommt entweder die extrafokale, perkutane Spickungoder eine intrafokale Technik, wie sie von Kapandji beschriebenwurde (Abb. 6.3.3-11 a – b). Bei ausgeprägter dorsaler Trümmerzo-ne mit starker Verkürzung und/oder Dorsalkippung ist die Frakturderart instabil, dass eine inakzeptable Redislokation nach Reposi-

Abb. 6.3.3-11 a – ba Perkutane Spickdrähte bei einer A-Fraktur.b Intrafokale perkutane Kirschner-Drähte nach

Kapandji.a b

6.3.3 Distaler Radius und Handgelenk

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tion auftreten wird. Im osteoporotischen Knochen kann bei diesenFrakturen eine Spickung schwierig sein. Diese Frakturen wurdenklassischerweise mittels Fixateur externe behandelt (Abb. 6.3.3-12 a), oftmals kombiniert mit Kirschner-Drähten und Spongiosa-plastik. Wenn die distalen Fragmente groß genug sind, umSchanz-Schrauben zu verankern, muss der Fixateur externe nichtgelenküberbrückend angelegt werden, sondern kann als Ganzesam Radius angebracht werden (Abb. 6.3.3-12 b). Allerdings sindFrakturen, die für diese nicht überbrückende Technik geeignetsind, eher selten. Die externe Fixation ist noch immer sehr ver-breitet. Die neuen Fixateur-interne-Implantate vermitteln abergenügend Stabilität für eine frühe Mobilisation, so dass die Nach-

teile einer externen Fixation umgangen werden können. Bei derBehandlung dorsal dislozierter Frakturen können auf der palma-ren Seite des distalen Radius Verriegelungsplatten angebrachtwerden. Winkelstabile Kopfverriegelungsschrauben werden un-ter Bildwandlerkontrolle in den subchondralen Knochen einge-bracht. Der Winkel dieser Schrauben, welcher durch die Plattenvorgegeben ist, stellt eine normale volare Neigung der Schraubesicher, wenn die Platte in Längsrichtung des Radiusschaftes ange-legt wird (Abb. 6.3.3-13). Indem die Platte auf der palmaren Radi-usseite angebracht wird, werden plattenbezogene Weichteilprob-leme vermindert und die Winkelstabilität des Implantats machteine dorsale Knochenunterfütterung des Defekts unnötig [6].

Abb. 6.3.3-12 a – ca Gelenküberbrückender Fixateur externe. Indirekte Reposition durch

Ligamentotaxis mit einer Rohr-zu-Rohr-Konstruktion.b – c Nicht überbrückender Fixateur externe. Direkte Reposition durch

Manipulation der Fragmente über die Schanz-Schrauben.

a b c

6 Spezifische Frakturen6.3 Vorderarm und Hand

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10–15°

3.2 Typ B – Partielle Gelenkfrakturen

Zu dieser Gruppe gehören verschiedene Scher-, Kompressions-und Avulsionsfrakturen (Abb. 6.3.3-2). Im konventionellen Rönt-genbild ist das Ausmaß der Gelenkbeteiligung oft nicht vollstän-dig sichtbar. Deshalb sollten zusätzlich CT-Bilder angefertigt wer-den. Durch das genaue Verständnis der Pathomechanik des ein-zelnen Bruches kann individuell ein optimales Behandlungskon-zept erstellt werden.

B1.1-Frakturen und B1.2-Frakturen (Frakturen des Processusstyloideus radii, B1.1 einfach, B1.2 mehrfragmentär)Wenn Scherkräfte involviert sind, wird der Processus styloideusradii nach proximal verschoben und die Gelenkfläche kann im-paktiert sein. Die Fraktur kann bis zum palmaren Rand verlaufen.Dies ist im CT-Bild sichtbar. Typischerweise ist diese Fraktur miteinem skapholunären Bänderriss vergesellschaftet [7]. Wenn derProcessus styloideus radii nach distal-ulnar disloziert ist, ist dieVerletzung eine Folge von Avulsionskräften (siehe unten B2.3).Nichtdislozierte Scherfrakturen des Processus styloideus radiiwerden konservativ im Gips behandelt. Dislozierte Frakturenmüssen reponiert und mittels (durchbohrten) Schrauben oderKirschner-Drähten fixiert werden (Abb. 6.3.3-14). Bei Verletzun-gen, welche bis zum palmaren Rand verlaufen, kann eine palmarePlatte indiziert sein.

Abb. 6.3.3-13 a – b Die palmar angebrachte 2,4-mm-LCP ist ein winkel-stabiles Implantat, sodass die Reposition auch bei Vorliegen eines dorsalenKnochendefekts gehalten werden kann. Die distalen Schrauben werdenparallel zur Gelenkfläche eingebracht, um eine Penetration ins Gelenk zuvermeiden.

a b

6.3.3 Distaler Radius und Handgelenk