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simplen Quadratraster-Aufteilung bis zur freien Gestaltung ganzer Seiten und Doppelseiten gibt es erhebliche Unterschiede in der Wirkung auf die Leserschaft. 6.3.7 KÖRPERSPRACHE, BEWEGUNG UND BEWEGTHEIT Ergänzend muß noch auf den Bereich verwiesen werden, der als direkter Ausdruck augen- blicklicher oder andauernder individueller Stimmungslage und/oder als Typisierungshilfe für ausgeprägte Charaktere eine wesentliche Rolle spielen kann: Mimik und Gestik. Die ganze Breite der menschlichen Körpersprache wird ausgenutzt, um in unterschiedlichsten Zeichen- stilen und Differenzierungsgraden die emotionalen Signale menschlicher Reaktionen zu zei- gen. Während die Gestik als Teil der bereits beschriebenen, eher kleinräumigen Körperbewe- gungen ihre emotionale Ausdruckskraft entwickeln kann, ist die Mimik prädestiniert, das Auf und Ab menschlicher Gefühlsregungen zu verdeutlichen. Ich beschränke entsprechende Bei- spiele trotzdem auf wenige Aspekte, da es sich hier eher um gestaltpsychologische und wahr- nehmungstheoretische Grundlagenbereiche als um comicspezifische Darstellungsmerkmale handelt. 365 Die Mimik des Rennfahrers bietet zwar eine Gelegenheit, aus dem üblichen Darstellungsrepertoire der Ge- schichten um Michel Vaillant ein wenig auszubrechen. Die Suggestion, daß Rennfahren eine Tätigkeit mit allen Höhen und Tiefen der menschlichen Gefühlsskala sei, wird jedoch durch die recht manieristischen Zeichnungen nicht überzeugender. Die „Bewegtheit“ des Fahrers baut auf der Reihung mit gleichbleibender Ausschnittgröße (vgl. „stehende Kamera“) auf. Abb. aus „Michel Vaillant“. Zack 30 (1972): 10. Berlin-Hamburg: Koralle. Abb. 566

6.3.7 KÖRPERSPRACHE, BEWEGUNG UND BEWEGTHEIT · simplen Quadratraster-Aufteilung bis zur freien Gestaltung ganzer Seiten und Doppelseiten gibt es erhebliche Unterschiede in der Wirkung

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simplen Quadratraster-Aufteilung bis zur freien Gestaltung ganzer Seiten und Doppelseiten

gibt es erhebliche Unterschiede in der Wirkung auf die Leserschaft.

6.3.7 KÖRPERSPRACHE, BEWEGUNG UND BEWEGTHEIT

Ergänzend muß noch auf den Bereich verwiesen werden, der als direkter Ausdruck augen-

blicklicher oder andauernder individueller Stimmungslage und/oder als Typisierungshilfe für

ausgeprägte Charaktere eine wesentliche Rolle spielen kann: Mimik und Gestik. Die ganze

Breite der menschlichen Körpersprache wird ausgenutzt, um in unterschiedlichsten Zeichen-

stilen und Differenzierungsgraden die emotionalen Signale menschlicher Reaktionen zu zei-

gen. Während die Gestik als Teil der bereits beschriebenen, eher kleinräumigen Körperbewe-

gungen ihre emotionale Ausdruckskraft entwickeln kann, ist die Mimik prädestiniert, das Auf

und Ab menschlicher Gefühlsregungen zu verdeutlichen. Ich beschränke entsprechende Bei-

spiele trotzdem auf wenige Aspekte, da es sich hier eher um gestaltpsychologische und wahr-

nehmungstheoretische Grundlagenbereiche als um comicspezifische Darstellungsmerkmale

handelt.

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Die Mimik des Rennfahrers bietet zwar eine Gelegenheit, aus dem üblichen Darstellungsrepertoire der Ge-schichten um Michel Vaillant ein wenig auszubrechen. Die Suggestion, daß Rennfahren eine Tätigkeit mit allenHöhen und Tiefen der menschlichen Gefühlsskala sei, wird jedoch durch die recht manieristischen Zeichnungennicht überzeugender. Die „Bewegtheit“ des Fahrers baut auf der Reihung mit gleichbleibender Ausschnittgröße(vgl. „stehende Kamera“) auf. Abb. aus „Michel Vaillant“. Zack 30 (1972): 10. Berlin-Hamburg: Koralle.

Abb. 566

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Abb. aus GALEWITZ. ebd. 287.

Chester GOULD war einer der ersten, der seine „Schurken“ in denKriminalgeschichten um Dick Tracy als Sammlung hypertypisierterKarikaturen einsetzte und seinen Geschichten so einen Semi-Funny-Charakter verlieh. Auch der Hauptdarsteller selbst (vgl. Panel rechts)wurde karikiert. Abb. rechts aus GALEWITZ. The Celebrated Ca-ses... a.a.O. 286.

Abb. 572

Abb. 573

Inhaltlich differenzierende Arbeiten vieler vergangener Jahre verzichten auf solche rein opti-

schen Orientierungen völlig und sorgen damit für mehr Realismus. Andere Serien überzeich-

nen bewußt die angesprochene „Typenhaftigkeit“ im Stile von Karikaturen und nehmen ihr

so den faden Geschmack trivial-stumpfer Schablonen.

Daß stark vereinfachte

Überzeichnungen vor al-

lem im humoristisch orien-

tierten Comic eine große

Rolle spielen, entspricht

den Aussageabsichten die-

ses Genres. McCLOUD

hat in in Understanding

Comics treffend darauf

verwiesen, daß die zeich-

nerische Reduktion auf we-

sentliche Charakteristika Hervorhebungen erlaubt, die in der naturalistischen Kunst nicht

möglich sind. Bezieht man dies auf Merkmale der Mimik, so ist weit mehr machbar als das

o.a. Beispiel ahnen läßt. In Anleitungs- und Lehrbüchern über Karikatur-, Cartoon- und

Comic-Zeichnen wird eine breite Palette an Varianten zur Steigerung der „Bewegtheit“ von

Gesichtern geboten.

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McCLOUD. Comics richtig lesen. a.a.O. 38.

Abb. 574

Abb. 575

Zwei Seiten aus Drawing on the Funny Side of the Brain, einer Einführung in das Comic-Zeichnen durch Chri-stopher HART. In der stark vereinfachten Linienführung der Zeichnungen werden die unterschiedlichen Stim-mungslagen der dargestellten Person zur relativ leicht einzuordnenden Charakteristik. Erst im unmittelbarenWort-Bild-Zusammenhang wird daraus jedoch eine eindeutige Aussage. HART. ebd. 1998. a.a.O. 24-25.

370

Abb. aus WHITAKER. The Encyclope-dia of Cartooning Techniques. a.a.O. 60.

Abb. 577

Obenstehend ein weiteres Beispiel aus der Gruppe der Anlei-tungsbücher: ARMSTRONG, Roger. How to Draw ComicStrips. a.a.O. 11.

Abb. 576

Die Sequenz rechts geht über den

Spielraum veränderter Mimik im re-

alisitisch orientierten Comic deutlich

hinaus. Die extremen Verzerrungen

könnten als Beleg für seine Ver-

schmelzung mit der Karikatur angese-

hen werden. Grundsätzlich ist der Co-

mic jedoch, im Gegensatz zur Karika-

tur, nicht an eine erkennbare Ähnlich-

keit gebunden, kann sich also jede

denkbare Veränderung erlauben.

HART schreibt dazu in einem Anleitungsband zum Comiczeichnen434:

Das Gesicht des Menschen stellt als

„Spiegel der Seele“, als Widergabe-

möglichkeit seiner momentanen

oder andauernden Gefühle und

Stimmungen hohe Anforderungen

an den erzählenden Zeichner. EIS-

NER verweist darauf, daß die Ober-

fläche des menschlichen Gesichts,

mit Ausnahme von Nase und Ohren,

ständig in Bewegung sei. „Augen-

brauen, Lippen, Kiefer, Augenlider

und Backen verändern sich durch

Muskelbewegungen, die von einer

emotionalen Steuerungszentrale im

Gehirn ausgelöst werden“ (EISNER.

Mit Bildern erzählen. 11). Eine Tren-

Trennung zwischen Gestik und Hal-

tung sei hier nur schwer möglich.

434 HART. Comiczeichnen leichtgemacht: Helden und Schurken. a.a.O. 1998. 44.

372

Abb. aus LEE/BUSCEMA. How to Draw Comics the MarvelWay. a.a.O. 95.

Abb. 580

Abb. aus HART. Comiczeichnen leichtgemacht: Helden und Schurken .a.a.O. 54.

Abb. 581

Heutzutage sind Schurkennicht einfach nur mieseTypen. Sie sind gemein,widerwärtig, bösartig, sa-distisch, wahnsinnig, übel- eben miese Typen. Hierliegt ein wichtiges Ge-heimnis: Je stärker derSchurke, desto großartigerder Held. Schurken kön-nen wunderbar bösartigsein. Machen Sie sich alsoeinen Spaß daraus, einentollen Schurken zu schaffen.

In der gezielten Kombination

von Wort und Bild unter-

streicht die Mimik wörtliche

Aussagen, variiert sie oder

stellt sie umgekehrt völlig in

Frage. Letzteres ist bekannt-

lich auch in der Karikatur ein

beliebtes Stilmittel der Paro-

die, Ironisierung und Satire.

Besonders deutlich wird

die Aussagekraft menschli-

cher Mimik dort, wo die be-

gleitenden Worte fehlen. In

der Konzentration auf den

„Gefühlswert“ einzelner Pa-

nels oder ganzer Sequenzen können Stimmungslagen erzeugt werden, die die Lesenden stark

373

Abb. 582

Die Vieldeutigkeit des obenstehenden Beispiels, die persönliche Auslegungsmöglichkeit(entstanden durch die Unlesbarkeit der Sprechblasentexte) erzeugt Spannung: Was wurde hiermitgeteilt? Abb. aus EISNER. Mit Bildern erzählen. a.a.O. 113.

Abb. 583

Die nebenstehende Beispielsamm-lung zeigt deutlich die variierendeWechselbeziehung zwischen Wort-und Bildaussagen. Die aus dem Be-reich des Hörbaren stammende Re-dewendung „Der Ton macht dieMusik“ kann hier auf die „persönli-che Ausdruckskraft“ der Mimik über-tragen werden. Abb. aus EISNER.ebd. 112.

beeinflussen. Aufdringliche Übertreibungen lassen jedoch auch gegenteilige Wirkungen ent-

stehen: Leser fühlen sich unterschätzt oder manipuliert, lehnen „primitiv Vereinfachtes“ als

zu trivial ab (vgl. Abb. 566, S. 365 - Abb. 571, S. 367).

Die Ausdruckskraft der Mimik wird durch die begleitende Gestik u.U. verstärkt. In wissen-

schaftlichen Arbeiten, vorrangig aus den Bereichen der Wahrnehmungs- und Gestaltpsycho-

logie, hat man immer wieder versucht, typische Gesten und Körperhaltungen zu katalogisie-

ren, die einen relativ eindeutigen Aussagewert zur pschychischen Situation des sich bewegen-

den Menschen besitzen. Unabhängig davon ist jedoch festzuhalten, daß wir als Menschen von

Kindesbeinen an lernen, mit Körperhaltungen und ihrer Bedeutung umzugehen. Zuneigung

oder Abwendung, Streicheln oder Schlagen, Liebe oder Haß - diese willkürlich genannten

Beispiele aus der Welt emotionaler Erfahrungen übertragen wir auf symbolisch scheinbar

Gleichartiges im beobachtbaren Bewegungsablauf. Doch wie bei der Mimik wird auch bei der

Gestik im Comic häufig erst im Zusammenhang mit lesbaren Worten oder Gedanken eine re-

lative Eindeutigkeit der Aussagen erzielt. Im Vergleich erreicht der Comic eine Eindrucks-

qualität, die deutlich über ausschließliche Bild- oder Wortdarstellungen hinausgeht.

374

Abb. 584

Zehnmal die gleiche wörtliche Aussage und doch jedesmal eine andere Gesamtbedeutung:Abb. aus EISNER. ebd. 105.