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77387 Prange S 001 188 20.09.2011 11:16 Uhr Seite 2 · 2013-12-12 · KLAUS PRANGE Die Zeigestruktur der Erziehung Grundriss der Operativen Pädagogik 2. Auflage FERDINAND SCHÖNINGH

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77387 Prange S 001_188 20.09.2011 11:16 Uhr Seite 2

KLAUS PRANGE

Die Zeigestruktur der Erziehung

Grundriss der Operativen Pädagogik

2. Auflage

FERDINAND SCHÖNINGHPADERBORN · MÜNCHEN · WIEN · ZÜRICH

77387 Prange S 001_188 20.09.2011 11:16 Uhr Seite 3

Umschlaggestaltung: Evelyn Ziegler, München

Gedruckt auf umweltfreundlichem, chlorfrei gebleichtemund alterungsbeständigem Papier ∞� ISO 9706

© 2005 Ferdinand Schöningh, Paderborn(Verlag Ferdinand Schöningh GmbH & Co. KG,

Jühenplatz 1, D-33098 Paderborn)

2., korr. u. erw. Auflage 2012

Internet: www.schoeningh.de

Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk sowie einzelne Teile desselben sindurheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den

gesetzlich zugelassenen Fällen ist ohne vorherige schriftliche Zustimmung des Verlages nicht zulässig.

Printed in Germany. Herstellung: Ferdinand Schöningh, Paderborn

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in derDeutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im

Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

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E-Book ISBN 978-3-657-77387-9ISBN der Printausgabe 978-3-506-77387-6

INHALT

Vorbemerkung zur 2. Auflage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7

1. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11

2. Der Begriff der Erziehung in formaler Anzeige . . . . 31

3. Die Grundform des Erziehens: das Zeigen . . . . . . . . 57

4. Das Lernen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81

5. Die Koordination von Zeigen und Lernen: Artikulation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107

6. Modus in rebus: die Moral des Zeigens . . . . . . . . . . . 137

Anhang:Form in Zeit – Anmerkungen zur paedagogiaperennis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181

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VORBEMERKUNG ZUR 2. AUFLAGE

Was tun wir und wie verhalten wir uns, wenn wir erziehen?Das ist die Hauptfrage der folgenden Bemerkungen, mit deneneine Reihe von weiteren Untersuchungen eröffnet worden ist,die die Zeigestruktur der Erziehung zum Thema haben. DerGedanke hier ist, zunächst die Grundverhältnisse zu klären,die für das Erziehen maßgebend sind, um dann im Fortgangdas Erziehen in verschiedenen Bereichen, unter unterschiedli-chen Bedingungen und mit variablen Aufgabenstellungennäher zu erfassen. Es handelt sich gleichsam um einen Aufbauder Pädagogik von unten, nämlich im Ausgang von den einfa-chen und unumgänglichen Operationen, die das Erziehenkennzeichnen. Das Ziel ist, das Gemeinsame der weit gestreu-ten Bemühungen und divergierenden Interessen undStandorte, die sich als pädagogisch präsentieren, herauszuhe-ben und gegen andere Operationsmodi abzugrenzen. Wie einsolcher Aufbau aussehen kann, soll hier im Grundriss vorge-stellt werden. Insofern handelt es sich um einen Entwurf fürdas, was hier „Operative Pädagogik“ genannt wird.

Der Entwurfcharakter hat den Vorzug, dass mit diesemGrundriss kein bestimmtes pädagogisches Projekt und keineReformabsichten verbunden sind, geschweige denn dieAnsicht, die Erziehung müsse grundlegend neu konzipiertund gewissermaßen noch einmal erfunden werden. Daserscheint mir ohnehin ebenso abwegig wie der Anspruch, dieSchule oder dann auch gleich noch die Kindheit und dieFamilie, den Staat und das Recht, die Sittlichkeit und dieKünste, die Wissenschaften und was noch alles neu zu erfin-den. Die Bemühungen, etwas zu erfinden, was schon da ist,sind nicht ohne Komik: Die Prätention erlösender

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Innovationen ist der Unkenntnis fortwirkender, teils unüber-holbarer, teils sich verwandelnder Überlieferungen undErfahrungen proportional.

Auf jeden Fall liegen Novitätsaspirationen nicht in derAbsicht der folgenden Bemerkungen zur Zeigestruktur derErziehung. Es geht um etwas anderes, nämlich darum, dasimmer schon ausgeübte und mehr oder minder deutlich aus-gesprochene und tatsächlich praktizierte Verständnis vonErziehung herauszuheben, begrifflich zu fassen und damit dieEigenart des Erzieherischen heute wie früher herauszu-schälen, gegen andere Verhaltungen abzuheben und so zueinem vertieften Erziehungsverständnis beizutragen. Ob sichdaraus Folgen für die Praxis des Erziehens ergeben und wel-che das sind, bleibt bei dieser Bemühung eine nachgeordneteFrage. Zuerst ist zu klären, was wir meinen, wenn wir vonErziehung sprechen, und das geschieht, indem als die basaleOperation des Erziehens das Zeigen aufgewiesen wird. Damitsoll nicht eine Entdeckung signalisiert, geschweige denn eineErfindung proklamiert, sondern dasjenige herausgehoben,präzisiert und verständlich gemacht werden, was tatsächlichvorliegt, wenn wir uns auf das Lernen anderer, vornehmlichdas der Kinder und Heranwachsenden, beziehen, des weite-ren: was sich in geschichtlich und aktuell gegebenen Formender Erziehung dokumentiert und schließlich: was in derTradition des Erziehungsdenkens auf unterschiedliche Weiseund im Blick auf wechselnde Verhältnisse zur Sprachegebracht worden ist.

Die insgesamt freundliche Aufnahme dieser Bemühungen,vielleicht unter Studierenden mehr als bei Kollegen, ermutigtmich, die „Zeigestruktur“ in einer weiteren Auflage und weit-gehend unverändert noch einmal vorzulegen. Das soll nichtheißen, dass alle Fragen zur Logik des Zeigens in Hinsicht aufLernen geklärt und befriedigend behandelt sind und keinerweiteren Ausarbeitung bedürften. So sind inzwischen zusam-men mit Gabriele Strobel-Eisele eine Studie zu den „Formendes pädagogischen Handelns“ erschienen (Stuttgart 2006) und

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auch die in der 1. Auflage angekündigte „Ethik derPädagogik“ vorgelegt worden (Paderborn 2010). Darüberhinaus bestand Gelegenheit, in Vorträgen und verschiedenenAufsätzen einzelne Aspekte der Zeigethematik zu behandeln.Sie sollen zu gegebener Zeit in einer gesonderten Publikationerscheinen.

Des weiteren haben Kathrin Berdelmann und Thomas Fuhrdie Beiträge zu einem dem Zeigethema gewidmetenKolloquium in dem Band „Operative Pädagogik.Grundlegung, Anschlüsse, Diskussion“ zugänglich gemacht(Paderborn 2009) und Kathrin Berdelmann mit ihrerDissertation zum „Operieren mit Zeit. Empirie und Theorievon Zeitstrukturen in Lehr-Lernprozessen“ (Paderborn 2010)das Konzept der Artikulation vertiefend weiter entwickelt.Beide Publikationen sind geeignet, den in der „Zeigestruktur“vorgetragenen Gedankengang in kritischer Distanz aufzuneh-men und zu bearbeiten. Außerdem sei auf die beiden mirbekannt gewordenen Besprechungen hingewiesen, dieNorbert Ricken in der „Zeitschrift für Pädagogik“, 2006, S.904-908, und Malte Brinkmann in der „Vierteljahrsschrift fürwissenschaftliche Pädagogik“, 2006, S. 437-440, vorgelegthaben. Was ich aus diesen Arbeiten gelernt habe, ist allerdingsin dieser neuen Auflage der „Zeigestruktur“ noch nichtberücksichtigt und bleibt einer weiteren Beschäftigung mitdem Zeigethema vorbehalten.

Schließlich habe ich all denen zu danken, die mir ihreReaktion auf die These vom Zeigen als dem maßgebendenModus des Erziehens zu erkennen gegeben haben, teils mitermunternder Zustimmung, teils mit rücksichtsvoll-schonen-den Bedenken, aber auf jeden Fall so, mich in der Annahmezu bestärken, dass mit diesem Gedanken etwasBedenkenswertes getroffen ist.

Oldenburg, im Sommer 2011 Klaus Prange

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1. EINLEITUNG

Was mit dem Ausdruck „Erziehung“ gemeint ist, scheint je-der zu wissen, auch ohne Studium und Wissenschaft. Für dasalltägliche und vortheoretische Verhalten genügt ja auch inder Regel eine ungefähre Vorstellung davon, was Erziehungist, was man da tut und unterlässt, wie man mit Kindern um-geht, Schüler unterrichtet oder Jugendliche etwa zum Mitma-chen in einem Sportverein bewegt. Schließlich ist jeder erzo-gen worden, hat etwas gelernt und sieht sich weiteren Lern-aufgaben gegenüber. Erziehung gehört zur gängigen Erfah-rung, über die wir nicht erst elementar belehrt zu werdenbrauchen wie etwa über die Befunde der Mikrophysik oderder Gentechnologie. So gesehen bleibt die Behauptung Schlei-ermachers richtig, dass „als bekannt vorauszusetzen ist, wasman im allgemeinen unter Erziehung versteht“1. Der Satz be-schreibt einen nicht zu leugnenden Sachverhalt. Es gibt einroutiniertes Verständnis von Erziehung, auf das sich jeder be-rufen kann und auch tatsächlich beruft, der über Erziehungmitredet. In diesem Sinne ist Erziehung „bekannt“. DiesesBekanntsein mit Erziehung reicht in den meisten praktischenFällen; es ist durch Sitte oder Gewohnheit oder gute Umstän-de gestützt, so wie man ja auch isst und trinkt, ohne sich erstKenntnisse der Ökotrophologie zu verschaffen. Erst wennder Magen nicht mehr mitspielt und wenn besondere Um-stände das Lernen erschweren und hemmen, aber auch, wennes darum geht, das Lernen zu beschleunigen und zu intensi-

1 F.D. Schleiermacher: Die Vorlesungen aus dem Jahre 1826. In: Pädagogi-sche Schriften, Bd. 1, hrsg. v. E. Weniger, Düsseldorf/München 1957 u.ö.,S. 7.

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vieren, reicht die durchschnittliche Erziehungserfahrungnicht mehr aus, und es stellt sich die Frage nach einem Begriffder Erziehung, der für das Gespräch über Erziehung geeignetist. Er soll sicherstellen, dass dasselbe gemeint wird, wenn vonder Erziehung oder vom Erzieherischen, von pädagogischenHandlungen oder nachdrücklich von dem „eigentlich“ Päda-gogischen die Rede ist. Insbesondere dann, wenn das Erzie-hen ausdrücklich organisiert und von Fachpersonal wahrge-nommen wird, genügt nicht, was im allgemeinen darunter zuverstehen ist, sondern es bedarf einer begrifflichen Klärung,sei es als Festlegung eines Sprachgebrauchs, sei es als Analyseeines nichtnegierbaren Phänomens, das in seinen wesentli-chen Merkmalen beschrieben wird, sei es als Vorgriff auf einePraxis, die erst in Ansätzen da ist und durch geeignete Maß-nahmen realisiert werden soll.

Ein solcher Begriff der Erziehung soll im folgenden vorge-stellt werden, und zwar im Blick und in Hinsicht auf die wis-senschaftliche Kommunikation. Anders kann die Erziehungnicht erforscht, das Erforschte nicht gelehrt und die Lehrenicht auf die Praxen der Erziehung bezogen werden. Dabeiwird erstens davon ausgegangen, dass „Erziehung“ das maß-gebende Thema der Disziplin ist, die als Erziehungswissen-schaft bezeichnet wird, und zweitens davon, dass jede Wis-senschaft ihren Leitbegriff oder das Ensemble ihrer leitendenBegriffe eindeutig auszuweisen hat. Beides sollte man alsselbstverständlich annehmen dürfen. So ist es aber im Fall derPädagogik als Wissenschaft nicht. Es gibt kein Einverständnisdarüber, was Erziehung ist und was nicht, was gewissermaßenzum Thema gehört und was nicht; ja es gibt nicht einmal einEinverständnis darüber, dass „Erziehung“ als der zentrale Be-griff der Erziehungswissenschaft anzusehen ist. Der erstePunkt ist keine Besonderheit der Pädagogik als Wissenschaft.Auch andere Disziplinen haben damit zu tun, ihre Grundbe-griffe zu überprüfen, zu präzisieren und den Befunden anzu-messen, die sich im Fortgang der Disziplin ergeben und wei-ter ergeben werden. Anders verhält es sich mit dem zweiten

1. EINLEITUNG12

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Punkt: Es ist, als sei vielen Pädagogen und Erziehungswissen-schaftlern das Erziehen etwas, für das man sich zu entschuldi-gen habe, eine Peinlichkeit und Zumutung, der man wenigs-tens mit immer neuen Umschreibungen zu entgehen oder dieman durch innovative Konzepte und Problemverschiebungenzu überwinden sucht. Was sich abzeichnet, ist eine Pädagogikohne Erziehung und eine Erziehungswissenschaft ohne Päda-gogik.

Diese Tendenz wird indes nicht überall als Mangel, sonderngeradezu als Chance der Offenheit und schöpferischer Inno-vation bewertet. Das gilt nicht erst und allein für das pompö-se Projekt der „Humanvitologie“ und einer allumfassenden„Lebenslaufwissenschaft“2, es gilt schon für den eher unver-dächtigen Versuch, einen „erweiterten Erziehungsbegriff“ zuetablieren, der es erlaubt, vieles als „Erziehung“ zu bezeichnenund damit der Erziehungswissenschaft einzuverleiben, was ei-gentlich in den Bereich anderer Disziplinen gehört. Diese Re-zeption, um nicht zu sagen: die Überfütterung mit „auswärti-gen Begriffen“, hat die Schleusen für den Begriffs- und Theo-rieimport weit geöffnet und dem, was sich noch „Erziehungs-wissenschaft“ nennt, dabei auch mancherlei unsortiertes undherrenloses Treibgut untergegangener Theoriebestände zuge-führt. Was als Gewinn und gleichsam als Programmanreiche-rung erscheint, hat einen Preis. Es ergeht der Pädagogik wie je-nen Firmen, die ihren Marktwert durch Diversifizierung undErweiterung der Produktpalette steigern wollen und darüberdas Kerngeschäft vernachlässigen. Es gerät zur Zugabe undNebensache, mit der Folge, dass im Zweifel die Kunden sichgleich an die originären Produzenten halten und sich bei ihnenund nicht bei den Zweitverwertern das Wissen abholen, das siesich von der Fachdisziplin versprechen.

2 Vgl. dazu D. Lenzen: Lebenslauf oder Humanontogenese? Vom Erzie-hungssystem zum kurativen System – von der Erziehungswissenschaft zurHumanvitologie. In: Weiterbildung im Erziehungssystem. Lebenslauf undHumanontogenese als Medium und Form, hrsg. v. D. Lenzen und N. Luh-mann, Frankfurt/M. 1997, S. 228-247.

1. EINLEITUNG 13

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Tatsächlich wird der öffentliche Diskurs zu Fragen der Er-ziehung zunehmend und maßgeblich von Psychologen undSoziologen, Ökonomen und Organisationstheoretikern be-stimmt, in der Erwartung, dass sie sich da besser auskennenals eine pädagogisch „entsorgte“ Erziehungswissenschaft.3

Wenn es ernst wird und auf inhaltlich bestimmte Antwortenankommt, werden andere gefragt und gehört, und den Päda-gogen bleibt das nachgeordnete Geschäft, deren Ansichtenund Einsichten umzusetzen. Ob daran etwas zu ändern ist,mag zweifelhaft erscheinen; nicht zweifelhaft dürfte sein, dassdiese Unterordnung nicht allein von außen aufgedrungen,sondern weithin selber verschuldet ist. Wer sein Kerngeschäftnicht kultiviert, darf sich nicht wundern, wenn sich die Nach-frage an andere Adressen wendet.4

Neu ist diese Lage nicht. Sie kennzeichnet den Weg der Pä-dagogik seit ihrer Etablierung als einer eigenen Frage- undForschungsrichtung. Das soll hier nicht nachgezeichnet wer-den. Worin der wesentliche Mangel besteht, hat vor einemVierteljahrhundert Werner Loch klar als die „systematischeAuflösung der Pädagogik“ diagnostiziert: „Wir haben heuteaus anderen Sozialwissenschaften übernommene ‚Theorienzum Erziehungsprozeß‘, aber keine Theorie der Erziehung.(...) Zwischen den Bedenken der Metatheorie und den Beden-kenlosigkeiten der direkten Aktion kommt die Pädagogikheute kaum mehr zur Sache: zu einem Begriff der Erziehung,der anthropologisch begründet und moralisch vertretbar, for-schungsproduktiv und praktisch realisierbar ist“.5

3 Vgl. zur pädagogischen „Entsorgung“ dessen, was sich unter dem Doppel-namen „Sozialpädagogik/Sozialarbeit“ etabliert hat, jetzt J. Reyer: Einekleine Geschichte der Sozialpädagogik. Baltmannsweiler 2002.

4 Zur Frage der Einheitlichkeit und Differenzierung der Pädagogik vgl. dieinstruktiven Studien von V. Kraft: Pädagogisches Selbstbewußtsein.Studien zum Konzept des Pädagogischen Selbst. Paderborn 2009.

5 W. Loch: Individuelles Verhalten und pädagogisches Verstehen. In: Model-le pädagogischen Verstehens, hrsg. v. W. Loch, Essen 1978, S. 17 f.

1. EINLEITUNG14

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Diese Diagnose ist nach wie vor aktuell, auch wenn inzwi-schen ein eindrucksvoller Fachbetrieb mit einer imposantenKongress-, Symposien- und Diskursindustrie entstanden ist,der den Anschein erweckt, als stünde es mit dem Thema „Er-ziehung“ wissenschaftlich und akademisch zum besten. Esgibt sogar innerhalb der Disziplin eine Abteilung, die unterdem Titel der „Allgemeinen Pädagogik“ sich ausdrücklich mitder Theorie der Erziehung befasst und so wenigstens nach au-ßen den Anschein aufrechterhält, dass es mit der wissen-schaftlichen Dignität und sozialen Relevanz der Disziplin gutbestellt ist. Auch fehlt es nicht an Bilanzierungen und volumi-nösen Selbstbeschreibungen, ebenso wenig wie an theoreti-schen Vorstößen zum Begriff der Erziehung. Aber es bleibtdoch der Befund: Wenn es um Fragen des Lernens geht, ha-ben die Psychologen das Wort, geht es um dessen Inhalte imöffentlichen Unterricht, bestimmen die sogenannten „Fach-vertreter“ die Entscheidungen, handelt es sich um Fragen derOrganisation und der sozialen Anschlüsse von Lernen undErziehen, greifen soziologisch orientierte Experten ein, undwas die Zielsetzungen und schließlich die Moral der Erzie-hung anbelangt, steht die Pädagogik wie eh und je in der Bot-mäßigkeit ihrer Herkunft aus Philosophie und Theologie,wenn nicht sowieso gleich „politisch“ entschieden wird. Es istnicht zu erkennen, dass die theoretischen Bemühungen gera-de auch in systematischer Hinsicht auf die in den Bereichspä-dagogiken behandelten Fragen durchgreifen.

Eher verhält es sich so, dass sich die Bereichspädagogiken jeihren eigenen Begriff von Erziehung, Lernen und Bildung zu-rechtlegen, so dass die in der Allgemeinen Pädagogik verfolg-ten Fragestellungen eher als Störung oder gar als „Disziplin-chirurgie“, nicht aber als Grundlegung oder als maßgebendeOrientierung wahrgenommen werden. Schulpädagogik undSozialpädagogik, Erwachsenenbildung und Berufspädagogikkommen ganz gut ohne die allgemeinpädagogischen Reflexio-nen aus, und diese bewegen sich in der Ruhezone selbstrefe-renzieller Theoriediskurse.

1. EINLEITUNG 15

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Es wäre verfehlt, diese sich wechselseitig bestätigendeGleichgültigkeit in gegenseitige Schuld- und Ignoranzvor-würfe umzumünzen. Vielmehr zeigt sich hier dasselbe Theo-riedefizit von zwei Seiten: Einerseits operieren die Bereichs-pädagogiken im Blick auf bestimmte Adressaten und Prob-lemzonen mit Konzepten, die sie weniger einem pädagogi-schen Grundgedankengang, sondern eher dem Theorieimportmehr oder minder affiner Disziplinen entnehmen, und ande-rerseits bewegen sich die systematischen Anstrengungen inAbhängigkeit von älteren und neueren Groß- und Leittheori-en, die sich nicht umstandslos in die Problemlagen der Be-reichspädagogiken übersetzen lassen und so nicht minder denAustausch von Allgemeiner Pädagogik und Bereichspädago-gik blockieren. Die Folge: die diversen Pädagogiken sprechengewissermaßen unterschiedliche Sprachen, ohne gemeinsameSemantik und Syntax, jede für sich und in Anlehnung oder alsApplikation außerpädagogischer Prämissen. Der Grund ist inbeiden Fällen derselbe: Die Sache der Erziehung ist vielenFachvertretern zur Nebensache geworden, sei es, dass sie alsgeklärt und nicht weiter erklärungsbedürftig angesehen wird,sei es, dass sie mit Ersatzkonzepten umgangen oder über-haupt für tot erklärt und als mentales Relikt überholter Wir-kungsillusionen abgetan wird.

Zusammengefasst zeigt sich dies: die schwache Grenzstärkeder Pädagogik nach außen wiederholt sich in den internen Be-ziehungen der Bereichspädagogiken und in dem fehlenden Ein-verständnis darüber, was Thema und Aufgabe der AllgemeinenPädagogik ist. Dieser Zustand bezeugt nicht etwa die Ausdiffe-renzierung eines auf gemeinsamen Voraussetzungen und Über-zeugungen beruhenden „Systems“, er lässt vielmehr die Päda-gogik als Aggregierung von Perspektiven und Disziplinen er-scheinen, die irgendwie mit dem Menschen und damit zu tunhaben, dass darin irgend etwas Pädagogisches vorkommt.6 Das

6 Zum Systemdefizit der Pädagogik vgl. v. Verf.: Fehlanzeige: PädagogischeSystematik. In: Z.f. Päd., 47, 2001, S. 375-387.

1. EINLEITUNG16

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braucht nicht unbedingt und in jeder Hinsicht ein Mangel zusein. Es könnte sein, dass es angesichts der leitenden Tendenzzur Spezialisierung und thematischen Engführung von For-schungsfragen und Themenkreisen nützlich ist, dieser Tendenzunter Gesichtspunkten der Entdifferenzierung zu entsprechenund die Pädagogik unter dem Titel „Lebensweltorientierung“jenseits der disziplinären Differenzierungen zu verorten. Fürdieses Motiv scheint zu sprechen, dass es, wie Gunnar Myrdalbemerkt hat, „in der Realität keine wirtschaftlichen, soziologi-schen oder psychologischen Probleme, sondern eben nur Prob-leme, und in der Regel sehr komplexe, gebe“.7 Dem ist kaum zuwidersprechen. Kinder mit „Schulproblemen“, ganz zu schwei-gen von Trebegängern oder Drogenabhängigen, haben, wie manweiß, oftmals eben nicht nur Lernprobleme, die sich allein mitdidaktisch-unterrichtlichen Mitteln beheben lassen. Das legt esnahe, gerade von den berufsmäßigen Erziehern weitergehendeKompetenzen zu verlangen, damit sie gewissermaßen transdis-ziplinär auf Lebensprobleme eingehen können. Wo diese sichim Rahmen alltäglicher Erfahrung darstellen, mag der üblicheHausverstand ausreichen, so wie man ja auch nicht bei jederkleineren Magenverstimmung gleich die Hilfe eines Arztes inAnspruch nimmt. Doch wenn es ernst wird, ist der Experte ge-fragt, dann allerdings nicht der Experte für alles und „das Le-ben“, sondern für die rechtlichen Aspekte der Jurist, für die me-dizinischen der Arzt und für die seelischen der Psychologe oderPsychiater. „Die komplexen Probleme, aus denen die Wirklich-keit besteht, müssen wir mit den jeweils zur Verfügung stehen-den Instrumenten zu lösen suchen“ (Myrdal, ebd.). Diese In-strumente liefern die wissenschaftsgestützten Berufe in ihrerVielzahl. Zur sozialen Realität gehört, dass auf komplexe Prob-leme fachspezifisch reagiert wird, und die Frage ist, was dannden „lebensweltorientierten“ Pädagogen noch zu tun bleibt undworin ihr spezifischer Beitrag besteht, wenn man einmal den

7 G. Myrdal: Objektivität in der Sozialforschung (zuerst engl.: Objectivityin Social Research. 1969) Frankfurt/M. 1971, S. 15.

1. EINLEITUNG 17

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hybriden Gedanken beiseite lässt, dass sie zugleich auch kom-petente Juristen, Psychiater, Soziologen, Sozialpolitiker usw.sein sollen. Es gibt keine Wissenschaft, die „das Leben“ oder die„Lebenswelt“ direkt und als Ganzes zum Thema hätte, jeden-falls nicht so, wie die Medizin sich auf bestimmte Defekte undauf andere sich das Recht oder die Psychiatrie beziehen.8

So gesehen ist das Motiv, auf die Komplexität von Lebens-problemen mit einer dieser Komplexität entsprechenden „Le-benskompetenz“ und der dazugehörigen Zuständigkeitsan-maßung zu reagieren, in sich widersprüchlich. Es führt in dieAporie der Spezialisierung eines Unbestimmt-Allgemeinenund widerstreitet im übrigen dem Prozess der Ausdifferenzie-rung des Wissens, dem sich auch die Erziehungswissenschaftals Disziplin verdankt und der sich in ihrer Binnengliederungfortsetzt. Sie gewinnt den Anschluss an das, was man unbe-stimmt „Leben“ oder „Lebenswelt“ nennen mag, das heißt:den Anschluss an die Einrichtungen und Praktiken der Erzie-hung gerade dadurch, dass sie ihr Thema gegen andere The-men abgrenzt und damit ihr spezifisches, von anderen nichterfüllbares Leistungsangebot sichtbar macht. Insofern scheintes richtig, zunächst die Außengrenze zu stabilisieren, um vondaher die Verschiedenheiten und Differenzen im Innenver-hältnis der Pädagogiken als Verschiedenheiten und Differen-zen eines Themas und einer Sache zu erkennen und behan-deln.

Damit soll nun aber nicht, um einem Missverständnis vor-zubeugen, der defensiven Ignoranz eigenwilliger Selbstbe-scheidung das Wort geredet werden, als ob die Pädagogik anden Befunden und Einsichten anderer Disziplinen vorbeige-hen sollte und könnte, als ob sie von „Sozialisation“ und „So-zialarbeit“, von Managementtheorien und psychologischenMotivationskonstrukten, von Recht und allgemeiner Ethik

8 Vgl. dazu v. Verf.: „Alltag“ und „Lebenswelt“ im pädagogischen Diskurs .Zur aporetischen Struktur der lebensweltorientierten Pädagogik. In:Z.f.Sozialpäd., Jg. 1, 2003, S. 296-314.

1. EINLEITUNG18

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nichts zu wissen brauchte. Ganz und gar nicht. Das Problemist nicht das einer splendid isolation, sondern das der sachge-mäßen und produktiven Einarbeitung anderwärts formulier-ten Wissens in den Zusammenhang der Erziehung. Doch dasgeht nicht ohne eine Bestimmung dessen, was unter „Erzie-hung“ zu verstehen ist. Worin diese Aufgabe besteht, hatHerbart in der Einleitung seiner „Allgemeinen Pädagogik“gesagt: „Nur wenn jede Wissenschaft auf ihre Weise sich zuorientieren sucht, und zwar mit gleicher Kraft wie ihre Nach-barinnen, kann ein wohltätiger Verkehr unter allen entste-hen.“9 In diesen Zusammenhang gehört die immer wieder an-geführte Wendung von den „einheimischen Begriffen“ derPädagogik: Was auch immer in die pädagogische Reflexioneingeht und aus anderen Bereichen aufgenommen wird, isteben pädagogisch zu rezipieren und das heißt: es ist zu trans-formieren in die Prämissen eben dieser Reflexion, statt das„Pädagogische“ nur als Anhang und Anwendung zu ander-wärts gewonnener Erfahrung zu nehmen.

Die Rede von den „einheimischen Begriffen“ enthält inso-fern eine Behauptung und ein Programm. Die Behauptungbesteht darin, dass es solche Begriffe wirklich gibt, die der Pä-dagogik und nur dem von ihr formulierten Zusammenhangangehören, so wie das Recht oder die Medizin oder mehrnoch die Physik oder Biologie ihre Sache fachsprachlich be-stimmen; und das Programm darin, diesen Zusammenhangselber zu artikulieren und die einzelnen Begriffe für sich undin ihrer Beziehung aufeinander zu bestimmen. Dabei geht esnicht etwa nur um terminologische Konventionen, denenman sich anschließen oder die man durch andere Bezeichnun-gen ersetzen kann; es geht überhaupt nicht um Vokabeln unddie Etablierung eines hinreichend abgehobenen Fachjargons,sondern darum, die spezifischen Grundlagen und Sachverhal-te auszuweisen, auf die die Begriffe sich beziehen. In der Sys-

9 J.F. Herbart: Allgemeine Pädagogik (1806). In: Sämtliche Werke, hrsg. v. K.Kehrbach u. O. Flügel, Bd. 2, Aalen 1989, S. 8.

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