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68 STADTLEBEN Falter 10/06 E ines Tages begann Peter Payer das Unmögliche. Er machte sich auf den Weg, und er er- fand Wien neu. Payer mar- schierte schnurstracks dorthin, worum andere einen großen Bogen machten. Er war regelrecht berauscht von sei- nen verschlungenen Wanderungen, vom Eigenbrötlersein, von der Wien- Erforschung, bei der er besonders die Zwischenräume, die Alltagsgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts erkunde- te. Payer verfeinerte, fast zehn Jahre ist das nun her, planvoll die Beobach- tung des Abseitigen: Er führte etwa Gespräche mit Wartefrauen, er inven- tarisierte WC-Anlagen, er schrieb und publizierte eine Kulturgeschichte der öffentlichen Bedürfnisanstalten. Er gab einen vergriffenen Memoiren- band heraus: „Leben, Meinungen und Wirken der Witwe Wetti Himmlisch“, Toilettefrau zu Wien, erstmals erschie- nen 1906. Die weiteren For- schungsthemen, Leidenschaften von Peter Payer, rastloser Stadterkunder, ruheloser Stadterforscher? Urbane Phänomene wie Hungerkünstler, Ab- fall, Lärm, Brücken, Glocken, Stadt- image, Aussichtspunkte, Litfaßsäulen, Hupverbote oder Hausmeister. Erst jüngst veröffentlichte Payer den Band „Ansichtssachen“: Die Grätzelfor- schung versammelt zahlreiche, zwi- schen 1945 und 1980 entstandene Fo- tos aus dem 20. Bezirk. In der Brigit- tenau, einem Lieblingshieb, kuratierte er kürzlich auch eine Ausstellung, eine Geschichte der Bezirkswirtshäuser von 1900 bis 1960. Er hat dabei Fotos von historischen Bierhallen und Wein- häusern sowie sepiabraune Bilder von Stammtischrunden mit derben Vor- stadtgesichtern ausgegraben, fern je- der touristisch verbrämten Gemüt- lichkeit. Und er hat ein schönes Nest- royzitat wieder entdeckt: „Im Haus schmeckt einem der beste Trunk nicht; im Wirtshaus muss man sein, das ist der Genuss, da ist das schlechteste Gsäuf ein Hautgout.“ So funktioniert das Prinzip Payer: Er erschließt De- tails, Randständigkeiten, die sich als- bald zur großen Geschichte der Stadt, zum Panoramabild fügen können, weitläufig und bodenständig zugleich. Seine Expeditionen wirken sehr oft wie eine wissenschaftliche Beglaubi- gung eines Buchtitels von Gerhard Roth: „Eine Reise in das Innere von Wien.“ Die Feldforschungsmethoden hat Payer, 43, mittlerweile verfeinert. Sei- ne Füße stecken in schwarzen Halb- schuhen, vier Ösen, zwei Haken, Schnürung bis über den Knöchel, er kann jederzeit zu einer Exkursion aufbrechen; ein schwarzes Notizbuch, Marke Moleskine, steckt in der In- nentasche des Sakkos. Die Haare sind ergraut seit seinem ersten Zeitungs- artikel zum Thema jüdische Brigitten- au, erschienen am 21. Juli 1995 in der Wiener Zeitung, die Universitätsstu- dien sind fürs Erste abgeschlossen, die vielen gravitätischen Titel vor sei- nem Namen stehen in auffälligem Kontrast zur anhaltenden Quirligkeit: Spricht MMag. Dr. phil. Payer, Histo- riker, Raumforscher und Research- Fellow am Internationalen For- schungszentrum Kulturwissenschaf- ten, über Wien, ist er nach wie vor um Bändigung der Gesichtsmuskeln und Gefühle bemüht. An jene Augen- blicke erinnert er sich wohl sein Leb- tag lang, ohne lange nachdenken zu müssen. Es war 1980, Payer saß in der Südbahn auf dem Weg nach Wien, aus Leobersdorf, 3600 Einwohner, 12,34 Quadratkilometer Gemeindefläche, kommend. Das erste Mal am Süd- bahnhof, die ersten Stadteindrücke: Die Leute gehen hier schneller als im Dorf! Keiner kennt keinen, kein Gruß und Gegengruß bei Zufallsbe- gegnungen. Wie benütze ich eine Rolltreppe? D ie Fahrt mit dem 13A vom Bahnhof zur Uni“, erinnert sich Payer, „das war jedes Mal wie Kino, spannend, faszinierend. Ent- weder mit der Linie D oder mit dem 13A, damals noch ein Doppeldecker- bus. Die Fahrt durch die Anonymität der Großstadt, immer oben ganz vor- ne.“ Spricht Payer über Wien, die größte Kleinstadt der Welt, fallen oft Worte wie „faszinierend“, „unglaub- lich“, „ein Wahnsinn“. Andererseits verhält er sich sehr unwienerisch: Er spricht Namen von Fachkollegen, wie in Wien üblich, nicht mit Schaudern aus, er lässt Situationen auch nicht wienerisch eskalieren, indem er Raun- zen und Jammern mit Argumentieren verwechselt. Seine Beziehung zu Wien ist die Geschichte einer anhaltenden, ungeminderten Faszination. Und jener Blick auf die Geschichte der Stadt, den er von Anfang an kultivierte, ist mitt- lerweile auch in Wien eine etablierte Art der Metropolenforschung, die sich, wie in anderen europäischen Großstädten längst üblich, im Schnitt- bereich von Stadtgeschichte, Sinnesge- schichte und Umweltgeschichte be- wegt. Payers Forschungsschwerpunk- te: Sinneswahrnehmung in der Groß- stadt, die Funktionsänderung urbaner Räume, verschwindende Berufsgrup- pen, religiöse und ethnische Minder- heiten. Zu verklärend, zu nostalgisch darf die städtische Untersuchung allerdings nie werden: Die Suche nach Wiener Typen, nach der Lavendelverkäuferin und dem Maronibrater, sind und blei- ben Payers Themen fürs Feuilleton. Das touristisch aufgeputzte Wien ist nur von mäßigem Interesse, wichtiger ist das Leben in der Vorstadt. Über- haupt, die Vorstadt: Payers hauptsäch- liche Ideenlieferantin. Der Praktiker unter den Histori- kern kann natürlich auch in Sachen Theorie glänzen: „Mein Forschungs- gebiet sind die sozialen, ökonomi- schen und kulturellen Transformatio- nen der europäischen Großstadt auf ihrem Weg in die Postmoderne“, sagt er. Mehr praktisch, weniger theore- tisch formuliert: „Das Wichtigste ist, Fragen an die Stadt zu stellen.“ Wie riecht Wien? Wie wirkt die Stadt in der Nacht? Wie hört sie sich an? Das sind Fragen, die seit je Payers Auf- merksamkeit anziehen. Zur Frage Stadt und Lärm, Beobachtungszeit- raum zwischen 1850 und 1914, plant er einen Wälzer; bald soll auch ein Wie riecht Wien? GESCHICHTE Vor zehn Jahren publizierte Peter Payer seinen ersten Zeitungsartikel zum Thema Wien – mittlerweile hat der Historiker und Ausstellungsmacher eine neue Form der Metropolenforschung etabliert. Porträt eines rastlosen Stadterforschers. WOLFGANG PATERNO D ie Brigittenau ist eine Insel, ein Brückengebiet. Insgesamt 16 Überführungen über Donau und Donaukanal verbinden den 20. Be- zirk mit dem Festland – darunter die Nordbrücke, die Floridsdorfer Brücke, die Gürtelbrücke oder die ab 1877 erbaute und hundert Jahre später neu geplante Verbindungs- bahnbrücke zwischen Heiligenstadt und der Brigittenau. Im Mittelpunkt der Ausstellung „Über Brücken“, die rund vierzig Fotos der diversen Que- rungen präsentiert, steht der 1871/72 errichtete, im Lauf der Geschichte mehrmals von Brigittenauer Brücke in Friedensbrücke (und zurück) ge- taufte Übergang. Peter Payer, der Stadtforscher mit dem Blick für das Besondere, schreibt in der Betrach- tung „Der Weg durch die Luft“: „Die Faszination, die einst von Brücken ausging, ist heute (...) verloren ge- gangen. Längst sind sie ein unsicht- barer Teil der Fahrbahn, Straßen auf Stelzen, deren Anfang und Ende ver- schliffen ist.“ Auch Payers kleine Tochter Lena spürt offenbar bereits den kleinen Verwerfungen des Alltags hinterher. Sie steuert für den Ausstellungskata- log, in dem rund hundert zwischen 1870 und 2006 entstandene Fotogra- fien versammelt sind, eine Kinder- zeichnung bei: Ein sehr hohes Hoch- haus ist darauf zu sehen, vier Strich- männchen, ein zweibeiniges Tier, dazu drei Brücken in unterschiedli- cher Bau- und Zeichenart. Einen Ti- tel hat Lena der Skizze ebenfalls ver- liehen, mit dem sie gleichsam einen zentralen Satz aus einem Essay des Philosophen und Soziologen Georg Simmel elegant paraphrasiert: „Als verbunden empfinden wir nur, was wir erst irgendwie gegeneinander isoliert haben“, schrieb Simmel 1909 in dem Text „Brücke und Tür“, „die Dinge müssen erst auseinander sein, um miteinander zu sein.“ Lena nennt ihr Werk dagegen schlicht „Über Brükcen“. Eröffnung: 16.3., Gebietsbetreuung Brigitten- au, 20., Karl-Meißl-Str./Ecke Wallensteinplatz, 19 Uhr; Mo–Mi 9–12, 10–16, Do 14–19 u. Fr 9–12 Uhr. Zur Ausstellung erscheint ein reich bebilderter Katalog: Über Brücken. Brigitten- auer Brücken im 19. und 20. Jahrhundert. Ei- genverlag Gebietsbetreuung Brigittenau 2006, 123 S., E 15,– AUSSTELLUNG „Über Brükcen“ „Weg durch die Luft“: die Friedensbrücke in den 20er-Jahren / Foto: Archiv Payer

68 STADTLEBEN Falter 10/06 Wie riecht Wien? riecht Wien.pdf · 2020. 10. 29. · bald zur großen Geschichte der Stadt, zum Panoramabild fügen können, weitläufig und bodenständig

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Page 1: 68 STADTLEBEN Falter 10/06 Wie riecht Wien? riecht Wien.pdf · 2020. 10. 29. · bald zur großen Geschichte der Stadt, zum Panoramabild fügen können, weitläufig und bodenständig

68 STADTLEBEN Falter 10/06

Eines Tages begann Peter Payerdas Unmögliche. Er machtesich auf den Weg, und er er-fand Wien neu. Payer mar-

schierte schnurstracks dorthin, worumandere einen großen Bogen machten.Er war regelrecht berauscht von sei-nen verschlungenen Wanderungen,vom Eigenbrötlersein, von der Wien-Erforschung, bei der er besonders dieZwischenräume, die Alltagsgeschichtedes 19. und 20. Jahrhunderts erkunde-te. Payer verfeinerte, fast zehn Jahreist das nun her, planvoll die Beobach-tung des Abseitigen: Er führte etwaGespräche mit Wartefrauen, er inven-tarisierte WC-Anlagen, er schrieb undpublizierte eine Kulturgeschichte deröffentlichen Bedürfnisanstalten. Ergab einen vergriffenen Memoiren-band heraus: „Leben, Meinungen undWirken der Witwe Wetti Himmlisch“,Toilettefrau zu Wien, erstmals erschie-nen 1906. Die weiteren For-schungsthemen, Leidenschaften vonPeter Payer, rastloser Stadterkunder,ruheloser Stadterforscher? UrbanePhänomene wie Hungerkünstler, Ab-fall, Lärm, Brücken, Glocken, Stadt-image, Aussichtspunkte, Litfaßsäulen,Hupverbote oder Hausmeister. Erstjüngst veröffentlichte Payer den Band„Ansichtssachen“: Die Grätzelfor-schung versammelt zahlreiche, zwi-schen 1945 und 1980 entstandene Fo-tos aus dem 20. Bezirk. In der Brigit-tenau, einem Lieblingshieb, kuratierteer kürzlich auch eine Ausstellung, eineGeschichte der Bezirkswirtshäuservon 1900 bis 1960. Er hat dabei Fotosvon historischen Bierhallen und Wein-häusern sowie sepiabraune Bilder vonStammtischrunden mit derben Vor-

stadtgesichtern ausgegraben, fern je-der touristisch verbrämten Gemüt-lichkeit. Und er hat ein schönes Nest-royzitat wieder entdeckt: „Im Hausschmeckt einem der beste Trunk nicht;im Wirtshaus muss man sein, das istder Genuss, da ist das schlechtesteGsäuf ein Hautgout.“ So funktioniertdas Prinzip Payer: Er erschließt De-tails, Randständigkeiten, die sich als-bald zur großen Geschichte der Stadt,zum Panoramabild fügen können,weitläufig und bodenständig zugleich.Seine Expeditionen wirken sehr oftwie eine wissenschaftliche Beglaubi-gung eines Buchtitels von GerhardRoth: „Eine Reise in das Innere vonWien.“

Die Feldforschungsmethoden hatPayer, 43, mittlerweile verfeinert. Sei-ne Füße stecken in schwarzen Halb-schuhen, vier Ösen, zwei Haken,Schnürung bis über den Knöchel, erkann jederzeit zu einer Exkursionaufbrechen; ein schwarzes Notizbuch,Marke Moleskine, steckt in der In-nentasche des Sakkos. Die Haare sindergraut seit seinem ersten Zeitungs-artikel zum Thema jüdische Brigitten-au, erschienen am 21. Juli 1995 in derWiener Zeitung, die Universitätsstu-dien sind fürs Erste abgeschlossen,die vielen gravitätischen Titel vor sei-nem Namen stehen in auffälligemKontrast zur anhaltenden Quirligkeit:Spricht MMag. Dr. phil. Payer, Histo-riker, Raumforscher und Research-Fellow am Internationalen For-

schungszentrum Kulturwissenschaf-ten, über Wien, ist er nach wie vor umBändigung der Gesichtsmuskeln undGefühle bemüht. An jene Augen-blicke erinnert er sich wohl sein Leb-tag lang, ohne lange nachdenken zumüssen. Es war 1980, Payer saß in derSüdbahn auf dem Weg nach Wien, ausLeobersdorf, 3600 Einwohner, 12,34Quadratkilometer Gemeindefläche,kommend. Das erste Mal am Süd-bahnhof, die ersten Stadteindrücke:Die Leute gehen hier schneller als imDorf! Keiner kennt keinen, keinGruß und Gegengruß bei Zufallsbe-gegnungen. Wie benütze ich eineRolltreppe?

Die Fahrt mit dem 13A vomBahnhof zur Uni“, erinnertsich Payer, „das war jedes Mal

wie Kino, spannend, faszinierend. Ent-weder mit der Linie D oder mit dem13A, damals noch ein Doppeldecker-bus. Die Fahrt durch die Anonymitätder Großstadt, immer oben ganz vor-ne.“ Spricht Payer über Wien, diegrößte Kleinstadt der Welt, fallen oftWorte wie „faszinierend“, „unglaub-lich“, „ein Wahnsinn“. Andererseitsverhält er sich sehr unwienerisch: Erspricht Namen von Fachkollegen, wiein Wien üblich, nicht mit Schaudernaus, er lässt Situationen auch nichtwienerisch eskalieren, indem er Raun-zen und Jammern mit Argumentierenverwechselt. Seine Beziehung zu Wienist die Geschichte einer anhaltenden,

ungeminderten Faszination. Und jenerBlick auf die Geschichte der Stadt, dener von Anfang an kultivierte, ist mitt-lerweile auch in Wien eine etablierteArt der Metropolenforschung, diesich, wie in anderen europäischenGroßstädten längst üblich, im Schnitt-bereich von Stadtgeschichte, Sinnesge-schichte und Umweltgeschichte be-wegt. Payers Forschungsschwerpunk-te: Sinneswahrnehmung in der Groß-stadt, die Funktionsänderung urbanerRäume, verschwindende Berufsgrup-pen, religiöse und ethnische Minder-heiten.

Zu verklärend, zu nostalgisch darfdie städtische Untersuchung allerdingsnie werden: Die Suche nach WienerTypen, nach der Lavendelverkäuferinund dem Maronibrater, sind und blei-ben Payers Themen fürs Feuilleton.Das touristisch aufgeputzte Wien istnur von mäßigem Interesse, wichtigerist das Leben in der Vorstadt. Über-haupt, die Vorstadt: Payers hauptsäch-liche Ideenlieferantin.

Der Praktiker unter den Histori-kern kann natürlich auch in SachenTheorie glänzen: „Mein Forschungs-gebiet sind die sozialen, ökonomi-schen und kulturellen Transformatio-nen der europäischen Großstadt aufihrem Weg in die Postmoderne“, sagter. Mehr praktisch, weniger theore-tisch formuliert: „Das Wichtigste ist,Fragen an die Stadt zu stellen.“ Wieriecht Wien? Wie wirkt die Stadt inder Nacht? Wie hört sie sich an? Dassind Fragen, die seit je Payers Auf-merksamkeit anziehen. Zur FrageStadt und Lärm, Beobachtungszeit-raum zwischen 1850 und 1914, planter einen Wälzer; bald soll auch ein

Wie riecht Wien?GESCHICHTE Vor zehn Jahren publizierte Peter Payer seinen ersten Zeitungsartikel zum Thema Wien – mittlerweilehat der Historiker und Ausstellungsmacher eine neue Form der Metropolenforschung etabliert. Porträt eines rastlosen Stadterforschers. WOLFGANG PATERNO

Die Brigittenau ist eine Insel, einBrückengebiet. Insgesamt 16

Überführungen über Donau undDonaukanal verbinden den 20. Be-zirk mit dem Festland – darunter dieNordbrücke, die FloridsdorferBrücke, die Gürtelbrücke oder dieab 1877 erbaute und hundert Jahrespäter neu geplante Verbindungs-bahnbrücke zwischen Heiligenstadtund der Brigittenau. Im Mittelpunktder Ausstellung „Über Brücken“, dierund vierzig Fotos der diversen Que-rungen präsentiert, steht der 1871/72errichtete, im Lauf der Geschichtemehrmals von Brigittenauer Brückein Friedensbrücke (und zurück) ge-taufte Übergang. Peter Payer, der

Stadtforscher mit dem Blick für dasBesondere, schreibt in der Betrach-tung „Der Weg durch die Luft“: „DieFaszination, die einst von Brückenausging, ist heute (...) verloren ge-gangen. Längst sind sie ein unsicht-barer Teil der Fahrbahn, Straßen aufStelzen, deren Anfang und Ende ver-schliffen ist.“

Auch Payers kleine Tochter Lenaspürt offenbar bereits den kleinenVerwerfungen des Alltags hinterher.Sie steuert für den Ausstellungskata-log, in dem rund hundert zwischen1870 und 2006 entstandene Fotogra-fien versammelt sind, eine Kinder-zeichnung bei: Ein sehr hohes Hoch-haus ist darauf zu sehen, vier Strich-

männchen, ein zweibeiniges Tier,dazu drei Brücken in unterschiedli-cher Bau- und Zeichenart. Einen Ti-tel hat Lena der Skizze ebenfalls ver-liehen, mit dem sie gleichsam einenzentralen Satz aus einem Essay desPhilosophen und Soziologen GeorgSimmel elegant paraphrasiert: „Alsverbunden empfinden wir nur, waswir erst irgendwie gegeneinanderisoliert haben“, schrieb Simmel 1909in dem Text „Brücke und Tür“, „dieDinge müssen erst auseinander sein,um miteinander zu sein.“ Lenanennt ihr Werk dagegen schlicht„Über Brükcen“.

Eröffnung: 16.3., Gebietsbetreuung Brigitten-au, 20., Karl-Meißl-Str./Ecke Wallensteinplatz,19 Uhr; Mo–Mi 9–12, 10–16, Do 14–19 u. Fr9–12 Uhr. Zur Ausstellung erscheint ein reichbebilderter Katalog: Über Brücken. Brigitten-auer Brücken im 19. und 20. Jahrhundert. Ei-genverlag Gebietsbetreuung Brigittenau 2006,123 S., E 15,–

AUSSTELLUNG

„Über Brükcen“

„Weg durch die Luft“: die Friedensbrücke in den 20er-Jahren / Foto: Archiv Payer

Page 2: 68 STADTLEBEN Falter 10/06 Wie riecht Wien? riecht Wien.pdf · 2020. 10. 29. · bald zur großen Geschichte der Stadt, zum Panoramabild fügen können, weitläufig und bodenständig

Band mit einigen Hundert Ansichts-karten zum Thema „Wien bei Nacht“erscheinen.

Payer ist, im positiven Sinn, einGetriebener der Stadt. Im zwei-ten Bezirk, in einer Seitengasse

der Oberen Augartenstraße, hat er sichseine Wien-Werkstatt eingerichtet: ImBuchregal steht spezifische Literatur,das Czeike-Lexikon, Bücher von Dani-el Spitzer, Alfred Polgar, Joseph Roth,Friedrich Schlögls „Wiener Blut“ und„Wiener Luft“, daneben Theoretischeszur Stadterforschung. In vier Albenstecken Postkarten und Fotografien mitWien-Ansichten. Ausgerissene Zei-tungsartikel sind an die Wand gepinnt,etwa „Brite setzt neue Rülps-Maßstä-be: 110,5 Dezibel Lautstärke“. Auf ei-ner Zither ist die Unterschrift von An-ton Karas zu sehen – Payer bereitet fürdie Gebietsbetreuung Brigittenau gera-de eine Ausstellung über den Musikerund Komponisten vor, die Anfang Julieröffnen soll. Auf den Rücken zahlrei-cher blauer und roter Ordnern stehenBegriffe wie „Hausmeister“, „Geruch“,„Wind“, „Paryzek“ und „Delmont“. InPayers Stadtforschungslabor dominie-ren in den Regalen die Farben Blauund Rot. Auf dem Schreibtisch liegt

eine von Hand geschriebene Liste:dreißig Stichworte. Dreißig Projekte.Dreißig Fragen an die Stadt.

Arbeitstechnisch gesehen ist Payereine multiple Persönlichkeit. Für dieHerbstausstellung „Die Motorisierungder Großstadt“ des Technischen Mu-seums fungiert er als Berater und wis-senschaftlicher Mitarbeiter. Im Sep-tember soll eine Publikation zum 60-Jahres-Jubiläum der MA 48, derMagistratsabteilung für Abfallwirt-

schaft und Straßenreinigung, erschei-nen, mit interessanten Randbemer-kungen wie etwa einer kleinen Ge-schichte des öffentlichen Papierkorbs.Ebenfalls noch heuer wird das WienMuseum eine Ausstellung über Bahn-höfe eröffnen – Payer wird dazu einenKatalogbeitrag über den Westbahnhofbei Nacht beisteuern. Im Fachblattdérive, der Zeitschrift für Stadtfor-schung, soll nächstes Jahr eine vonPayer betreute Sondernummer zumSchwerpunkt Stadt und Hören er-scheinen. Für 2007 plant Payer zudem

eine Ausstellung über den 1998 ver-storbenen Filmplakatmaler EduardParyzek in der Stadt- und Landesbi-bliothek – deshalb der prallvolleParyzek-Ordner im Regal. Bereits am16. März eröffnet nun die Ausstellung„Über Brücken“, für die Payer dasThema Brücken in der Brigittenau ge-nauer unter die Lupe genommen hat(siehe Kasten). Über den Brigittenau-er Joseph Delmont, Schriftsteller,Filmpionier, Artist und Dompteur, der

von 1873 bis 1935 lebte und sich aufFotos gern als wilder Mann mit Cow-boyhut und Stummelzigarette ablich-ten ließ, will Payer auch irgendwannschreiben. Delmont ist so eine Figurnach seinem Geschmack.

Das Hinterhofbüro im zweiten Be-zirk ist die Zentrale, über die Stadtsind Vorortposten verteilt. Ein Heuri-ger namens „3-Kugel-Schachinger“,auf dessen Vorplatz drei historischeTürkenkugeln zu sehen und anzugrei-fen sind. Die Ringstraße, auf der hinund wieder die alten Straßenbahngar-

nituren kreuzen: Bim-Gedröhne, dasvom beinah geräuschlosen ULF, Ul-tra-Low-Floor-Wagen, allmählich ab-gelöst wird. Der Kahlenberg und seineVogelperspektive auf Wien: Warum,fragte sich Payer einst, keine Ge-schichte des Blicks von oben, des Auf-die-Stadt-Schauens schreiben? Warumkeine urbane Geschichte des Glocken-läutens, des Autohupens schreiben?Warum die Stadt nicht mit allen Sin-nen begreifen? „Ganz wichtig ist“, sagtPayer, „einfach so durch die Stadt zuflanieren, ohne Sinn und Zweck. Ichnehme mir das immer wieder mal vor,als Tagesziel: ‚So, heute gehst du nurdurch die Stadt.‘“ Er schnürt dann sei-ne schwarzen Stiefel, kontrolliert, obdas Notizbuch im Mantel steckt, undgeht, gemessenen Schritts, hellwachen180-Grad-Blicks, alle Sinne offen, aufWien-Erforschung. ❑

Bücher von Peter Payer (Auswahl): Hungerkünst-ler. Eine verschwundene Attraktion. Wien 2002.(Sonderzahl). 116 S., O 14,50; Leben, Meinungenund Wirken der Witwe Wetti Himmlisch. Memoi-ren einer Wiener Toilettefrau um 1900. Neu he-rausgegeben und mit einem Nachwort von PeterPayer. Wien 2001. (Löcker). 176 S., O 21,60; Unent-behrliche Requisiten der Großstadt. Eine Kulturge-schichte der öffentlichen Bedürfnisanstalten vonWien. Wien 2000. (Löcker). 248 S., O 29,–; Infos: www.stadt-forschung.at

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„Das Wichtigste ist, Fragen an die Stadt zu stellen“: Stadtforscher Peter Payer – hier am Donaukanal – ist der Praktiker unter den Historikern / Foto: Heribert Corn

Warum keine Geschichte des Auf-die-Stadt-Schauensschreiben? Warum keine Geschichte des Autohupens?