63312753 Samuel Hunting Ton Kampf Der Kulturen

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Buch Samuel P. Huntingtons These vom Kampf der Kulturen ist lngst zum festen Begriff in der Debatte um die neue Weltordnung geworden. Aus dem Ende der westlichen Vorherrschaft sieht Huntington neue Konflikte globalen Ausmaes erwachsen. Die zuknftigen Fronten beruhen nicht mehr auf politischen, ideologischen oder konomischen Gegenstzen, sondern verlaufen zwischen den groen Weltkulturen, zwischen chinesischer, japanischer, hinduistischer, islamischer, westlicher, lateinamerikanischer und afrikanischer Kultur. In der neuen globalen Ordnung werden sich die Gewichte verschieben. Auch das westliche Ideal einer offenen und demokratischen Gesellschaft wird in die Defensive geraten. Der wachsende islamische Fundamentalismus ist nur ein Anzeichen dafr, da Huntingtons revolutionre Zukunftsprognose zunehmend Wirklichkeit wird. Autor Samuel P. Huntington, geboren 1927, ist Professor fr Politikwissenschaft und Leiter des John-M.-Olin-Instituts fr Strategische Studien an der Universitt Harvard. Er ist Berater des US-Auenministeriums und Mitbegrnder der Zeitschrift Foreign Affairs. In zahlreichen Fachpublikationen hat sich Huntington mit den Perspektiven der Weltpolitik im 21. Jahrhundert auseinandergesetzt.

Samuel P. Huntington

Kampf der KulturenThe Clash of Civilizations. Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. JahrhundertAus dem Amerikanischen von Holger Fliessbach

Siedler

Die Originalausgabe erschien 1996 unter dem Titel The Clash of Civilizations bei Simon & Schuster, New York.

Umwelthinweis: Alle bedruckten Materialien dieses Taschenbuchs sind chlorfrei und umweltschonend. Siedler Taschenbcher erscheinen im Goldmann Verlag, einem Unternehmen der Verlagsgruppe Random House GmbH. 4. Auflage Vollstndige Taschenbuchausgabe Dezember 1998 Copyright 1996 Samuel P. Huntington Copyright der deutschsprachigen Ausgabe 1996 Europa Verlag GmbH, Mnchen, Wien Lektorat: Afra Margaretha Umschlaggestaltung: Design Team Mnchen Made in Germany 1998 ISBN 3-442-75506-9

InhaltVorwort ..................................................................................................... 11

I Welt aus Kulturen1. Die neue ra der Weltpolitik ................................................................ 17 FLAGGEN UND KULTURELLE IDENTITT .................................................. 17 EINE MULTIPOLARE , MULTIKULTURELLE WELT ...................................... 20 ANDERE WELTEN ? .................................................................................. 29 VERGLEICH VON WELTEN: REALISMUS, ABSTRAKTION, PROGNOSEN .................................................................... 42

2. Kulturen in Geschichte und Gegenwart ................................................ 49 DAS WESEN VON KULTUREN .................................................................... 49 BEZIEHUNGEN DER KULTUREN UNTEREINANDER ..................................... 62 3. Eine universale Kultur? Modernisierung und Verwestlichung ................................................... 76 UNIVERSALE KULTUR: BEDEUTUNGEN .................................................... 76 UNIVERSALE KULTUR: QUELLEN ............................................................. 92 DER WESTEN UND DIE MODERNISIERUNG ................................................ 96 REAKTIONEN AUF DEN WESTEN UND DIE MODERNISIERUNG .................. 103

II Das vernderte Gleichgewicht der Kulturen4. Das Verblassen des Westens: Macht, Kultur, Indigenisierung ................................................................................... 117 DIE MACHT DES WESTENS: DOMINANZ UND NIEDERG ANG ...................... 117

INDIGENISIERUNG : DAS WIEDERAUFLEBEN NICHTWESTLICHER KULTUREN

....................................................................... 136

LA REVANCHE DE DIEU .......................................................................... 143

5. Wirtschaft, Demographie und die Herausforderer-Kulturen ..................................................................... 155 DIE ASIATISCHE AFFIRMATION .............................................................. 156 DIE RESURGENZ DES ISLAM ................................................................... 168 NEUE HERAUSFORDERUNGEN ................................................................ 188

III Die kommende Ordnung der Zivilisationen6. Die kulturelle Neugestaltung der globalen Politik .............................. 193 ANSCHLUSS SUCHEN : POLITIK DER IDENTITT ....................................... 193 KULTUR UND WIRTSCHAFTLICHE ZUSAMMENARBEIT ............................. 203 DIE STRUKTUR VON ZIVILISATIONEN ..................................................... 210 ZERRISSENE LNDER: DAS SCHEITERN EINER ZIVILISATI ON ................... 218

7. Kernstaaten, konzentrische Kreise, kulturelle Ordnung .............................................................................. 246 KULTURKREISE UND ORD NUNGSFUNKTION ............................................ 246 ABGRENZUNG DES WESTE NS ................................................................. 249 RUSSLAND UND SEIN NAHES AUSLAND .................................................. 260 GROSS-CHINA UND SEINE SPHRE DES GEMEINSAMEN WOHLSTANDES ..................................................................................... 268 ISLAM: ISLAMISCHES BEWUSSTSEIN OHNE ISLAMISCHEN ZUSAMMENHALT ............................................................. 279

IV Konflikte zwischen Kulturkreisen8. Der Westen und der Rest: Interkulturelle Streitfragen .................................................................. 291 WESTLICHER UNIVERSALISMUS ............................................................. 291

............................................................................................... 296 .................................................. 307 EINWANDERUNG ................................................................................... 316WAFFEN MENSCHENRECHTE UND D EMOKRATIE

9. Weltpolitik und Kulturkreise .............................................................. 331 KERNSTAATENKONFLIKTE UND BRUCHLINIENKONFLIKTE ..................... 331 ISLAM UND DER WESTEN ....................................................................... 334 ASIEN , CHINA UND AMERIKA - MISCHTROMMEL DER KULTUREN ........... 350 ASIATISCH -AMERIKANISCHE KALTE KRIEGE .......................................... 555 CHINESISCHE HEGEMONIE : ANPASSUNG ODER WIDERSTAND? ............... 569 KULTURKREISE UND KERNSTAATEN: NEUE BNDNISBILDUNGEN ........... 586

10.Von Transitionskriegen zu Bruchlinienkriegen ................................ 400 TRANSITIONSKRIEGE: DER KRIEG IN AFGHANISTAN UND DER GOLFKRIEG ............................................................................ 400 MERKMALE VON BRUCHLINIENKRIEGEN ............................................... 410 FALLBEISPIEL : DIE BLUTIGEN GRENZEN DES ISLAM ............................... 415 URSACHEN : GESCHICHTE , DEMOGRAPHIE , POLITIK ............................... 422

11.Die Dynamik von Bruchlinienkriegen .............................................. 434 IDENTITT : SCHARFUNG DES KULTURBEWUSSTSEINS ............................ 434 KULTURELLER SCHULTERSCHLUSS: VERWANDTE LNDER UND DIASPORA ................................................... 444 BRUCHLINIENKRIEGE ZUM STILLSTAND BRINGEN .................................. 478

V Die Zukunft der Kulturen12.Der Westen, die Kulturen, Zivilisation ......................................... 495 ERNEUERUNG DES WESTE NS? ............................................................... 495 DER WESTEN IN DER WELT .................................................................... 507 KRIEG DER KULTUREN U ND WELTORDNUNG .......................................... 514 DIE GEMEINSAMKEITEN DER KULTUREN ................................................ 524

Anmerkungen ..................................................................................... 533

Fr Nancy, die lchelnd den Kampf der Kulturen erduldete

Vorwortbrachte Affairs einen I m Sommer 1993 mit dem die Zeitschrift ForeignCivilizations?. Beitrag von mir Titel The Clash of Dieser Artikel hat nach Auskunft der Herausgeber in den vergangenen drei Jahren mehr Diskussionen ausgelst als irgendein anderer Zeitschriftenartikel seit den vierziger Jahren. Auf je den Fall hat er in drei Jahren mehr Debatten provoziert als alles, was ich sonst geschrieben habe. Von allen fnf Kontinenten und aus Dutzenden von Lndern kamen Reaktionen und Kommentare. Die Leser waren abwechselnd beeindruckt, emprt, be sorgt und ratlos ob meiner These, da die zentrale und gefhrlichste Dimension der kommenden globalen Politik der Konflikt zwischen Gruppen aus unterschiedlichen Zivilisationen sein werde. Was immer er sonst wert sein mochte, der Artikel hatte einen Nerv in Menschen aller Zivilisationen getroffen. Das Interesse, das der Artikel gefunden hatte, die Fehldeu tungen, denen er ausgesetzt war, und die Kontroverse, die er hervorrief, lieen eine weitere Untersuchung der dort aufge worfenen Streitfragen wnschenswert erscheinen. Eine kon struktive Art des Fragens ist das Aufstellen einer Hypothese. Mein Artikel, der ein generell bersehenes Fragezeichen im Titel enthielt, war der Versuch einer solchen Hypothesenbildung. Das vorliegende Werk ist der Versuch, auf die Frage des Artikels eine umfassendere, tiefere und grndlicher dokumentierte Antwort zu geben. Ich versuche hier, die in dem Artikel angespro chenen Themen zu entfalten, zu vertiefen, zu ergnzen, gele gentlich auch einzuschrnken und viele Ideen auszufhren und viele Gegenstnde zu berhren, die in dem Artikel gar nicht erwhnt oder nur beilufig gestre ift worden sind. Dazu gehren:

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das Konzept von Zivilisationen; die Frage einer universalen Zivilisation; das Verhltnis zwischen Macht und Kultur; das vernderte Gleichgewicht der Macht zwischen den Zivilisationen; die kulturelle Indigenisierung in nichtwestlichen Gesellschaften; die politische Struktur von Zivilisationen; die Konflikte, die westlicher Universalismus, muslimische Militanz und chinesisches Auftrumpfen erzeugen; opportunistische und kritische Re aktionen auf den Aufstieg der chinesischen Macht; Ursachen und Dynamik von Bruchlinienkriegen; die Zukunft des Westens und einer Welt aus Zivilisationen. Ein wichtiges Thema, das in dem Artikel fehlte, betrifft den entscheidenden Impakt des Be vlkerungswachstums auf Stabilitt und das Gleichgewicht der Macht. Ein weiteres hchst wichtiges Thema fassen der Titel des Buches und sein letzter Satz zusammen: Konflikte von Zivilisationen sind die grte Gefahr fr den Weltfrieden, und eine auf Zivilisationen basierende internationale Ordnung ist der sicherste Schutz vor einem Weltkrieg. Das Buch ist kein sozialwissenschaftliches Werk und soll es nicht sein. Vielmehr versteht es sich als eine Interpretation der Entwicklung der globalen Politik nach dem Kalten Krieg. Es will ein Gerst, ein Paradigma fr die Betrachtung globaler Politik liefern, das fr Wissenschaftler gehaltvoll und fr die Macher der Politik ntzlich ist. Die Probe auf Gehalt und Ntzlichkeit des Paradigmas ist nicht die Frage, ob es alles und jedes erklren kann, was in der globalen Politik geschieht. Offenkundig kann es das nicht. Die Probe besteht in der Frage, ob das Paradigma eine gehaltvollere und ntzlichere Perspektive auf internationale Entwicklungen erlaubt als jede vergleichbare paradigmatische Perspektive. Dazu kommt, da kein Paradigma fr alle Zeiten gltig ist. Zwar mag ein kultureller Ansatz geeignet sein, das Verstndnis fr die globale Politik Ende des 20. und Anfang des 21. Jahrhunderts zu erleichtern; das heit nicht, da er Mitte des 20. Jahrhunderts ebenso hilfreich gewesen wre oder da er Mitte des 21. Jahrhunderts noch hilfreich sein wird. Die Ideen, die ihren Niederschlag in jenem Artikel und in

Vorwort

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diesem Buch fanden, habe ich ffentlich erstmals im Oktober 1992 im Rahmen einer Bradley Lecture am American Enterprise Institute in Washington vorgetragen und danach zu einem Paper fr das Olin Institute und dessen von der Smith Richardson Foundation ermglichtes Projekt Die vernderte Sicherheitsumwelt und die nationalen Interes sen Amerikas ausgearbeitet. Nach der Verffentlichung des Artikels wurde ich von Universitts -, Regierungs-, Wirtschafts - und anderer Seite in allen Teilen der USA zu zahllosen Seminaren und Tagungen ber den Kampf der Kulturen gebeten. Darber hinaus hatte ich das Glck, an Diskussionen ber den Artikel und seine These in vielen an deren Lndern teilnehmen zu knnen, so in Argentinien, Belgien, China, Deutschland, Frankreich, Grobritannien, Japan, Korea, Luxemburg, Ruland, Saudi-Arabien, Singapur, Sdafrika, Schweden, der Schweiz, Spanien und Taiwan. Diese Diskussionen brachten mich mit allen groen Zivilisationen mit Ausnahme der hinduistischen in Berhrung, und ich habe von den Einsichten und Perspektiven der Teilnehmer an diesen Dis kussionen enorm profitiert. 1994 und 1995 hielt ich in Harvard ein Seminar ber die Eigenart der Zeit nach dem Kalten Krieg, und die stets engagierten und mitunter kritischen Kommentare der Studenten zu meinen Ideen wirkten zustzlich stimulierend. Die Arbeit an dem vorliegenden Buch profitierte auch sehr von der kollegialen und hilfsbereiten Atmosphre am John M. Olin Institute for Strategie Studies und am Center for International Affairs der Universitt Harvard. Michael C. Desch, Robert O. Keohane, Fareed Zakaria und R. Scott Zimmerman haben das Manuskript zur Gnze gelesen und durch ihre Kommentare zu erheblichen Verbesserungen inhalt licher und struktureller Art beigetragen. Whrend der gesamten Niederschrift des Buches stand Scott Zimmerman auch fr unentbehrliche Recherchen zur Verfgung; ohne seine tatkrftige, fachkundige und engagierte Hilfe wre dieses Buches nicht zum jetzigen Zeitpunkt fertig geworden. Auch unsere Hilfsassistenten Peter Jun und Christiana Briggs packten auf konstruktive Weise

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mit an. Grace de Magistris tippte erste Teile des Manuskripts, und Carol Edwards arbeitete mit groem Einsatz und hervorra gender Effizienz das Manuskript so viele Male um, da sie groe Teile davon fast auswendig knnen mu. Denise Shannon von der Agentur Georges Borchardt sowie Robert Asahina, Robert Bender und Johanna Li vom Verlag Simon & Schuster haben das Manuskript gutgelaunt und professionell durch den Proze seiner Publikation begleitet. Allen Genannten bin ich beraus dankbar, da sie diesem Buch ans Licht der Welt verholfen haben. Sie haben es viel besser gemacht, als es ohne sie geworden wre, und wenn es noch Mngel hat, gehen sie auf mein Konto. Die Arbeit an diesem Buch wurde mir durch die finanzielle Untersttzung der John M. Olin Foundation und der Smith Richardson Foundation ermglicht. Ohne diesen Rckhalt htte sich die Vollendung des Buches um Jahre verzgert, und ich wei ihre grozgige Hilfe fr meine Bemhungen zutiefst zu schtzen. Whrend andere Stiftungen sich zunehmend auf in nenpolitische Fragen konzentrieren, verdienen Olin und Smith Richardson Loblieder ob ihres ungebrochenen Interesses und Engagements fr Studien ber Krieg, Frieden und die nationale und internationale Sicherheit. S. P. H. Vorbemerkung zur bersetzung: Es wre der Wunsch des Autors gewesen, die Begriffe civiliza tion und culture mit Zivilisation und Kultur zu bersetzen. Dies wurde in einer ersten Fassung versucht, was sich aber aus praktischen und Verstndnisgrnden nicht durchhalten lie. Deswegen wird civilization jeweils mit Kultur, Kulturkreis oder Hochkultur wiedergegeben und fr culture der Begriff Zivilisation verwendet, in Einzelfllen auch Kultur. Der deutsche Sprachgebrauch fr Kultur und Zivilisation entspricht gerade nicht dem Englischen und Franzsischen. Vgl dazu Norbert Elias, ber den Proze der Zivilisation (Frankfurt 1976), Einleitung zum ersten Band. H. F.

I WELT AUS KULTUREN

KAPITEL I

Die neue ra der WeltpolitikFLAGGEN UND KULTURELLE IDENTIT T

Am 5. Januar 1992 fand im Hrsaal eines Moskauer Regie rungsgebudes eine Konferenz russischer und amerikanischer Wissenschaftler statt. Zwei Wochen zuvor hatte die So wjetunion aufgehrt zu bestehen, und die Russische Fderation war ein unabhngiges Land geworden. Aus diesem Grund war die Leninbste, die bis dahin das Podium des Auditoriums geziert hatte, verschwunden; statt ihrer prangte jetzt die Flagge der Russischen Fderation an der Stirnseite des Saales. Das einzige Problem war - wie ein Amerikaner bemerkte -, da die Flagge verkehrt herum hing. Nachdem man die russischen Gastgeber auf den Lapsus hingewiesen hatte, wurde er in der ersten Sit zungspause rasch und diskret korrigiert. In den Jahren nach dem Kalten Krieg machten die Identitt von Vlkern, die Symbole dieser Identitt und infolgedessen die globale Politik dramatische Vernderungen durch, die noch nicht beendet sind. Verkehrt hngende Flaggen waren ein Zeichen dieses berganges. Aber mittlerweile wehen immer mehr Fahnen stolz und richtig, und die Russen und andere Vlker sind dabei, sich zu mobilisieren und hinter diesen und anderen Symbolen ihrer neuen kulturellen Identitt herzumarschieren. Am 8. April 1994 versammelten sich in Sarajevo zweitausend Menschen und schwenkten Fahnen - nicht etwa die Fahnen der UNO, der NATO oder der USA, sondern die Fahnen Saudi-Arabiens und der Trkei. Sie zeigten im wahrsten Sinne des Wortes Flagge und demonstrierten der Welt, wer ihre wahren und wer ihre weniger wahren Freunde waren.

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Am 16. Oktober 1994 protestierten in Los Angeles 70.000 Menschen in einem Meer von mexikanischen Flaggen gegen ein geplantes Referendum (Proposition 187), das vielen illegalen Einwanderern und ihren Kindern bundesstaatliche Vergnstigungen gestrichen htte. Warum, so fragten sich Beobachter, laufen sie mit der mexikanischen Fahne durch die Stadt, wenn sie von den USA kostenlosen Schulbesuch verlangen? Sie sollten lieber die amerikanische Fahne schwenken! Zwei Wochen spter sah man auf der Strae noch mehr Protestmarschierer, die wirklich die amerikanische Fahne schwenkten - verkehrt herum. Diese Flaggendemonstration sicherte dem Referendum den Erfolg: 59 Prozent der kalifornischen Whler stimmten dafr. In der Welt nach dem Kalten Krieg zhlen Flaggen und andere Symbole kultureller Identitt wie Kreuze, Halbmonde und sogar Kopfbedeckungen; denn Kultur zhlt, und kulturelle Identitt hat fr die meisten Menschen hchste Bedeutung. Die Menschen entdecken heute neue, aber oft eigentlich alte Identitten und marschieren hinter neuen, aber oft eigentlich alten Fahnen im Kriege mit neuen, aber oft eigentlich alten Feinden. Eine grimmige Weltanschauung fr diese neue ra formuliert der nationalistische venezianische Demagoge in Michael Dibdins Roman Dead Lagoon: Ohne wahre Feinde keine wahren Freunde! Wenn wir nicht hassen, was wir nicht sind, knnen wir nicht lieben, was wir sind. Das sind die alten Wahrheiten, die wir heute, nach dem sentimentalen Geslze von hundert Jahren, unter Schmerzen wieder entdecken. Wer diese Wahrheiten leugnet, der verleugnet seine Familie, sein Erbe, seine Kultur, sein Geburtsrecht, sein ganzes Ich! Das wird ihm nicht so leicht vergessen. An der betrblichen Wahrheit dieser alten Wahrheiten knnen Staatsmnner und Wissenschaftler nicht vorbeigehen. Fr Menschen, die ihre Identitt suchen und ihre Ethnizitt neu erfinden, sind Feinde unabdingbar, und die potentiell gefhrlichsten Feindschaften begegnen uns an den Bruchlinien zwischen den groen Kulturen der Welt.

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Das zentrale Thema dieses Buches lautet: Kultur und die Identitt von Kulturen, auf hchster Ebene also die Identitt von Kulturkreisen, prgen heute, in der Welt nach dem Kalten Krieg, die Muster von Kohrenz, Desintegration und Konflikt. Die fnf Teile dieses Buches entwickeln diese Hauptaussage weiter. Teil Eins. Zum erstenmal in der Geschichte ist globale Politik sowohl multipolar als auch multikulturell; Verwestlichung ist etwas anderes als Modernisierung; un d wirtschaftliche und soziale Modernisierung erzeugt weder eine universale Kultur irgendeiner Art noch die Verwestlichung nichtwestlicher Gesellschaften. Teil Zwei. Das Machtgleichgewicht zwischen den Kulturkreisen verschiebt sich: Der Westen verliert an relativem Einflu; asiatische Kulturen verstrken ihre wirtschaftliche, militrische und politische Macht; der Islam erlebt eine Bevlkerungsexplo sion mit destabilisierenden Folgen fr muslimische Lnder und ihre Nachbarn; und nichtwestliche Kulturen bekrftigen selbstbewut den Wert ihrer eigenen Grundstze. Teil Drei. Eine auf kulturellen Werten basierende Weltord nung ist im Entstehen begriffen: Gesellschaften, die durch kulturelle Affinitten verbunden sind, kooperieren miteinander. Bemhungen, eine Gesellschaft von einem Kulturkreis in einen anderen zu verschieben, sind erfolglos; und Lnder gruppieren sich um die Fhrungs- oder Kernstaaten ihrer Kultur. Teil Vier. Seine universalistischen Ansprche bringen den Westen zunehmend in Konflikt mit anderen Kulturkreisen, am gravierendsten mit dem Islam und China. Auf lokaler Ebene bewirken Bruchlinienkriege (im wesentlichen zwischen Muslimen und Nichtmuslimen) den Schulterschlu verwandter Lnder, die Gefahr einer breiteren Eskalation und damit Bemhungen von Kernstaaten um Eindmmung und Unterbindung dieser Kriege. Teil Fnf. Das berleben des Westens hngt davon ab, da die Amerikaner ihre westliche Identitt bekrftigen und die Westler sich damit abfinden, da ihre Kultur einzigartig, aber

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nicht universal ist, und sich einigen, um diese Kultur zu erneuern und vor der Herausforderung durch nichtwestliche Gesellschaften zu schtzen. Ein weltweiter Kampf der Kulturen kann nur vermieden werden, wenn die Mchtigen dieser Welt eine globale Politik akzeptieren und aufrechterhalten, die unterschiedliche kulturelle Wertvorstellungen bercksichtigt.ElNE MULTIPOLARE, MULTIKULTURELLE WELT

In der Welt nach dem Kalten Krieg ist Weltpolitik zum ersten mal in der Geschichte multip olar und multikulturell geworden. Fr die lngste Zeit menschlichen Daseins auf Erden waren Kontakte zwischen Kulturen sporadisch oder nicht existent. Zu Beginn der Neuzeit um 1500 n. Chr. nahm dann die globale Po litik zwei Dimensionen an. Auf der einen Seite bildeten die Nationalstaaten des Westens - England, Frankreich, Spanien, Osterreich, Preuen, Deutschland, die USA und andere - ein multipolares internationales System im Rahmen des westlichen Kulturkreises und interagierten, konkurrierten und kmp ften miteinander. Auf der anderen Seite wurde jede andere Kultur von den expandierenden westlichen Nationen erobert, kolonisiert oder zumindest massiv beeinflut. (Karte 1.) Whrend des Kalten Krieges wurde die globale Politik bipolar, und die Welt zerfiel in drei Teile. Eine Gruppe zumeist wohlhabender und demokratischer Gesellschaften unter Fhrung der USA stand in einer durchgngigen ideologischen, politischen, konomischen und zeitweise militrischen Konkurrenz zu einer Gruppe etwas rmerer kommunistischer Gesellschaften im Machtbereich und unter Fhrung der Sowjetunion. Ein erheblicher Teil dieses Konfliktes wurde auerhalb dieser beiden Lager in der Dritten Welt ausgetragen, bestehend aus armen, politisch instabilen Lndern, die erst seit kurzem unabhngig waren und fr sich Bndnisfreiheit beanspruchten. (Karte 2.) Ende der achtziger Jahre brach die kommunistische Welt zusammen, und das internationale System des Kalten Krieges

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wurde Geschichte. In der Welt nach dem Kalten Krieg sind die wichtigsten Unterscheidungen zwischen Vlkern nicht mehr ideologischer, politischer oder konomischer Art. Sie sind kultureller Art. Vlker und Nationen versuchen heute, die ele mentarste Frage zu beantworten, vor der Menschen stehen knnen: Wer sind wir? Und sie beantworten diese Frage in der tra ditionellen Weise, in der Menschen sie immer beantwortet haben: durch Rckbezug auf die Dinge, die ihnen am meisten bedeuten. Die Menschen definieren sich ber Herkunft, Reli gion, Sprache, Geschichte, Werte, Sitten und Gebruche, Institutionen. Sie identifizieren sich mit kulturellen Gruppen: Stmmen, ethnischen Gruppen, religisen Gemeinschaften, Nationen und, auf weitester Ebene, Kulturkreisen. Menschen benutzen Politik nicht nur dazu, ihre Interessen zu fordern, sondern auch dazu, ihre Identitt zu definieren. Wir wissen, wer wir sind, wenn wir wissen, wer wir nicht sind und gegen wen wir sind. Nationalstaaten bleiben die Hauptakteure des Weltgesche hens. Die wichtigsten Gruppierungen von Staaten sind jedoch nicht mehr die drei Blcke aus der Zeit des Kalten Krieges, sondern die sieben oder acht groen Kulturen der Welt. (Karte 3.) Nichtwestliche Gesellschaften, zumal in Ostasien, sind heute dabei, ihren wirtschaftlichen W ohlstand zu entwickeln und die Grundlage fr eine Ausweitung ihrer militrischen Macht und ihres politischen Einflusses zu schaffen. In dem Mae, wie Macht und Selbstbewutsein der nichtwestlichen Gesellschaften zunehmen, pochen sie verstrkt auf ihre eige nen kulturellen Werte und verwerfen jene, die ihnen der Westen aufgezwungen hat. Das internationale System des 21. Jahrhunderts, bemerkt Henry Kissinger, ... wird mindestens sechs Gromchte aufweisen - die USA, Europa, China, Japan, Ruland und wahrscheinlich Indien -, neben einer Vielzahl mittelgroer und kleinerer Lnder. 1 Kissingers sechs Gromchte gehren zu fnf sehr verschiedenen Kulturen, und auerdem gibt es wichtige is lamische Staaten, die durch strategische Lage, Bevlkerungs gre und/oder lreserven Einflu auf das Weltgeschehen

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Karte 1.1: Der Westen und der Rest 1920

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haben. In dieser neuen Welt ist Lokalpolitik die Politik der Ethnizitt, Weltpolitik die Politik von Kulturkreisen. Die Rivalitt der Supermchte wird abgelst vom Konflikt der Kulturen. Weltpolitik wird heute nach Magabe von Kulturen und Kulturkreisen umgestaltet. In dieser Welt werden die hartnckigsten, wichtigsten und gefhrlichsten Konflikte nicht zwischen sozialen Klassen, Reichen und Armen oder anderen konomisch definierten Gruppen stattfinden, sondern zwischen Vlkern, die unterschiedlichen kulturellen Einheiten angehren. Innerhalb der einzelnen Kulturkreise werden Stammeskriege und ethnische Konflikte auftreten. Die Gewalt zwischen Staaten und Gruppen aus unterschiedlichen Kulturkreisen jedoch trgt den Keim der Eskalation in sich, da andere Staaten und Gruppen aus diesen Kulturkreisen ihren Bruderlndern ( countries)2 zu kin Hilfe eilen werden. Der blutige Kampf der Clans in Somalia birgt nicht die Gefahr eines greren Konflikts. Der blutige Kampf d Stmme Ruandas wirkt sich auf Uganda, Zaire und er Burundi aus, aber nicht sehr viel weiter. Aus dem blutigen Kampf der Kulturen in Bosnien, dem Kaukasus, Mittelasien oder Kaschmir knnten grere Kriege werden. Wenn in den jugoslawischen Konflikten Ruland den Serben diplomatische Untersttzung gewhrt und Saudi-Arabien, die Trkei, der Iran und Libyen den Bosniern Geldmittel und Waffen geliefert haben, dann nicht aus Grnden der Ideologie oder der Machtpolitik oder des konomischen Interesses, sondern aufgrund kultureller Verwandtschaft. Kulturelle Konflikte, hat Vaclav Havel erkannt, greifen um sich und sind heute gefhrlicher denn je zuvor, und Jacques Delors pflichtet ihm bei: Knftige Konflikte werden sich nicht an wirtschaftlichen oder ideologischen, sondern an kulturellen Faktoren entznden. 3 Die gefhrlichsten Konflikte aber sind jene an den Bruchlinien zwischen den Kulturen. In der Welt nach dem Kalten Krieg ist Kultur eine zugleich polarisierende und einigende Kraft. Menschen, die durch Ideologien getrennt, aber durch eine Kultur geeint waren, finden zu-

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sammen, wie die beiden Deutschlands zusammenfanden und wie die beiden Koreas und verschiedenen Chinas zusammenzufinden beginnen. Gesellschaften, die durch Ideologie oder historische Umstnde geeint, aber kulturell vielfltig waren, fallen entweder auseinander, wie die Sowjetunion, Jugoslawien und Bosnien, oder sind starken Erschtterungen ausgesetzt, wie die Ukraine, Nigeria, der Sudan, Indien, Sri Lanka und viele andere. Lnder mit kulturellen Affinitten kooperieren miteinander auf wirtschaftlichem und politischem Gebiet. Internationale Organisationen, die auf Staaten mit kultureller Gemeinsamkeit basieren, wie etwa die Europische Union, sind viel erfolgreicher als solche, die kulturelle Grenzen zu berschreiten suchen. Fnfundvierzig Jahre lang war der Eiserne Vorhang die zentrale Trennungslinie in Europa. Diese Linie hat sich um mehrere hundert Kilometer nach Osten verschoben. Heute ist es die Linie, die die Vlker des westlichen Christentums auf der einen Seite von muslimischen und orthodoxen Vlkern auf der anderen trennt. sterreich, Schweden und Finnland, kulturell ein Teil des Westens, waren im Kalten Krieg zu Neutralitt und Trennung vom Westen gezwungen. In der neuen ra stoen sie wieder zu ihrer kulturellen Verwandtschaft in der Europischen Union, und Polen, Ungarn und die Tschechische Republik sind dabei, ihnen zu folgen. Die philosophis chen Voraussetzungen, Grundwerte, sozialen Beziehungen, Sitten und allgemeinen Weltanschauungen differieren von Kulturkreis zu Kulturkreis erheblich. Die Revitalisierung der Religion in weiten Teilen der Welt verstrkt diese kulturellen Unterschiede. Kulturen knnen sich verndern, und die Art ihrer Auswirkung auf Politik und Wirtschaft kann von Epoche zu Epoche variieren. Gleichwohl wurzeln die wesentlichen Unterschiede in der politischen und wirtschaftlichen Entwicklung der Kulturkreise eindeutig in ihren unterschiedlichen kulturellen Grundlagen. Der wirtschaftliche Erfolg Ostasiens wurzelt in der Kultur Ostasiens, so wie die Schwierigkeiten der ostasiatischen Gesellschaften bei der Etablierung eines stabilen

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Karte 1.2: Die Welt des Kalten Krieges, um 1960

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demokratischen Systems von der ostasiatischen Kultur herrhren. Die islamische Kultur erklrt zu einem groen Teil, warum die Demokratie in weiten Teilen der muslimischen Welt nicht Fu fassen kann. Die Entwicklungen in den postkommu nistischen Gesellschaften Osteuropas und der frheren Sowjetunion werden durch deren kulturelle Identitt geprg t: Solche mit westlich-christlichem Erbe machen auf dem Wege zu wirt schaftlicher Entwicklu ng und demokratischer Politik Fort schritte; in den orthodoxen Lndern sind die Aussichten auf wirtschaftliche und politische Entwicklung unklar; in den muslimischen Republiken sind sie dster. Der Westen ist und bleibt auf Jahre hinaus der mchtigste Kulturkreis der Erde. Gleichwohl geht seine Macht in Relation zur Macht anderer Kulturkreise zurck. In dem Mae, wie der Westen versucht, seine Werte zu behaupten und seine Interes sen zu schtzen, sind nichtwestliche Gesellschaften mit einer Alternative konfrontiert. Einige versuchen, den Westen nachzu ahmen und sich dem Westen anzuschlieen, mitzuhalten. Andere konfuzianische und islamische Gesellschaften versuchen, ihre wirtschaftliche und militrische Macht auszuweiten, um dem Westen zu widers tehen, dagegenzuhalten. Eine zentrale Achse der Weltpolitik nach dem Kalten Krieg ist daher die In teraktion der westlichen Macht und Kultur mit der Macht und Kultur nichtwestlicher Gruppierungen. Die Welt nach dem Kalten Krieg ist demnach eine Welt aus sieben oder acht groen Kulturkreisen oder Zivilisationen. Kulturelle Gemeinsamkeiten und Unterschiede prgen ihre In teressen, Antagonismen und staatlichen Zusammenschlsse. Die wichtigsten Lnder der Welt kommen ganz berwiegend aus verschiedenen Kulturen. Jene lokalen Konflikte, deren Es kalation zu umfassenderen Kriegen am wahrscheinlichsten ist, sind Konflikte zwischen Gruppen und Staaten aus verschiede nen Kulturen. Die vorherrschenden Muster der politischen und wirtschaftlichen Entwicklung differieren von Kultur zu Kultur. Die Schlsselthemen auf der internationalen Tagesordnung im-

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plizieren Unterschiede zwischen Kulturen. Die Macht verschiebt sich allmhlich vom lange vorherrschenden Westen auf nichtwestliche Kulturkreise. Die globale Politik ist multipolar und multikulturell geworden.ANDERE WELTEN?

Karten und Paradigmen. Dieses Bild der Weltpolitik nach dem Kalten Krieg - von kulturellen Faktoren geprgt und Interaktionen zwischen Staaten und Gruppen verschiedener Kulturen implizierend - ist stark vereinfacht. Es unterschlgt vieles, verzerrt manches und verdunkelt einiges. Totzdem bentigen wir, wenn wir ernsthaft ber die Welt nachdenken und effizient in ihr handeln wollen, eine Art von vereinfachter Landkarte der Realitt, eine Theorie, ein Konzept, ein Modell, ein Paradigma. Ohne derartige geistige Konstrukte gibt es nur, wie William James gesagt hat, ein kunterbuntes Durcheinander. Wie Thomas Kuhn in seinem Klassiker Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen gezeigt hat, besteht geistiger und wissenschaftlicher Fortschritt darin, ein Paradigma, das immer weniger imstande ist, neue oder neu entdeckte Tatsachen zu erklren, durch ein neues Paradigma zu ersetzen, das diesen Tatsachen auf befriedigendere Weise gerecht wird. Um als Paradigma angenommen zu werden, schreibt Kuhn, mu eine Theorie besser erscheinen als die mit ihr im Wettstreit liegenden, sie braucht aber nicht - und tut es tatschlich auch niemals - alle Tatsachen, mit denen sie konfrontiert wird, zu erklren. 4 - Um sich in unvertrautem Gelnde zurechtzufinden, bemerkt auch John Lewis Gaddis sehr klug, braucht man in der Regel irgendeine Art von Landkarte. Die Kartographie is t, wie die Kognition selbst, eine notwendige Vereinfachung, die uns erlaubt festzustellen, wo wir sind und wohin wir uns wenden. Ein derartiges Schema war laut Gaddis das im Kalten Krieg gelufige Bild von der Rivalitt der Supermchte; es wurde erstmals von Harry Truman artikuliert, als ein Stck geopolitischer Kartographie, das die interna-

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Karte 1.3: Die Welt der Zivilisationen / Kulturkreise, nach 1990

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tionale Landschaft in jedermann verstndlichen Begriffen beschrieb und damit den Weg fr die ausgefeilte Strategie der Eindmmung bereitete, die bald darauf eingefhrt wurde. Weltsichten und Kausalvorstellungen sind Goldstein und Keohane zufolge unentbehrliche Straenkarten fr das Verstehen und Handeln in der internationalen Politik.5 Vierzig Jahre lang dachten und handelten die Beobachter und Akteure der internationalen Beziehungen im Sinne dieses stark vereinfachten, aber sehr ntzlichen Bildes vom Weltgeschehen; es war das Paradigma des Kalten Krieges. Dieses Paradigma konnte nicht alles erklren, was in der Weltpolitik geschah. Es gab viele Anomalien, um mit Khn zu reden, und gelegentlich machte das Paradigma Wissenschaftler und Politiker blind fr wesentliche Entwicklungen, wie etwa den Bruch zwischen China und Ruland. Doch als einfaches Modell globaler Politik erklrte es wichtigere Phnomene als jedes konkurrierende Paradigma, es war ein wesentlicher Ausgangspunkt fr das Nachdenken ber internationale Angelegenheiten, es wurde fast berall akzeptiert, und es prgte zwei Generationen lang das Nachdenken ber Weltpolitik. Vereinfachte Paradigmen oder Landkarten sind fr das menschliche Denken und Handeln unentbehrlich. Auf der einen Seite knnen wir derartige Theorien oder Modelle explizit formulieren und sie bewut zur Orientierung unseres Verhaltens einsetzen. Die andere Mglichkeit ist, die Notwendigkeit solcher Orientierungshilfen zu bestreiten und anzunehmen, da wir ausschlielich nach Magabe spezifischer objektiver Tatsachen handeln, die wir jeweils konkret wrdigen. Mit dieser Annahme betrgen wir uns jedoch selbst. Es gibt im Hintergrund unseres Bewutseins verborgene Annahmen, Vorlieben und Vorurteile, die bestimmen, wie wir die Realitt wahrnehmen, auf welche Tatsachen wir achten und wie wir deren Wichtigkeit und Vorteile einschtzen. Wir bentigen explizite oder implizite Modelle, die uns befhigen,

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1. die Realitt zu ordnen und allgemeine Aussagen ber sie zu treffen; 2. Kausalbeziehungen zwischen Phnomenen zu verstehen; 3. knftige Entwicklungen abzuschtzen und womglich vorauszusagen ; 4. Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden; und 5. zu erkennen, welche Wege wir einschlagen mssen, um unsere Ziele zu erreichen. Jedes Modell, jede Landkarte ist eine Abstraktion und wird fr bestimmte Zwecke besser geeignet sein als fr andere. Eine Straenkarte zeigt uns, wie wir mit dem Auto von A nach B kommen, wird uns aber wenig ntzen, wenn wir das Flugzeug nehmen. In diesem Fall werden wir eher zu einer topographischen Karte greifen, die es uns erlaubt, Berge und Flsse zu identifizieren. Ganz ohne Karte werden wir jedoch in die Irre gehen. Je detaillierter eine Karte ist, desto umfassender wird sie die Realitt widerspiegeln. Eine extrem detailreiche Karte wird jedoch fr viele Zwecke nicht hilfreich sein. Wenn wir aus einer Grostadt in eine andere Grostadt oder auf eine Autobahn gelangen wollen, bentigen wir nicht, ja fnden wir irritierend eine Landkarte, auf der zahlreiche fr den Straenverkehr unwichtige Informationen verzeichnet sind, die Autobahnen aber in einem unbersichtlichen Gewirr von Landstraen verschwinden. Andererseits wrde eine Landkarte, auf der nur eine einzige Autobahn verzeichnet wre, einen groen Teil der Realitt unterschlagen und unsere Mglichkeiten einschrnken, im Fall einer Sperre nach einem Unfall eine Ausweichstrecke zu finden. Kurzum, wir bentigen eine Landkarte, die zwar die Realitt abbildet, diese aber zugleich in einer Weise vereinfacht, die fr unsere Zwecke am geeignetsten ist. Am Ende des Kalten Krieges sind verschiedene Landkarten oder Paradigmen der Weltpolitik vorgelegt worden. Eine Welt: Euphorie und Harmonie. Ein vielfach artikuliertes Paradigma beruhte auf der Annahme, das Ende des Kalten Krie-

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ges bedeute das Ende signifikanter Konflikte in der globalen Politik und die Entstehung einer einzigen, relativ harmonischen Welt. Die meistdiskutierte Formulierung dieses Modells war Francis Fukuyamas These vom Ende der Geschichte. (In Kapitel III werden wir eine analoge Argumentation errtern, die nicht auf dem Ende des Kalten Krieges beruht, sondern auf langfristigen konomischen und sozialen Tendenzen, die eine universale Kultur hervorbringen sollen.) Was wir heute erleben, behauptete Fukuyama, ist vielleicht das Ende der Geschichte als solcher, das heit der Endpunkt der ideologischen Evolution der Menschheit und die Universalisierung der westlich-liberalen Demokratie als definitiver Regierungsform des Menschen. Gewi, fuhr er fort, mag es noch einige Konflikte an Orten der Dritten Welt geben, aber der globale Konflikt ist vorber, und zwar nicht allein in Europa. Gerade in der nichteuropischen Welt sind die ganz groen Vernderungen eingetreten, namentlich in China und in der Sowjetunion. Der Krieg der Ideen ist zu Ende. Glubige Anhnger des Marxismus-Leninismus gibt es vielleicht noch an Orten wie Managua, Pjngjang und Cambridge (Massachusetts), aber im groen und ganzen hat die liberale Demo kratie gesiegt. Die Zukunft wird nicht mehr groen, berauschenden Kmpfen um Ideen gewidmet sein, sondern der Lsung nchterner konomischer und technischer Probleme. Und es wird alles, schlufolgerte Fukuyama bekmmert, ziemlich langweilig werden.6 Die Harmonieerwartung wurde von vielen geteilt. Fhrende Politiker und Intellektuelle formulierten hnliche Ansichten. Die Berliner Mauer war gefallen, kommunistische Regimes waren zusammengebrochen. Die Vereinten Nationen waren dabei, neue Bedeutung zu erlangen, die einstigen Rivalen aus der Zeit des Kalten Krieges wrden eine Partnerschaft und einen groen Handel eingehen, Friedenserhaltung und Friedensstiftung wrden die Parole des Tages sein. Der Prsident des fhrenden Landes der Welt proklamierte die neue Weltordnung; der Prsident der wohl fhrenden Universitt der Welt legte gegen die

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Berufung eines Professors fr Sicherheitsstudien sein Veto ein, weil die Notwendigkeit entfallen sei: Halleluja! Wir studieren den Krieg nicht mehr, weil es Krieg nicht mehr gibt. Der Augenblick der Euphorie am Ende des Kalten Krieges erzeugte eine Illusion von Harmonie, die sich bald als eben diese erweisen sollte. Die Welt wurde Anfang der neunziger Jahre anders, aber sie wurde nicht unbedingt besser. Vernderung war unvermeidlich; Fortschritt nicht. hnliche Harmonieillusionen gediehen fr kurze Zeit auch am Ende der zwei anderen groen Konflikte des 20. Jahrhunderts. Der Erste Weltkrieg war der Krieg zur Beendigung aller Kriege und sollte die Welt fr die Demokratie sicher machen. Der Zweite Weltkrieg wrde, so Franklin Roosevelt, das System einseitigen Handelns, die Exklusivbndnisse, die Machtgleichgewichte und alle anderen Notbehelfe beseitigen, die seit Jahrhunderten erprobt worden - und immer gescheitert sind. Statt dessen wrden wir eine Weltorganisation aus friedliebenden Nationen und die Anfnge einer dauerhaften S truktur des Friedens bekommen.7 Aber der Erste Weltkrieg brachte Kommunismus und Faschismus und die Umkehr eines hundertjhrigen Trends zur Demokratie. Der Zweite Weltkrieg produzierte einen Kalten Krieg, der nun wirklich global war. Die Harmonieillusion am Ende des Kalten Krieges wurde bald zerstrt durch zahlreiche ethnische Konflikte und ethnische Suberungen, den Zusammenbruch von Recht und Ordnung, das Auftreten neuer Bndnis - und Konfliktmuster zwischen den Staaten, das Wiedererstarken neokommunistischer und neofaschistischer Bewegungen, die Intensivierung des religisen Fundamentalismus, das Ende der Diplomatie des Lchelns und der Jasager-Politik in den Beziehungen Rulands zum Westen und endlich das Unvermgen der Vereinten Nationen und der USA, blutige lokale Konflikte zu unterdrcken. In den fnf Jahren seit dem Fall der Berliner Mauer hat man das Wort Genozid weit fter gehrt als in irgendeiner Fnfjahresspanne des Kalten Krieges. Das Paradigma von der einen, harmonischen Welt ist offensichtlich von der Realitt allzu

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weit entfernt, als da es ein brauchbarer Leitfaden durch die Welt nach dem Kalten Krieg sein knnte. Zwei Welten: Wir und Die. Whrend Eine-Welt-Erwartungen vor allem am Ende von groen Konflikten aufzutreten pflegen, wiederholt sich die Tendenz, in Begriffen von zwei Welten zu denken, durch die menschliche Geschichte. Menschen sind immer versucht, die Menschen einzuteilen in wir und die, in die In-group und die anderen, in unsere Zivilisation hier und die Barbaren dort. Wissenschaftler haben die Welt nach Kriterien wie Orient und Okzident, Norden und Sden, Mitte und Peripherie analysiert. Muslime teilen seit jeher die Welt in dar al-Islam und dar al-Harb, das Haus des Friedens und das Haus des Krieges. Diese Unterscheidung, allerdings in ihr Gegenteil verkehrt, wurde am Ende des Kalten Krieges von zwei amerikanischen Gelehrten aufgegriffen, die die Welt in Zonen des Friedens und Zonen des Aufruhrs einteilten. Zu ersteren gehrten der Westen und Japan mit rund fnfzehn Prozent der Weltbevlkerung, zu letzteren alle anderen. Auch andere Wis senschaftler entwarfen nach dem Kalten Krieg derartige Bilder einer zweigeteilten Welt.8 Je nachdem, wie die Teile definiert werden, kann ein zweiteiliges Weltbild in einem gewissen Mae mit der Realitt bereinstimmen. Die gelufigste Einteilung, die unter verschiedenen Namen kursiert, ist die in reiche (moderne, entwickelte) und arme (traditionsverhaftete, unentwickelte oder Entwicklungs-) Lnder. In geschichtlicher Hinsicht entspricht dieser konomischen Einteilung die kulturelle Einteilung in Westen und Osten, bei der der Akzent weniger auf Unterschieden des wirtschaftlichen Wohlstands als vielmehr auf Unterschieden der grundlegenden Philosophie, der Werte, der Lebensart liegt.9 Jedes dieser Bilder spiegelt einige Elemente der Realitt, hat jedoch auch seine Grenzen. Reichen, modernen Lndern sind gewi Merkmale gemeinsam, die sie von armen, traditionsverhafteten Lndern unterscheiden, denen ihrerseits eigene Merkmale gemeinsam sind. Unterschiedlicher Wohlstand mag in der Tat

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zu Konflikten zwischen Gesellschaften fhren, aber die Ge schichte scheint zu lehren, da dies in erster Linie dann geschieht, wenn reiche und mchtige Lnder versuchen, arme Gesellschaften mit starken Traditionen zu erobern und zu kolonisieren. Der Westen hat dies 400 Jahre lang getan; dann lehnten sich einige Kolonien auf und fhrten Befreiungskriege gegen die Kolonialmchte, denen vielleicht der Wille zum Imperium abhanden gekommen war. In der Welt von heute hat die Entkolonialisierung stattgefunden, und an die Stelle kolonialer Befreiungskriege sind Konflikte zwischen den befreiten Vlkern getreten. Ganz allgemein sind Konflikte zwischen Reich und Arm eher unwahrscheinlich, weil es den armen Lndern unter normalen Umstnden an politischer Einigkeit, konomischer Macht und militrischem Potential gebricht, die reichen Lnder herauszufordern. Reiche Staaten mgen Handelskriege, arme Staaten mgen blutige Kriege gegeneinander fhren; aber ein internationaler Klassenkrieg zwischen dem armen Sden und dem reichen Norden ist fast ebenso unrealistisch wie die einige, glckliche, harmonische Welt. Noch weniger brauchbar ist die kulturelle Zweiteilung der Welt. Der Westen ist auf einer bestimmten Ebene in der Tat eine Einheit. Aber was haben nichtwestliche Gesellschaften anderes gemeinsam als die Tatsache, da sie nichtwestlich sind? Die japanische, chinesische, hinduistische, arabische und afrikanische Kultur haben wenig Verbindendes, was Religion, Gesellschaftsstruktur, Institutionen, herrschende Werte betrifft. Die Einheit des Nichtwestens und die Ost-West-Dichotomie sind Mythen, die der Westen erfunden hat. Diese Mythen kranken an denselben Mngeln wie die Orientalistik, an der Edward Said mit Recht kritisiert, da sie die Differenz zwischen dem Bekannten (Europa, der Westen, >wirsielohnende< Aufgabe, die Kulturen von heute auf der Weltkarte zu fixieren, ihre Grenzen, Zentren und Peripherien sowie ihre Provinzen festzulegen und die Luft, die man dort atmet, die besonderen und allgemeinen >FormenElite< der Menschheit, zutrfe. Statt dessen gab es viele Zivilisationen, deren jede auf ihre Weise zivilisiert war. Mit einem Wort, Zivilisation im singularischen Sinn bte etwas von ihren Qualitten ein, und eine Zivilisation im pluralischen Sinn konnte durchaus der Zivilisation im singularischen Sinne entraten.2 Gegenstand dieses Buches sind Zivilisationen im Plural (= Kulturkreise). Doch behlt die Unterscheidung zwischen Singular und Plural ihre Relevanz, und die Idee von Zivilisation im Singular kehrt in der These von der universalen Weltzivilisation wieder. Zwar lt sich diese These nicht halten, doch ist es ntzlich, zu klren, ob eine zunehmende Zivilisierung von Zivilisationen zu erwarten ist oder nicht (siehe Kapitel 12).

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Zweitens ist eine Zivilisation eine kulturelle Gre, auer im deutschen Sprachgebrauch. Deutsche Denker des 19. Jahrhunderts unterschieden streng zwischen Zivilisation, wozu Mechanik, Technik und materielle Faktoren zhlten, und Kultur, wozu Werte, Ideale und die hheren geistigen, knstlerischen, sittlichen Eigenschaften einer Gesellschaft zhlten. Diese Unterscheidung hat sich im deutschen Denken behauptet, whrend sie ansonsten abgelehnt wird. Manche Anthropologen haben die Bedeutung sogar radikal urngekehrt und verstehen unter Kultur eine primitive, statische, nichtstdtische Gesellschaft, whrend komplexere, entwickelte, stdtische und dynamische Gesellschaften als Zivilisationen bezeichnet werden. Die angestrebte Unterscheidung zwischen Kultur und Zivilisation hat sich jedenfalls nicht durchgesetzt, und auerhalb D eutschlands ist man sich mit Fernand Braudel weitgehend einig, da es illusorisch wre, die Kultur nach Art der Deutschen von ihrer Grundlage, der Zivilisation, trennen zu wollen.3 Zivilisation und Kultur meinen beide [im englischen Sprachgebrauch] die gesamte Lebensweise eines Volkes; eine Zivilisation ist eine Kultur in groem Mastab [im Deutschen ist es genau umgekehrt - A.d..]. Beide implizieren die Werte, Normen, Institutionen und Denkweisen, denen aufeinanderfolgende Generationen einer gegebenen Gesellschaft primre Bedeutung beigemessen haben. 4 Fr Braudel ist eine Zivilisation in erster Linie ein Raum, ein >kultureller BereichAufstieg des Westensmilitrische Revolution bezeichnet worden sind. Die Expansion des Westens wurde auch begnstigt durch die berlegene Organisation, Dis ziplin und Ausbildung seiner Truppen und spter durch die

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berlegenheit seiner Waffen, Transportmittel, Logistiksysteme und medizinischen Hilfsdienste, die aus seiner Fhrungsrolle in der Industriellen Revolution resultierten.29 Der Westen eroberte die Welt nicht durch die berlegenheit seiner Ideen oder Werte oder seiner Religion (zu der sich nur wenige Angehrige anderer Kulturen bekehrten), sondern vielmehr durch seine berlegenheit bei der Anwendung von organisierter Gewalt. Oftmals vergessen Westler diese Tatsache; Nichtwestler vergessen sie niemals. Um 1910 war die Welt in politischer und wirtschaftlicher Hinsicht mehr als je zuvor in der Geschichte ein Ganzes. Der internationale Handel machte 33 Prozent des globalen Sozialprodukts aus, mehr als jemals zuvor oder danach. Der prozentuale Anteil der internationalen Investitionen an den Gesamtinvestitionen war damals hher als zu irgendeiner anderen Zeit.30 Zivilisation bedeutete westliche Zivilisation, und der Westen kontrollierte oder beherrschte die meisten Teile der Welt. Internationales Recht war westliches internationales Recht in der Tradition des Hugo Grotius. Das internationale System war das westliche, westflische System souverner, aber zivilisierter Nationalstaaten und der kolonialen Gebiete, die sie kontrollierten. Die Entstehung dieses an westlichen Mastben ausgerichteten internationalen Systems war die zweite groe Entwicklungsstufe der globalen Politik nach 1500. Whrend westliche Gesellschaften mit nichtwestlichen Gesellschaften im Stil von Herr und Knecht umgingen, verkehrten sie untereinander auf einer mehr gleichberechtigten Basis. Diese Interaktionen zwischen politischen Gebilden ein und derselben Kultur hatten groe hnlichkeit mit jenen, die im chinesischen, indischen und griechischen Kulturkreis anzutreffen gewesen waren. Sie basierten auf einer kulturellen Homogenitt von Sprache, Recht, Religion, Verwaltungspraxis, Landwirtschaft, Grundbesitz und vielleicht auch Verwandtschaft. Die Vlker Europas hatten miteinander eine gemeinsame Kultur und knpften ausgedehnte Kontakte ber ein aktives Handelsnetz, eine stndige Bewegung von Personen

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und eine ungeheure Verflechtung der herrschenden Familien. Sie bekriegten einander auch praktisch ohne Ende; zwischen europischen Staaten war Friede die Ausnahme, nicht die Regel.31 Das Osmanische Reich, das in dieser Zeit bis zu einem Viertel dessen kontrollierte, was man sich unter Europa vorzustellen pflegte, galt nicht als Teil des internationalen Systems Europa. 150 Jahre lang wurde die innere Politik des Westens vom groen Religionsschisma und von religisen und dynastischen Kriegen beherrscht. Nach dem Westflischen Frieden waren die Konflikte der westlichen Welt weitere 150 Jahre lang im wesentlichen Konflikte von Frsten - Kaisern, absoluten Monarchen und konstitutionellen Monarchen, die ihre Brokratie, ihre Armeen, die Strke ihrer merkantilis tischen Wirtschaft, vor allem aber das von ihnen beherrschte Ge biet zu vergrern trachteten. Im Zuge dieser Entwicklung schufen sie Nationalstaaten, und seit der Franzsischen Revolution verliefen die hauptschlichen Konfliktlinien zwischen Nationen, nicht zwischen Frsten. Die Kriege der Knige waren vorbei; die Kriege der Vlker hatten begonnen, sagt R. R. Palmer ber das Jahr 1793.32 Dieses fr das 19. Jahrhundert typische Muster bestand bis zum Ersten Weltkrieg fort. 1917 wurde infolge der Russischen Revolution der Konflikt zwischen Nationalstaaten um den Konflikt zwischen Ideologien ergnzt, zunchst zwischen Faschismus, Kommunismus und liberaler Demokratie, danach zwischen den beiden letzteren. Im Kalten Krieg wurden diese Ideologien von den zwei Supermchten verkrpert, die beide ihre Identitt ber ihre Ideologie definierten und die beide kein Nationalstaat im traditionellen westlichen Sinne waren. Die Machtbernahme des Marxismus zuerst in Ruland und dann in China und Vietnam stellte eine Phase des bergangs vom europischen internationalen System zum posteuropischen multikulturellen System dar. Der Marxismus war zwar ein Produkt der europischen Kultur, wurde aber in ihr nicht heimisch und hatte dort keinen Erfolg. Statt dessen importierten ihn modernisierende und revolutionre Eli-

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ten nach Ruland, China und Vietnam; Lenin, Mao und Ho mo delten ihn fr ihre Zwecke um und benutzten ihn, um die Macht des Westens herauszufordern, ihre Vlker zu mobilisieren und die nationale Identitt und Autonomie ihrer Lnder gegen den Westen zur Geltung zu bringen. Der Zusammenbruch dieser Ideologie in der Sowjetunion und ihre grndliche Adaption in China und Vietnam bedeuten jedoch nicht, da diese Lnder nun zwangslufig auch die andere westliche Ideologie, die liberale Demokratie, bernehmen werden. Westler, die annehmen, da dies der Fall sein wird, drften von der Kreativitt, Dauerhaftigkeit und Anpassungsfhigkeit nichtwestlicher Kulturen berrascht werden. Interaktionen: Ein multikulturelles System. Im 20. Jahrhunden sind also die Beziehungen zwischen Kulturen von einer Phase, die vom einseitigen Impakt einer einzigen Kultur auf alle anderen beherrscht war, in eine Phase intensiver, anhaltender und vielseitiger Interaktionen zwischen allen Kulturen bergegangen. Die beiden zentralen Merkmale der vorangegangenen ra interkultureller Beziehungen begannen zu verschwinden. Erstens, und um zwei Lieblingswendungen der Historiker zu gebrauchen, endete die Expansion des Westens, und es begann der Aufstand gegen den Westen. Uneinheitlich und mit Pausen und Erholungsphasen ging die Macht des Westens im Verhltnis zur Macht anderer Kulturen zurck. Die Weltkarte von 1990 hat wenig hnlichkeit mit der Weltkarte von 1920. Das Gleichgewicht der militrischen und konomischen Macht und des politischen Einflusses hat sich verschoben (und wird in einem spteren Kapitel genauer errtert werden). Der Impakt des Westens auf andere Lnder war nach wie vor bedeutend, aber was in zunehmendem Mae die Beziehungen zwischen dem Westen und anderen Kulturen beherrschte, waren die Reaktionen des Westens auf Entwicklungen in diesen. Weit davon entfernt, einfach das Objekt der vom Westen gemachten Geschichte zu sein, wurden nichtwestliche Gesellschaften in zunehmendem Mae zu Gestaltern i rer h eigenen und der westlichen Geschichte.

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Zweitens und als Ergebnis dieser Entwicklungen expandierte das internationale System ber den Westen hinaus und wurde multikulturell. Gleichzeitig verschwanden Konflikte zwischen westlichen Staaten, die jenes System jahrhundertelang beherrscht hatten. Ende des 20. Jahrhunderts hatte der Westen die zivilisatorische Entwicklungsphase der kmpfenden Staaten hinter sich gelassen und war in die Phase des Universalstaates eingetreten. Ende des Jahrhunderts war diese Phase noch nicht abgeschlossen, da sich die Nationalstaaten des Westens zu zwei Halb-Universalstaaten in Europa und Nordamerika gruppierten. Diese zwei Gren und ihre Bestandteile waren jedoch durch ein beraus komplexes System von offiziellen und inoffiziellen institutionellen Verbindungen miteinander verknpft. Die Universalstaaten frherer Kulturen waren Imperien. Da jedoch die politische Form der westlichen Kultur die Demokratie ist, ist der entstehende Universalstaat der westlichen Kultur nicht ein Imperium, sondern vielmehr ein Konglomerat aus Bundesstaaten, Staatenbnden und internationalen Regimes und Organisationen. Die groen politischen Ideologien des 20. Jahrhunderts heien Liberalismus, Sozialismus, Anarchismus, Korporatismus, Marxismus, Kommunismus, Sozialdemokratie, Konservatismus, Nationalismus, Faschismus, christliche Demokratie. Ihnen allen ist eines gemeinsam: Sie sind Produkte der westlichen Kultur. Keine andere Kultur hat eine signifikante politische I deologie erzeugt. Der Westen hingegen hat niemals eine groe Religion hervorgebracht. Die groen Religionen der Welt sind ausnahmslos in nichtwestlichen Kulturen entstanden und in den meisten Fllen lter als die westliche Kultur. In dem Mae, wie die Welt ihre westliche Phase hinter sich lt, verfallen die Ideologien, die fr die spte westliche Zivilisation typisch waren, und an ihre Stelle treten Religionen und andere kulturell gesttzte Formen von Identitt und Bindung. Die im Westflischen Frieden etablierte Trennung von Religion und internationaler Politik, ein ureigenes Ergebnis westlicher Kultur, geht zu Ende, und

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die Religion wird, wie Edward Mortimer vermutet, mit zunehmender Wahrscheinlichkeit in die internationalen Angelegenheiten eindringen.33 Die intrakulturelle Auseinandersetzung um die politischen Ideen aus dem Westen wird abgelst von einer interkulturellen Auseinandersetzung um Kultur und Religion. Auf ein multipolares westliches System internationaler Beziehungen folgte also ein bipolares halbwestliches System und darauf ein multipolares, multikulturelles System. Die politische Weltgeographie ging von der einen Welt der zwanziger Jahre zu den drei Welten der sechziger Jahre und von dort zu dem halben Dutzend Welten der neunziger Jahre ber. Gleichzeitig schrumpften die globalen Imperien des Westens von 1920 zu der viel engeren Freien Welt der sechziger Jahre (zu der viele nichtwestliche Staaten gehrten, die den Kommunismus ablehnten) und danach z dem noch begrenzteren Westen der u neunziger Jahre. Diese Verschiebung fand zwischen 1988 und 1993 ihren semantischen Niederschlag in der immer geringeren Verwendung des ideologischen Begriffs Freie Welt und der immer hufigeren Verwendung des kulturell verstandenen Begriffs der Westen (siehe Tabelle 2.1). Sie zeigt sich auch in vermehrten Hinweisen auf den Islam als ein kulturell-politisches Phnomen, auf Gro-China, auf Ruland und sein nahes Ausland und auf die Europische Union. Dies alles sind Begriffe mit kulturellem Hintergrund. Interkulturelle Beziehungen sind in dieser dritten Phase viel hufiger und intensiver, als sie es in der ersten Phase waren, und viel gleichberechtigter und reziproker als in der zweiten Phase. Auch gibt es im Unterschied zum Kalten Krieg nicht eine einzelne gravierende weltanschauliche Differenz, sondern mannigfache Meinungsverschiedenheiten zwischen dem Westen und den anderen Kulturen sowie zwischen den vielen Nicht-Westen untereinander. Ein internationales System besteht laut Hedley Bull, wenn zwei oder mehr Staaten hinreichenden Kontakt zueinander haben und hinreichenden Einflu auf die Entscheidungen des jeweils anderen ausben, um beide - wenigstens in einem gewis-

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sen Ausma - zu veranlassen, sich als Teile eines Ganzen zu verhalten. Eine internationale Gesellschaft existiert erst dann, wenn Staaten in einem internationalen System gemeinsame Interessen und gemeinsame Werte haben, sich einem gemeinsamen S ystem von Regeln verpflichtet wissen, sich in die Arbeit von gemeinsamen Institutionen teilen und eine gemeinsame Kultur oder Zivilisation besitzen.34 Wie sein sumerischer, griechischer, hellenistischer, chinesischer, indischer und islamischer Vorgnger war auch das europische internationale System des 17. bis 19. Jahrhunderts zugleich eine internationale Gesellschaft. Im 19. und 20. Jahrhundert expandierte das internationale System Europas und umfate praktisch alle Gesellschaften in anderen Kulturen. Einige europische Institutionen und Praktiken wurden auch in diese Lnder exportiert. Gleichwohl ermangeln diese Gesellschaften noch immer einer gemeinsamen Kultur, wie sie der europischen internationalen Gesellschaft zugrunde lag. In der Terminologie der britischenTabelle 2.1 Verwendung der Begriffe Freie Welt und der WestenAnzahl der Belege Vernderung in Prozent

1988 New York Times Freie Welt Der Westen Washington Post Freie Welt Der Westen Congressional Record Freie Welt Der Westen 71 46

1993 44 144 - 38% +213%

112 36

67 87

- 40% +142%

356 7

114 10

-68% +43%

Quelle: Lexis/Nexis Die Anzahl der Belege ist die Anzahl von Artikeln, in denen die Begriffe Freie Welt oder der Westen behandelt werden oder vorkommen Die Belege zu der Westen wurden auf ihre Kontextstimmigkeit geprft, um sicherzugehen, da der Westen als Kultur oder politische Gre gemeint war.

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Theorie der internationalen Beziehungen ist die Welt also zwar ein wohlentwickeltes internationales System, aber bestenfalls nur eine sehr primitive internationale Gesellschaft. Jede Kultur sieht sich selbst als Mittelpunkt der Welt und schreibt ihre Geschichte als zentrales Drama der Menschheitsgeschichte. Dies gilt fr den Westen vielleicht noch mehr als fr andere Kulturen. Derartige monokulturelle Gesichtspunkte verlieren jedoch in einer multikulturellen Welt zunehmend an Relevanz und Brauchbarkeit. Kulturtheoretiker haben diese Binsenweisheit lngst erkannt. Spengler verurteilte schon 1918 die im Westen vorherrschende, kurzsichtige Auffassung von Geschichte mit ihrer suberlichen Einteilung in Antike, Mittelalter und Neuzeit, die nur fr den Westen relevant ist: Ich nenne dies dem heutigen Westeuroper gelufige Schema, in dem die hohen Kulturen ihre Bahnen um uns als den vermeintlichen Mittelpunkt alles Weltgeschehens ziehen, das ptolemische System der Ge schichte und ich betrachte es als die kopernikanische Entdeckung im Bereich der Historie, da in diesem Buche ein System an seine Stelle tritt, in dem Antike und Abendland neben Indien, Babylon, China, gypten, der arabischen und mexikanischen Kunst . eine in keiner Weise bevorzugte Stellung einnehmen. 35 Einige Jahrzehnte spter geielte Toynbee die Provinzialitat und Impertinenz des Westens mit seinen egozentrischen Illusionen, da die Welt sich um ihn drehe, da es einen unwandelbaren Osten gbe und da der Fortschritt unausweichlich sei. Wie Spengler hatte er keine Verwendung fr die Annahme einer Einheit der Geschichte, die Annahme, da es nur einen einzigen Strom der Zivilisation, nmlich den unseren, gibt u i da alle anderen entweder Zuflsse sind oder im Wstensand versickern.36 Fnfzig Jahre nach Toynbee hat auch Fernand Braudel die Notwendigkeit betont, zu einer umfassenderen Perspektive zu gelangen und die groen kulturellen Konflikte in der Welt und

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die Mannigfaltigkeit ihrer Zivilisationen zu verstehen.37 Doch die Illusionen und Vorurteile, vor denen diese Autoren warnten, leben fort und treiben Ende des 20. Jahrhunderts neue Blten in der verbreiteten und provinziellen Einbildung, die europische Kultur des Westens sei jetzt die universale Weltkultur.

KAPITEL

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Eine universale Kultur? Modernisierung und VerwestlichungUNIVERSALE KULTUR: BEDEUTUNGEN

wird unsere ra erlebe das Esdessen, die TheseS.vertreten, universale ZivilisationEntstehen was V. Naipaul genannt hat.1 Was ist mit diesem Ausdruck gemeint? Gemeint ist generell das kulturelle Zusammenrcken der Menschheit und die zunehmende Akzeptanz von gemeinsamen Werten, berzeugungen, Orientierungen, Praktiken und Institutionen durch Vlker in der ganzen Welt. Genauer sind wohl e inige Dinge gemeint, die zwar tiefgrndig, aber unwichtig sind, einige, die wichtig, aber nicht tiefgrndig sind, und einige, die unwichtig und vordergrndig sind. Erstens anerkennen die Menschen praktisch aller Gesellschaften gewisse Grundwerte, zum Beispiel, da Mord bse ist, und gewisse Grundinstitutionen, etwa bestimmte Formen der Familie. Die meisten Menschen in den meisten Gesellschaften besitzen ein hnlich gelagertes sittliches Empfinden, es besteht ein dnner minimaler sittlicher Konsens darber, was richtig und falsch ist.2 Wenn mit universaler Kultur dieser Sachverhalt gemeint ist, dann ist das zwar tiefgrndig und zutiefst wichtig, aber es ist weder neu noch ausschlaggebend. Die Tatsache, da die Menschen zu allen Zeiten einige fundamentale Werte und Institutionen gemeinsam hatten, mag bestimmte Konstanten des menschlichen Verhaltens erklren. Sie taugt aber nicht zur Erhellung oder Erklrung der Geschichte, die aus Vernderungen

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im menschlichen Verhalten besteht. Und falls es eine universale Kultur gibt, die der ganzen Menschheit gemeinsam ist, welche Bezeichnung verwenden wir dann fr die groen kulturellen Gruppierungen des menschlichen Geschlechts? Die Menschheit zerfllt in Untergruppen - in Stmme, Nationen und grere zivilisatorische Einheiten, die man fr gewhnlich Kultur nennt. Wird der Begriff Kultur berhht und auf das beschrnkt, was der Menschheit als ganzer gemeinsam ist, mu man entweder einen neuen Begriff fr die grten zivilisatorischen Gruppierungen unterhalb der Ebene der Gesamtmenschheit erfinden, oder man mu annehmen, da diese grten, aber nicht die Menschheit insgesamt umfassenden Gruppierungen verschwinden werden. So hat zum Beispiel Vaclav Havel betont: Wir leben heute in einer einzigen, globalen Zivilisation; er hat jedoch hinzugesetzt: Freilich ist sie nicht mehr als ein dnner Firnis. Sie berzieht oder verhllt eine ungeheure Vielfalt von Kulturen, Vlkern, religisen Welten, geschichtlichen Traditionen und historisch geprgten Einstellungen, die in gewisser Weise alle >darunter< liegen. 3 Es stiftet nur semantische Verwirrung, wenn man den Begriff Kultur auf die globale Ebene beschrnkt und als Zivilisationen oder Subzivilisationen jene grten kulturellen Einheiten bezeichnet, die in der Geschichte immer als Kultur oder Kulturkreis bezeichnet worden sind.4 Zweitens knnte der Begriff universale Kultur zur Bezeichnung dessen verwendet werden, was zivilisierte Gesellschaften miteinander gemeinsam haben, wie zum Beispiel Stdte oder Alphabetisierung, und was sie von primitiven Gesellschaften oder Barbaren unterscheidet. Das ist natrlich die dem 18. Jahrhundert eigene singularische Bedeutung des Begriffs Zivilisation, und in diesem Sinne ist in der Tat eine universale Zivilisation im Entstehen begriffen, sehr zum Entsetzen diverser Anthropologen und anderer, die mit Bestrzung das Verschwinden primitiver Vlker registrieren. Die Zivilisation in diesem Sinne hat sich im Laufe der Menschheitsgeschichte immer weiter ausgebreitet, und die Verbreitung von Zivilisation im Singu-

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lar war und ist mit der Existenz vieler Kulturen im Plural durchaus vertrglich. Drittens knnte sich der Begriff universale Kultur auf Annahmen, Werte und Doktrinen beziehen, die gegenwrtig von vielen Menschen im westlichen Kulturkreis und von manchen Menschen in anderen Kulturkreisen vertreten werden. Man knnte es die Davos-Kultur nennen. Jedes Jahr treffen sich etwa tausend Wirtschaftsfachleute, Bankiers, Regierungsvertreter, Intellektuelle und Journalisten im schweizerischen Davos zum Weltwirtschafts-Forum. Fast alle diese Leute haben einen akademischen Abschlu in einem natur-, sozial-, wirtschaftsoder rechtswissenschaftlichen Fach, gehen mit Worten und/oder Zahlen um, sprechen ziemlich flieend Englisch, sind in Behrden, Unternehmen oder akademischen Einrichtungen mit ausgedehntem internationalem Engagement ttig und reisen hufig ins Ausland. Gemeinsam ist ihnen der Glaube an Individualis mus, Marktwirtschaft und politische Demokratie, der auch unter Menschen der westlichen Kultur verbreitet ist. Davos-Leute kontrollieren praktisch alle internationalen Institutionen, viele Regierungen und ein gut Teil des wirtschaftlichen und militrischen Potentials der Welt. Die Davos-Kultur ist daher ungeheuer wichtig. Aber wieviele Menschen sind weltweit wirklich Teil dieser Kultur? Auerhalb des Westens wird sie wahrscheinlich von kaum fnfzig Millionen Menschen oder einem Prozent der Weltbevlkerung anerkannt, vielleicht sogar nur von einem Zehntelprozent der Weltbevlkerung. Sie ist weit davon entfernt, eine universale Kultur zu sein, und die Fhrer, die die Davos-Kultur vertreten, haben nicht unbedingt einen festen Zugriff auf die Macht in ihrer jeweiligen Gesellschaft. Diese gemeinsame intellektuelle Kultur existiert, wie Hedley Bull hervorhebt, nur auf der Ebene der Eliten: Ihre Wurzeln reichen in vielen Gesellschaften nicht tief... [und] es ist fraglich, ob sie selbst auf der diplomatischen Ebene das umfat, was gemeinsame moralische Kultur genannt worden ist, ein System gemeinsamer Werte im Unterschied zu einer gemeinsamen intellektuellen Kultur. 5

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Viertens wird der Gedanke ventiliert, da die Ausbreitung westlicher Konsummuster und westlicher Populrkultur ber die ganze Welt dabei ist, eine universale Kultur zu schaffen. Dieses Argument ist weder tiefgrndig noch bedeutend. Modetrends sind seit jeher von Kultur zu Kultur weitergegeben worden. Innovationen in einer Zivilisation werden regelmig von anderen Kulturen aufgegriffen. Dabei handelt es sich jedoch entweder um Techniken, die keine signifikanten kulturellen Auswirkungen haben, oder um Moden, die kommen und gehen, ohne die eigentliche Kultur der Empfnger zu tangieren. Diese Importe schlagen in der Empfnger-Kultur ein, weil sie entweder exotisch sind oder weil sie aufoktroyiert werden. In frheren Jahrhunderten wurde die westliche Welt in regelmigen Abstnden von der Begeisterung fr diverse Aspekte der chinesischen oder hinduistischen Kultur erfat. Im 19. Jahrhundert wurden kulturelle Importe aus dem Westen in China und Indien populr, weil sich in ihnen westliche Macht zu spiegeln schien. Die jetzige These, da die Ve rbreitung von Pop-Kultur und Konsumgtern ber die ganze Welt den Triumph der westlichen Zivilisation darstelle, trivialisiert die westliche Kultur. Die Quintessenz der westlichen Zivilisation ist die Magna Charta, nicht der Big Mac. Die Tatsache, da Nichtwestler in diesen beien, sagt nichts darber aus, ob sie jene akzeptieren. Es sagt auch nichts ber ihre Einstellungen zum Westen aus. Irgendwo im Nahen Osten kann es sehr wohl ein paar junge Mnner in Jeans geben, die Coca Cola trinken und Rap hren, aber zwischen Verbeugungen in Richtung Mekka eine Bombe basteln, um ein amerikanisches Flugzeug in die Luft zu jagen. In den siebziger und achtziger Jahren haben die Amerikaner Millionen von japanischen Autos, Fernsehapparaten, Fotoapparaten und elektronischen Gerten konsumiert, ohne japanisiert zu werden, ja bei gleichzeitig sich verstrkender Japanfeindlichkeit. Naive Arroganz verleitet Westler zu der Annahme, Nichtwestler wurden durch den Erwerb von westlichen Gtern verwestlicht. Was sagt es aber der Welt wirklich ber den Westen,

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wenn Westler ihre Zivilisation mit Sprudelgetrnken, ausgebleichten Hosen und fetthaltigen Speisen gleichsetzen? Eine etwas anspruchsvollere Version dieser These von der universalen Populrkultur zielt nicht auf Konsumgter generell, sondern auf die Medien ab, auf Hollywood statt auf Coca Cola. Die amerikanische Kontrolle der globalen Film-, Fernseh- und Videoindustrie bertrifft sogar Amerikas Dominanz in der Luftfahrtindustrie. 88 von 100 der weltweit meistbesuchten Filme im Jahre 1993 kamen aus den USA; zwei amerikanische und zwei europische Organisationen beherrschen weltweit die Sammlung und Verbreitung von Nachrichten,6 Diese Situation spiegelt zwei Phnomene wider. Das eine ist die Universalitt des menschlichen Interesses an Liebe, Sexualitt, Gewalt, Geheimnis, Heldentum und Reichtum sowie das Vermgen profitorientierter Unternehmen zumal in den USA, dieses Interesse zu ihrem eigenen Vorteil auszunutzen. Erstens gibt es jedoch wenige oder gar keine Beweise dafr, da das Entstehen einer umfassenden globalen Kommunikation eine nennenswerte Konvergenz der Einstellungen und berzeugungen bewirken wrde. Unterhaltung, wie Michael Vlahos gesagt hat, ist nicht gleichzusetzen mit kultureller Konversion. Zweitens interpretieren die Menschen Kommunikation im Sinne ihrer eigenen, vorhandenen Werte und Perspektiven. Ein und dasselbe Bild, so Kishore Mahbubani, gleichzeitig in die Wohnzimmer der ganzen Welt bertragen, lst entgegengesetzte Wahrnehmungen aus. In westlichen Wohnzimmern wird applaudiert, wenn Cruise Missiles Bagdad angreifen. Die meisten Menschen auerhalb des Westens sehen, da der Westen unverzglich Vergeltung gegen nichtweie Irakis oder Somalis bt, aber nicht gegen weie Serben - in jeder Hinsicht ein gefhrliches Signal. 7 Globale Kommunikation ist eine der wichtigsten zeitgenssischen Manifestationen westlicher Macht. Diese Hegemonie des Westens ermutigt jedoch populistische Politiker in nichtwestlichen Gesellschaften dazu, den westlichen Kulturimperialismus anzuprangern und ihr Publikum zur Sicherung des berlebens

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und der Integritt ihrer einheimischen Kultur aufzurufen. Das Ausma, in dem die globale Kommunikation vom Westen beherrscht wird, ist daher eine wesentliche Quelle des Ressentiments und der Feindseligkeit nichtwestlicher Vlker gegen den Westen. Daneben fhrten sptestens Anfang der neunziger Jahre Modernisierung und wirtschaftliche Entwicklung in nichtwestlichen Gesellschaften zur Entstehung lokaler und regionaler Medienindustrien, die sich am spezifischen Geschmack dieser Gesellschaften ausrichten.8 1994 schtzte die Gesellschaft CNN International die Zahl ihrer potentiellen Zuschauer auf 55 Millionen oder rund ein Prozent der Weltbevlkerung (eine auffallend hnliche Zahl wie bei den Angehrigen der Davos-Kultur und zweifellos weithin mit diesen identisch). Der Prsident von CNN behauptete, die englischen Sendungen seiner Gesellschaft knnten zwei bis vier Prozent des Marktes erreichen. Seither sind regionale (das heit: kulturkreisorientierte) Netze entstanden, die auf spanisch, japanisch, arabisch, franzsisch (fr Westafrika) und in anderen Sprachen senden. Dem Globalen Nachrichtenstudio, resmierten drei Forscher, steht noch immer der Turm von Babel im Wege. 9 Ronald Dore vertritt eindrucksvoll die These vom Entstehen einer globalen intellektuellen Kultur unter Diplomaten und Inhabern ffentlicher mter. Doch sogar er zieht einen stark eingeschrnkten Schlu, was den Impakt einer verstrkten Kommunikation betrifft: Eine zunehmende Kommunikationsdichte sollte, wenn sonst alles gleich ist [Hervorhebung von ihm] eine Grundlage fr ein Nachbarschaftsgefhl unter den Nationen, oder zumindest unter den mittleren Schichten, oder zuallermindest unter den Diplomaten der Welt garantieren; aber, so fgt er hinzu: einiges von dem, was eben nicht gleich ist, kann in der Tat ausschlaggebend sein. 10 Sprache. Die zentralen Elemente jeder Kultur oder Zivilisation sind Sprache und Religion. Falls eine universale Kultur im Entstehen begriffen ist, mte es Tendenzen zur Herausbildung einer universalen Sprache und einer universalen Religion geben. Dieser Anspruch wird in bezug auf die Sprache in der Tat oft

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erhoben. Die Sprache der Welt ist Englisch, wie der Herausgeber des Wall Street Journal behauptet.11 Dies kann zweierlei bedeuten, wrde aber nur in einem Fall die These einer universalen Kultur sttzen. Es knnte bedeuten, da ein wachsender Anteil der Weltbevlkerung Englisch spricht. Es gibt keine Anhaltspunkte, die diese Behauptung untermauern wrden; das zuverlssigste Material, das existiert und zugegebenermaen nicht sehr przise sein kann, zeigt das genaue Ge genteil. Die verfgbaren Daten ber die gut drei Jahrzehnte von 1958 bis 1992 lassen darauf schlieen, da sich das Gesamtbild der verwendeten Sprachen nicht dramatisch verndert hat, da der Prozentsatz der Menschen stark zurckgegangen ist, die Englisch, Franzsisch, Deutsch, Russisch und Japanisch sprechen, da in geringerem Mae der Prozentsatz der Menschen zurckgegangen ist, die Mandarin sprechen, und da der prozentuale Anteil der Menschen gestiegen ist, die Hindi, Malaiisch-Indonesisch, Arabisch, Bengali, Spanisch, Portugiesisch und andere Sprachen sprechen. Der Anteil der Englischsprechenden fiel von 9,8 Prozent der Menschen, die 1958 eine von mindestens einer Million Menschen gesprochene Sprache sprachen, auf 7,6 Prozent im Jahre 1992. (Siehe Tabelle 3.1.) Der Anteil der Weltbevlkerung, der die fnf groen westlichen Sprachen (Englisch, Franzsisch, Deutsch, Portugiesisch, Spanisch) spricht, sank von 24,1 Prozent 1958 auf 20,8 Prozent 1992. 1992 sprachen knapp doppelt so viele Menschen Mandarin wie Englisch, nmlich 15,2 Prozent der Weltbevlkerung; dazu kamen 3,6 Prozent, die andere Arten von Chinesisch sprachen. (Tabelle 3.2.) In gewisser Hinsicht kann eine Sprache, die 92 Prozent der Menschen fremd ist, nicht die Weltsprache sein. In anderer Hinsicht knnte man sie dennoch so nennen, sofern es die Sprache ist, die Menschen verschiedener Sprachgruppen und Kulturen benutzen, um miteinander zu kommunizieren, sofern es also die lingua franca der Welt, sprachwissenschaftlich gesprochen die wichtigste Language of Wider Communication (LWC) in

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der Welt ist.12 Menschen, die miteinander in Verbindung treten mssen, bentigen ein Mittel hierfr. Auf einer Ebene knnen sie sich auf speziell ausgebildete Fachleute sttzen, die zwei oder mehr Sprachen flieend sprechen und als Dolmetscher oder bersetzer fingieren. Das ist jedoch mhsam, zeitraubend und teuer. Daher sind zu allen Zeiten linguae francae aufgekommen: Latein in der klassischen und der mittelalterlichen Welt, Franzsisch jahrhundertelang im Westen, Swahili in weiten Teilen Afrikas und Englisch in der zweiten Hlfte des 20. Jahrhunderts fast berall auf der Welt. Diplomaten, Geschftsleute, Wissenschaftler, Touristen und die Touristikbranche, Flugzeugpiloten und Fluglotsen bentigen ein Mittel der effizienten Kommunikation untereinander und tun dies heute groenteils auf englisch.

Tabelle 3.1 Sprecherzahlen groer Sprachen in Prozent der Weltbevlkerung*Jahr 1958 1970 1980 1992

Sprache Arabisch Bengali Englisch Hindi Mandarin Russisch Spanisch

2,7 2,7 9,8 5,2 15,6 5,5 5,0

2,9 2,9 9,1 5,3 16,6 5,6 5,2

3,3 3,2 8,7 5,3 15,8 6,0 5,5

3,5 3,2 7,6 6,4 15,2 4,9 6,1

* 100 = Anzahl der Menschen, die eine von mindestens 1 Million Menschen gesprochene Sprache sprechen Quelle Die Prozentsatze wurden aus Daten berechnet, die Professor Sidney S. Culbert vom Fachbereich Psychologie der University of Washington in Seattle ber von mindestens 1 Million Menschen gesprochene Sprachen gesammelt und jhrlich im World Almanac and Book of Facts mitgeteilt hat. Seine Schtzungen umfassen Muttersprachler wie Nichtmuttersprachler und beruhen auf nationalen Zhlungen, Bevlkerungsstichproben, Auswertungen von Rundfunk und Fernsehsendungen, Angaben ber Bevlkerungswachstum, sekundren Studien und anderen Quellen.

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Tabelle 3.2 Verbreitung der wichtigsten chinesischen und westlichen Sprachen - Anzahl und prozentualer Anteil an der WeltbevIkerung 1958 1992

Anzahl Prozent (m Mio ) Mandarin Kanton Wu Min Hakka chinesische Sprachen Englisch Spanisch Portugies. Deutsch Franzs. westliche Sprachen Welt Ges.444 43 39 36 19 581 278 142 74 120 70 684 2845 15,6 1,5 1,4 1,3 0,7 20,5 9,8 5,0 2,6 4,2 2,5 24,1 44,5

Anzahl Prozent (m Mio) 90765 64 50 33 1119 456 362 177 119 123 1237 5979 15,2 1,1 1,1 0,8 0,6 18,8 7,6 6,1 3,0 2,0 2,1 20,8 39,4

Quelle Die Prozentsatze wurden aus Daten berechnet die Professor Sidney S. Culbert vom Fachbereich Psychologie der University of Washington in Seattle gesammelt und und 1959 und 1993 im World Almanac and Book of Facts mitgeteilt hat.

In diesem Sinne ist Englisch die Art, wie die Welt interkulturell kommuniziert, so wie der christliche Kalender die Art ist, wie die Welt die Zeit berechnet, arabische Zahlen die Art sind, wie die Welt zhlt, und das metrische System fast berall die Art ist, wie die Welt mit. Dieser Gebrauch des Englischen ist jedoch interkulturelle Kommunikation; er setzt die Existenz separater Kulturen voraus. Eine lingua franca ist eine Methode, um sprachliche und kulturelle Unterschiede zu berwinden, nicht eine Methode, um sie zu beseitigen. Sie ist ein Werkzeug zur Kommunikation, aber sie stiftet nicht Identitt und Gemeinschaft. Da ein japanischer Bankier und ein indonesischer Ge schftsmann miteinander englisch sprechen, heit nicht, da einer von ihnen oder beide anglisiert oder verwestlicht wren. Dasselbe kann man von franzsisch- und deutschsprachigen

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Schweizern sagen, die miteinander ebensogut auf englisch kommunizieren knnen wie in einer ihrer nationalen Sprachen. Auch die Beibehaltung des Englischen als zweiter Staatssprache in Indien - entgegen den Plnen Nehrus - zeugt fr das starke Bedrfnis der nicht-hindisprachigen Vlker Indiens nach Erhaltung ihrer eigenen Sprachen und Kulturen und fr die Notwendigkeit Indiens, eine vielsprachige Gesellschaft zu bleiben. Wie der fhrende Sprachwissenschaftler Joshua Fishman bemerkt hat, wird eine Sprache als lingua franca oder LWC eher akzeptiert, wenn sie nicht hauptschlich einer bestimmten ethnischen Gruppe, Religion oder Ideologie zugeordnet werden kann. In der Vergangenheit wies das Englische viele dieser Zuordnungen auf. Neuerdings ist es ent-ethnisiert (oder minimal ethnisiert), wie es in der Vergangenheit mit dem Akkadischen, Aramischen, Griechischen und Lateinischen geschah. Es war das Glck des Englischen als einer Zusatzsprache, da in den letzten 25 Jahren [Hervorhebung von Fishman] weder seine britischen noch seine amerikanischen Ursprnge ernsthaft und verbreitet in einem ethnischen oder ideologischen Kontext gesehen wurden. 13 Die Verwendung des Englischen zur interkulturellen Kommunikation hilft also die separaten unterschiedlichen Identitten der Vlker bewahren, ja strkt diese sogar. Gerade weil die Menschen ihre eigene kulturelle Identitt bewahren wollen, bedienen sie sich des Englischen, um mit Menschen anderer Kulturen zu kommunizieren. Die Menschen, die weltweit Englisch sprechen, sprechen auch zunehmend regional verschiedene Arten von Englisch. Die englische Sprache wird indigenisiert und nimmt lokale Frbungen an, die sie vom britischen und amerikanischen Englisch unterscheiden und im Extremfall diese englischen Idiome freinander fast unverstndlich machen, wie dies auch bei Varianten des Chinesischen der Fall ist. Nigerianisches Pidgin-Englisch, indisches Englisch und andere Formen des Englischen werden in ihre jeweiligen Gastkulturen integriert und drften sich in Zukunft weiter ausdifferenzieren, so da vermutlich aus ihnen

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verwandte, aber eigene Sprachen entstehen werden, so wie sich aus dem Lateinischen die romanischen Sprachen entwickelt haben. Doch im Unterschied zum Italienischen, Franzsischen und Spanischen werden diese aus dem Englischen abgeleiteten Sprachen entweder nur von einer Minderheit der Gesellschaft gesprochen oder in erster Linie fr die Kommunikation zwischen besonderen Sprachgruppen eingesetzt werden. Alle diese Entwicklungen kann man in Indien studieren. Dort soll es 1983 18 Millionen Englischsprechende in einer Bevlkerung von 733 Millionen Menschen, 1991 20 Millionen in einer Bevlkerung von 867 Millionen Menschen gegeben haben. Der Anteil der Englischsprechenden an der indischen Bevlkerung liegt damit relativ stabil bei 2 bis 4 Prozent.14 Auerhalb einer kleinen Elite dient Englisch nicht einmal als lingua franca. Die Wirklichkeit, behaupten zwei Anglistik-Professoren der Universitt New Delhi, sieht so aus, da man auf einer Reise von Kaschmir nach Kanyakumari an der Sdspitze am besten mit einer Form des Hindi, nicht mit Englisch die Verstndigung aufrechthlt. Darber hinaus nimmt das indische Englisch viele Besonderheiten an; es wird in dem Mae indisiert oder, besser gesagt, regionalisiert, wie sich unter den diversen Englischsprechern mit verschiedener Muttersprache Unterschiede herausbilden.15 Das Englische wird heute von der indischen Kultur absorbiert wie einst Sanskrit und das Persische. Zu allen Zeiten hat die Sprachenverteilung in der Welt die Machtverteilung in der Welt widergespiegelt. Die meistverbreiteten Sprachen - Englisch, Mandarin, Spanisch, Franzsisch, Arabisch, Russisch - sind oder waren die Sprachen imperialer Staaten, die aktiv den Gebrauch ihrer Sprache durch andere Vlker frderten. Verschiebungen in der Machtverteilung bewirken Verschiebungen im Gebrauch der Sprachen. Zwei Jahrhunderte britischer und amerikanischer Kolonial-, Wirtschafts-, Industrie-, Wissenschaft s- und Finanzmacht haben weltweit ein gewichtiges Vermchtnis in Bildung, Politik, Handel und Technologie hinterlassen.16 England und Frankreich drangen in ihren Kolo-

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nien auf den Gebrauch ihrer Sprache. Im Anschlu an die Unabhngigkeit versuchten jedoch die meisten frheren Kolonien in unterschiedlichem Umfang und mit unterschiedlichem Erfolg, die imperiale Sprache durch eine einheimische zu ersetzen. In den Bltezeiten der Sowjetunion war Russisch die lingua franca von Prag bis Hanoi. Mit dem Verfall der russischen Macht geht ein entsprechender Verfall des Gebrauchs des Russischen als Zweitsprache einher. Wie bei anderen Formen der Kultur erzeugt zunehmende Macht sprachliches Selbstbewutsein bei Muttersprachlern und liefert Anreize zum Erlernen der Sprache durch andere. In den euphorischen Tagen unmittelbar nach dem Fall der Mauer, als das vereinigte Deutschland der neue Gigant zu sein schien, neigten Deutsche, die flieend Englisch sprachen, dazu, auf internationalen Tagungen deutsch zu sprechen. Die wirtschaftliche Macht Japans hat Nichtjapaner zum Erlernen des Japanischen animiert, und die wirtschaftliche Macht Chinas bewirkt einen hnlichen Boom beim Chinesischen. Zgig verdrngt Chinesisch das Englische als vorherrschende Sprache in Hongkong17 und ist angesichts der Rolle der Auslandschinesen in Sdostasien die Sprache geworden, in der ein gut Teil der internationalen Geschfte in der Region abgewickelt werden. In dem Mae, wie die Macht des Westens im Verhltnis zu der Macht anderer Kulturkreise allmhlich schwindet, wird auch der Gebrauch des Englischen und anderer westlicher Sprachen in anderen Gesellschaften und zur Kommunikation zwischen Gesellschaften langsam zurckgehen. Wenn China irgendwann in ferner Zukunft den Westen als herrschende Kultur der Welt ablst, wird Englisch dem Mandarin als lingua ranca der f Welt weichen. In dem Mae, wie die frheren Kolonien ihre Unabhngigkeit erstrebten und selbstndig wurden, war die Frderung des Ge brauchs einheimischer Sprachen und die Unterdrckung der imperialen Sprachen fr nationalistische Eliten eine Methode, sich von den westlichen Kolonialherren zu unterscheiden und ihre eigene Identitt zu definieren. Nach erreichter Unabhngigkeit

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jedoch hatten diese Eliten das Bedrfnis, sich von den einfachen Menschen ihrer eigenen Gesellschaft zu unterscheiden. Die flieende Beherrschung des Englischen, Franzsischen oder einer anderen westlichen Sprache leistete da gute Dienste. Infolgedessen vermgen Eliten nichtwestlicher Gesellschaften oft besser mit Westlern und miteinander zu kommunizieren als mit Menschen ihrer eigenen Gesellschaft (eine hnliche Situation wie im 17. und 18. Jahrhundert im Westen, wo der Adel verschiedener Lnder sich bequem auf franzsisch verstndigte, aber nicht die Muttersprache des eigenen Landes beherrschte). In nichtwestlichen Gesellschaften scheinen sich heute zwei entgegengesetzte Tendenzen abzuzeichnen. Auf der einen Seite dient Englisch in zunehmendem Mae dazu, Graduierten auf universitrer Ebene das Rstzeug zu vermitteln, das sie bentigen, um im globalen Wettbewerb um Kapital und Kunden bestehen zu knnen. Auf der anderen Seite fhrt gesellschaftlicher und politischer Druck in zunehmendem Mae zum weitgehenden Gebrauch einheimischer Sprachen. In Nordafrika verdrngt Arabisch das Franzsische, in Pakistan ersetzt Urdu als Regierungs- und Unterrichtssprache das Englische, und in Indien verdrngen Medien in einheimischer Sprache solche in englischer Sprache. Diese Entwicklung wurde bereits 1948 von der indischen Bildungskommission vorausgesehen. Sie vertrat den Standpunkt: Der Gebrauch des Englischen ... spaltet die Menschen in zwei Nationen, die wenigen, die regieren, und die vielen, die regiert werden, die einen unfhig, die Sprache der anderen zu sprechen, und beide einander nicht verstehend. Vierzig Jahre spter hat die Fortdauer des Englischen als Elitesprache diese Prognose besttigt und eine unnatrliche Situation in einer auf dem Wahlrecht fr Volljhrige basierenden Demokratie geschaffen: Das englischsprachige Indien und das politisch bewute Indien divergieren mehr und mehr; es entstehen Spannungen zwischen der Minderheit an der Spitze, die Englisch kann, und den - mit Stimmrecht bewaffneten - Aber millionen, die es nicht knnen. 18 In dem Ma, wie nichtwest-

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liche Gesellschaften demokratische Institutionen einfhren und die Menschen dieser Gesellschaften strker am politischen System beteiligt werden, geht der Gebrauch westlicher Sprachen zurck, und der einheimischer Sprachen nimmt zu. Das Ende des Sowjetimperiums und des Kalten Krieges