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9 Politische und gesellschaftliche Partizipation Auszug aus dem Datenreport 2018

9 Politische und gesellschaftliche Partizipation

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Page 1: 9 Politische und gesellschaftliche Partizipation

9 Politische und gesellschaftliche PartizipationAuszug aus dem Datenreport 2018

Page 2: 9 Politische und gesellschaftliche Partizipation
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Ein freier und demokratischer Staat ist auf die aktive Mitwirkung der Bürgerinnen und Bürger angewiesen. Demokratie lebt davon, dass viele Menschen von ihren in der Verfassung garantierten Rechten Ge-brauch machen und Einfluss auf die politi-sche Willensbildung nehmen. Die Aus-übung des Wahlrechts spielt dabei eine zentrale Rolle: Sie entscheidet über die Zu-sammensetzung der demokratischen Ver-tretungen in Gemeinde, Land, Bund und der Europäischen Union. Da in der Bun-desrepublik Deutschland keine gesetzliche Wahlpflicht besteht, gilt die Wahlbeteili-gung – unter gewissen Einschränkungen – auch als Gradmesser für das politische In-teresse der Menschen. Sie weist deutliche Unterschiede auf, je nachdem ob es sich um Bundestags-, Landtags-, Kommunal-wahlen oder Wahlen zum Europäischen Parlament handelt. u Info 1

9.1.1 Bundestagswahlen Dem Grundgesetz entsprechend wird der Bundestag auf vier Jahre gewählt. Die Wahl zum 19. Deutschen Bundestag fand am 24. September 2017 statt. Wahlberech-tigt waren rund 62 Millionen Deutsche, darunter etwa 3 Millionen zum ersten Mal. Die Wahlbeteiligung lag bei 76,2 % und ist damit gegenüber der Bundestags-wahl 2013 um 4,6 Prozentpunkte gestie-gen. Betrachtet man die Wahlbeteiligung

in den einzelnen Bundesländern, ergibt sich ein sehr unterschiedliches Bild. In sieben Ländern lag sie über dem Bundes-durchschnitt. Am höchsten war sie in Ba-den-Württemberg, gefolgt von Bayern und Rheinland-Pfalz. Die niedrigsten Wahlbeteiligungen gab es in Mecklen-burg-Vorpommern, Bremen und in Sach-sen-Anhalt. In allen neuen Ländern und Berlin-Ost lag die Wahlbeteiligung unter dem Bundesdurchschnitt – wie bereits seit der Bundestagswahl 2002. u Tab 1, Abb 1

Bei der Bundestagswahl handelt es sich um eine personalisierte Verhältnis-wahl. Jede Wählerin und jeder Wähler hat zwei Stimmen. Mit der Erststimme wählen sie die Wahlkreisabgeordneten in 299 Bundestagswahlkreisen, die sie im Deutschen Bundestag vertreten sollen. Mit der Zweitstimme entscheiden sich die Wählerinnen und Wähler für eine be-stimmte Partei (Landesliste). Die Zweit-stimmen sind grundsätzlich für die Ge-samtzahl der Abgeordneten einer jeden Partei und für das Stärkeverhältnis der Parteien im Deutschen Bundestag aus-schlaggebend.

An der Wahl 2017 nahmen so viele Parteien wie nie zuvor teil. Das Stimm-ver halten der Wählerinnen und Wähler hatte schließlich zur Folge, dass sieben Parteien in den Bundestag einzogen – die größte Zahl erfolgreicher Parteien, die es

9 Politische und gesellschaftliche Partizipation9.1 Teilnahme am politischen Leben durch WahlenBrigitte Gisart

Statistisches Bundesamt (Destatis)

341

Page 4: 9 Politische und gesellschaftliche Partizipation

Wahlberechtigte Wahlbeteiligung

in 1 000 in %

1949 ¹ 31 208 78,5

1953 ¹ 33 121 86,0

1957 35 401 87,8

1961 37 441 87,7

1965 38 510 86,8

1969 38 677 86,7

1972 41 446 91,1

1976 42 058 90,7

1980 43 232 88,6

1983 44 089 89,1

1987 45 328 84,3

1990 60 437 77,8

1994 60 452 79,0

1998 60 763 82,2

2002 61 433 79,1

2005 61 871 77,7

2009 62 168 70,8

2013 61 947 71,5

2017 61 688 76,2

bei gesamtdeutschen Bundestagswahlen bisher gab. Einen in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland neuen Re-kordwert erreichte mit 709 Abgeordneten zudem die Zahl der Sitze im Deutschen Bundestag. u Abb 2

Die CDU erreichte im Herbst 2017 ei-nen Zweitstimmenanteil von 26,8 % und wurde damit stärkste Partei. Gegenüber der Bundestagswahl 2013 verlor sie 7,4 Prozentpunkte und musste damit den größten Zweitstimmenverlust aller zur Wahl angetretenen Parteien hinnehmen. In allen Ländern (ohne Bayern, wo die CDU nicht zur Wahl stand) waren Ver-luste zu verzeichnen – zwischen 4,2 Pro-zentpunkten in Bremen und 15,8 Pro-zentpunkten in Sachsen. Außer in Bre-men und Sachsen wurde sie in allen Ländern stärkste Partei. u Abb 3, Abb 4

Auch die CSU musste im September 2017 einen Verlust an Zweitstimmen ver-buchen. Der Zweitstimmenanteil sank von 49,3 % (2013) auf 38,8 % der in Bay-ern abgegebenen Stimmen – nur dort ist sie zur Wahl angetreten. Damit erzielte die CSU 6,2 % aller gültigen Zweitstim-men im Bundesgebiet; ihr Zweitstimmen-anteil sank gegenüber der Bundestags-wahl 2013 um 1,2 Prozentpunkte.

Die SPD errang bei der letzten Bun-destagswahl 20,5 % aller gültigen Zweit-stimmen im Wahlgebiet. Im Vergleich zur Bundestagswahl 2013, bei der ihr Zweit-stimmenanteil 25,7 % betragen hatte, ver-lor sie somit 5,2 Prozentpunkte. Auch sie hatte in allen Ländern Verluste zu ver-zeichnen, und zwar zwischen 2,7 Prozent-punkten in Mecklenburg-Vorpommern und 8,9 Prozentpunkten in Hamburg.

DIE LINKE gewann 9,2 % der gültigen Zweitstimmen. Das ist gegenüber der Bun-destagswahl 2013 ein Gewinn von 0,6 Pro-zentpunkten. Sie verlor in fünf Ländern Stimmenanteile, und zwar zwischen 3,7 Prozentpunkten in Mecklenburg-Vor-pommern und 6,6 Prozentpunkten in Thüringen. In elf Ländern konnte sie Ge-winne zwischen 0,3 (Berlin) und 3,4 Pro-zentpunkten (Hamburg) verzeichnen.

Die GRÜNEN erhielten 2017 von allen gültigen Zweitstimmen 8,9 % und gewan-

u Info 1 Wer ist wahlberechtigt?

Das Recht, sich aktiv an einer Wahl zu beteiligen, steht den Menschen zu, die am Wahltag unter anderem folgende Voraussetzungen erfüllen:

‧ in der Regel der Besitz der deutschen Staatsangehörigkeit, ‧ ein Mindestalter und ‧ eine Mindestdauer der Sesshaftigkeit im Wahlgebiet.

Außerdem darf kein Wahlrechtsausschluss vorliegen. Das Wahlrecht kann beispielsweise durch richterliche Entscheidung wegen einer schweren Straftat aberkannt werden.

Bei der Bundestagswahl sind alle mindestens 18-jährigen Deutschen wahlberechtigt, die im Inland seit mindestens drei Monaten eine Wohnung innehaben oder sich sonst gewöhnlich aufhalten. Auch im Ausland lebende Deutsche (sogenannte Auslandsdeutsche) können sich aktiv an Bundes-tagswahlen beteiligen, wenn sie bestimmte Voraussetzungen erfüllen und eine Eintragung in ein Wählerverzeichnis beantragen.

Bei Landtagswahlen sind alle Deutschen wahlberechtigt, die am Wahltag das 18. Lebensjahr (in Brandenburg, Bremen, Hamburg und Schleswig-Holstein das 16. Lebensjahr) vollendet haben und seit mindestens drei Monaten im jeweiligen Land sesshaft sind.

Wahlberechtigt zur Wahl der Abgeordneten des Europäischen Parlaments aus der Bundes-republik Deutschland sind alle mindestens 18-jährigen Deutschen, die seit mindestens drei Monaten im Bundesgebiet oder in den übrigen Mitgliedstaaten der EU wohnen oder sich sonst gewöhnlich aufhalten. Ferner sind die Staatsangehörigen der übrigen Mitgliedstaaten der EU mit Wohnsitz oder gewöhnlichem Aufenthalt im Bundesgebiet (sogenannte Unionsbürgerinnen und -bürger) sowie die oben genannten Auslandsdeutschen wahlberechtigt.

Voraussetzung für die Teilnahme an Kommunalwahlen ist ebenfalls das Wohnen oder der sonstige gewöhnliche Aufenthalt in der jeweiligen Gemeinde. In den meisten Ländern (Baden-Württemberg, Brandenburg, Bremen, Hamburg, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen, Nordrhein-West-falen, Sachsen-Anhalt und Schleswig-Holstein) gilt ein Mindestalter von 16 Jahren. Das Grundgesetz gibt außerdem vor, dass bei Wahlen in Kreisen und Gemeinden außer Deutschen auch Unions-bürgerinnen und -bürger wahlberechtigt sind.

u Tab 1 Wahlberechtigte und Wahlbeteiligung bei Bundestagswahlen

Bis 1987 früheres Bundesgebiet (ohne Berlin-West), seit 1990 Deutschland.1 Ohne Saarland.

342

9 / Politische und gesellschaftliche Partizipation 9.1 / Teilnahme am politischen Leben durch Wahlen

Page 5: 9 Politische und gesellschaftliche Partizipation

bei gesamtdeutschen Bundestagswahlen bisher gab. Einen in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland neuen Re-kordwert erreichte mit 709 Abgeordneten zudem die Zahl der Sitze im Deutschen Bundestag. u Abb 2

Die CDU erreichte im Herbst 2017 ei-nen Zweitstimmenanteil von 26,8 % und wurde damit stärkste Partei. Gegenüber der Bundestagswahl 2013 verlor sie 7,4 Prozentpunkte und musste damit den größten Zweitstimmenverlust aller zur Wahl angetretenen Parteien hinnehmen. In allen Ländern (ohne Bayern, wo die CDU nicht zur Wahl stand) waren Ver-luste zu verzeichnen – zwischen 4,2 Pro-zentpunkten in Bremen und 15,8 Pro-zentpunkten in Sachsen. Außer in Bre-men und Sachsen wurde sie in allen Ländern stärkste Partei. u Abb 3, Abb 4

Auch die CSU musste im September 2017 einen Verlust an Zweitstimmen ver-buchen. Der Zweitstimmenanteil sank von 49,3 % (2013) auf 38,8 % der in Bay-ern abgegebenen Stimmen – nur dort ist sie zur Wahl angetreten. Damit erzielte die CSU 6,2 % aller gültigen Zweitstim-men im Bundesgebiet; ihr Zweitstimmen-anteil sank gegenüber der Bundestags-wahl 2013 um 1,2 Prozentpunkte.

Die SPD errang bei der letzten Bun-destagswahl 20,5 % aller gültigen Zweit-stimmen im Wahlgebiet. Im Vergleich zur Bundestagswahl 2013, bei der ihr Zweit-stimmenanteil 25,7 % betragen hatte, ver-lor sie somit 5,2 Prozentpunkte. Auch sie hatte in allen Ländern Verluste zu ver-zeichnen, und zwar zwischen 2,7 Prozent-punkten in Mecklenburg-Vorpommern und 8,9 Prozentpunkten in Hamburg.

DIE LINKE gewann 9,2 % der gültigen Zweitstimmen. Das ist gegenüber der Bun-destagswahl 2013 ein Gewinn von 0,6 Pro-zentpunkten. Sie verlor in fünf Ländern Stimmenanteile, und zwar zwischen 3,7 Prozentpunkten in Mecklenburg-Vor-pommern und 6,6 Prozentpunkten in Thüringen. In elf Ländern konnte sie Ge-winne zwischen 0,3 (Berlin) und 3,4 Pro-zentpunkten (Hamburg) verzeichnen.

Die GRÜNEN erhielten 2017 von allen gültigen Zweitstimmen 8,9 % und gewan-

nen damit gegenüber der vorherigen Bundestagswahl 0,5 Prozentpunkte an Zweitstimmen hinzu. Sie steigerten sich in sieben Ländern zwischen 0,2 Prozent-punkten in Berlin und 2,6 Prozentpunk-ten in Schleswig-Holstein. In allen ande-ren Ländern erlitten die GRÜNEN Stim-meneinbußen. Am niedrigsten waren die Verluste mit 0,1 Prozentpunkten in Mecklenburg-Vorpommern, Niedersach-sen und Rheinland-Pfalz, am höchsten in Bremen mit 1,1 Prozentpunkten.

Die FDP, die 2013 mit 4,8 % der gülti-gen Zweitstimmen den Einzug in den Deutschen Bundestag nur knapp verpasst hatte, erreichte bei der letzten Bundes-tagswahl 10,7 % der gültigen Zweitstim-men. Damit verbesserte sie ihr Ergebnis von 2013 um 6,0 Prozentpunkte. Die FDP gewann in allen Ländern Zweitstimmen-anteile, und zwar zwischen 3,8 Prozent-punkten im Saarland und 7,9 Prozent-punkten in Nordrhein-Westfalen.

Die AfD, die 12,6 % der Zweitstim-men erzielte, ist erstmals im Deutschen Bundestag vertreten. Ihr Zuwachs an Zweitstimmen beträgt gegenüber der letzten Bundestagswahl 7,9 Prozentpunk-te. Sie gewann in allen Ländern Zweit-stimmen hinzu. Den geringsten Zuwachs erzielte sie in Schleswig-Holstein mit 3,6 Prozentpunkten, den größten in Sach-sen mit 20,3 Prozentpunkten.

Fünf Monate nach der Bundestagswahl haben sich erneut CDU, CSU und SPD zu einer großen Koalition zusammenge-schlossen. Von den 709 Sitzen im Deut-schen Bundestag entfallen auf die Koaliti-onsparteien insgesamt 399 Sitze. Die Op-position verfügt dagegen über 310 Sitze.

Frauen sind im Deutschen Bundestag weiterhin deutlich unterrepräsentiert. Ob-wohl über 2 Millionen mehr Frauen als Männer wahlberechtigt waren, stellen sie im 19. Deutschen Bundestag mit 218 Man-daten weniger als ein Drittel (31 %) der 709 Abgeordneten. Im 18. Deutschen Bun-destag waren unter den insgesamt 631 Ab-geordneten noch 229 Frauen vertreten; die Frauenquote betrug damals 36 %.

Die GRÜNEN und DIE LINKE er-reichten mit 58 % beziehungsweise 54 %

Rechter Halbkreis = Regierungsparteien.

Kartengrundlage: © Geobasis-DE / BKG (2017)

u Abb 1 Wahlbeteiligung nach Bundesländern bei der Bundestagswahl 2017 — in Prozent

u Abb 2 Zweitstimmenanteile der Parteien bei der Bundestagswahl 2017 — in Prozent

76 – 7878 und mehr

72 – 7474 – 76

unter 70

Deutschland 76,2

70 – 72

Schleswig-Holstein76,3

Nieder-sachsen76,4

Hamburg76,0

Nordrhein-Westfalen75,4

Hessen 77,0

Rheinland-Pfalz77,7

Baden-Württemberg78,3

Sachsen75,4

Branden-burg73,7

Sachsen-Anhalt68,1

Mecklenburg-Vorpommern70,9

Bremen70,8

Saarland76,6

Berlin75,6

Bayern 78,1

Thüringen74,3

26,8

6,2

12,6

10,7

9,2

8,9

20,5

SPDCSUCDU AfD FDP

2017

GRÜNEDIE LINKE

343

Teilnahme am politischen Leben durch Wahlen / 9.1 Politische und gesellschaftliche Partizipation / 9

Page 6: 9 Politische und gesellschaftliche Partizipation

1 1990 einschließlich Bündnis 90/Grüne.2 Bis zur Namensänderung durch Parteitagsbeschluss vom 17. Juli 2005: PDS.

der Abgeordneten die höchsten Frauen-anteile, gefolgt von der SPD (42 %), der FDP (23 %) und der CDU (21 %) sowie der CSU mit 17 %. Den geringsten Frauenan-teil weist mit 12 % die AfD auf.

Die repräsentative Wahlstatistik Die repräsentative Wahlstatistik zeigt bei der Altersstruktur der Wahlberechtigten sehr deutlich die demografische Entwick-lung der deutschen Bevölkerung. Die Ge-neration der 30- bis 59-Jährigen stellte bei der Bundestagswahl 2017 fast die Hälfte aller Wahlberechtigten. Die Altersgruppe ab 60 Jahren umfasste gut ein Drittel aller potenziellen Wählerinnen und Wähler und damit rund doppelt so viele wie die jüngere Generation unter 30 Jahren. Diese

u Abb 3 Zweitstimmenanteile der Parteien bei den Bundestagswahlen 2013 und 2017 — in Prozent

u Abb 4 Zweitstimmenanteile der Parteien bei Bundestagswahlen — in Prozent

2013

0

5

10

CDU SPD DIE LINKE GRÜNE FDP AfD

15

20

25

30

35

CSU

34,1

7,4

25,7

8,6 8,4

4,8 4,7

26,8

6,2

20,5

9,2 8,910,7

12,6

40

2017

0

5

10

15

20

25

30

35

40

45

200920052002199819941990 2013 2017

SonstigeSPD CSUCDU AfDFDP GRÜNE ¹ DIE LINKE ²

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9 / Politische und gesellschaftliche Partizipation 9.1 / Teilnahme am politischen Leben durch Wahlen

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gruppen steigt die Wahlbeteiligung jeweils an – bis zu den 60- bis 69-Jährigen, die mit 81,0 % am häufigsten zur Wahl gingen.

Im Hinblick auf die demografische Ent-wicklung und im Zusammenspiel mit der unterdurchschnittlichen Wahlbeteiligung der jüngeren Generationen ist das politi-sche Einflusspotenzial der jüngeren Wähle-rinnen und Wähler gegenüber den Älteren überproportional geschwächt. u Abb 6

Die CDU war durchweg in allen Alters-gruppen die stärkste Partei. Verhältnis-mäßig knapp war ihr Vorsprung vor der SPD nur bei den jüngsten Wählerinnen und Wählern zwischen 18 und 24 Jahren. Hier erreichte sie mit 19,9 % ihr schlech-testes Ergebnis. In allen weiteren Alters-gruppen bis 69 Jahre schwankte der

genheit – nur unterdurchschnittlich häu-fig wählen. Der seit der Bundestagswahl 2009 bestehende Trend bei den Wahlbe-rechtigten ab 70 Jahren verfestigte sich nicht: Während 2009 und 2013 die Wahl-beteiligung in dieser Altersgruppe über-durchschnittlich war, lag diese 2017 nur noch knapp unter dem Durchschnitt. Auch die Wahlbeteiligung der 30- bis 39-Jährigen ist gesunken: Bis Anfang der 1980er-Jahre war sie noch überdurch-schnittlich hoch, inzwischen liegt sie höchstens im durchschnittlichen Bereich.

Während die Wahlbeteiligung der Erstwählerinnen und -wähler 2017 bei 69,9 % lag, hatte die Altersgruppe der 21- bis 24-Jährigen erneut mit 67,0 % den nied-rigsten Wert. Bei den folgenden Alters-

machte nur knapp ein Sechstel aller Wahlberechtigten aus. Bei der Bundes-tagswahl 1990 hatten die über 60-Jähri-gen nur gut ein Viertel der Wahlberech-tigten gestellt, die unter 30-Jährigen hin-gegen noch knapp ein Viertel. u Info 2, Abb 5

Die Wahlbeteiligung lag nach dem amtlichen Endergebnis der Bundestags-wahl 2017 bei 76,2 %. Sie hat sich bei allen Bundestagswahlen seit 1953 in den einzel-nen Altersgruppen weitgehend parallel zur Gesamtbeteiligung entwickelt, wenn auch auf unterschiedlichen Niveaus. Überdurchschnittlich hoch war stets die Wahlbeteiligung der 40- bis 69-Jährigen, so auch bei der Bundestagswahl 2017. Die Wahlberechtigten unter 30 Jahren gingen 2017 dagegen – wie auch in der Vergan-

u Abb 5 Wahlberechtigte nach Altersgruppen — in Prozentu Info 2 Was ist die repräsentative Wahlstatistik?

Die repräsentative Wahlstatistik ist eine Stichpro-benerhebung. In die Auswahl einbezogen werden bis zu jeweils 5 % aller Urnen- und Briefwahlbezir-ke im gesamten Bundesgebiet und nicht mehr als jeweils 10 % aller Urnen- und Briefwahlbezirke in einem Land. Dabei müssen die ausgewählten Ur-nenwahlbezirke mindestens 400 Wahlberechtigte umfassen und ausgewählte Briefwahlbezirke min-destens 400 Brief wählerinnen und -wähler bei der vorherigen Wahl umfasst haben. Bei der Bundestagswahl 2017 waren insgesamt 2,2 Milli-onen Wahlberechtigte in der Stichprobe; dies entspricht einem Anteil von 3,6 %.

Im Gegensatz zur allgemeinen Wahlstatistik, bei der es sich um eine Dokumentation der von den Wahlorganen festgestellten Wahlergebnisse und der dort angefallenen Informationen handelt, stellt die repräsentative Wahlstatistik fest, in welchem Umfang sich die Wahlberechtigten beziehungs-weise die Wählerinnen und Wähler aus verschiede-nen Altersgruppen an der Wahl betei ligen und wie sie stimmen. Damit ermöglicht sie bedeutende Rückschlüsse über deren Wahlverhalten und ihre Be teiligung am demokratischen Staatsleben.

Die repräsentative Wahlstatistik ist eine Besonder-heit im deutschen Wahlrecht und weltweit ein-malig. Die Ergebnisse interessieren insbesondere die politischen Parteien und wahlwissenschaft-liche Einrichtungen.

Bei der Bundestagswahl 2017 wurde zum 16. Mal seit 1953 eine repräsentative Wahlstatistik durchgeführt.

60 und mehr30 – 5918 – 29

im Alter von … bis … Jahren

2017

14,8

48,9

36,3

1990

26,8

50,2

23,0

345

Teilnahme am politischen Leben durch Wahlen / 9.1 Politische und gesellschaftliche Partizipation / 9

Page 8: 9 Politische und gesellschaftliche Partizipation

u Abb 6 Abweichung der Wahlbeteiligung nach Altersgruppen von der durchschnittlichen Wahlbeteiligung bei der Bundestagswahl 2017 — in Prozentpunkten

Durchschnittliche Wahlbeteiligung 76,2 %.

Stimmenanteil der CDU zwischen 21,4 % und 27,2 %. Bei den Wählern ab 70 Jahren stieg er sprunghaft auf 36,5 % an. u Abb 7

Die CSU schnitt wie ihre Schwester-partei besonders gut bei älteren Wählerin-nen und Wählern ab. So erreichte sie bun-desweit bei den ab 70-Jährigen 8,1 %.

Die SPD erzielte bei der Bundestags-wahl 2017 mit 25,2 % ihren höchsten Stim-menanteil ebenfalls bei den Wählerinnen und Wählern ab 70 Jahren. Bei den 35- bis 44-Jährigen hatte sie mit 15,6 % ihren ge-ringsten Zweitstimmenanteil.

Die AfD, die insgesamt die größten Gewinne zu verzeichnen hatte, konnte bei

u Abb 7 Stimmabgabe (Zweitstimmen) nach Altersgruppen bei der Bundestagswahl 2017 — in Prozent

Frauen Männer

18–20 21–24 25–29 30 –34 35–39 40 – 44 45– 49 50 –59 60 – 69 70 und mehr

–2

–4

–6

–8

–10

–12

0

2

6

4

Altersgruppe von ... bis ... Jahren

–5,4

–8,0

–6,0

–2,8

–0,6

–3,7

–7,2

–10,4–9,1

–5,4

–2,9

–0,9

1,2

3,6 3,84,7

1,82,8

5,04,2

Altersgruppe von ... bis ... Jahren

45–59 60–69 70 und mehr

18–24 25–34 35–44Sonstige

SPD

CSU

CDU

AfD

FDP

GRÜNEDIE LINKE

0

5

10

15

20

25

30

35

24,827,2

36,5

19,923,3

25,2

9,310,5

6,8

10,5

6,8

3,85,6 6,1

8,110,3 10,3 10,1

15,113,2

8,3

4,62,6 1,4

0

5

10

15

20

25

19,921,4

24,6

18,4 17,115,6

10,5 10,99,1

14,611,1

11,0

5,1 5,4 5,9

13,211,4 11,4

8,0

12,815,4

10,4 9,87,0

346

9 / Politische und gesellschaftliche Partizipation 9.1 / Teilnahme am politischen Leben durch Wahlen

Page 9: 9 Politische und gesellschaftliche Partizipation

Wahlhelferinnen und Wahlhelfer Bei jeder Bundestagswahl tragen am Wahltag rund 650 000 ehrenamtliche Wahlhelferinnen und -helfer in den etwa 88 000 Urnen- und Briefwahlbe-zirken zum Gelingen der Wahl bei. Sie müssen selbst wahlberechtigt sein und werden von den Gemeindebehör-den berufen.

In jedem Wahllokal wird ein Wahlvorstand eingesetzt. Jeder Wahl-vorstand besteht aus einer Wahlvorste-herin oder einem Wahlvorsteher, einer Stellvertretung und weiteren drei bis sieben Beisitzerinnen und Beisitzern.

Die Wahlvorstände müssen be-reits vor Öffnung der Wahlräume um 8:00 Uhr Vorbereitungen treffen. Bis 18:00 Uhr sind die Wahlräume geöffnet. Während dieser Zeit organisiert und überwacht der Wahlvorstand die ord-nungsgemäße Durchführung der Wahl und erklärt bei Bedarf den Bürgerinnen und Bürgern die Wahlformalitäten. Hierzu zählt insbesondere die Überprü-fung der Wahlberechtigung aufgrund des Wählerverzeichnisses und die Aus-

gabe der Stimmzettel. Der Wahlvor-stand zählt nach Schließung des Wahl-lokals die Stimmen aus und meldet das Ergebnis an die Kommune weiter.

Bei der Tätigkeit als Wahlhelferin oder Wahlhelfer handelt es sich um eine ehrenamtliche Tätigkeit, zu de-ren Übernahme jede und jeder Wahl-berechtigte verpflichtet ist. Sie kann nur aus wichtigem Grund abgelehnt werden. Wichtige Gründe sind:· dringende berufliche Gründe,· Krankheit oder körperliche Beein-

trächtigung,· ein anderer wichtiger Grund.Die Entscheidung, ob ein wichtiger Grund vorliegt, trifft die zuständige Gemeindebehörde. Der beziehungs-weise die Wahlberechtigte ist dafür beweispflichtig.

Für ihre Tätigkeit erhalten die Mit-glieder der Wahlvorstände ein Erfri-schungsgeld, unter bestimmten Voraus-setzungen auch Fahrtkostenerstattung.

Einen anschaulichen Einblick in die Tätigkeiten der Wahlvorstände bieten die Videos »Der Wahlvorstand«, »Ab-

lauf des Wahltages« und »Ablauf der Stimmauszählung und Dokumenta-tion«, die auf der Internetseite des Bun-deswahlleiters abrufbar sind:

https://www.bundeswahlleiter.de/ bundestagswahlen/2017/ informationen-wahlhelfer.html

Weitere Erläuterungen und Definitio-nen rund um das Thema Wahl, wie zur Sitzverteilung oder zu den Wahl-kreisen, gibt das Wahl-Lexikon des Bundeswahlleiters unter:

https://www.bundeswahlleiter.de/ service/glossar.html

Das Wahl-Lexikon informiert über die Vorbereitung von Bundestags- und Eu-ropawahlen und trägt zum besseren Verständnis des Wahlablaufs und der gesetzlichen Regelungen bei.

Außerdem finden sich weitere In-formationen in unregelmäßigen Ab-ständen auf Twitter unter:

@Wahlleiter_Bund

gen mit 10,9 %. Auch bei ihr wiesen die Stimmenanteile zwischen den einzelnen Altersgruppen nur relativ geringe Schwan-kungen auf.

Die GRÜNEN erreichten bei der Bun-destagswahl 2017 in allen Altersgruppen bis 59 Jahre zweistellige Stimmenanteile. Am erfolgreichsten waren sie mit 14,6 % bei den Jung- und Erstwählern unter 25 Jah-ren. Bei den über 60-Jährigen erreichten sie hingegen deutlich schlechtere Ergebnisse, bei den ab 70-Jährigen sogar nur 3,8 %.

Die sonstigen Parteien schnitten bei der jüngsten Generation mit 10,4 % deut-lich am besten ab.

Stimmenanteil der CDU zwischen 21,4 % und 27,2 %. Bei den Wählern ab 70 Jahren stieg er sprunghaft auf 36,5 % an. u Abb 7

Die CSU schnitt wie ihre Schwester-partei besonders gut bei älteren Wählerin-nen und Wählern ab. So erreichte sie bun-desweit bei den ab 70-Jährigen 8,1 %.

Die SPD erzielte bei der Bundestags-wahl 2017 mit 25,2 % ihren höchsten Stim-menanteil ebenfalls bei den Wählerinnen und Wählern ab 70 Jahren. Bei den 35- bis 44-Jährigen hatte sie mit 15,6 % ihren ge-ringsten Zweitstimmenanteil.

Die AfD, die insgesamt die größten Gewinne zu verzeichnen hatte, konnte bei

den 25- bis 69-Jährigen ein relativ konstan-tes Wählerpotenzial von 12,8 % bis 15,4 % für sich erschließen. Deutlich weniger er-folgreich war sie sowohl bei der jüngsten Generation (8,0 %) als auch bei den ältes-ten Wählerinnen und Wählern (8,3 %).

Die FDP zeigte prozentual die ge-ringsten Schwankungen in den einzelnen Altersgruppen. Die Wählerinnen und Wähler sind über alle Altersgruppen fast gleichmäßig verteilt. Den höchsten Stim-menanteil erreichte sie in der jüngsten Altersgruppe (13,2 %).

DIE LINKE erzielte ihren höchsten Stimmenanteil bei den 25- bis 34-Jähri-

347

Teilnahme am politischen Leben durch Wahlen / 9.1 Politische und gesellschaftliche Partizipation / 9

Page 10: 9 Politische und gesellschaftliche Partizipation

Westfalen, Rheinland-Pfalz und Schles-wig-Holstein angewandt.

Die Wahlbeteiligung bei Landtags-wahlen liegt grundsätzlich niedriger als bei Bundestagswahlen. Die Unterschiede sind jedoch von Land zu Land verschie-den stark ausgeprägt: Die höchste Wahl-beteiligung bei den jeweils letzten Land-tagswahlen wurde in Hessen im Jahr 2013 mit 73,2 % erreicht, die niedrigste bei der Wahl 2014 in Brandenburg mit 47,9 %. u Abb 8

Nur in Bayern regiert die CSU allein, in allen anderen Ländern haben jeweils zwei oder drei Parteien Koalitionen ge-schlossen. In Baden-Württemberg sind die GRÜNEN mit der CDU ein Regie-rungsbündnis eingegangen. Die SPD ko-

9.1.2 LandtagswahlenIn den Bundesländern stecken die jewei-ligen Landesverfassungen den Rahmen für die Gestaltung des Landeswahlrechts ab. Dabei können die Länder unter Ein-haltung der Wahlgrundsätze (allgemeine, unmittelbare, freie, gleiche und geheime Wahl) das Wahlverfahren und das Wahl-system durch eigene Landeswahlgesetze und Landeswahlordnungen selbst be-stimmen.

Eine Gemeinsamkeit mit dem Bun-destagswahlrecht ist beispielsweise das von allen Ländern praktizierte Verhält-niswahlrecht. Die meisten Länder folgen dem Prinzip der personalisierten Ver-hältniswahl, wonach die Wählerinnen und Wähler mit ihren Erststimmen über

die Wahlkreiskandidatinnen und -kan-didaten und mit der Zweitstimme über eine Parteiliste entscheiden. Unterschie-de gibt es bei der Dauer der Wahlperiode, die sich in fast allen Ländern über fünf Jahre erstreckt; lediglich Bremen wählt alle vier Jahre. Auch das aktive und das passive Wahlalter sind vereinzelt unter-schiedlich geregelt.

Die Sitzzuteilung erfolgt ebenfalls nach verschiedenen Verfahren. Manche Länder wenden das Höchstzahlverfahren nach d’Hondt an, während andere das Verfahren nach Hare/Niemeyer einsetzen. Das bei Bundestags- und Europawahlen vorgesehene Verfahren nach Sainte-La-guë/Schepers wird auch in Baden-Würt-temberg, Bremen, Hamburg, Nordrhein-

u Abb 8 Wahlbeteiligung und Stimmabgabe bei den letzten Landtagswahlen — in Prozent

10,6

5,2

29,8

24,3

16,3

13,8

33,0

12,6

7,4

31,2

6,4

9,5

CDU/CSU 5 GRÜNESPD FDP AfDDIE LINKE FREIE WÄHLER Bayern SonstigeSSW BVB /FREIE WÄHLERBIW

Baden-Württemberg Wahlbeteiligung 70,4 %

2016

15,1

12,7

8,330,3

27,0

6,6

Bayern1

Wahlbeteiligung 63,6 %

14,1

8,6

9,0

20,6 47,7

2013

17,6

14,2

6,721,6

15,6

BerlinWahlbeteiligung 66,9 %

2016

9,2

23,0

31,9

18,615,2

Brandenburg 2 Wahlbeteiligung 47,9 %

2014

12,2

6,2 32,7

5,6

Bremen4 Wahlbeteiligung 50,2 %

2015

22,4

9,5

6,6

5,5 32,8

15,1

3,24,8

Hamburg Wahlbeteiligung 56,5%

2015

4,2

15,9

8,5

7,4

6,145,6

12,3

Hessen 2

Wahlbeteiligung 73,2%

30,7

5,2

5,0 38,3

11,1

9,6

2013

16,5

Mecklenburg-Vorpommern 2

Wahlbeteiligung 61,9 %

2016

20,8

13,2

30,6

19,0

Niedersachen 2 Wahlbeteiligung 63,1 %

20178,7

7,5

6,2 36,9

33,6

7,0

Nordrhein-Westfalen 2

Wahlbeteiligung 65,2 %

2017

Saarland Wahlbeteiligung 69,7 %

201712,8

29,6

6,2 40,7

10,7

12,4

Sachsen 2

Wahlbeteiligung 49,1 %

2014

18,9

5,7

9,7

13,8 39,4

Sachsen-Anhalt Wahlbeteiligung 61,1 %

2016

Schleswig-Holstein 2 Wahlbeteiligung 64,2 %

2017

11,5

7,2

27,3

5,9

3,3

12,9

32,0

Thüringen 2 Wahlbeteiligung 52,7%

2014

33,5

10,6

5,7

28,2

9,7

12,4

Rheinland-Pfalz 2

Wahlbeteiligung 70,4 %

2016

31,8

12,6

7,8

36,2

6,2

5,3

348

9 / Politische und gesellschaftliche Partizipation 9.1 / Teilnahme am politischen Leben durch Wahlen

Page 11: 9 Politische und gesellschaftliche Partizipation

Westfalen, Rheinland-Pfalz und Schles-wig-Holstein angewandt.

Die Wahlbeteiligung bei Landtags-wahlen liegt grundsätzlich niedriger als bei Bundestagswahlen. Die Unterschiede sind jedoch von Land zu Land verschie-den stark ausgeprägt: Die höchste Wahl-beteiligung bei den jeweils letzten Land-tagswahlen wurde in Hessen im Jahr 2013 mit 73,2 % erreicht, die niedrigste bei der Wahl 2014 in Brandenburg mit 47,9 %. u Abb 8

Nur in Bayern regiert die CSU allein, in allen anderen Ländern haben jeweils zwei oder drei Parteien Koalitionen ge-schlossen. In Baden-Württemberg sind die GRÜNEN mit der CDU ein Regie-rungsbündnis eingegangen. Die SPD ko-

ments aus der Bundesrepublik Deutsch-land nach den Grundsätzen der Verhält-niswahl mit nur einer Stimme. Die letzte Europawahl fand in den Mitgliedstaaten der EU im Zeitraum vom 22. bis 25. Mai 2014 statt, in Deutschland am 25. Mai. Die neunte Direktwahl zum Europäischen Parlament wird im Frühsommer 2019 stattfinden. Informationen über die Wahl von 2014 bietet Kapitel 13.1 des Datenre-ports 2016. Die Ergebnisse der Europa-wahl sind unter www.europarl.europa.eu abrufbar.

aliert mit der LINKEN in Brandenburg und mit den GRÜNEN jeweils in Bremen und in Hamburg, mit der CDU in Meck-lenburg-Vorpommern und in Nieder-sachsen, mit der LINKEN und den GRÜ-NEN in Berlin sowie mit der FDP und den GRÜNEN in Rheinland-Pfalz. In Hessen bildet die CDU gemeinsam mit den GRÜNEN die Landesregierung, im Saarland und in Sachsen gemeinsam mit der SPD. In Nordrhein-Westfalen regiert die CDU zusammen mit der FDP und in Sachsen-Anhalt bilden CDU, SPD und GRÜNE zusammen eine Koalition. In Thüringen haben sich DIE LINKE, SPD und GRÜNE zusammengeschlossen.

Alle im 19. Deutschen Bundestag ver-tretenen Parteien haben auch Sitze in den

Länderparlamenten inne. Während CDU (in Bayern CSU) und SPD in allen Land-tagen vertreten sind, haben Abgeordnete der GRÜNEN und der AfD in jeweils 14  Landesparlamenten Sitze eingenom-men. DIE LINKE konnte in zehn Landta-gen Sitze erzielen und Abgeordnete der FDP sind in neun Landtagen vertreten.

9.1.3 EuropawahlenSeit 1979 wählen die Bürgerinnen und Bürger der Europäischen Union (EU) in fünfjährlichem Abstand die Abgeordneten des Europäischen Parlaments. Im Gegen-satz zur Wahl zum Deutschen Bundestag mit ihrem Mischsystem aus Mehrheits- und Verhältniswahl erfolgt die Wahl der Abgeordneten des Europäischen Parla-

Stand: 01.02.2018. Rechter Halbkreis = Regierungsparteien.

5 CSU nur in Bayern.1 Gesamtstimmen = Erst- und Zweitstimmen.2 Zweitstimmen.

3 GRÜNE/B 90.4 Gesamtstimmen = Personen- und Listenstimmen.

10,6

5,2

29,8

24,3

16,3

13,8

33,0

12,6

7,4

31,2

6,4

9,5

CDU/CSU 5 GRÜNESPD FDP AfDDIE LINKE FREIE WÄHLER Bayern SonstigeSSW BVB /FREIE WÄHLERBIW

Baden-Württemberg Wahlbeteiligung 70,4 %

2016

15,1

12,7

8,330,3

27,0

6,6

Bayern1

Wahlbeteiligung 63,6 %

14,1

8,6

9,0

20,6 47,7

2013

17,6

14,2

6,721,6

15,6

BerlinWahlbeteiligung 66,9 %

2016

9,2

23,0

31,9

18,615,2

Brandenburg 2 Wahlbeteiligung 47,9 %

2014

12,2

6,2 32,7

5,6

Bremen4 Wahlbeteiligung 50,2 %

2015

22,4

9,5

6,6

5,5 32,8

15,1

3,24,8

Hamburg Wahlbeteiligung 56,5%

2015

4,2

15,9

8,5

7,4

6,145,6

12,3

Hessen 2

Wahlbeteiligung 73,2%

30,7

5,2

5,0 38,3

11,1

9,6

2013

16,5

Mecklenburg-Vorpommern 2

Wahlbeteiligung 61,9 %

2016

20,8

13,2

30,6

19,0

Niedersachen 2 Wahlbeteiligung 63,1 %

20178,7

7,5

6,2 36,9

33,6

7,0

Nordrhein-Westfalen 2

Wahlbeteiligung 65,2 %

2017

Saarland Wahlbeteiligung 69,7 %

201712,8

29,6

6,2 40,7

10,7

12,4

Sachsen 2

Wahlbeteiligung 49,1 %

2014

18,9

5,7

9,7

13,8 39,4

Sachsen-Anhalt Wahlbeteiligung 61,1 %

2016

Schleswig-Holstein 2 Wahlbeteiligung 64,2 %

2017

11,5

7,2

27,3

5,9

3,3

12,9

32,0

Thüringen 2 Wahlbeteiligung 52,7%

2014

33,5

10,6

5,7

28,2

9,7

12,4

Rheinland-Pfalz 2

Wahlbeteiligung 70,4 %

2016

31,8

12,6

7,8

36,2

6,2

5,3

349

Teilnahme am politischen Leben durch Wahlen / 9.1 Politische und gesellschaftliche Partizipation / 9

Page 12: 9 Politische und gesellschaftliche Partizipation

In einer sich immer stärker sozial und kulturell differenzierenden Gesellschaft wie der Bundesrepublik Deutschland ist die Frage der Integration und der Teil­habe von zentraler Bedeutung für den Zusammenhalt. In einer demokratischen Gesellschaft gilt das nicht zuletzt für den Bereich der Politik. Demokratie bedeutet die Möglichkeit der gleichen Teilhabe an den politischen Willensbildungs­ und Entscheidungsprozessen. Durch gleiche Wahlen bestimmen die Bürgerinnen und Bürger ihre politischen Repräsentanten, durch politische Beteiligung können sie Einf luss auf die Politik nehmen. Unter politischer Integration versteht man den Prozess, in dessen Verlauf sich die Bürge­rinnen und Bürger durch ihre eigene politische Beteiligung in die politische Willensbildung einbringen und dadurch sowohl die demokratischen »Spielregeln« anerkennen als auch Loyalitätsbeziehun­gen gegenüber den politischen Institutio­nen und Akteuren entwickeln. Die Frage, wie viel Bürgerbeteiligung eine Demo­kratie braucht, bleibt offen und ist letzt­lich nur normativ zu beantworten.

Wenn jedoch eine Gesellschaft hinter ein bereits erreichtes Ausmaß an politi­scher Integration und Partizipation zu­rückfällt, ist dies ein Warnsignal für die Demokratie. Starke regionale oder sozia­le Unterschiede in der Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger an der Politik können darauf verweisen, dass eine gleichmäßige Integration in die Politik nicht gelingt. Die Debatten über die »Mitgliederkrise« von Großorganisatio­nen wie Parteien und Gewerkschaften, über Politik­ und Parteienverdrossenheit sowie über sozial bedingte politische Un­gleichheit legen es nahe, danach zu fra­gen, ob sich die Bürgerinnen und Bürger der Bundesrepublik heute weniger poli­tisch beteiligen als früher und ob sich Unterschiede zwischen sozialen, demo­grafischen oder regionalen Gruppen er­geben. Sozial induzierte Ungleichheit in der politischen Teilhabe ist in den letzten Jahren zunehmend in der Diskussion. In demografischer Hinsicht ist insbesondere

der Blick auf jüngere Altersgruppen und ihr »Hineinwachsen« in die Demokratie von Interesse. Zudem stellt sich selbst nach fast drei Jahrzehnten deutscher Ein­heit die Frage, ob die Bürgerinnen und Bürger in den neuen Bundesländern in vergleichbarer Weise politisch integriert sind und einen ähnlich starken Zugang zum politischen Willensbildungsprozess finden wie die der alten Bundesländer.

9.2.1 Politisches Interesse und politische PartizipationDas Interesse der Bürgerinnen und Bürger an Politik ist ein wichtiger Gradmesser dafür, inwieweit sie das politische Gesche­hen registrieren und an ihm teilnehmen, das heißt, ob Politik für die Bürgerinnen und Bürger wichtig genug ist, um sich da­rüber zu informieren und sich gegebenen­falls dafür zu engagieren. Das politische Interesse wird durch die Frage »Wie stark interessieren Sie sich für Politik: sehr stark, stark, mittel, wenig oder überhaupt nicht?« bereits seit 1969 in repräsentativen Bevöl­kerungsumfragen erfasst.

In den letzten Jahrzehnten hat sich der Anteil derjenigen, die sich stark oder sogar sehr stark für Politik interessieren, bestän­dig und sehr dynamisch verändert. Im Zeitraum um die Vereinigung Deutsch­lands 1990 war er in den alten Bundeslän­dern am höchsten und sank dann wieder ab. Allerdings lag das Niveau weiterhin höher als Anfang der 1980er­Jahre. Das politische Interesse stieg in den letzten Jahren wieder deutlich, sodass es 2014 den Stand von 1990 erstmals wieder übertraf. Auch 2016 lag der Anteil der politisch stark oder sehr stark Interessierten mit 38 % einen Prozentpunkt höher als 1990. Der langfristige Vergleich zeigt, dass heu­te mehr Bürgerinnen und Bürger am poli­tischen Geschehen interessiert sind als noch Ende der 1960er­Jahre. So waren 1969 lediglich 18 % stark oder sogar sehr stark an Politik interessiert.

In Ostdeutschland waren die Bürge­rinnen und Bürger bis etwa 2010 etwas weniger politisch interessiert als in West­deutschland. Ab dem Jahr 2010 ist dieser

9.2 Politische Integration und politisches EngagementBernhard Weßels WZB

WZB / SOEP

350

9 / Politische und gesellschaftliche Partizipation 9.2 / Politische Integration und politisches Engagement

350

Page 13: 9 Politische und gesellschaftliche Partizipation

Unterschied nahezu verschwunden und auch in Ostdeutschland erreichte das politische Interesse 2014 und 2016 mit jeweils 37 % einen Spitzenwert (West­deutschland: 40 % und 38 %). u Abb 1

Größer als der Unterschied zwischen den alten und den neuen Bundesländern ist der Unterschied im Interesse an der Politik zwischen jüngeren und älteren Bürgerinnen und Bürgern. Die 18­ bis 29­jährigen West­ und Ostdeutschen sind deutlich weniger politisch interessiert als der Durchschnitt der Bürgerinnen und Bürger. Dieser Unterschied ist nach 1990 entstanden. Davor interessierten sich Jüngere nur geringfügig weniger für Poli­tik. Im Durchschnitt der Jahre 1994 bis 2016 lag das Interesse an der Politik bei den 18­ bis 29­Jährigen mit 22 % in West­ und 21 % in Ostdeutschland etwa 8 bis 9 Prozentpunkte unter dem Bevölke­rungsdurchschnitt. 2010, 2014 und 2016 lag die Differenz in Westdeutschland im zweistelligen Bereich von 12 bis 14 Pro­zentpunkten, in Ostdeutschland war die

Differenz mit 15  Prozentpunkten gerin­gerem Interesse unter Jüngeren im Jahr 2014 am größten.

Noch größer als die Differenz zwi­schen jüngerer Bevölkerung und Bevöl­kerungsdurchschnitt ist jene zwischen Personen ohne und Personen mit Abitur. Unter den Bürgerinnen und Bürgern mit Abitur lag der Anteil derjenigen, die sich stark oder sehr stark für Politik interes­sierten, in Westdeutschland 2016 bei 55 % und in Ostdeutschland bei 53 %. Damit lag er im Westen wie im Osten etwas mehr als 15 Prozentpunkte über dem Be­völkerungsdurchschnitt. Das politische Interesse ist also deutlich durch soziale Unterschiede geprägt, wohingegen regio­nale Unterschiede zwischen Ost und West kaum festzustellen sind. Jedoch schwank­ten die Unterschiede im politischen Inte­resse zwischen Bürgerinnen und Bürgern mit und ohne Abitur im Zeitverlauf. Die Differenz lag im Schnitt bei etwas mehr als 20 Prozentpunkten. Ein Trend lässt sich dabei aber nicht feststellen. Eine Zu­

oder Abnahme bildungsbedingter Schich­tung im politischen Interesse ist seit der ersten Allgemeinen Bevölkerungsumfra­ge in den Sozialwissenschaften (ALLBUS) 1980 also nicht festzustellen.

Politisches Interesse ist sicherlich för­derlich für politische Beteiligung. Das Re­pertoire der Beteiligungsformen hat sich über klassische institutionalisierte For­men wie Wahlen in den vergangenen Jahr­zehnten stark ausgeweitet. Neben organi­satorischen Formen der Beteiligung wie der Arbeit in Parteien, Bürgerinitiativen, Vereinen und Organisationen nutzen Bür­gerinnen und Bürger vermehrt Formen nicht institutionalisierter Beteiligung wie die Aufnahme von Kontakt zu Politikerin­nen und Politikern, Unterschriftensamm­lungen und Demonstrationen, um ihren Interessen Ausdruck zu verleihen und am politischen Leben teilzuhaben. Diese Arten politischer Aktivität haben in Deutschland seit Ende der 1950er­Jahre kontinuierlich zugenommen. In diesem Zusammenhang wurde von einer »partizi­

u Abb 1 Politisches Interesse in der Bundesrepublik 1980 – 2016 — in Prozent

Datenbasis: ALLBUS 1980 – 2016; Personen mit deutscher Staatsangehörigkeit, bei Haushaltsstichproben transformationsgewichtet.

0

10

20

30

70

60

50

40

Westdeutschland Abitur

Ostdeutschland Abitur

Westdeutschland insgesamt Westdeutschland 18–29 Jahre

Ostdeutschland insgesamt Ostdeutschland 18–29 Jahre

2010200820062002 20042000199819961994199219901986 1988198419821980 2012 2014 2016

Abb. 1: Politisches Interesse in der Bundesrepublik 1980–2016 – in Prozent

Datenbasis: ALLBUS 1980–2016; Personen mit deutscher Staatsangehörigkeit, bei Haushaltsstichproben transformationsgewichtet. 351

Politische Integration und politisches Engagement / 9.2 Politische und gesellschaftliche Partizipation / 9

Page 14: 9 Politische und gesellschaftliche Partizipation

deutlich zurück, erreichten aber 2016 wieder ein ähnlich hohes Niveau wie in Westdeutschland. u Abb 2

Größere Unterschiede zwischen Ost und West im Ausmaß der Beteiligung lassen sich jedoch nicht feststellen. Etwa eine beziehungsweise einer von sechs Bürgerinnen und Bürgern hatte in den letzten zwölf Monaten eine Politikerin oder einen Politiker kontaktiert, mehr als jede oder jeder Dritte hatte sich an einer Unterschriftensammlung beteiligt und etwa jede oder jeder Zehnte an einer De­monstration. Auch bei den institutionel­len Beteiligungsformen wie der Arbeit in Parteien und Bürgerinitiativen oder Ver­einen und Organisationen ergaben sich keine größeren Unterschiede zwischen Ost­ und Westdeutschland: Etwa 5 % hat­ten in einer Partei oder Bürgerinitiative und etwa 30 % in Vereinen und Organisa­tionen mitgearbeitet.

Werden die Werte zwischen Ost und West, zwischen Menschen mit und ohne Hochschulabschluss sowie zwischen Jün­geren und Älteren 2016 verglichen, sind die regionalen Unterschiede am gerings­ten und nahezu vernachlässigbar. Die politische Integration und Teilhabe ist in Ost und West gleich hoch ausgeprägt. Dasselbe lässt sich allerdings nicht für die Unterschiede zwischen Bildungs­gruppen sagen. Hier zeigen sich bei allen Formen der Beteiligung mit Ausnahme der Arbeit in Parteien und Bürgerinitiati­ven starke Unterschiede durch eine sehr viel stärkere Beteiligung von Menschen mit Hochschulabschluss. Der Unter­schied zwischen den Bildungsgruppen war bei Unterschriftensammlungen mit einer Prozentpunktdifferenz von 19 zu­gunsten der Akademikerinnen und Aka­demiker am höchsten, gefolgt von der Kontaktauf nahme mit Politikerinnen und Politikern (11 Prozentpunkte), De­monstrationsteilnahme (9 Prozentpunk­te) und der Arbeit in Vereinen oder Orga­nisationen (8 Prozentpunkte). Auch bei der Mitarbeit in Parteien oder Bürgerini­tiativen lagen Bürgerinnen und Bürger mit einem Hochschulabschluss 4 Prozent­punkte vorn. u Abb 3

patorischen Revolution« gesprochen, mit der sich nicht nur in Deutschland, son­dern in allen modernen Demokratien nicht institutionalisierte Formen der poli­tischen Beteiligung etablierten. Die Antei­le derjenigen, die angaben, an den beiden häufigsten Formen der sogenannten un­konventionellen politischen Beteiligung,

Unterschriftensammlungen und Demons­trationen, mitgewirkt zu haben, waren in den 1990er­Jahren recht stabil. Seit der Jahrtausendwende sind Ähnlichkeiten, aber auch unterschiedliche Dynamiken in Ost und West festzustellen. Gemeinsam ist beiden Regionen ein hohes Beteili­gungsniveau kurz nach der Jahrtausend­

wende, ein danach erfolgender leichter Rückgang und eine Erholung nach 2010. Während in Westdeutschland eine stetige Zunahme bei den Kontakten zu Politike­rinnen und Politikern sowie der Beteili­gung an Unterschriftensammlungen fest­zustellen ist, gingen beide Beteiligungsfor­men in Ostdeutschland zwischenzeitlich

u Abb 2 Nicht institutionalisierte und organisatorische Formen der Beteiligung 2002 – 2016 — in Prozent

Datenbasis: European Social Survey 1– 8 (2002 – 2016), Personen mit deutscher Staatsangehörigkeit.

Abb 2: Nicht institutionalisierte und organisatorische Formen der Beteiligung 2002–2016

Datenbasis: European Social Survey 1-8 (2002-2016), Personen mit deutscher Staatsangehörigkeit.

2004 2008Politiker kontaktiert Unterschriftensammlung Demonstration Parteiarbeit, Bürgerinitiative Arbeit in Verein /Organisation

2012 2016 2004 2008 2012 2016 2004 2008 2012 2016 2004 2008 2012 2016 2004 2008 2012 2016

14

11 12

15 15 15 16 18

31 33

27 29

30

33 36

39

10 8 7

8 8 9 10 11

4 3 4 4 4 5 4 5

18 21 20

24 25

31 29

32

organisatorische Beteiligungnicht institutionalierte Beteiligung

Westdeutschland

Abb 2: Nicht institutionalisierte und organisatorische Formen der Beteiligung 2002–2016

Datenbasis: European Social Survey 1-8 (2002-2016), Personen mit deutscher Staatsangehörigkeit.

2004 2008Politiker kontaktiert

Ostdeutschland

Unterschriftensammlung Demonstration Parteiarbeit, Bürgerinitiative Arbeit in Verein /Organisation2012 2016 2004 2008 2012 2016 2004 2008 2012 2016 2004 2008 2012 2016 2004 2008 2012 2016

organisatorische Beteiligungnicht institutionalierte Beteiligung

14

35

13

4

20

13

33

12

4

19

14

32

9

5

20

16

30

7

3

22

15

26

7

3

23

11

33

8

3

25

15

30

6

3

22

17

36

13

4

29

352

9 / Politische und gesellschaftliche Partizipation 9.2 / Politische Integration und politisches Engagement

352

Page 15: 9 Politische und gesellschaftliche Partizipation

deutlich zurück, erreichten aber 2016 wieder ein ähnlich hohes Niveau wie in Westdeutschland. u Abb 2

Größere Unterschiede zwischen Ost und West im Ausmaß der Beteiligung lassen sich jedoch nicht feststellen. Etwa eine beziehungsweise einer von sechs Bürgerinnen und Bürgern hatte in den letzten zwölf Monaten eine Politikerin oder einen Politiker kontaktiert, mehr als jede oder jeder Dritte hatte sich an einer Unterschriftensammlung beteiligt und etwa jede oder jeder Zehnte an einer De­monstration. Auch bei den institutionel­len Beteiligungsformen wie der Arbeit in Parteien und Bürgerinitiativen oder Ver­einen und Organisationen ergaben sich keine größeren Unterschiede zwischen Ost­ und Westdeutschland: Etwa 5 % hat­ten in einer Partei oder Bürgerinitiative und etwa 30 % in Vereinen und Organisa­tionen mitgearbeitet.

Werden die Werte zwischen Ost und West, zwischen Menschen mit und ohne Hochschulabschluss sowie zwischen Jün­geren und Älteren 2016 verglichen, sind die regionalen Unterschiede am gerings­ten und nahezu vernachlässigbar. Die politische Integration und Teilhabe ist in Ost und West gleich hoch ausgeprägt. Dasselbe lässt sich allerdings nicht für die Unterschiede zwischen Bildungs­gruppen sagen. Hier zeigen sich bei allen Formen der Beteiligung mit Ausnahme der Arbeit in Parteien und Bürgerinitiati­ven starke Unterschiede durch eine sehr viel stärkere Beteiligung von Menschen mit Hochschulabschluss. Der Unter­schied zwischen den Bildungsgruppen war bei Unterschriftensammlungen mit einer Prozentpunktdifferenz von 19 zu­gunsten der Akademikerinnen und Aka­demiker am höchsten, gefolgt von der Kontaktauf nahme mit Politikerinnen und Politikern (11 Prozentpunkte), De­monstrationsteilnahme (9 Prozentpunk­te) und der Arbeit in Vereinen oder Orga­nisationen (8 Prozentpunkte). Auch bei der Mitarbeit in Parteien oder Bürgerini­tiativen lagen Bürgerinnen und Bürger mit einem Hochschulabschluss 4 Prozent­punkte vorn. u Abb 3

u Abb 3 Nicht institutionalisierte und organisatorische Formen der Beteiligung nach Bildung, Region und Alter 2016 — in Prozent

Datenbasis: European Social Survey 2016, Personen mit deutscher Staatsangehörigkeit.

OstWest

Ost / West

18- bis 29-Jährige/ab 30 Jahren

1817

3936

1113

54

3229

ab 30 Jahren18- bis 29-Jährige

mitohne

16

3554

48

1019

3038

27

Mit/ohne Hochschulabschluss

Arbeit in Verein /Organisation

Parteiarbeit, Bürgerinitiative

Demonstration

Unterschriften-sammlung

Politiker kontaktiert

Arbeit in Verein /Organisation

Parteiarbeit, Bürgerinitiative

Demonstration

Unterschriften-sammlung

Politiker kontaktiert

Arbeit in Verein /Organisation

Parteiarbeit, Bürgerinitiative

Demonstration

Unterschriften-sammlung

Politiker kontaktiert

1119

3340

55

3032

1017

353

Politische Integration und politisches Engagement / 9.2 Politische und gesellschaftliche Partizipation / 9

Page 16: 9 Politische und gesellschaftliche Partizipation

Der Vergleich zwischen jüngeren Bür­gerinnen und Bürgern im Alter von 18 bis 29 Jahren und Älteren zeigt, dass es über die verschiedenen Formen der Be­teiligung hinweg keinen allgemeinen Un­terschied zwischen den beiden Gruppen gibt. Es sind nicht immer die Jüngeren, die sich stärker beteiligen, vielmehr kommt es auf die Art der Beteiligung an. Demonstrationen als Mittel der Beteili­gung wurden in den letzten zwölf Mona­ten von 17 % der Jüngeren genutzt, aber nur von 10 % der Älteren. Bei der Kon­taktaufnahme mit Politikerinnen oder Politikern lagen hingegen die Älteren ebenso vorn wie bei den Unterschriften­sammlungen. Bei den organisatorischen Formen der Beteiligung gab es interes­santerweise keine Unterschiede: Jüngere und Ältere arbeiteten gleichermaßen zu 5 % in Parteien oder Bürgerinitiativen und zu etwa 30 % in Vereinen und Orga­nisationen mit. Dieser Befund überrascht deshalb, weil die Daten der vergangenen Jahrzehnte stark darauf hingedeutet hat­ten, dass die traditionellen Formen der Beteiligung unter den Jüngeren immer weniger Zustimmung finden. 2016 er­scheint das Repertoire der Beteiligungs­

formen von Jüngeren und Älteren jedoch im Bereich der organisatorischen Beteili­gung eher als ausgeglichen.

Was die Ausgeglichenheit der politi­schen Integration und politischen Teilha­be angeht, ergibt sich damit insgesamt ein gemischtes Bild. Die großen Unter­schiede zwischen Ost und West sind ver­schwunden, auch die Unterschiede zwi­schen Jüngeren und Älteren verweisen nicht auf Defizite politischer Integration. Anders zu beurteilen ist das Gefälle in der Beteiligung von Menschen mit und ohne Hochschulbildung. Hier zeigen sich über alle Beteiligungsformen hinweg sys­tematische Unterschiede, die als sozial induzierte politische Ungleichheit zu be­werten sind.

9.2.2 Bindung an Interessen gruppen und politische ParteienDie Mitgliedschaft in Interessengruppen und politischen Parteien ist ein weiterer Indikator für die Integration der Bürge­rinnen und Bürger in den politischen Prozess. Diese Organisationen sind häu­fig durch gesellschaftliche Selbstorganisa­tion entstanden und dienen dem Zweck der Vertretung gemeinsamer politischer,

wirtschaftlicher, sozialer oder kultureller Interessen. Interessengruppen setzen sich auf verschiedene Weise für die Anliegen ihrer Mitglieder ein, zum Beispiel durch das Einwirken auf Parteien, Parlamente, Regierungen und Behörden oder die Öf­fentlichkeit im Allgemeinen. Politische Parteien sind unmittelbare Akteure des Regierungssystems. Da die Mitglied­schaft freiwillig ist, ist der Grad, zu dem Bürgerinnen und Bürger sich in Interes­sengruppen und politischen Parteien or­ganisieren, ein zentrales Merkmal der politischen Integration. Anders als die Wahlbeteiligung oder Formen nicht insti­tutionalisierter Beteiligung, die für den Einzelnen singuläre Ereignisse bleiben können, zeichnen sich Mitgliedschaften in Interessengruppen und politischen Parteien dadurch aus, dass sie in der Re­gel langfristig sind. Verliert die Mitglied­schaft in Interessengruppen und politi­schen Parteien für den Einzelnen oder die Einzelne an Attraktivität, so ist dies zunächst ein Warnsignal für die jeweilige Organisation. Nehmen die Mitglied­schaften jedoch in großem Umfang über viele Organisationen hinweg ab, weist dies darüber hinaus auf generelle Proble­me der Interessenvermittlung in einem politischen Gemeinwesen hin.

Im internationalen Vergleich zeich­net sich Westdeutschland durch einen recht hohen Organisationsgrad aus. In Westeuropa sind nur die Bürgerinnen und Bürger der Niederlande und der skandinavischen Länder stärker organi­siert. Ein langfristiger Vergleich ist auf­grund von Unterschieden in den Befra­gungsinstrumenten leider nicht möglich. Eine lange Reihe von Vergleichen von 1986 bis 1998 zeigt, dass der Anteil der Bürgerinnen und Bürger, die im engeren Sinne Mitglieder in Interessengruppen waren, im Westen Deutschlands für die­se Zeit relativ konstant bei etwa 30 % lag. Im selben Zeitraum stieg der Anteil der Bevölkerung, der in Freizeitorganisa­tionen, allen voran den Sportvereinen, organisiert war, von 29 % auf 43 %. Der Anteil derjenigen, die nur in Freizeitver­einigungen Mitglied waren, erhöhte sich

354

9 / Politische und gesellschaftliche Partizipation 9.2 / Politische Integration und politisches Engagement

354

Page 17: 9 Politische und gesellschaftliche Partizipation

Deutschland insgesamt Westdeutschland Ostdeutschland

nur Mitglied ³ aktives Mitglied / Ehrenamt ³ nur Mitglied ³ aktives Mitglied /

Ehrenamt ³ nur Mitglied ³ aktives Mitglied / Ehrenamt ³

2010 2014 2010 2014 2010 2014 2010 2014 2010 2014 2010 2014

Arbeit und Wirtschaft ¹

Gewerkschaften ² 12 13 . . 12 14 . . 9 9 . .

Politisch oder wertgebunden ¹

politische Parteien 3 5 . . 2 5 . . 7 2 . .

Menschenrechtsorganisationen 1 2 1 1 2 2 1 1 1 1 0 1

Naturschutzorganisationen 6 6 2 3 7 7 2 3 4 3 2 3

Bürgerinitiativen 1 1 1 1 2 1 1 2 1 0 1 1

Wohltätigkeitsvereine 10 7 5 7 11 8 5 8 6 3 3 4

Elternorganisationen 4 1 3 4 4 1 3 4 3 1 2 4

Selbsthilfe/Gesundheit 5 2 3 3 5 2 3 3 4 2 3 3

Rentner-, Seniorenvereine 2 1 1 2 2 1 1 2 3 1 2 2

Freizeit

Kultur-, Musikvereine 12 4 9 8 14 5 10 8 8 1 6 7

Sportvereine 29 10 22 22 32 11 24 23 22 3 18 20

sonstige Hobbyvereine 10 2 8 9 11 3 8 9 9 1 8 8

Mindestens einmal Mitglied

alle gelisteten Organisationen 56 37 . . 59 40 . . 50 22 . .

alle gelisteten, ohne Parteien und Gewerkschaften 50 26 39 39 53 29 40 43 43 14 34 36

- im Vergleich: Jüngere (18 – 29 Jahre) 47 21 40 41 48 22 41 43 45 15 37 33

- im Vergleich: mit Hochschulabschluss 63 37 48 52 67 41 50 52 58 24 48 51

Freizeitorganisationen 41 14 33 33 45 16 35 34 33 5 28 29

Freizeitbereich stiegen die Mitgliederan­teile in Ostdeutschland hingegen um drei Prozentpunkte. Relativ gesehen ha­ben sich also politikbezogene und frei­zeitbezogene Mitgliedschaften auseinan­derentwickelt. Interessengruppen konn­ten am generellen Aufwärtstrend der Mitgliedschaften in Ostdeutschland nicht teilhaben.

Jüngere Daten für 2010 und 2014 er­lauben, weil sie aufgrund unterschiedli­cher Erhebungsverfahren nicht mit frü­heren Daten vergleichbar sind, keine Schlussfolgerungen über die Mitglieder­entwicklung. Es liegt aber nahe, zu ver­muten, dass die Mitgliedschaft in Interes­

von knapp 16 % auf 26 %. In den neuen Bundesländern lag 1992 der Anteil derje­nigen, die in Interessengruppen organi­siert waren, noch 9 Prozentpunkte über dem Anteil in Westdeutschland. Der An­teil der Mitglieder in Freizeitvereinigun­gen befand sich dagegen 26 Prozent­punkte unter dem westdeutschen Durch­schnitt. Bezogen auf die Mitgliedschaft in Interessengruppen gab es in Ost­deutschland eine dramatische Entwick­lung, die vor allem zulasten der Gewerk­schaften ging. Zwischen 1992 und 1998 ging der Prozentsatz derjenigen, die in Interessengruppen organisiert waren, von knapp 40 % auf 25 % zurück. Im

sengruppen weiter zurückgegangen ist. Der Anteil nicht aktiver Mitgliedschaften lag 2014 deutlich niedriger als 2010. u Tab 1

Regionale Unterschiede zwischen Ost und West sind im Bereich Freizeit relativ konstant – in Westdeutschland liegt der Mitgliedschaftsanteil etwa 10 Prozent­punkte höher. Bezogen auf Interessen­gruppen ist der Abstand zwischen Ost und West von 2010 auf 2014 größer ge­worden. Im Altersvergleich existieren bei den Mitgliedschaftsanteilen in Orga­nisationen ohne Gewerkschaften und politische Parteien kaum Unterschiede zwischen dem Durchschnitt der Bürge­rinnen und Bürger und den Jüngeren.

u Tab 1 Mitgliedschaft in Organisationen 2010 und 2014 — in Prozent

. Nicht erhoben. 1 Als Interessengruppen gelten Organisationen aus den Kategorien »Arbeit und Wirtschaft« sowie »Politisch oder wertgebunden«. 2 Für 2010 Daten von 2008. 3 In »nur Mitglied« sind aktive und ehrenamtliche Mitgliedschaft nicht enthalten. Daten ergeben, wo erfasst, in der Summe den Mitgliedschaftsanteil.Datenbasis: ALLBUS 2008, 2010 und 2014, Personen mit deutscher Staatsangehörigkeit.

355

Politische Integration und politisches Engagement / 9.2 Politische und gesellschaftliche Partizipation / 9

Page 18: 9 Politische und gesellschaftliche Partizipation

Jedoch lassen sich nach Bildungsab­schluss deutliche Differenzen beobachten. Hier ergeben sich deutlich höhere Anteile für Akademiker und Akademikerinnen als für den Bevölkerungsdurchschnitt. Auch bezogen auf Organisationsmitglied­schaften verteilt sich die Teilhabe also un­gleich zugunsten der besser Gebildeten.

Die langfristige Entwicklung der Mit­gliedschaften der Bürgerinnen und Bür­ger in Deutschland lässt sich aufgrund veränderter Frageformate in den ALLBUS­ Studien zwar nicht über alle Organisa­tionsbereiche hinweg beurteilen. Aller­dings ist eine solche Beurteilung hinsicht­lich der Gewerkschaftsmitgliedschaften möglich. Der massive Rückgang von Ge­werkschaftsmitgliedern in Ostdeutsch­land in den Jahren 1992 bis 1998 schwäch­te sich zwar im Anschluss deutlich ab, setzte sich aber bis etwa 2008 fort. Seit­

dem scheint sich der gewerkschaftliche Organisationsgrad der erwachsenen Be­völkerung mit leichten Schwankungen auf gleichem Niveau zu halten. Die Anfang der 1990er­Jahre noch stark ausgeprägten Unterschiede zwischen Ost und West im durchschnittlichen Organisationsgrad sind fast verschwunden. Auch die deutli­che Kluft zwischen der jüngeren Bevölke­rung der 18­ bis 29­Jährigen und dem Durchschnitt, die in Westdeutschland be­sonders deutlich 2004 und in Ostdeutsch­land besonders 2008 zu beobachten war, wurde geringer. Bildungsunterschiede im gewerkschaftlichen Organisationsgrad fallen im Unterschied zu politischem In­teresse, politischer Beteiligung und ande­ren Mitgliedschaften leicht zugunsten von Bürgerinnen und Bürgern ohne Hoch­schulabschluss aus. Akademikerinnen und Akademiker waren 2016 lediglich zu

knapp 10 % gewerkschaftlich organisiert, also etwas weniger als der Durchschnitt. Bei den Gewerkschaftsmitgliedschaften ergeben sich damit zwar keine regionalen, sozialen oder demografischen Ungleich­heiten mehr. Die Integrationskraft hat aber dennoch stark nachgelassen, weil insgesamt nur ein sehr kleiner Teil der deutschen Bevölkerung in Gewerkschaften organisiert ist. u Abb 4

Die Mitgliedschaft in politischen Par­teien verzeichnet sogar eine noch drama­tischere Entwicklung. Die starken Mit­gliederrückgänge bei den Gewerkschaf­ten seit der Vereinigung fallen im Vergleich zu denen der politischen Partei­en noch moderat aus. Anhand der von den Parteien berichteten Mitgliederzah­len lässt sich nachvollziehen, dass diese innerhalb von zweieinhalb Jahrzehnten etwa eine Million und damit etwa 40 %

u Abb 4 Gewerkschaftsmitgliedschaft 1980 – 2016 — in Prozent

Datenbasis: ALLBUS 1980 – 2016; Personen mit deutscher Staatsangehörigkeit, bei Haushaltsstichproben transformationsgewichtet.

0

10

20

30

40

201020082006200420022000199819961994199219901986 19881984 19821980 2014 20162012

Westdeutschland insgesamt Westdeutschland, 18 –29 Jahre Ostdeutschland insgesamt Ostdeutschland, 18 –29 Jahre

Abb 5 Gewerkschaftsmitgliedschaft 1980–2016 – in Prozent

Datenbasis: ALLBUS 1980-2016; Personen mit deutscher Staatsangehörigkeit, bei Haushaltsstichproben transformationsge-wichtet.

356

9 / Politische und gesellschaftliche Partizipation 9.2 / Politische Integration und politisches Engagement

356

Page 19: 9 Politische und gesellschaftliche Partizipation

ihrer Mitglieder verloren haben. 1990 waren noch 3,8 % der Wahlberech tigten in politischen Parteien organisiert, 2016 waren es nicht einmal mehr 2 %. u Abb 5

Nimmt man alle Interessenorganisa­tionen einschließlich Gewerkschaften und politischer Parteien zusammen, sind das drastische Entwicklungen, die die Frage aufwerfen, ob und inwieweit pri­mär auf die politische Interessenvertre­tung und ­vermittlung ausgerichtete Or­ganisationen zukünftig noch in der Lage sein werden, ihren Beitrag zur politi­schen Willensbildung und politischen In­tegration zu leisten.

9.2.3 ZusammenfassungZusammengefasst verweisen die Ergeb­nisse einerseits darauf, dass der Grad poli­tischer Integration bezogen auf die tradi­tionellen, organisatorischen Formen der

Beteiligung, allen voran Mitgliedschaften in Gewerkschaften und politischen Par­teien, in den vergangenen zwei Jahrzehn­ten deutlich zurückgegangen ist. Interes­sengruppen und Parteien verlieren an Mitgliederattraktivität. Andererseits ha­ben nicht institutionalisierte Formen po­litischer Beteiligung nicht an Bedeutung verloren. Politik spielt für die Bürgerin­nen und Bürger nach wie vor eine große Rolle, ein vollständiger Rückzug findet nicht statt. Das politische Interesse er­reichte in Ost und West sogar einen Höchststand. Dass die Unterschiede zwi­schen Ost und West ebenso wie die zwi­schen Jüngeren und der Gesamtbevölke­rung sich vermindern oder sogar ganz zu verschwinden scheinen, ist positiv zu ver­merken. Ein negativer Befund ist aller­dings, dass Teilhabe und Integration in Organisationen und Aktionsformen stark

sozial geschichtet sind. Darauf verweisen die beträchtlichen Unterschiede zwi­schen Bürgerinnen und Bürgern ohne und mit Hochschulabschluss. Zusam­mengenommen mit dem Befund, das tra­ditionelle institutionalisierte Formen der Politik und politische Beteiligung an Attraktivität für die Bürgerinnen und Bürger verlieren und sich das Ausmaß politischer Integration in die institutio­nalisierte Politik abgeschwächt hat, ist das nach wie vor ein Warnsignal für Poli­tik und Gesellschaft.

u Abb 5 Parteimitgliedschaft 1990 – 2016

Datenbasis: Oskar Niedermayer, Parteimitglieder in Deutschland: Version 2017. Arbeitshefte a. d. Otto-Stammer-Zentrum, Nr. 27, FU Berlin 2017.

20102008200620042002200019981996199419921990 20142012 2016

Anteil Parteimitglieder an den Wahlberechtigten in % (linke Skala)Mitgliederzahlen in 1 000 (rechte Skala)

1 250

1 500

1 750

2 000

2 250

1 000

2 500

1,5

2,5

3,0

3,5

4,0

2,0

357

Politische Integration und politisches Engagement / 9.2 Politische und gesellschaftliche Partizipation / 9

Page 20: 9 Politische und gesellschaftliche Partizipation

Die Stabilität und das Funktionieren eines demokratischen Regierungssystems hän-gen davon ab, dass die Bürgerinnen und Bürger der Demokratie positiv gegen-überstehen. Deshalb ist es förderlich, wenn sie zum einen die Demokratie als Staatsform allgemein befürworten und zum anderen die Demokratie im eigenen Land positiv beurteilen. In den vergange-nen zehn Jahren gab es einige Entwick-lungen, die Auswirkungen auf die Demo-kratiezufriedenheit in den Ländern der Europäischen Union (EU) und auch in Deutschland gehabt haben könnten, zum Beispiel die Finanzmarkt-, Wirtschafts- und Staatsschuldenkrise 2008/2009, die Flüchtlings- und Immigrationsproblema-tik 2015 und die Wahlerfolge rechtspopu-listischer Parteien.

Vor allem wegen des unterschied lichen Wahlverhaltens in West- und Ostdeutsch-land und der anhaltenden Diskussion über eine ostdeutsche Identität sind die Unter-schiede zwischen West- und Ostdeutschen immer noch ein Thema der öffentlichen Diskussion. Diese Diskussion umfasst auch die Einstellungen zu Demokratie und Sozialstaat. Da das staatssozialisti-sche System der DDR unter aktiver Betei-ligung der Bürgerinnen und Bürger zu-sammengebrochen ist und sich die über-wältigende Mehrheit der Ostdeutschen für die deutsche Vereinigung ausgesprochen hat, wurde er wartet, dass die Mehrheit der Ostdeutschen nicht nur die Demokratie allgemein, sondern auch die Demokratie in Deutschland positiv beurteilen würde. Nach den bisher vor liegenden Befunden präferieren die Ostdeutschen zwar mehr-heitlich die Demokratie allgemein, sie ste-hen jedoch der Demokratie in Deutsch-land kritischer gegenüber. Eine wichtige und bislang offene Frage ist, ob die Ost-deutschen mit zunehmender Erfahrung mit der bundesrepublikanischen Demo-kratie ein positiveres Verhältnis zur De-mokratie in Deutschland entwickelt ha-ben. Diese Frage stellt sich insbesondere in Bezug auf die jüngeren Generationen in Ostdeutschland, die in diesem demokrati-schen System auf gewachsen sind.

Der Sozialstaat ist eine bedeutende Quelle der Legitimität der Demokratie in Deutschland. Nach der deutschen Verei-nigung im Jahr 1990 wurde der Sozial-staat weiter umgebaut, was neue soziale Probleme nach sich zog. Mindestens zwei damit verbundene Entwicklungen dürf-ten einen Einfluss auf die Einstellungen der Bürgerinnen und Bürger zum Sozial-staat gehabt haben. Die erste Entwick-lung sind die Leistungskürzungen und Abbaumaßnahmen, die seither die Sozi-alpolitik dominieren. Prominenteste Beispiele sind die Agenda 2010 (2003–2005), die ein Bündel verschiedener sozi-al- und arbeitsmarktpolitischer Maß-nahmen umfasste, sowie die Rente mit 67 (2007). Ausgehend von diesen Refor-men stellt sich die Frage, ob und in wel-chem Ausmaß die Bürgerinnen und Bür-ger bereit sind, ihre Ansprüche an die sinkenden Leistungen des Sozialstaats anzupassen. Für die Ostdeutschen stellt sich diese Frage in noch radikalerer Wei-se. Denn mehrheitlich waren sie der Ansicht, dass es sich bei der umfassen-den sozialen Absicherung um einen der wenigen Vorzüge des sozialistischen Systems der DDR handelte (»sozialisti-sche Errungenschaft«). Deshalb hatten sie noch höhere Erwartungen an die Rolle des Staates ausge bildet als die Westdeutschen.

Eine zweite Entwicklung, die die Ein-stellungen der Bürgerinnen und Bürger beeinflussen dürfte, ist die Zunahme der sozialen Ungleichheit, die sich insbeson-dere seit der Jahrtausendwende in Deutschland beobachten lässt. Indizien sind der Anstieg des Gini-Koeffizienten, eines Maßes für Einkommensungleich-heit, und die Zunahme der Armut (siehe Kapitel 6.3, Abb 2 und Abb 3, Seite 237). Diese Entwicklung hat zu einer verstärk-ten Diskussion um die soziale Gerechtig-keit in Deutschland geführt. Es stellt sich deshalb die Frage, ob die Bürgerinnen und Bürger angesichts der objektiv wach-senden Ungleichheit und der Gerechtig-keitsdebatte zunehmend eine staatliche Umverteilung fordern.

9.3 Einstellungen zu Demokratie und SozialstaatDieter Fuchs Universität Stuttgart Institut für Sozialwissenschaften Edeltraud Roller Johannes Gutenberg-Universität Mainz Institut für Politikwissenschaft

WZB / SOEP

358

9 / Politische und gesellschaftliche Partizipation 9.3 / Einstellungen zu Demokratie und Sozialstaat

358

Page 21: 9 Politische und gesellschaftliche Partizipation

Westdeutschland Ostdeutschland

1991 2000 2005 2006 2008 2014 1991 2000 2005 2006 2008 2014

» Die Demokratie ist die beste Staatsform.« 86 92 85 89 86 90 70 78 64 63 68 82

» Es gibt eine andere Staatsform, die besser ist.« 3 3 6 3 3 5 7 8 22 12 11 9

»Unentschieden.« 11 5 9 8 11 5 23 14 14 25 21 9

9.3.1 Akzeptanz der Demokratie als StaatsformDie grundlegende Einstellung zur Demo-kratie wird mit der direkten Frage danach erhoben, ob die Demokratie die beste Staatsform sei oder ob es eine bessere gebe. Alternative Herrschaftsordnungen – zum Beispiel kommunistisch-autoritäre Re-gime oder die Herrschaft eines starken Mannes – werden hierbei nicht vorgege-ben. Die in Tabelle 1 präsentierten Daten dokumentieren, dass kurz nach der Verei-nigung im Jahr 1991 die Ostdeutschen sich mit einer großen Mehrheit von 70 % für die Demokratie als beste Staatsform aussprachen. Die Zustimmung der West-deutschen war mit 86 % noch deutlich höher. Im Zeitverlauf schwankten die Ur-teile der Ost- und Westdeutschen um die-se jeweils hohen Werte. Vor allem in den Jahren 2005 und 2006 wurden die Unter-schiede zwischen Ost- und Westdeutschen etwas größer, weil die Zustimmung in Ostdeutschland etwas abnahm. Im Jahr 2006 betrug die Differenz 26 Prozent-punkte. Dabei handelte es sich jedoch um keinen längerfristigen Trend, denn ab 2008 stieg in Ostdeutschland die Zu-stimmung zur Demokratie als Staatsform wieder an. Nach den letzten verfügbaren Daten aus dem Jahr 2014 lag die Zustim-mung in Ostdeutschland bei 82 %, in Westdeutschland bei 90 %. Die Differenz zwischen Ost- und Westdeutschen redu-zierte sich somit auf 8 Prozentpunkte. u Tab 1

Im Jahr 2014 sah also nach wie vor eine klare Mehrheit der deutschen Bürge-

rinnen und Bürger die Demokratie allge-mein als die beste Staatsform an, nur eine sehr kleine Minderheit präferierte eine andere Staatsform. Dies galt sowohl für West- als auch für Ostdeutschland.

9.3.2 Zufriedenheit mit dem Funktionieren der Demokratie in DeutschlandEin etwas anderes Bild zeigt sich bezüg-lich der Zufriedenheit mit dem Funktio-nieren der Demokratie in Deutschland. Diese Einstellung bezieht sich weniger auf die Verfassungsnorm, das heißt die in der Verfassung implementierte Form der Demokratie, als vielmehr auf die Verfas-sungsrealität oder die Wirklichkeit der Demokratie in Deutschland. In die Be-urteilung dieser Verfassungsrealität kön-nen verschiedene Aspekte eingehen. Ins-besondere das Funktionieren institutio-neller Mechanismen (zum Beispiel der Austausch von Regierung und Oppositi-on und die Gewährleistung der Gleich-heit vor dem Gesetz), die Handlungen der Regierenden (zum Beispiel Berücksich-tigung von Interessen verschiedener Be-völkerungsgruppen, Amtsmissbrauch) und die Ergebnisse dieses Handelns (zum Beispiel wirtschaftliche und sozialpoliti-sche Leistungen) dürften bei der Beurtei-lung des Funktionierens der Demokratie eine Rolle spielen.

Die in Abbildung 1 präsentierten Zeitreihen für die Zufriedenheit mit dem Funktionieren der Demokratie in Deutsch-land zeigen eine deutliche Differenz zwi-

schen Ost- und Westdeutschland. Über den gesamten Zeitraum von 1991 bis 2017 hinweg war im Westen Deutschlands durchschnittlich eine klare Mehrheit von 67 % der Bürgerinnen und Bürger zufrie-den, während im Osten durchschnittlich lediglich 43 % zufrieden waren. Es gab er-hebliche Schwankungen im Zeitverlauf, die parallel in Ost- und Westdeutschland zu beobachten waren. Das heißt, dass die Bürgerinnen und Bürger in beiden Teilen Deutschlands ganz ähnlich auf bestimm-te Ereignisse reagierten; das aber auf un-terschiedlichem Niveau. Hinsichtlich der Struktur dieser Schwankungen ist be-merkenswert, dass zu den Bundestags-wahlen mit Ausnahme von 2005 ein An-stieg der Demokratiezufriedenheit er-folgte (1994, 1998, 2009, 2013). Die nach der Bundestagswahl 2009 im Jahr 2010 erfolgte Ab nahme in der Demokratiezu-friedenheit dürfte auf die europäische Finanzmarkt-, Wirtschafts- und Staats-schuldenkrise zurückgehen. Diese Ab-nahme umfasste in West und Ost aber weniger als 10 Prozentpunkte und war nicht von Dauer, denn bis 2014 nahm die Demokratiezufriedenheit in beiden Lan-desteilen kontinuierlich wieder zu. u Abb 1

Nach 2014 war sowohl in West- als auch in Ostdeutschland ein Abfall der Demokratiezufriedenheit festzustellen. Besonders deutlich war das in Ostdeutsch-land der Fall, wo die Demokratiezufrie-denheit von 59 % (2014) auf 47 % (2015) sank. Dieser Abfall ist vermutlich auf die hohe Zahl von Geflüchteten zurück-

u Tab 1 Akzeptanz der Demokratie als Staatsform 1991– 2014 — in Prozent

Datenbasis: Allensbacher Jahrbuch der Demoskopie, Band 9: 560 (Jahr 1991); Konsolidierung der Demokratie in Mittel- und Osteuropa 2000; Bürger und Gesellschaft 2005; European Social Survey – Deutsche Teilstudie 2006, 2008; Everhard Holtmann u. a., Deutschland 2014, Zentrum für Sozialforschung Halle e.V., 2015: 189.

359

Einstellungen zu Demokratie und Sozialstaat / 9.3 Politische und gesellschaftliche Partizipation / 9

Page 22: 9 Politische und gesellschaftliche Partizipation

Spanien, Italien und vor allem Griechen-land. Interessant ist aber, dass zwei der Krisenländer, und zwar Irland und Portu-gal, im Frühjahr 2017 eine relativ hohe Demokratiezufriedenheit aufwiesen, die noch über dem westeuropäischen Durch-schnitt lag. Die in der Abbildung 2 prä-sentierten Prozentsätze zeigen, dass in der Mehrzahl der westeuropäischen Länder die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger trotz der Finanzmarkt-, Wirtschafts- und Staatsschuldenkrise sowie der Flüchtlings- und Immigrationsproblematik mit dem Funktionieren der Demokratie im eige-nen Land zufrieden waren. u Abb 2

Unter den osteuropäischen EU-Mit-gliedsländern gibt es erhebliche Differen-zen bei der Demokratiezufriedenheit. Während in Polen, Estland, Tschechien und Lettland mehr als die Hälfte der Bür-gerinnen und Bürger zufrieden mit dem Funktionieren der Demokratie des eige-nen Landes war, traf dies in den anderen osteuropäischen EU-Mitgliedsländern nur für eine Minderheit zu. Am gerings-ten war der Wert in Kroatien, wo ledig-lich 30 % zufrieden waren. Bemerkens-wert ist, dass die Demokratiezufrieden-heit in Ostdeutschland höher war als im Durchschnitt der osteuropäischen EU-Mitgliedsländer.

9.3.3 Einstellungen verschie - dener Bevölkerungsgruppen zur DemokratieIn Tabelle 2 sind die beiden untersuchten Einstellungen zur Demokratie nach Ge-schlecht, Alter, beruflicher Stellung, ideo-logischer Orientierung (Links-Rechts) und Parteipräferenz aufgeschlüsselt. Für die Akzeptanz der Demokratie als Staats-form liegen keine aktuellen Daten vor. Allerdings sind die Befunde aus dem Jahr 2008 bei dieser grundlegenderen Einstel-lung, die erfahrungsgemäß relativ stabil ist, immer noch instruktiv. Sowohl in Ost- als auch in Westdeutschland zeigen sich einige auffällige Abweichungen vom Durchschnitt. Erstens sahen in beiden Landesteilen Arbeitslose sowie Anhän-gerinnen und Anhänger der Partei DIE LINKE unterdurchschnittlich oft die

zuführen. Seit Anfang 2015 wird dieses Thema von den deutschen Bürgerinnen und Bürgern als das wichtigste Problem in Deutschland angegeben (Forschungs-gruppe Wahlen, Politbarometer). 2016 und 2017 stieg die Demokratiezufrieden-heit in Ostdeutschland wieder an; auch in Westdeutschland nahm sie 2017 wieder zu. Obgleich die Flüchtlings- und Immi-grationsprobleme weiterhin ein wichti-ges Thema für die Bürgerinnen und Bür-ger sind, haben sie offenbar die Zufrie-denheit mit dem Funktionieren der Demokratie bislang nicht nachhaltig nega-tiv beeinflusst.

Bemerkenswert an den beiden Zeit-reihen für West- und Ostdeutschland ist, dass die Differenz zwischen beiden Teilen Deutschlands über den gesamten Zeit-raum bestehen blieb. 1991 betrug diese Differenz 29 Prozentpunkte, im Jahr 2017 lag dieser Wert immer noch bei 29 Pro-zentpunkten. Mehr als 25 Jahre nach der deutschen Vereinigung gibt es keine Hin-weise darauf, dass sich mit zunehmenden

Erfahrungen der Ostdeutschen mit der Demokratie die Kluft in der Demokratie-zufriedenheit zwischen Ost- und West-deutschen verringert hat.

Ein Vergleich mit den anderen 27 Mit-gliedsländern der Europäischen Union kann darüber Aufschluss geben, wie die Zufriedenheit mit dem Funktionieren der Demokratie in Deutschland einzuschät-zen ist. Die Daten stammen aus dem Frühjahr 2017. Die Demokratiezufrieden-heit in Westdeutschland rangierte deut-lich über dem westeuropä ischen Durch-schnitt. Lediglich in den skandinavischen Ländern, in Luxemburg und in den Nie-derlanden war die Zufriedenheit mit dem Funktionieren der Demokratie noch höher. Die Zufriedenheit mit dem Funkti-onieren der Demokratie in Ostdeutsch-land lag deutlich unter dem Durchschnitt der westeuropäischen Länder. Niedrigere Zufriedenheitswerte wiesen lediglich Län-der auf, die von der Finanzmarkt-, Wirt-schafts- und Staatsschuldenkrise beson-ders stark betroffen waren, wie Zypern,

u Abb 1 Zufriedenheit mit dem Funktionieren der Demokratie 1991– 2017 — in Prozent

»Sind Sie mit der Art und Weise, wie die Demokratie in Deutschland funktioniert, alles in allem gesehen sehr zufrieden, ziemlich zufrieden, ziemlich unzufrieden oder völlig unzufrieden?«; Anteil »sehr zufrieden« und »ziemlich zufrieden«.Datenbasis: Eurobarometer 1991– 2017.

OstdeutschlandWestdeutschland

0

10

20

30

40

50

60

70

80

90

100

1990 1995 2000 2005 2010 2015

360

9 / Politische und gesellschaftliche Partizipation 9.3 / Einstellungen zu Demokratie und Sozialstaat

360

Page 23: 9 Politische und gesellschaftliche Partizipation

Spanien, Italien und vor allem Griechen-land. Interessant ist aber, dass zwei der Krisenländer, und zwar Irland und Portu-gal, im Frühjahr 2017 eine relativ hohe Demokratiezufriedenheit aufwiesen, die noch über dem westeuropäischen Durch-schnitt lag. Die in der Abbildung 2 prä-sentierten Prozentsätze zeigen, dass in der Mehrzahl der westeuropäischen Länder die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger trotz der Finanzmarkt-, Wirtschafts- und Staatsschuldenkrise sowie der Flüchtlings- und Immigrationsproblematik mit dem Funktionieren der Demokratie im eige-nen Land zufrieden waren. u Abb 2

Unter den osteuropäischen EU-Mit-gliedsländern gibt es erhebliche Differen-zen bei der Demokratiezufriedenheit. Während in Polen, Estland, Tschechien und Lettland mehr als die Hälfte der Bür-gerinnen und Bürger zufrieden mit dem Funktionieren der Demokratie des eige-nen Landes war, traf dies in den anderen osteuropäischen EU-Mitgliedsländern nur für eine Minderheit zu. Am gerings-ten war der Wert in Kroatien, wo ledig-lich 30 % zufrieden waren. Bemerkens-wert ist, dass die Demokratiezufrieden-heit in Ostdeutschland höher war als im Durchschnitt der osteuropäischen EU-Mitgliedsländer.

9.3.3 Einstellungen verschie - dener Bevölkerungsgruppen zur DemokratieIn Tabelle 2 sind die beiden untersuchten Einstellungen zur Demokratie nach Ge-schlecht, Alter, beruflicher Stellung, ideo-logischer Orientierung (Links-Rechts) und Parteipräferenz aufgeschlüsselt. Für die Akzeptanz der Demokratie als Staats-form liegen keine aktuellen Daten vor. Allerdings sind die Befunde aus dem Jahr 2008 bei dieser grundlegenderen Einstel-lung, die erfahrungsgemäß relativ stabil ist, immer noch instruktiv. Sowohl in Ost- als auch in Westdeutschland zeigen sich einige auffällige Abweichungen vom Durchschnitt. Erstens sahen in beiden Landesteilen Arbeitslose sowie Anhän-gerinnen und Anhänger der Partei DIE LINKE unterdurchschnittlich oft die

Demokratie als die beste Staatsform an. Zweitens erwiesen sich die SPD-Anhänge-rinnen und -Anhänger im Osten Deutsch-lands als überdurchschnittlich starke Be-fürworter der Demokratie als Staatsform. Drittens waren ebenfalls die Arbeitslosen und Anhängerinnen und Anhänger der Partei DIE LINKE sowohl in West- als auch in Ostdeutschland weniger zufrieden mit dem Funktionieren der Demokratie als der jeweilige Bevölkerungsdurch-schnitt. Bemerkenswert ist viertens, welch ein geringer Anteil der Anhängerinnen und Anhänger der Alternative für Deutschland (AfD) im Westen und im Os-ten zufrieden mit dem Funktionieren der Demokratie war. Im Westen waren das 2016 lediglich 15 % und im Osten 16 %. Das zeigt, dass das demokratiekritische Potenzial in Deutschland vor allem bei den Anhängerinnen und Anhängern der AfD lokalisiert werden kann. Fünftens wiesen im Frühjahr 2017 in Ostdeutsch-land vor allem ideologisch rechtsorien-tierte Bürgerinnen und Bürger eine gerin-gere Demokratiezufriedenheit auf. u Tab 2

Auffällig ist die Ähnlichkeit zwischen den verschiedenen Altersgruppen in Ost-deutschland. Es wurde erwartet, dass ins-besondere die nachwachsenden Generati-onen vom neuen demokratischen System geprägt werden und eine positivere Hal-tung zu diesem System ausbilden. Diese positiven Sozialisationseffekte haben sich bei den beiden Einstellungen zur Demo-kratie – Demokratie als Staatsform allge-mein, Zufriedenheit mit der Demokratie in Deutschland – bislang kaum eingestellt.

Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass in Ost und West sowohl die Arbeitslosen als auch die Anhängerinnen und Anhänger der Partei DIE LINKE der Demokratie als Staatsform allgemein und der Demokratie in Deutschland vergleichs-weise kritischer gegenüberstehen. Trotz der unterdurchschnittlichen Werte sieht aber auch eine Mehrheit beider Bevölke-rungsgruppen in Ost- und Westdeutsch-land die Demokratie als die beste Staats-form an. Bedenklich ist vor allem die geringe Demokratiezufriedenheit bei den Anhängerinnen und Anhängern der AfD.

u Abb 2 Zufriedenheit mit dem Funktionieren der Demokratie im eigenen Land 2017 — in Prozent

Datenbasis: Eurobarometer Frühjahr 2017.

Dänemark

Schweden

Luxemburg

Finnland

Niederlande

Westdeutschland

Deutschland insgesamt

Malta

Belgien

Österreich

Vereinigtes Königreich

Irland

Durchschnitt Westeuropa

Frankreich

Ostdeutschland

Spanien

Italien

Griechenland

Portugal

Zypern

Polen

Tschechien

Estland

Lettland

Durchschnitt Osteuropa

Ungarn

Litauen

Slowakei

Bulgarien

Kroatien

Rumänien

Slowenien

92

90

82

81

81

80

75

72

71

70

70

69

68

60

51

43

38

37

19

66

59

58

54

52

39

37

37

36

34

34

30

43

361

Einstellungen zu Demokratie und Sozialstaat / 9.3 Politische und gesellschaftliche Partizipation / 9

Page 24: 9 Politische und gesellschaftliche Partizipation

»Die Demokratie ist die beste Staatsform.«

Zufriedenheit mit dem Funktionieren der Demokratie in Deutschland ¹

2008 2016 ² 2017 ³

West Ost West Ost West Ost

Insgesamt 86 68 65 43 80 51

Geschlecht

Männer 86 72 68 46 82 52

Frauen 86 64 62 41 79 49

Altersgruppen

18 – 34 Jahre 79 74 65 46 78 49

35 – 59 Jahre 87 65 64 45 79 44

ab 60 Jahren 89 68 66 39 82 55

Berufliche Stellung

Selbstständige 86 61 67 52 71 45

abhängig Beschäftigte 86 70 65 47 82 47

Arbeitslose 73 56 42 13 56 31

Rentner / Pensionäre 89 68 65 37 83 56

Ideologische Orientierung

Links 88 70 68 52 82 56

Mitte 87 68 64 31 83 56

Rechts 87 69 62 48 71 38

Parteipräferenz

DIE LINKE 76 63 45 38 . .

GRÜNE 85 75 78 79 . .

SPD 92 84 75 60 . .

FDP 96 67 77 62 . .

CDU / CSU 91 77 74 63 . .

AfD . . 15 16 . .

titutionellen Kern des Sozialstaats in bei-den Teilen Deutschlands über den gesam-ten Zeitraum von 1991 bis 2014 sehr stark ausgeprägt. Sie lag in Westdeutschland bei durchschnittlich 86 %; in Ostdeutsch-land wurde dieser Wert mit durch-schnittlich 93 % sogar noch übertroffen. Von 1991 bis 2010 nahm in beiden Lan-desteilen die Zustimmung kontinuierlich etwas ab; im Westen Deutschlands sank die Zustimmung von 90 % auf 80 %, im Osten von 98 % auf 87 %. Nach 2010 kehrte sich dieser Trend um. Vor allem in Westdeutschland, aber auch in Ost-deutschland stieg die Zustimmung zur

9.3.4 Zuständigkeit des Staates für soziale AbsicherungIm Zentrum des bundesrepublikanischen Sozialstaats steht die soziale Absicherung, die vor allem über Sozialversicherungs-systeme wie Renten-, Arbeitslosen-, Un-fall- und Krankenversicherung geregelt ist. Die Zustimmung zu diesem soge-nannten institutionellen Kern des Sozial-staats wird mit der Frage erfasst, ob der Staat dafür sorgen solle, dass man bei Krankheit, Not, Arbeitslosigkeit und im Alter ein gutes Auskommen hat. Nach den in Abbildung 3 präsentierten Befun-den war die Zustimmung zu diesem ins-

staatlichen Zuständigkeit für soziale Ab-sicherung wieder an; sie lag im Jahr 2014 in beiden Landesteilen bei etwa 90 % und umfasste damit fast alle Bürgerinnen und Bürger. Bis 2010 gab es also Anzei-chen für eine Reduktion der Ansprüche der Bürgerinnen und Bürger, und zwar nicht nur im Westen, sondern auch im Osten Deutschlands. Ganz offenbar ha-ben die Bürgerinnen und Bürger auf die Leistungskürzungen und Abbaumaßnah-men temporär mit einer zumindest leich-ten Reduktion ihrer Ansprüche reagiert. Die gegenläufige Entwicklung der An-sprüche nach 2010 markiert, dass die

u Tab 2 Einstellungen verschiedener Bevölkerungsgruppen zur Demokratie 2008, 2016 und 2017 — in Prozent

1 Zeitvergleich zwischen 2016 und 2017 ist aufgrund der unterschiedlichen Erhebungsverfahren nicht möglich.2 Antwortkategorien 6 –10 auf einer Skala von 0 = »äußerst unzufrieden« bis 10 = »äußerst zufrieden«.3 Anteil »sehr zufrieden« und »ziemlich zufrieden«.. Nicht erhoben.Datenbasis: European Social Survey – Deutsche Teilstudie 2008; European Social Survey 2016; Eurobarometer Frühjahr 2017.

362

9 / Politische und gesellschaftliche Partizipation 9.3 / Einstellungen zu Demokratie und Sozialstaat

362

Page 25: 9 Politische und gesellschaftliche Partizipation

Bürgerinnen und Bürger zu einer weite-ren Anpassung ihrer Ansprüche nach unten nicht mehr bereit sind und die staatliche Verantwortung wieder stärker einfordern. u Abb 3

Insgesamt waren bei dieser Aufgabe der sozialen Absicherung die Ost-West-Unterschiede von Beginn an vergleichs-weise gering; 2014 war der Unterschied nur noch marginal. Das dürfte daran lie-gen, dass hier der bundesdeutsche Sozial-staat und der sozialistische Sozialstaat der DDR ähnliche Regelungen und Pro-gramme entwickelt hatten. Im Mittel-punkt des sozialistischen Sozialstaats der DDR standen ebenfalls Sozialversiche-rungssysteme, die Risiken wie Krankheit, Unfall und Alter abdeckten.

9.3.5 Zuständigkeit des Staates für den Abbau von EinkommensunterschiedenDeutlich größere Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschen gibt es dagegen bei der sozialstaatlichen Aufgabe des Ab-baus von Einkommensunterschieden. Im Zuge der zunehmenden Ungleichheit und der Debatte um die soziale Gerech-tigkeit, die in Deutschland verstärkt seit Anfang der 2000er-Jahre geführt wird, ist diese Aufgabe in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit gerückt. Die Zustim-mung dazu wird mit der Frage erfasst, ob der Staat Maßnahmen ergreifen soll, um Unterschiede in den Einkommensni-veaus zu reduzieren. Die Zeitreihe be-ginnt erst im Jahr 2002 und erstreckt sich bis zum Jahr 2016.

Im Vergleich zur Aufgabe der sozia-len Absicherung war die Zustimmung zur Einkommensreduktion sowohl im Osten als auch im Westen Deutschlands deutlich geringer. Sie lag in West-deutschland bei durchschnittlich 61 % und in Ostdeutschland bei durchschnitt-lich 80 %. Die Differenz zwischen Osten und Westen war dabei vergleichsweise größer. Dies kann unter anderem damit erklärt werden, dass geringe Einkom-mensunterschiede ein charakteristisches Merkmal des sozialistischen Systems waren. u Abb 4

u Abb 3 Zuständigkeit des Staates für soziale Absicherung 1991– 2014 — in Prozent

»Der Staat muss dafür sorgen, dass man bei Krankheit, Not, Arbeitslosigkeit und im Alter ein gutes Auskommen hat«; Anteil »stimme voll zu« und »stimme eher zu«.Datenbasis: ALLBUS 1991, 1994, 2000, 2010, 2014.

u Abb 4 Zuständigkeit des Staates für den Abbau von Einkommensunterschieden 2002 – 2016 — in Prozent

»Sollte der Staat Maßnahmen ergreifen, um Unterschiede im Einkommensniveau zu reduzieren?«; Anteil »ganz bestimmt« und »wahrscheinlich«.Datenbasis: European Social Survey 2002, 2004, 2006, 2008, 2010, 2012, 2014, 2016.

OstdeutschlandWestdeutschland

0

10

20

30

40

50

60

70

80

90

100

2014 1991 1995 2000 2005 2010

OstdeutschlandWestdeutschland

0

10

20

30

40

50

60

70

80

90

100

2016 2012 2014 2010 2008 2002 2004 2006

363

Einstellungen zu Demokratie und Sozialstaat / 9.3 Politische und gesellschaftliche Partizipation / 9

Page 26: 9 Politische und gesellschaftliche Partizipation

»Der Staat muss dafür sorgen, dass man auch bei Krankheit, Not, Arbeitslosigkeit und im Alter

ein gutes Auskommen hat.« ¹

»Sollte der Staat Maßnahmen ergreifen, um Unterschiede in den Einkommens-

niveaus zu reduzieren?« ²

2014 2016

West Ost West Ost

Insgesamt 89 91 70 82

Geschlecht

Männer 88 91 70 80

Frauen 90 91 71 84

Altersgruppen

18 – 34 Jahre 93 94 71 81

35 – 59 Jahre 88 89 69 79

ab 60 Jahren 87 92 71 86

Berufliche Stellung

Selbstständige 80 81 57 82

abhängig Beschäftigte . . 71 79

Beamte 92 93 . .

Angestellte 88 88 . .

Arbeiter 93 93 . .

Arbeitslose 97 94 76 81

Rentner / Pensionäre 87 93 72 88

Ideologische Orientierung

Links 92 93 79 84

Mitte 87 91 66 84

Rechts 86 86 61 71

Parteipräferenz

DIE LINKE 98 95 95 92

GRÜNE 90 89 87 79

SPD 91 90 74 88

FDP 75 88 51 /

CDU / CSU 88 87 61 70

AfD . . 48 87

Im letzten Erhebungsjahr 2016 waren die Ansprüche der Ostdeutschen aber nach wie vor größer als die der Westdeutschen.

9.3.6 Einstellungen verschiedener Bevölkerungsgruppen zur Rolle des StaatesDer unterschiedliche Stellenwert dieser beiden sozialstaatlichen Aufgaben, der sozialen Absicherung einerseits und des Abbaus von Einkommensunterschieden

In Westdeutschland nahm die Zu-stimmung zur Rolle des Staates beim Ab-bau von Einkommensunterschieden von 47 % im Jahr 2002 praktisch kontinuier-lich bis auf 70 % im Jahr 2016 zu. In Ost-deutschland, wo bereits im Jahr 2002 mit 76 % die überwiegende Mehrheit der Bür-gerinnen und Bürger dieser Aufgabe zu-stimmte, stieg diese Zustimmung im Zeitverlauf noch etwas an; im Jahr 2016 waren 82 % für den Abbau von Einkom-

mensunterschieden. Ganz offenbar be-gegnen die Bürgerinnen und Bürger der steigenden Ungleichheit und der damit verbundenen Debatte um soziale Gerech-tigkeit mit zunehmenden Forderungen nach staatlichen Aktivitäten zur Redukti-on der Einkommensunterschiede. Auffäl-lig ist, dass die Westdeutschen mit einer sehr viel stärkeren Anspruchszunahme reagierten. Zwischen 2002 und 2016 nah-men die Ost-West-Differenzen daher ab.

u Tab 3 Einstellungen verschiedener Bevölkerungsgruppen zur Rolle des Staates 2014 und 2016 — in Prozent

1 Anteil »stimme voll zu« und »stimme eher zu«. 2 Anteil »ganz bestimmt« und »wahrscheinlich«.. Nicht erhoben./ Fallzahl zu gering.Datenbasis: ALLBUS 2014; European Social Survey 2016.

364

9 / Politische und gesellschaftliche Partizipation 9.3 / Einstellungen zu Demokratie und Sozialstaat

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Page 27: 9 Politische und gesellschaftliche Partizipation

terschieden aus. Im Westen wichen einer- seits die Gruppe der Selbstständigen und die Anhängerinnen und Anhänger der FDP mit geringeren Zustimmungswerten vom Durchschnitt ab und andererseits sprachen sich die Anhängerinnen und Anhänger der Partei DIE LINKE sowie der GRÜNEN überdurchschnittlich für eine staatliche Zuständigkeit beim Abbau von Einkommensunterschieden aus. Die-se egalitäre Aufgabe des Sozialstaats steht damit im Schnittpunkt der klassischen Konfliktlinie zwischen Kapital und Arbeit und wird von den Vertreterinnen und Vertretern beider Seiten vergleichsweise kontrovers beurteilt. Im Osten war die Zustimmung zum Abbau von Einkom-mensunterschieden bei allen Bevölke-rungsgruppen sehr stark ausgeprägt. Eine nennenswerte Abweichung vom Bevölke-rungsdurchschnitt war bei den Anhänge-rinnen und An hängern der Partei DIE LINKE festzustellen, die den Abbau von Einkommensunterschieden in einem noch stärkeren Ausmaß befürworteten. Eine relativ geringere Zustimmung zum Abbau der Einkommensunterschiede ist

bei einer ideologischen Rechtsorientie-rung festzustellen; aber auch bei dieser Gruppe befürworteten 71 % der Ostdeut-schen und 61 % der Westdeutschen diese politische Aufgabe.

Interessant ist der Unterschied bei den Anhängerinnen und Anhängern der AfD. Im Osten lag deren Befürwortung des Ab-baus von Einkommensunter schieden so-gar leicht über dem Durchschnitt der Bür-gerinnen und Bürger. Dagegen lag im Westen die Befürwortung seitens der AfD-Anhängerinnen und -Anhänger mit 48 % deutlich unter dem Durchschnitt von 70 %. In Westdeutschland hat der Tatbe-stand, dass die AfD anfänglich eine eher liberale ökonomische Ausrichtung besaß, offenbar noch ihre Spuren hinterlassen.

Die Analysen zu den Einstellungen zu Demokratie und Sozialstaat haben ge-zeigt, dass es bei den Einstellungen zur Demokratie in Deutschland immer noch beträchtliche Unterschiede zwischen Westen und Osten gibt, während sich die Einstellungen zum Sozialstaat auf einem hohen Zustimmungsniveau einander an-genähert haben.

andererseits, manifestiert sich in den Einstellungen verschiedener Bevölke-rungsgruppen. Für die soziale Absiche-rung, den sogenannten institutionellen Kern des Sozialstaats, lassen sich weder im Osten noch im Westen Deutschlands Unterschiede bei den verschiedenen Be-völkerungsgruppen – nach Geschlecht, Alter, beruflicher Stellung, ideologischer Orientierung (Links-Rechts) und Partei-präferenz – auffinden. Insgesamt liegt bei dieser Aufgabe ein Konsens zwischen den Vertreterinnen und Vertretern der klassi-schen Konf liktlinie Kapital und Arbeit vor, also zwischen den Selbstständigen und Arbeiterinnen und Arbeitern, zwi-schen Rechten und Linken und zwischen Anhängerinnen und Anhängern rechter und linker Parteien. Eine abweichende Zustimmung zur Rolle des Staates bei der sozialen Absicherung kann lediglich im Westen bei den Anhängerinnen und An-hängern der FDP festgestellt werden; aber auch bei diesen war eine klare Mehrheit von 75 % für soziale Absicherung. u Tab 3

Etwas anders sieht es dagegen bei der Aufgabe des Abbaus von Einkommensun-

365

Einstellungen zu Demokratie und Sozialstaat / 9.3 Politische und gesellschaftliche Partizipation / 9

Page 28: 9 Politische und gesellschaftliche Partizipation

Bürokratie bezeichnet die auf Gesetzen und Verordnungen basierende geregelte staatliche Verwaltung. Sie ist für das Funktionieren einer modernen Gesell-schaft unerlässlich und schützt vor priva-ter und staatlicher Willkür. Übermäßige Bürokratie jedoch verärgert die betroffe-nen Personen und oft die öffentliche Ver-waltung selbst und kostet unnötig Zeit und Geld. Spätestens wenn Bürgerinnen und Bürger eine Behörde aufsuchen, neh-men sie Bürokratie ganz unmittelbar wahr. Persönliche oder familiäre Anlässe, beispielsweise die Geburt eines Kindes, die Hochzeit, aber auch tragische Ereig-nisse wie der Tod einer nahestehenden Person oder der Verlust des Arbeitsplat-zes sind in der Regel mit einer ganzen Reihe von Behördenkontakten verbun-den. Dabei müssen die betroffenen Perso-nen in diesen Lebenslagen rechtliche Re-gelungen aus verschiedenen Rechtsberei-chen, Gesetzen und Verordnungen gleichzeitig berücksichtigen. So haben beispielsweise Eltern bei der Geburt eines Kindes Vorschriften aus dem Melde-, Standes-, Steuer- und Sozialversiche-

rungsrecht zu beachten. Aus diesem Grund untersucht die Lebenslagenbefra-gung des Statistischen Bundesamtes, wie sich derartige Bündel an Bestimmungen auf die Interaktion zwischen betroffenen Personen und zuständigen Behörden auswirken. Die Erhebung nimmt die Per-spektive der Betroffenen ein und misst deren Zufriedenheit mit der öffentlichen Verwaltung in 22 ausgewählten Lebens-lagen. u Info 1

Es handelte sich um die zweite Le-benslagenbefragung nach der Premiere von 2015, sodass erstmalig ein Zeitver-gleich möglich ist. Nach einem allgemei-nen Überblick über die Ergebnisse wer-den die drei Lebenslagen Heirat, Schei-dung beziehungsweise Aufhebung einer eingetragenen Lebenspartnerschaft und Geburt eines Kindes im Detail untersucht.

9.4.1 Ergebnisse im ÜberblickDie Bürgerinnen und Bürger in Deutsch-land waren 2017 mit der öffentlichen Ver-waltung weitgehend zufrieden. Auf der Zufriedenheitsskala von »sehr unzufrie-den« (– 2) bis »sehr zufrieden« (+ 2) lag

9.4 Zufriedenheit mit der öffentlichen VerwaltungDaniel Kühnhenrich

Statistisches Bundesamt (Destatis)

u Info 1 Lebenslagenbefragung und Reisen durch die Behördenlandschaft

Die Ergebnisse der Lebenslagenbefragung dienen der Bundesregierung, in deren Auftrag die Erhebung erfolgte, als eine Grundlage für Maßnahmen, die einen spürbaren Bürokratieabbau bewirken sollen. Dazu interviewte Kantar Public (ehemals TNS Infratest Sozialforschung) im Auftrag des Statistischen Bundesamtes telefonisch 5 965 Personen im Zeitraum von Januar bis März 2017. Die befragten Bürge-rinnen und Bürger wurden mittels einer repräsentativen Zufallsstichprobe ausgewählt. Sie bewerteten insgesamt 34 Behörden und Ämter des Bundes, der Länder und der Kommunen anhand einer fünf-stufigen Skala von »sehr zufrieden« (+ 2) und »eher zufrieden« (+ 1) über »teils/teils« (± 0) bis »eher unzu-frieden« (– 1) und »sehr unzufrieden« (– 2). Die Einschätzung erfolgte durch 16 Zufriedenheitsfaktoren wie Verständlichkeit der Formulare und Anträge oder Öffnungs- und Wartezeiten. Da jede befragte Person von mehreren Lebenslagen betroffen sein konnte, liegen insgesamt Einschätzungen zu 7 499 individuel-len Lebenslagen vor. Um einen möglichst aktuellen Eindruck über die Zufriedenheit mit der Verwaltung zu erhalten, konnten die befragten Personen nur teilnehmen, wenn sie in den vergangenen zwei Jahren die jeweiligen Behörden kontaktiert hatten. Darüber hinaus untersuchte eine separate Erhebung die Zufriedenheit der Unternehmen mit der öffentlichen Verwaltung.

Um die relevanten Ämter auszuwählen, erstellte das Statistische Bundesamt im Vorfeld der Befragung sogenannte Reisen durch die Behördenlandschaft. Hierzu bestimmte es gemeinsam mit betroffenen Personen sowie Expertinnen und Experten für jede einzelne Lebenslage, welche Behörden Bürgerinnen und Bürger gewöhnlich zu kontaktieren haben. Es wurde ermittelt, welche Anforderungen dabei zu erfül-len sind, beispielsweise welche Unterlagen sie vorlegen müssen. Im Ergebnis liegen für jede Lebenslage Reisen durch die Behördenlandschaft vor, die einen Eindruck dessen vermitteln, was betroffene Perso-nen wann und mit wem innerhalb einer Lebenslage zu veranlassen haben. Die Informationen hat das Statistische Bundesamt unter www.amtlich-einfach.de in Form von interaktiven Grafiken veröffentlicht.

366

9 / Politische und gesellschaftliche Partizipation 9.4 / Zufriedenheit mit der öffentlichen Verwaltung

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Page 29: 9 Politische und gesellschaftliche Partizipation

die durchschnittliche Zufriedenheit bei 1,07. Somit hat sich dieser Wert im Ver-gleich zu 2015 kaum verändert. Damals betrug er 1,06. Dieses positive Ergebnis spiegelt sich auch darin wider, dass 78 % der befragten Personen angaben, ihre Erwartungen an die Behörden seien erfüllt oder übererfüllt worden und dass 77 % ihr Ziel bei der Verwaltung erreicht hatten.

Jedoch zeigten sich wie schon 2015 deutliche Unterschiede in den Zufrieden-heitswerten zwischen den Lebenslagen. Die befragten Personen bewerteten die behördlichen Dienstleistungen bei der Geburt eines Kindes, der gesundheitli-chen Willensbekundung – hierzu zählen die Patienten- und Betreuungsverfügung sowie die Vorsorgevollmacht – und der Heirat beziehungsweise Eintragung einer Lebenspartnerschaft am besten. Am un-teren Ende fanden sich die Lebenslagen Altersarmut, Finanzielle Probleme und Berufsausbildung. Demnach führten freudige Ereignisse tendenziell zu besse-ren Bewertungen als traurige Anlässe. Allerdings erzielten gesamtgesellschaft-lich häufig auftretende Lebenslagen auch in betrüblichen Situationen wie dem Tod einer nahestehenden Person mit wenigen Ausnahmen überdurchschnittliche Werte. Seltenere Ereignisse wie die Scheidung beziehungsweise Auf hebung einer Le-benspartnerschaft schnitten hingegen deutlich schlechter ab. Im Vergleich zur vorherigen Befragung waren die Werte weitgehend stabil. u Abb 1

Die Analyse der Zufriedenheit mit ver-schiedenen Faktoren behördlicher Dienst-leistungen über alle Lebenslagen zeigte ebenfalls deutliche Differenzen in den Ergebnissen. Unbestechlichkeit und Dis-kriminierungsfreiheit lagen mit 1,83 und 1,64, wie schon 2015, nahe am Höchst-wert von 2. Dieses Resultat stand im Ein-klang mit internationalen Untersuchun-gen zur Rechtsstaatlichkeit der Nichtre-gierungsorganisationen Transparency International und World Justice Project, bei denen Deutschland regelmäßig auf den vorderen Rängen landet. u Abb 2

Neben diesen beiden übergeordneten Faktoren Unbestechlichkeit und Diskri-minierungsfreiheit bewerteten die be-fragten Personen die räumliche Erreich-barkeit der Ämter, die Fachkompetenz der Behördenbeschäftigten und deren

Hilfsbereitschaft klar überdurchschnitt-lich. Weit unterdurchschnittlich schnit-ten die Möglichkeiten des E-Govern-ments (0,68) ebenso wie die Verständ-lichkeit der Formulare und Anträge (0,69) ab. Das Schlusslicht bildete, wie

Aufgrund methodischer Änderungen sind die Werte für 2015 bei »Führerschein / Fahrzeugregistrierung« und »Finanzielle Probleme« nicht mit denen von 2017 vergleichbar. Zu »Steuererklärung« wurden 2015 keine Daten erhoben.

u Abb 1 Zufriedenheit mit behördlichen Dienstleistungen in ausgewählten Lebenslagen

–2Zufriedenheitsskala von »sehr unzufrieden« (– 2)

bis »sehr zufrieden« (+ 2)

–1 +1 +20

Geburt eines Kindes

GesundheitlicheWillensbekundung

Heirat/Lebenspartnerschaft

Umzug

Führerschein/Fahrzeugregistrierung

Kinderbetreuung

Ehrenamtliche Tätigkeit im Verein

Eintritt in Ruhestand

Steuererklärung

Längerfristige Krankheit

Pflegebedürftigkeit

StudiumScheidung/Aufhebung

Lebenspartnerschaft

Behinderung

Berufsstart

Arbeitslosigkeit

Berufsausbildung

Finanzielle Probleme

Altersarmut

Aufnahme eines Zweitjobs

2017 2015

Durchschnitt 20171,07

1,38

1,36

1,25

1,19

Tod einer nahestehenden Person

1,19

Immobilienerwerb 1,19

1,18

1,16

1,14

1,12

1,10

1,01

0,92

0,88

0,86

0,84

0,83

0,82

1,33

1,26

0,85

0,76

367

Zufriedenheit mit der öffentlichen Verwaltung / 9.4 Politische und gesellschaftliche Partizipation / 9

Page 30: 9 Politische und gesellschaftliche Partizipation

schon 2015, die Verständlichkeit des Rechts mit einem Wert von 0,27. Diese Faktoren boten somit in den Augen der Bürgerinnen und Bürger deutliches Ver-besserungspotenzial. Da auch die Infor-mationen zu den Verfahrensschritten auf einem der hinteren Ränge lagen, verfes-tigt sich das Bild von 2015: Die Bürgerin-nen und Bürger waren unzufrieden mit den bereitgestellten Informationen und kritisierten unverständliche Formulare sowie den Sachverhalt, dass das den Leis-tungen zugrunde liegende Recht schwer zu verstehen war.

Bei E-Government handelt es sich um die Kommunikation zwischen verschiede-nen Behörden sowie zwischen Behörden und Bürgerinnen und Bürgern mithilfe digitaler Informations- und Kommunika-tionstechnologien. Die klar unterdurch-schnittliche Bewertung der Möglichkeit von E-Government gibt einen Hinweis darauf, dass die enormen Potenziale der digitalen Verwaltung bisher nur sehr un-zureichend ausgeschöpft wurden und nicht der Erwartungshaltung der Bürge-rinnen und Bürger entsprachen. Funktio-nale und gut durchdachte Anwendungen sind ein probates Mittel, um weitere Herausforderungen wie Öffnungs- und Wartezeiten anzugehen. Diese beiden Faktoren würden an Relevanz verlieren, wenn Bürgerinnen und Bürger seltener vor Ort oder telefonisch eine Behörde kontaktieren müssten und stattdessen vermehrt und verbessert elektronisch mit der Verwaltung kommunizieren könnten. Einschränkend muss aber erwähnt wer-den, dass mehr als zwei Drittel der Nicht-nutzerinnen und -nutzer von Online-angeboten in der Lebenslagenbefragung angaben, dass sie auf solche Angebote verzichteten, weil sie den persönlichen Kontakt bevorzugten. Ein Viertel der Be-fragten meinte, dass sie in ihrer Lebens-lage auf keinerlei E-Government-Angebote zurückgreifen konnten, während rund ein Fünftel Datenschutzbedenken anführte. Ebenfalls einem Fünftel waren derartige Angebote überhaupt nicht bekannt. In-sofern bestand auch hier ein Informati-onsdefizit. u Abb 3

Aufgrund methodischer Änderungen sind die Werte für 2015 bei »Möglichkeit von E-Government« nicht mit denen von 2017 vergleichbar.

Mehrfachnennungen möglich.

u Abb 2 Zufriedenheit mit verschiedenen Faktoren behördlicher Dienstleistungen

u Abb 3 Gründe für die Nichtnutzung von E-Government-Angeboten 2017 — in Prozent

–2 –1 +1 +20

Räumliche Erreichbarkeit

Zugang zur richtigen Stelle

Zugang zu notwendigen Formularen und Anträgen

Vertrauen in Behörde

Informationen über den weiteren Ablauf

Gesamte Verfahrensdauer

Wartezeit

Informationen zu Verfahrensschritten

Öffnungszeiten

Verständlichkeit der Formulare und Anträge

Möglichkeit von E-Government

Verständlichkeit des Rechts

Diskriminierungsfreiheit

Unbestechlichkeit

1,64

1,83

1,30

1,09

1,02

1,01

0,93

0,87

0,86

0,73

0,69

0,68

0,81

0,27

2017 2015

Fachkompetenz 1,13

Hilfsbereitschaft 1,13

Zufriedenheitsskala von »sehr unzufrieden« (– 2) bis »sehr zufrieden« (+ 2)

»Ich bevorzuge den persönlichen Kontakt.«

»Ich wusste nicht, dass man das auch über das Internet machen kann.«

69

»Das konnte man nicht über das

Internet erledigen.«

25

20

»Ich kenne mich mit dem Computer nicht so gut aus.«

17

21

»Ich finde das Internetangebot nicht nutzerfreundlich.«

14

andere Gründe

15

»Ich wollte das aus Datenschutzgründen nicht über das Internet machen.«

368

9 / Politische und gesellschaftliche Partizipation 9.4 / Zufriedenheit mit der öffentlichen Verwaltung

Page 31: 9 Politische und gesellschaftliche Partizipation

nen Verwaltungsvorgänge zum Beispiel aufgrund verschiedener räumlicher Ge-gebenheiten oder der Verkehrsanbindung der Behörden voneinander abweichen.Über alle Lebenslagen zeigte sich aller-dings, dass sozio demografische Variab-len wie das Geschlecht, das Alter und die Raumstruktur zu keinen nennenswerten Unterschieden in der Zufriedenheit mit der öffentlichen Verwaltung führten. Auswertungen nach dem Familienstand, der Schulbildung, dem Erwerbsstatus und dem Einkommen kamen zu dem gleichen Resultat.

Allerdings sind soziodemografische Merkmale in einzelnen Lebenslagen von größerer Relevanz. So waren beispiels-weise alleinerziehende Mütter und Väter in der Lebenslage Arbeitslosigkeit mit 0,44 deutlich unzufriedener als die übri-gen befragten Personen mit 0,87. Folg-lich waren in erster Linie die konkreten administrativen Prozesse in den jeweili-gen Lebenslagen und Behörden sowie ihre Auswirkungen auf die verschiede-nen Bevölkerungsgruppen entscheidend für die Zufriedenheit der Bürgerinnen und Bürger. Aus diesem Grund werden in den folgenden Abschnitten die Le-benslagen Heirat, Scheidung beziehungs-weise Aufhebung einer Lebenspartner-schaft und Geburt eines Kindes im De-tail betrachtet.

Diese Einschätzungen spiegelten sich auch in den Kommunikationsarten wider, die die Bürgerinnen und Bürger nutzten, um mit der Verwaltung Kontakt aufzu-nehmen. Dabei waren je nach Sachverhalt auch kombinierte Wege – wie eine tele-fonische Terminvereinbarung und ein darauffolgender persönlicher Besuch – möglich. Zwei Drittel und damit die meisten befragten Personen suchten 2017 die Behörden persönlich auf. In mehre-ren Lebenslagen wie Heirat oder Arbeits-losigkeit schreiben gesetzliche Regelungen diese Kommunikationsart vor. Dahinter rangierten fast gleichauf der postalische und telefonische Kontakt, den jeweils knapp die Hälfte der Bürgerinnen und Bürger in Anspruch nahm. Online kom-munizierte ein Drittel der befragten Per-sonen mit den Behörden. Dabei wurde die Onlinekommunikation bewusst breit definiert, sodass sie den digitalen Aus-tausch vom einfachen Kontakt per E-Mail bis zum medienbruchfreien ELSTER-Verfahren zur Abgabe der Einkommen-steuererklärung umfasst. u Abb 4

Rechtliche Regelungen können sich für bestimmte Bevölkerungsgruppen un-terscheiden. So gelten einerseits im Be-reich der sozialen Sicherung andere Vor-schriften für Rentnerinnen und Rentner als für Erwerbstätige. Andererseits kön-nen in städtischen und ländlichen Regio-

9.4.2 HeiratDer Verwaltungsweg in den Bund der Ehe besteht vor allem aus der Anmeldung der Trauung, der Beschaffung hierfür be-nötigter Dokumente sowie der Meldung des geänderten Familienstands an weite-re Stellen. u Abb 5

Eine Trauung kann bei jedem beliebi-gen Standesamt vollzogen werden. Sie be-darf lediglich einer Anmeldung am Stan-desamt an einem der Wohnsitze des Paa-res unter Vorlage einiger Dokumente. Standardmäßig werden ein Personalaus-weis oder Reisepass sowie eine beglaubig-te Abschrift aus dem Geburtenregister be-nötigt. Je nach Situation müssen zudem zum Beispiel ein Auflösungsbescheid der vorherigen Ehe oder die Sterbeurkunde des ehemaligen Partners oder der ehema-ligen Partnerin vorgelegt werden. Existie-ren Kinder aus früheren Ehen, so ist dem Standesamt eine beglaubigte Abschrift aus dem Geburtenregister vorzulegen. Ist der Vater nicht im Geburtenregister ein-getragen, ist zusätzlich eine Urkunde über die Anerkennung der Vaterschaft einzu-reichen. Diese wird zum Beispiel vom Jugendamt ausgestellt. In Fällen, in denen ein Elternteil allein sorgeberechtigt ist, stellt das zuständige Jugendamt eine Ne-gativbescheinigung aus, die dies belegt. Sie ist ebenfalls beim Standesamt ein-zureichen. Wollen sich Personen trauen

Mehrfachnennungen möglich.

u Abb 4 Art der Kommunikation mit Behörden 2017 — Angaben in Prozent der Befragten

369

Zufriedenheit mit der öffentlichen Verwaltung / 9.4 Politische und gesellschaftliche Partizipation / 9

Page 32: 9 Politische und gesellschaftliche Partizipation

lassen, die im Ausland geboren wurden, muss ihre Ehefähigkeit gesondert nach-gewiesen werden. Neben einer aktuellen beglaubigten Übersetzung der Geburts-urkunde können zusätzlich ein Ehefähig-keitszeugnis oder eine Ledigkeitsbeschei-nigung erforderlich sein. Bei Deutschen mit ausländischem Wohnsitz und Nicht-deutschen können Dokumente verlangt werden, die Auskunft über den Familien-stand, die Staatsangehörigkeit sowie den Wohnsitz geben. Wenn von beiden Partei-en ein Ehevertrag gewünscht wird, so muss dieser notariell beglaubigt werden, um Rechtskraft zu erlangen.

Nach der Trauung wird die Ehe in das Eheregister eingetragen. Das Paar er-hält eine entsprechende Urkunde. Weite-re Unterlagen werden erforderlich, wenn die Ehe im Ausland geschlossen wurde und ins deutsche Eheregister eingetragen werden soll. Der geänderte Familien-stand muss nun diversen Stellen anhand der Eheurkunde mitgeteilt werden. Das Finanzamt erhält eine automatische Mel-dung der Eheschließung und vergibt eine neue Steuerklasse. Auf Antrag beim Fi-nanzamt kann diese jedoch geändert werden. Die gewählte Steuerklassenkom-bination der Ehepartner wirkt sich dabei auf die Höhe des zu versteuernden Ein-kommens im Rahmen der Steuererklä-rung aus. Die Paare haben zudem die Möglichkeit, sich gemeinsam in einer Krankenkasse zu versichern.

Die Änderung des Familiennamens kann im Vorfeld der Trauung angekün-digt oder auch im Nachhinein beantragt werden. Die etwaige Namensänderung muss einigen Stellen, je nach Lebenssitu-ation, bekannt gegeben werden. Bei der kommunalen Meldebehörde müssen zu-dem neue Ausweisdokumente beantragt werden. Genauso müssen Fahrzeugschein und Führerschein, soweit vorhanden, umgeschrieben werden. Dies überneh-men in den meisten Fällen die Fahr-erlaubnis- und Zulassungsbehörden der Kommunalverwaltungen.

Mit einem Zufriedenheitswert von 1,33 lag Heirat klar über dem Gesamt-durchschnitt von 1,07. Im Vergleich zur

u Abb 5 Reise durch die Behördenlandschaft für die Lebenslage »Heirat«

370

9 / Politische und gesellschaftliche Partizipation 9.4 / Zufriedenheit mit der öffentlichen Verwaltung

Page 33: 9 Politische und gesellschaftliche Partizipation

ersten Befragung 2015 war die Zufrie-denheit nur unwesentlich um 0,13 gesun-ken. Das Standesamt fungiert als Schlüs-selstelle in dieser Lebenslage. Bei den be-fragten Personen erzielte es einen hohen Zufriedenheitswert von 1,40. Dabei waren sie vor allem mit den Fachkompetenzen der Behördenbeschäftigten und deren Hilfsbereitschaft sowie dem Zugang zur zuständigen Stelle innerhalb der Behörde und der gesamten Verfahrensdauer zu-frieden. Verbesserungsbedarf sahen die

lassen, die im Ausland geboren wurden, muss ihre Ehefähigkeit gesondert nach-gewiesen werden. Neben einer aktuellen beglaubigten Übersetzung der Geburts-urkunde können zusätzlich ein Ehefähig-keitszeugnis oder eine Ledigkeitsbeschei-nigung erforderlich sein. Bei Deutschen mit ausländischem Wohnsitz und Nicht-deutschen können Dokumente verlangt werden, die Auskunft über den Familien-stand, die Staatsangehörigkeit sowie den Wohnsitz geben. Wenn von beiden Partei-en ein Ehevertrag gewünscht wird, so muss dieser notariell beglaubigt werden, um Rechtskraft zu erlangen.

Nach der Trauung wird die Ehe in das Eheregister eingetragen. Das Paar er-hält eine entsprechende Urkunde. Weite-re Unterlagen werden erforderlich, wenn die Ehe im Ausland geschlossen wurde und ins deutsche Eheregister eingetragen werden soll. Der geänderte Familien-stand muss nun diversen Stellen anhand der Eheurkunde mitgeteilt werden. Das Finanzamt erhält eine automatische Mel-dung der Eheschließung und vergibt eine neue Steuerklasse. Auf Antrag beim Fi-nanzamt kann diese jedoch geändert werden. Die gewählte Steuerklassenkom-bination der Ehepartner wirkt sich dabei auf die Höhe des zu versteuernden Ein-kommens im Rahmen der Steuererklä-rung aus. Die Paare haben zudem die Möglichkeit, sich gemeinsam in einer Krankenkasse zu versichern.

Die Änderung des Familiennamens kann im Vorfeld der Trauung angekün-digt oder auch im Nachhinein beantragt werden. Die etwaige Namensänderung muss einigen Stellen, je nach Lebenssitu-ation, bekannt gegeben werden. Bei der kommunalen Meldebehörde müssen zu-dem neue Ausweisdokumente beantragt werden. Genauso müssen Fahrzeugschein und Führerschein, soweit vorhanden, umgeschrieben werden. Dies überneh-men in den meisten Fällen die Fahr-erlaubnis- und Zulassungsbehörden der Kommunalverwaltungen.

Mit einem Zufriedenheitswert von 1,33 lag Heirat klar über dem Gesamt-durchschnitt von 1,07. Im Vergleich zur

Befragten jedoch bei den Öffnungszeiten und den digitalen Austauschmöglichkei-ten mit den Standesämtern. Die Einwoh-nermeldeämter erhielten mit 1,29 eben-falls einen hohen Zufriedenheitswert. Das Lob und die Kritik für diese Behör-den waren im Wesent lichen deckungs-gleich mit denen der Standesämter. Das Finanzamt ist nur am Rande in dieser Lebenslage aktiv und erhält mit 1,24 einen ähnlich hohen Wert wie das Einwohner-meldeamt. u Abb 6

u Abb 6 Zufriedenheit nach ausgewählten Behörden 2017

–2 –1 +1 +20

Krankenkasse

Geburt eines Kindes

Standesamt

Einwohnermeldeamt

Familienkasse

Jugendamt

Elterngeldstelle

Jobcenter

1,64

1,58

1,55

0,47

–2 –1 +1 +20

Familiengericht

Scheidung/Aufhebung Lebenspartnerschaft

Familienkasse

Jugendamt

Finanzamt

1,02

1,00

–2 –1 +1 +20

Heirat /Lebenspartnerschaft

Standesamt

Einwohnermeldeamt

Finanzamt

1,40

1,29

1,24

1,17

1,10

1,09

0,58

0,58

Durchschnitt 1,33

Durchschnitt 0,88

Durchschnitt 1,38

Zufriedenheitsskala von »sehr unzufrieden« (– 2) bis »sehr zufrieden« (+ 2)

371

Zufriedenheit mit der öffentlichen Verwaltung / 9.4 Politische und gesellschaftliche Partizipation / 9

Page 34: 9 Politische und gesellschaftliche Partizipation

Lebenslage gut ab. Die Bürgerinnen und Bürger waren vor allem mit der Fach-kompetenz und der Hilfsbereitschaft der Beschäftigten zufrieden. Erhöhte Unzu-friedenheit zog das Familiengericht vor allem durch die gesamte Verfahrensdauer und unverständliche Formulare und An-träge auf sich. In Verfahren, die minder-jährige Kinder betrafen, waren Männer (1,08) mit dem Familiengericht zufriede-ner als Frauen (0,82). Diese Situation kehrte sich um, wenn keine minderjähri-gen Kinder involviert waren. Dann wa-ren Frauen (1,15) zufriedener als Männer (0,98), sodass sich die Unterschiede im Schnitt ausglichen. Das Jugendamt, das in erster Linie bei Fragen zum Unterhalt relevant wird, schnitt mit 0,58 klar unter-durchschnittlich ab. Es handelte sich um eine der schlechtesten Behördenbewer-tungen in der Befragung. Besonders kri-tisch waren männliche Befragte, die das Jugendamt lediglich mit 0,44 beurteilten, während Frauen mit 0,71 zufriedener wa-ren. Am stärksten kritisierten alle befrag-ten Personen an der Behörde die Infor-mationsbereitstellung zu den Verfahrens-schritten und zum weiteren Ablauf, die Hilfsbereitschaft und Fachkompetenz der Beschäftigten sowie die Öffnungszeiten. Darüber hinaus hatten die befragten Per-sonen ein geringes Vertrauen in das Amt. Die Familienkasse schnitt mit einem Zufriedenheitswert von 1,00 überdurch-schnittlich ab, während das Finanzamt in dieser Lebenslage – ebenso wie das Jugendamt – einen klar unterdurch-schnittlichen Wert von 0,58 erzielte (sie-he Abb 6).

9.4.4 Geburt eines KindesSchon während einer Schwangerschaft fallen Behördenkontakte an. So ist zu-nächst der Krankenkasse der voraussicht-liche Geburtstermin mitzuteilen. Schwan-gere, die Arbeitslosengeld II beziehen, in-formieren zusätzlich das Jobcenter. Die Geburt selbst ist dann gegebenenfalls dem Standesamt und dem Einwohner-meldeamt zu melden. In manchen Fällen erfolgt die Mitteilung über die Geburt direkt durch das Krankenhaus personal.

In den Befragungsergebnissen sind auch die Einschätzungen von Bürgerin-nen und Bürgern enthalten, die eine ein-getragene Lebenspartnerschaft begrün-det hatten. Seit der Einführung der »Ehe für alle« am 1. Oktober 2017 ist es nicht mehr möglich, diesen Familienstand ein-zunehmen.

9.4.3 Scheidung / Aufhebung einer LebenspartnerschaftSowohl während des in der Regel abzu-wartenden Trennungsjahres als auch während der Scheidung beziehungsweise Auf hebung der eingetragenen Le-benspartnerschaft und danach fallen Be-hördengänge an. Bereits während des Trennungsjahres können zum Beispiel beim Familiengericht die Festsetzung von Unterhalt für ein minderjähriges Kind oder beim Jugendamt die Gewäh-rung von Unterhaltsvorschuss beantragt werden, falls die bisherige Partnerin beziehungsweise der bisherige Partner keinen Unterhalt zahlt. Der Antrag auf Scheidung beziehungsweise Aufhebung der Lebenspartnerschaft selbst ist beim Familiengericht einzureichen. Ist diese erfolgt, können Alleinerziehende unter anderem bei der Familienkasse einen An-trag auf finanzielle Hilfen stellen. Das Finanzamt ist für den notwendigen Steu-erklassenwechsel zuständig.

Die befragten Personen waren mit ih-ren Behördenkontakten in dieser Lebens-lage nur unterdurchschnittlich zufrieden, sodass die Lebenslage einen Zufrieden-heitswert von 0,88 erhielt. Dieser hat sich im Vergleich zu 2015 bei einer Steigerung von 0,06 kaum verändert. Ob bei der Scheidung beziehungsweise Aufhebung der Lebenspartnerschaft minderjährige Kinder betroffen waren, hatte keinen be-sonderen Einfluss auf die Zufriedenheits-werte. Sie lagen bei 0,94, wenn keine Kin-der betroffen waren, und bei 0,83, wenn dies der Fall war.

Deutliche Unterschiede zeigten sich hingegen in den Bewertungen der Behör-den. Das Familiengericht schnitt mit einem Zufriedenheitswert von 1,02 im Verhältnis zu den anderen Behörden der

Außerdem gilt es, das Kind bei der Kran-kenkasse zu versichern. Um Kindergeld zu erhalten, ist ein Antrag bei der Famili-enkasse zu stellen. Ferner können Eltern für die Betreuung ihres Kindes in den ersten 14 Monaten Basis-Elterngeld be-ziehen oder darüber hinaus Elterngeld-Plus. Hierfür wenden sie sich an die El-terngeldstelle. Beim Jugendamt erfolgen gegebenenfalls die Klärung von Vater-schaft und Sorgerecht, wenn die Mutter unverheiratet ist, sowie die Beantragung einer Vorleistung des Unterhalts durch eine alleinerziehende Mutter, wenn der Vater die Unterhaltszahlungen verweigert oder unbekannt ist.

Die Geburt eines Kindes erzielte mit 1,38 den höchsten Zufriedenheitswert aller 22 untersuchten Lebenslagen und zeigte mit einem Plus von 0,06 so gut wie keine Veränderungen zu 2015. Dabei war es für die befragten Eltern fast unerheb-lich, ob eine Vaterschaftsanerkennung er-folgte (1,34) oder nicht (1,39). Die Kran-kenkassen, Standes- und Einwohnermel-deämter schnitten mit Werten von 1,64, 1,58 beziehungsweise 1,55 überdurch-schnittlich ab. Die Beantragung von Kindergeld bei der Familienkasse erhielt einen unterdurchschnittlichen Wert von 1,17. Die befragten Personen waren vor allem mit der räumlichen Erreichbarkeit der Behörden sowie dem Zugang zu den notwendigen Formularen und Anträgen zufrieden, während sie mit den Öff-nungszeiten relativ unzufrieden waren. Das Jugendamt und die Elterngeldstelle erhielten mit 1,10 beziehungsweise 1,09 einen ähnlich hohen Wert wie die Fami-lienkasse. Bei diesen drei Ämtern schätz-ten die Bürgerinnen und Bürger die Fachkompetenz und Hilfsbereitschaft der Behördenbeschäftigten. Kritischer sahen sie die Verständlichkeit der Formulare und Anträge sowie die Öffnungszeiten. Auffallend war jedoch, dass Frauen mit einem Wert von 1,00 unzufriedener mit dem Jugendamt waren als Männer (1,24). Das Jobcenter schnitt mit 0,47 deutlich unterdurchschnittlich ab (siehe Abb 6).

372

9 / Politische und gesellschaftliche Partizipation 9.4 / Zufriedenheit mit der öffentlichen Verwaltung

Page 35: 9 Politische und gesellschaftliche Partizipation

Für das Funktionieren der Gesellschaft, die Stärkung des gesellschaftlichen Zu­sammenhalts und für die Erhöhung der individuellen Lebensqualität hat das zivil­gesellschaftliche Engagement einen un­verzichtbaren Stellenwert. Die Bedeutung des zivilgesellschaftlichen Engagements wächst angesichts der zunehmenden In­dividualisierung und dem damit verbun­denen Verlust sozialer Bindungen. Die Vereinzelung der Gesellschaftsmitglieder kann die gesellschaftliche Integration von Menschen oder ganzen sozialen Gruppen erschweren. Das individuelle Engagement hilft hingegen, Menschen einzubinden. Es schafft somit Gemein­schaft und bietet für den Einzelnen Mög­lichkeiten für gemeinsame Aktivitäten. Zivilgesellschaftliches Engagement hat zudem wichtige Funktionen bei weiteren gesellschaftlichen Entwicklungsprozes­sen. So ist es eine wichtige Ressource im demografischen Wandel – mit ehrenamt­lich erbrachten Leistungen werden bei­spielsweise Ältere unterstützt, und auch bei der Integration von Menschen aus an­deren Kulturen haben Ehrenamtliche ei­nen bedeutenden Anteil.

Unter zivilgesellschaftlichem Engage­ment wird ein individuelles Handeln ver­standen, das sich durch Freiwilligkeit, fehlende persönliche materielle Gewinn­absicht und eine Ausrichtung auf das Ge­meinwohl auszeichnet. Ein Engagement kann die Bereitstellung von Zeit beinhal­ten, es kann aber auch durch das Spenden von Geld oder anderen materiellen Gü­tern erfolgen. Das Engagement findet im öffentlichen Raum statt, das heißt in zivil­gesellschaftlichen Organisationen oder in weniger organisationsgebundenen Zu­sammenschlüssen.

Die zivilgesellschaftlichen Organisa­tionen bilden die wesentliche institutio­nelle Infrastruktur für das Engagement. Es handelt sich bei der Gesamtheit dieser Organisationen um jenen gesellschaft­lichen Bereich, der zwischen den Polen Markt, Staat und Familie angesiedelt ist. Die Organisationen sind durch eine for­male Struktur, organisatorische Unab­

hängigkeit vom Staat, eigenständige Ver­waltung, gemeinnützige Ausrichtung und freiwilliges Engagement gekennzeichnet. Das zivilgesellschaftliche Engagement in nicht organisationsgebundenen Zusam­menschlüssen ist im Unterschied dazu in keine formale Struktur eingebettet. Es erfolgt eher spontan im Alltag, ist in der Regel zeitlich und räumlich befristet so­wie zumeist personell − zum Beispiel an die Nachbarschaft oder den Bekannten­kreis − gebunden.

9.5.1 Zivilgesellschaftliche Organisationen als Infrastruktur des Zivilengagements Organisationen wie Vereine, Verbände, Stiftungen, gemeinnützige Gesellschaften mit beschränkter Haftung bis hin zu we­niger formalisierten Organisationen der Bürgerinitiativen bilden die institutionel­le und infrastrukturelle Seite des Zivilen­gagements in Deutschland. Insgesamt ist dieser Bereich sehr vielschichtig und dy­namisch und durchdringt die gesamte Gesellschaft in ihren einzelnen Bereichen. Gleichwohl wird die Gesamtzahl der Or­ganisationen in ihrer unterschiedlichen Größe, Zusammensetzung und Rechts­form bislang nicht systematisch erfasst. Nur für einzelne Organisationsformen wie eingetragene Vereine und rechtsfähi­ge Stiftungen bürgerschaftlichen Rechts liegen aktuelle Angaben vor. Die Vereins­landschaft weist anhand der Angaben der Vereinsregister bei den deutschen Amts­gerichten ein hohes Wachstum auf. Zu den Vereinen zählen zumeist nach der Rechtsform die Verbände, denen in Deutschland ein besonderer Stellenwert zukommt. Häufig sind sie als Dachver­bände ein Zusammenschluss von Orga­nisationen. Als solche üben sie koordi­nierende Aufgaben aus und vertreten die Interessen der Mitgliedsorganisationen gegenüber der Politik. In diesen Funktio­nen gestalten sie viele Gesellschaftsberei­che aktiv mit. Zu den eingetragenen Ver­einen kommen schätzungsweise mehrere Hunderttausend nicht eingetragene Verei­ne, die keine Eintragung in den Vereins­

9.5 Zivilgesellschaft-liches EngagementMareike Alscher, Eckhard Priller Maecenata Institut für Philanthropie und Zivilgesellschaft Luise Burkhardt DIW Berlin

WZB / SOEP

373

Zivilgesellschaftliches Engagement / 9.5 Politische und gesellschaftliche Partizipation / 9

Page 36: 9 Politische und gesellschaftliche Partizipation

statistik für den Zeitraum 2005 bis 2008 eine besondere Zunahme der Kultur­, In­teressen­ und Freizeitvereine sowie einen Rückgang bei den Umwelt­ und Sportver­einen aus. Eine etwas andere Dynamik ergab sich für den Zeitraum 2008 bis 2014: Verluste waren nur noch bei der Anzahl der Sportvereine feststellbar. In­teressenvereine, zu denen auch Bürge­rinitiativen in Vereinsform zählen, sowie Vereine in den Bereichen Soziales / Wohl­fahrt, Freizeit / Heimatpflege und Berufs­ / Wirtschaftsverbände / Politik befanden sich in besonderem Maße auf Wachs­tumskurs. Auch bei den Umwelt­ und Naturschutzvereinen war wiederum ein Zuwachs erkennbar. Die Veränderungen weisen darauf hin, dass bestimmte The­men zeitbezogen einen konjunkturellen Aufschwung genießen, während andere weniger nachgefragt werden oder sich an­dere institutionelle und organisatorische Formen herausbilden, die diese Themen behandeln.

Doch nicht nur die Zahl der eingetra­genen Vereine ist – über einen längeren Zeitraum betrachtet – absolut angestie­gen, auch ihre Dichte, bezogen auf je

registern anstreben und zu deren Anzahl keine Informationen vorliegen.

In den letzten 65 Jahren stieg die Zahl der in Deutschland eingetragenen Verei­ne beträchtlich: Sie versiebenfachte sich von rund 86 000 im Jahr 1960 (West­deutschland) auf rund 605 000 im Jahr 2017 (Gesamtdeutschland). Die steil an­steigende Kurve der eingetragenen Verei­ne veranschaulicht ein Wachstum, wie es nur in wenigen gesellschaftlichen Berei­chen zu beobachten ist. Gleichwohl flach­te die Dynamik bei den Neueintragungen der Vereine in den letzten Jahren ab. Während sich 1995 noch rund 22 000 Vereine neu in die Vereinsregister eintra­gen ließen, waren es 2016 nur noch rund 14 000. Gleichzeitig stieg die Zahl der Lö­schungen von Vereinen in den Vereinsre­gistern stetig an. 1995 wurden rund 4 500 Löschungen vorgenommen, 2016 traf dies für rund 9 000 Vereine zu. u Abb 1

Neben der geringer werdenden Zu­nahme bei den Vereinsgründungen und dem Anstieg der Löschungen zeigen sich über die Jahre zugleich thematische Ge­wichtsverlagerungen in den Tätigkeitsbe­reichen der Vereine. So wies die Vereins­

100 000 Einwohner, hat bis heute stark zugenommen: Sie stieg zwischen 1960 und 2014 von 160 auf 720 Vereine und er­reichte 2017 den Wert von 733. Sie ver­fünffachte sich damit nahezu gegenüber Anfang der 1960er­Jahre. Da der über­wiegende Anteil des Engagements in Ver­einen stattfindet, sind Veränderungen in diesem Feld für das Engagement von zen­traler Bedeutung.

Einen bedeutenden Aufschwung hat neben dem Vereinswesen auch das Stif­tungswesen in Deutschland erlebt. Ende des Jahres 2017 bestanden 22 274 rechts­fähige Stiftungen bürgerlichen Rechts. Während 2007 ein Zuwachs von 1 134 Stiftungen zu verzeichnen war, haben sich die Zuwachsraten in den letzten Jah­ren zwischen 500 und 600 eingepegelt. Im Jahr 2017 wurden 549 Stiftungen neu gegründet. Stiftungen sind bis auf Bür­gerstiftungen im Unterschied zu Verei­nen weniger bedeutende Engagement­träger, dafür fördern sie dieses in hohem Maße. u Abb 2

Der Bestand an Stiftungen in West­ und Ostdeutschland weist, wie die für 2016 vorliegenden regionalen Angaben zeigen, nach wie vor ein starkes Ungleichgewicht auf. Im Jahr 2016 gab es in Ostdeutsch­land 1 513 und in Westdeutschland (ein­schließlich Berlin) 20 293 Stiftungen. Während die Stiftungsdichte in Branden­burg mit 9, in Mecklenburg­Vorpommern mit 10 sowie in Sachsen und Sachsen­ Anhalt mit jeweils 13 Stiftungen je 100 000 Einwohner besonders gering war, lagen Bayern mit 31, Hessen mit 32 sowie die Stadtstaaten Bremen mit 49 und Ham­burg mit 78 Stiftungen je 100 000 Einwoh­ner an der Spitze. Insgesamt bestanden in Deutschland 27 Stiftungen je 100 000 Ein­wohner. Die Stiftungen verfügten über ein Vermögen von mehr als 100 Milliar­den Euro, das jedoch durch die Finanz­markt­ und Wirtschaftskrise 2008/2009 geschrumpft ist. Allerdings ist zu ver­merken, dass es in Deutschland im Un­terschied zu den USA nur wenige große Stiftungen gibt, die über hohe Vermögens­erträge verfügen. Der überwiegende Teil der Stiftungen hat einen eher geringen

Datenbasis: Johns Hopkins Project; Vereinsstatistik V & M Service GmbH, Konstanz.

u Abb 1 Entwicklung der Anzahl der Vereine in Deutschland 1960 – 2017 — in Tausend

0 0

100

200

300

400

500

600

5

10

15

20

25

30

1960 1965 1970 1975 1980 1985 1990 1995 2000 2005 20152010

Abb 1: Entwicklung der Anzahl der Vereine in Deutschland 1960-2017 – in Tausend

Vorschlag (WZB): in die Abbildung zusätzlich als Säulen die jährlichen Neueintragungen und Löschungen von Vereinen seit 1995 aufnehmen (anderer Maßstab), stattdessen Liniendiagramm.Bitte darauf aufmerksam machen!!

Quellen: Johns Hopkins Project; Vereinsstatistik V & M Service GmbH, Konstanz

Löschungen (rechte Skala)gesamt (linke Skala) Neueintragungen (rechte Skala)

374

9 / Politische und gesellschaftliche Partizipation 9.5 / Zivilgesellschaftliches Engagement

Page 37: 9 Politische und gesellschaftliche Partizipation

Engagierte zu gewinnen. Auch für ehren­amtliche Leitungspositionen findet nur jede vierte Organisation (25 %) genug Frei­willige. Hingegen sind zu einem kurzfris­tigen Engagement deutlich mehr Men­schen bereit, da jede zweite Organisation (51 %) es als einfach bezeichnet, dafür Engagierte zu gewinnen. u Abb 3

9.5.2 Zivilgesellschaftliches Engagement des EinzelnenDas freiwillige und unentgeltlich geleistete individuelle Engagement ist ein unver­zichtbares Kernelement der zivilgesell­schaftlichen Organisationen. An das Zivil­

Vermögensstock. Im Jahr 2016 hatten 26 % der Stiftungen ein Vermögen von bis zu 100 000 Euro, fast 46 % besaßen bis zu 1 Million Euro, 23 % bis zu 10 Millionen Euro, etwas weniger als 5 % bis zu 100  Millionen Euro und bei lediglich etwas unter 1 % der Stiftungen lag das Vermögen bei über 100 Millionen Euro.

Zivilgesellschaftliche Organisationen erleben in den letzten Jahren einige Ver­änderungen. Die äußeren Rahmenbedin­gungen verlangen von ihnen ein stärker wirtschaftlich ausgerichtetes Handeln, wodurch sich Tendenzen einer zuneh­menden Ökonomisierung ihrer Arbeit bemerkbar machen. Dies führt aber nicht nur zu einer höheren Wirtschaftlichkeit, sondern auch zu Problemen: So werden in Untersuchungen besonders die Pla­nungsunsicherheit aufgrund unklarer Einnahmeentwicklungen sowie die Kon­frontation mit zunehmend marktförmi­gen Strukturen, die zu einem verstärkten Effizienz­ und Konkurrenzdruck führen, von den Organisationen benannt. Neben den ökonomisch gelagerten Herausfor­derungen bestehen Schwierigkeiten, frei­willig Engagierte zu erreichen. Das trifft besonders für ein dauerhaftes Engage­ment zu, für das nur 14 % der Organisati­onen angeben, dass es einfach sei, hierfür

engagement wird ein ganzes Bündel von Erwartungen geknüpft. Darunter hebt sich allgemein die Sicherung der Partizipati­onschancen der Bürgerinnen und Bürger hervor, indem sie sich stärker unmittelbar an gesellschaftlichen Belangen beteiligen können. Das Engagement beschränkt sich dabei nicht nur auf das Wirken in speziel­len Organisationen der politischen oder allgemeinen Interessenvertretung, son­dern reicht von Sport und Freizeit über Kultur und Soziales bis zu Umwelt und Tierschutz. Als Basis demokratischer Ge­sellschaften tragen die Aktivitäten in die­sen Organisationen zur Interessenbünde­

100 000 Einwohner, hat bis heute stark zugenommen: Sie stieg zwischen 1960 und 2014 von 160 auf 720 Vereine und er­reichte 2017 den Wert von 733. Sie ver­fünffachte sich damit nahezu gegenüber Anfang der 1960er­Jahre. Da der über­wiegende Anteil des Engagements in Ver­einen stattfindet, sind Veränderungen in diesem Feld für das Engagement von zen­traler Bedeutung.

Einen bedeutenden Aufschwung hat neben dem Vereinswesen auch das Stif­tungswesen in Deutschland erlebt. Ende des Jahres 2017 bestanden 22 274 rechts­fähige Stiftungen bürgerlichen Rechts. Während 2007 ein Zuwachs von 1 134 Stiftungen zu verzeichnen war, haben sich die Zuwachsraten in den letzten Jah­ren zwischen 500 und 600 eingepegelt. Im Jahr 2017 wurden 549 Stiftungen neu gegründet. Stiftungen sind bis auf Bür­gerstiftungen im Unterschied zu Verei­nen weniger bedeutende Engagement­träger, dafür fördern sie dieses in hohem Maße. u Abb 2

Der Bestand an Stiftungen in West­ und Ostdeutschland weist, wie die für 2016 vorliegenden regionalen Angaben zeigen, nach wie vor ein starkes Ungleichgewicht auf. Im Jahr 2016 gab es in Ostdeutsch­land 1 513 und in Westdeutschland (ein­schließlich Berlin) 20 293 Stiftungen. Während die Stiftungsdichte in Branden­burg mit 9, in Mecklenburg­Vorpommern mit 10 sowie in Sachsen und Sachsen­ Anhalt mit jeweils 13 Stiftungen je 100 000 Einwohner besonders gering war, lagen Bayern mit 31, Hessen mit 32 sowie die Stadtstaaten Bremen mit 49 und Ham­burg mit 78 Stiftungen je 100 000 Einwoh­ner an der Spitze. Insgesamt bestanden in Deutschland 27 Stiftungen je 100 000 Ein­wohner. Die Stiftungen verfügten über ein Vermögen von mehr als 100 Milliar­den Euro, das jedoch durch die Finanz­markt­ und Wirtschaftskrise 2008/2009 geschrumpft ist. Allerdings ist zu ver­merken, dass es in Deutschland im Un­terschied zu den USA nur wenige große Stiftungen gibt, die über hohe Vermögens­erträge verfügen. Der überwiegende Teil der Stiftungen hat einen eher geringen

Datenbasis: Bundesverband Deutscher Stiftungen 2017.

u Abb 2 Stiftungsgründungen in Deutschland 1990 − 2017 — Anzahl

Datenbasis: ZiviZ-Survey 2017.

u Abb 3 Probleme zivilgesellschaftlicher Organisationen bei der Gewinnung von Engagierten 2016 / 2017 — in Prozent

1990 1992 1994 1996 1998 2000 2002 2004 2006 2008 2010 2012 2014 2016

201290 325 323

385 411466 505

564

681

829774 784

852 880 899

1 134

1 020

914824 817

645 638691

583 582 549

181

Datenbasis: Bundesverband Deutscher Stiftungen 2017.

Abb 2 Stiftungsgründungen in Deutschland 1990−2017

Abb 3 Probleme zivilgesellschaftlicher Organisationen bei der Gewinnung von Engagierten 20016/2017 — in Prozent

»Für ehrenamtliche Leitungspositionenfinden wir genug Engagierte.«

trifft (gar) nicht zu trifft (voll) zu weder noch

51 29 20

»Für dauerhafte Engagements istes einfach, Engagierte zu finden.«

»Für kurzfristige Engagaments istes einfach, Engagierte zu gewinnen.«

14 25 61

29 4625

375

Zivilgesellschaftliches Engagement / 9.5 Politische und gesellschaftliche Partizipation / 9

Page 38: 9 Politische und gesellschaftliche Partizipation

eins von jenem in Bürgerinitiativen und solchen Organisationen, die als sogenannte Themenanwälte in Bereichen wie Umwelt oder in internationalen Aktivitäten tätig sind. Letztere haben in den zurückliegen­den Jahrzehnten unter dem Gesichts­punkt einer stärkeren Einmischung der Bürgerinnen und Bürger in gesellschaftli­che Belange einen beträchtlichen Zulauf und bedeutenden Aufschwung erfahren. Doch auch die Rolle zahlreicher Sportver­eine ist mit der Zeit über ihren engen Tätig­keitskontext hinausgewachsen und ihre integrative Funktion, die sie vor allem auf lokaler Ebene innehaben, darf nicht un­terschätzt werden.

Nach einer Langzeitbetrachtung ist der Anteil der Engagierten in der Bevöl­kerung ab 16 Jahren von 23 % im Jahr 1985 auf 32 % im Jahr 2015 gestiegen. Die Unterscheidung zwischen einem regelmä­ßigen Engagement (zumindest monatlich) und einem selteneren Engagement zeigt, dass das regelmäßige Engagement im Zeitverlauf beständig zugenommen hat (2015 rund 19 %). Auch der Anteil jener,

lung und ­artikulation bei. Durch die He­rausbildung von demokratischen Normen, sozialen Netzen und Vertrauensverhält­nissen fördern sie die Kooperation, hal­ten Reibungsverluste gering und führen letztendlich dazu, dass die Gesellschaft insgesamt besser funktioniert.

Einen besonderen Stellenwert besitzt das Zivilengagement bei der Sicherung des gesellschaftlichen Zusammenhalts. Es hilft, die in der sozial ausdifferenzier­ten Gesellschaft geforderten Fähigkeiten zum Kompromiss und zu einem zivilen Umgang herauszubilden. Es trägt dazu bei, die Kommunikationsbereitschaft und ­fähigkeit, das wechselseitige Ver­ständnis, die gemeinsame Beratung und den Austausch von Argumenten der Menschen untereinander, aber auch zwi­schen Bürgerinnen und Bürgern auf der einen und Institutionen auf der anderen Seite zu praktizieren.

Die Rolle des zivilgesellschaftlichen Engagements ist dabei sehr unterschied­lich. Beispielsweise unterscheidet sich das Engagement im Rahmen eines Sportver­

die sich seltener als monatlich engagieren, stieg tendenziell an, unterlag jedoch grö­ßeren Schwankungen als beim regelmäßi­gen Engagement. So ging das seltene En­gagement im Jahr 2013 etwas zurück, wies 2015 jedoch einen erneuten Anstieg auf (2015 rund 13 %). Nach den Zeit­budgeterhebungen des Statistischen Bun­desamtes von 2001/2002 und 2012/2013 blieb der Zeitaufwand der Frauen mit 1:42 Stunden pro Woche gleich, während jener der Männer von 2:01 auf 1:47 Stun­den pro Woche zurückging. u Abb 4

Differenzierte Angaben zum Engage­ment liefern die Daten des Freiwilligen­surveys. Mit seinen bislang veröffent­lichten vier Erhebungszeitpunkten 1999, 2004, 2009 und 2014, jeweils mit mindes­tens 15 000 Telefoninterviews, stellt er eine fundierte Datenbasis dar. Zu den Hauptaussagen des Freiwilligensurveys zählt, dass sich ein hoher Anteil der Be­völkerung freiwillig engagiert und die En­gagierten ganz unterschiedliche Aufgaben übernehmen. Die einen führen eine Lei­tungsfunktion aus, andere organisieren

Datenbasis: SOEP 1985 – 2015, Version 33.

u Abb 4 Entwicklung der Engagementbeteiligung 1985 – 2015 – in Prozent

19871985 1989 1991 1993 1995 1997 1999 2001 2003 2005 2007 2009 20132011 20150

10

20

30

40

seltenergesamt mindestens monatlich

376

9 / Politische und gesellschaftliche Partizipation 9.5 / Zivilgesellschaftliches Engagement

Page 39: 9 Politische und gesellschaftliche Partizipation

Zivilengagement insgesamt

Gering organisations - gebundenes Engagement ¹

1999 2004 2009 2014 1999 2004 2009 2014Insgesamt 34 36 36 44 14 13 15 16

Geschlecht

Männer 38 39 40 46 11 11 12 14

Frauen 30 33 32 42 17 16 18 18

Alter

14 – 29 Jahre 35 35 35 47 15 17 19 18

30 – 59 Jahre 38 40 40 46 13 13 14 15

ab 60 Jahren 26 30 31 37 13 12 12 16

Erwerbsstatus

Erwerbstätige 38 40 40 48 13 11 13 15

Arbeitslose 24 27 26 26 11 16 15 24

Schüler /-innen, Azubis, Studierende 37 38 38 53 18 19 21 18

Hausfrauen und -männer 38 37 36 39 14 14 17 17

Rentner /-innen, Pensionäre 25 28 30 35 13 13 14 16

Bildungsniveau ²

einfaches Bildungsniveau 25 26 23 28 12 11 11 16

mittleres Bildungsniveau 37 37 37 41 12 13 14 16

hohes Bildungsniveau 41 43 45 52 17 14 15 16

Region

Ost 28 31 30 39 15 16 17 18

West 36 37 37 45 13 13 14 16

Veranstaltungen und wieder andere sind Lesepaten. Der Anteil der Engagierten ist in den ersten Erhebungsjahren relativ konstant geblieben. Während 1999 die Zahl der freiwillig Engagierten bei 34 % lag, erhöhte sich deren Anteil 2004 leicht auf 36 % und blieb 2009 auf diesem Niveau. Im Jahr 2014 kam es – folgt man dem Freiwilligensurvey – zu einem star­ken Zuwachs der Engagementquote mit nun 44 % der Bevölkerung. Andere Unter­suchungen zeigen eine davon abweichen­de Dynamik auf und weisen zum Teil auf einen Rückgang des Engagements hin. Hinter den Befunden zum Beteiligungs­umfang und zur Entwicklung des Engage­ments stehen oft unterschiedliche metho­dische Ansätze, die es bei der Verwendung der jeweiligen Angaben zu berücksichti­gen gilt. u Tab 1

Hinter der hohen Stabilität und dem Anstieg in der Engagementbeteiligung stecken eine Reihe von gruppenbezo­genen Unterschieden und gegenläufigen Tendenzen. Sie werden bereits sichtbar, wenn die Entwicklung des Engagements nach Altersgruppen näher betrachtet wird. So lässt sich besonders in einigen Gruppen eine sehr stark angestiegene Engagementquote nachweisen.

Folgt man dem Freiwilligensurvey, zählen vorrangig Personen im Alter von 14 bis 29 Jahren zu den stärker zivilgesell­schaftlich aktiv gewordenen Gruppen. Der Wachstumstrend im Engagementver­halten junger Menschen wird in anderen Studien (Shell Jugendstudie 2015, AID:A 2015) so nicht bestätigt, hier zeichnen sich jeweils rückläufige Engagementquoten unter jungen Menschen ab. Zu den Ursa­chen zählen nach diesen Untersuchungen eine gestiegene räumliche Mobilität und geringere zeitliche Freiräume durch Ver­änderungen im Zeitregime von Schule und Studium (zum Beispiel durch Ganz­tagsschulen). Bei den älteren Menschen ab 60 Jahren gab es eine kontinuierliche Steigerung des Engagements. Dies ist Ausdruck eines aktiven Alterns und einer Zunahme des lebenslangen Lernens.

Weitere Aspekte wie ein höherer Bil­dungsabschluss oder eine Erwerbstätig­

1  In den Jahren 1999 – 2009 umfasst das gering organisationsgebundene Enagegement jenes in der Selbsthilfe, in Initativen / Projekt-arbeit und selbstorganisierten Gruppen. 2014 zählt hierzu das Engagement in der Nachbarschaftshilfe, in Initiativen / Projektarbeit, selbstorganisierten Gruppen und in der Form »allein«.

2  Einfaches Niveau: kein beziehungsweise Volks- oder Hauptschulabschluss, Abschluss 8. Klasse; mittleres Niveau: mittlere und Fachhochschulreife, Abschluss 10. Klasse; hohes Niveau: Abitur / Hochschulreife beziehungsweise abgeschlossenes Hochschulstudium.

Datenbasis: Freiwilligensurvey 1999, 2004, 2009, 2014.

u Tab 1 Zivilengagement nach soziodemografischen Gruppen 1999, 2004, 2009 und 2014 — in Prozent

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Zivilgesellschaftliches Engagement / 9.5 Politische und gesellschaftliche Partizipation / 9

Page 40: 9 Politische und gesellschaftliche Partizipation

9.5.3 Gering organisations-gebundenes EngagementNeben dem organisationsgebundenen En­gagement, also jenem in den zivilgesell­schaftlichen Organisationen, finden auch in anderen Zusammenschlüssen Aktivitä­ten des freiwilligen Engagements statt. Es handelt sich dabei um ein geringer organi­sationsgebundenes Engagement, das in Selbsthilfegruppen, der Nachbarschafts­hilfe, Initiativen, Projekten, selbstorgani­sierten Gruppen und auch allein erfolgt. Die beiden Engagementformen unter­scheiden sich vor allem in organisatori­scher Hinsicht. Das Engagement in gerin­ger formalisierten Zusammenschlüssen folgt häufig keinen so festen Regeln und hierarchischen Strukturen, wie sie zum Beispiel im Sport oder in Wohlfahrtsorga­nisationen zu finden sind. Die Engagierten bestimmen selbstständig über Ziele oder Aktivitäten, da bestimmte Gremien wie Vorstände fehlen. Einer geringeren Konti­nuität und Planbarkeit des Engagements stehen dabei größere Spielräume für Krea­tivität und Improvisation gegenüber.

Das Engagement »allein«, in Selbst­hilfegruppen, in der Nachbarschaftshilfe, in Initiativen, in Projekten und in selbst­organisierten Gruppen hat in den letzten Jahren leicht zugenommen. Im Jahr 1999 waren 14 % der Bevölkerung in geringer organisationsgebundenen Zusammen­schlüssen aktiv, 2014 waren es bereits 16 %. Dabei war das weniger formalisierte Engagement bei einigen gesellschaftli­chen Gruppen stärker ausgeprägt als bei anderen.

Auffällig bei dem geringer organisati­onsgebundenen Engagement sind die Un­terschiede zwischen Frauen und Män­nern. Frauen engagierten sich 2014 auf diese Weise zu 18 %, Männer trotz An­stieg dagegen nur zu 14 %. Damit ist das Geschlechterverhältnis umgekehrt als bei der Engagementbeteiligung insgesamt. Der geschlechtsspezifische Unterschied in Bezug auf dieses Engagement erklärt sich anhand der Aktivitätsbereiche, in denen das geringer organisationsgebundene Engagement stattfindet. Hierbei handelt es sich in erster Linie um die Bereiche

keit, männliches Geschlecht, ein Wohnort in den alten Bundesländern oder auf dem Land, aber auch die enge kirchliche Bin­dung, das Vorhandensein von Kindern im Haushalt, die Mitgliedschaft in einer Orga­nisation sowie eine gute wirtschaftliche Situation sind noch immer wichtige Fak­toren, die mit einem höheren Engagement einhergehen.

Das Engagement verteilt sich unter­schiedlich auf einzelne Bereiche, wobei es sich entsprechend allgemeiner Entwick­lungen und gesellschaftlicher Rahmen be­ding ungen verändert. Nach Angaben aus den Zeitbudgeterhebungen des Statisti­schen Bundesamtes engagierten sich die meisten Personen ab einem Alter von 10 Jahren in den Vergleichsuntersuchun­gen von 2001/2002 und 2012/2013 in den Bereichen Kirche und religiöse Gemein­schaften, Sport, im sozialen Bereich und in Schule / Kindergarten. Der Anteil enga­gierter Personen ist nach den Angaben aus den Analysen zur Zeitverwendung besonders im Bereich Kultur und Musik um fast die Hälfte gesunken. In Relation zur Zunahme an Kulturvereinen ist diese Entwicklung Ausdruck für ein stetiges Wachstum des eher kleinteiligen Enga­gements. Während das Engagement in etablierten Kulturorganisationen stark nachlässt, engagieren sich Menschen in neu gegründeten Vereinen. Das Engage­ment im Sport sowie im kirchlichen und religiösen Bereich ging weniger stark zu­rück. Im sozialen Bereich wie beispiels­weise bei den Wohlfahrtsverbänden, in den Bereichen Umwelt­ und Tierschutz, Schule und Kindergarten sowie bei den Rettungsdiensten und bei der Feuerwehr engagierten sich hingegen mehr Perso­nen. Die Ursachen für die Veränderun­gen sind vielfältig. Die Tendenz, dass Eltern immer mehr das Geschehen in Bildungs­ und Betreuungseinrichtungen mitgestalten wollen, kann zu ihrer zu­nehmenden Mitwirkung als Elternvertre­ter oder in einem Förderverein führen. Eine stärkere den elektronischen Medien zugewandte Kulturrezeption kann eine Ursache für den Engagementrückgang im Bereich Kunst und Kultur sein.

Schule und Kindergarten, Gesundheit so­wie Soziales, die allgemein stärker durch ein weibliches Engagement geprägt sind.

Unterschiede bestehen auch zwischen den Altersgruppen: Das Engagement in geringer organisationsgebundenen Kon­texten wird besonders von jungen Men­schen gelebt. Personen im Alter von 14 bis 29 Jahren engagierten sich im Jahr 2014 zu 18 % in der Nachbarschaftshilfe, in In­itiativen, Projekten, selbstorganisierten Gruppen und »allein«; die 60­Jährigen und Älteren verzeichneten im Zeitverlauf aber ebenfalls deutliche Zuwächse in den genannten Formen: 2009 waren 12 % in loseren Zusammenschlüssen engagiert, im Jahr 2014 waren es 16 %. Die Ergebnis­se im Zeitverlauf zeigen, dass sich die Dis­krepanz zwischen Jung und Alt verringert hat. Die größeren Freiheitsgrade und Spielräume, die dieses Engagement bietet, sind mittlerweile sowohl für jüngere als auch ältere Menschen attraktiv.

Betrachtet man das gering organisa­tionsgebundene Engagement nach Bil­dungsgruppen, fällt zwischen 1999 und 2014 eine Angleichung zwischen den Gruppen in dieser Beteiligungsform auf. Auf allen Bildungsniveaus waren 2014 rund 16 % unabhängig von etablierten Organisationsstrukturen engagiert. Of­fenbar bieten die Nachbarschaftshilfe, Initiativen, Projekte, selbstorganisierte Gruppen und das Engagement allein Engagementzugänge und Möglichkeiten, die weniger als zivilgesellschaftliche Or ganisationen nach dem Bildungshin­tergrund der Menschen unterscheiden. Verändert hat sich ebenfalls die Bedeu­tung des Erwerbsstatus beim gering or­ganisationsgebundenen Engagement. 2014 wurde diese Engagementform mit 24 % überdurchschnittlich von Arbeits­losen ausgeübt. Für sie können die Flexi­bilität in den Aktivitäten, die Wohnnähe, die Einbindung in vertraute Sozialräume sowie keine oder nur geringe Kosten be­sonders zu ihrer gegenwärtigen Lage passend sein.

Ein Vergleich zwischen Ost­ und Westdeutschland zeigt, dass bei dem En­gagement in der Nachbarschaftshilfe, in

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9 / Politische und gesellschaftliche Partizipation 9.5 / Zivilgesellschaftliches Engagement

Page 41: 9 Politische und gesellschaftliche Partizipation

1999 2004 2009 2014

Insgesamt 63 64 58 54

Geschlecht

Männer 62 62 56 52

Frauen 65 66 60 57

Alter

14 – 29 Jahre 43 38 33 32

30 – 59 Jahre 67 66 59 54

ab 60 Jahren 75 78 74 71

Erwerbsstatus

Erwerbstätige 65 66 60 55

Arbeitslose 46 44 29 28

Schüler /-innen, Auszubildende / Studierende 41 36 30 30

Hausfrauen und -männer 70 70 58 60

Rentner /-innen, Pensionäre 74 77 74 70

Bildungsniveau ¹

einfaches Bildungsniveau 61 62 54 50

mittleres Bildungsniveau 62 65 60 53

hohes Bildungsniveau 71 71 67 61

Region

Ost 54 52 49 47

West 66 67 61 56

sie in der Regel an Bedürftige weiterlei­ten oder damit ausgewählte Projekte finanzieren.

Nach den Angaben des Freiwilligen­surveys spendet ein beachtlicher Anteil der Bevölkerung in Deutschland. Wäh­rend 1999 und 2004 deutlich mehr als 60 % der über 14­Jährigen angaben, in den letzten zwölf Monaten für soziale oder gemeinnützige Zwecke gespendet zu haben, ging dieser Anteil 2009 auf 58 % und 2014 weiter auf 54 % zurück. u Tab 2

Andere Erhebungen gelangen zu ge­ringeren Spenderanteilen. Das Sozio­oekonomische Panel (SOEP) ermittelte einen Anteil von 47 % der Bundesbürge­rinnen und ­bürger, die 2014 spendeten.

Nicht alle Bevölkerungsgruppen be­teiligen sich in gleichem Maße an Spen­denaktivitäten. Die Spendenbeteiligungs­quote der Westdeutschen ist im Durch­

Initiativen, Projekten, selbstorganisierten Gruppen und allein regionale Unterschie­de bestehen, die jedoch abgenommen ha­ben: In Ostdeutschland (18 %) war dieses Engagement zuletzt etwas stärker ausge­prägt als in Westdeutschland (16 %). Die Unterschiede zwischen Ost­ und West­deutschland sind zum Teil auf das Enga­gement von arbeitslosen Personen, deren Anteil in Ostdeutschland noch immer be­deutend höher ist, zurückzuführen.

9.5.4 SpendenNeben dem Spenden von Zeit engagieren sich Menschen durch das Spenden von Geld für gemeinwohlorientierte Zwecke. Spenden sind ein freiwilliger finanzieller Transfer, bei dem der Spender keine äquivalente materielle Gegenleistung erhält. Die Spenden gehen zumeist an zi­vilgesellschaftliche Organisationen, die

schnitt noch immer um 9 Prozentpunkte höher als jene der Ostdeutschen. Die ge­schlechtsspezifischen Unterschiede im Spendenverhalten zeigen – das belegen ebenfalls alle Untersuchungen –, dass Frauen in Deutschland zu einem leicht höheren Anteil spenden. Für die unter­schiedliche Spendenbeteiligung beider Geschlechter wird oft die durchschnitt­lich längere Lebenserwartung von Frauen verantwortlich gemacht, da ältere Perso­nen häufiger spenden als jüngere.

Mit zunehmendem Alter wächst die Spendenbeteiligung. Besonders gering fallen die Geldspendenanteile bei den Be­fragten im Alter von 14 bis 29 Jahren aus. In dieser Gruppe spendete nach Angaben des Freiwilligensurveys 2014 nur knapp jeder Dritte. Viele Menschen beginnen offensichtlich erst im mittleren Alter mit dem Spenden. In der Altersgruppe ab 60 Jahren steigt die Spendenbereitschaft drastisch an. Gleichwohl lässt sich über den betrachteten Zeitraum ein Rückgang der Spendenbeteiligung bei den Älteren feststellen. Bei den Gründen für den deutlichen Einfluss des Alters auf das Spendenverhalten geht der soziale Gene­rationenansatz davon aus, dass Men­schen gleichen Alters zu einem ähnlichen Verhalten tendieren, da sie ähnliche Er­fahrungen in ihrer Kindheit (zum Bei­spiel Krieg, Solidarität) gemacht haben. Sozioökonomische Erklärungsansätze führen die größere Spendenbereitschaft älterer Personen hingegen eher auf deren höheres und gesichertes Einkommen, das angesammelte Vermögen sowie damit insgesamt auf deren bessere wirtschaft­liche Situation zurück. Insofern kann der Rückgang der Spendenbeteiligung bei den Älteren durchaus mit Veränderun­gen ihrer wirtschaftlichen Situation zu­sammenhängen.

Wie schon das zeitgebundene zivilge­sellschaftliche Engagement beeinflussen Bildungsmerkmale auch das Spendenver­halten gravierend. Zu einem besonders hohen Anteil spenden Personen mit einem hohen Bildungsniveau Geld, wäh­rend die Spenderquote bei einem einfa­chen Bildungsniveau geringer ausfällt.

1  Einfaches Niveau: kein beziehungsweise Volks- oder Hauptschulabschluss, Abschluss 8. Klasse; mittleres Niveau: mittlere und Fachhochschulreife, Abschluss 10. Klasse; hohes Niveau: Abitur / Hochschulreife beziehungsweise abgeschlossenes Hochschulstudium.

Datenbasis: Freiwilligensurvey 1999, 2004, 2009, 2014.

u Tab 2 Spenden 1999 – 2014 — in Prozent

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Zivilgesellschaftliches Engagement / 9.5 Politische und gesellschaftliche Partizipation / 9

Page 42: 9 Politische und gesellschaftliche Partizipation

u Abb 5 Engagement im Umfeld Geflüchteter seit 2015 — in Prozent

Datenbasis: SOEP 2016, Version 33.1, gewichtete Werte.

Engagement vor Ort

Geld- / Sachspenden

Demons- trationen /

Unterschriften-aktionen zur

Thematik

Mindestens eine der

Engagement-formen

Beteiligung an dieser Engagement - form insgesamt

6 28 5 32

Ehrenamt 2013 und 2015 11 42 8 47

Ehrenamt nur 2015 6 34 7 38

Ehrenamt nur 2013 5 28 6 33

Kein Ehrenamt, weder 2013 noch 2015 3 21 4 24

Spenden 2014 8 39 7 43

Dies ist offensichtlich Ausdruck ihrer all­gemeinen Lebenssituation und der guten wirtschaftlichen Absicherung eines gro­ßen Teils dieser sozialen Gruppe.

Insgesamt geht also ein nachhaltiger Einfluss vom Einkommen auf das Spen­denverhalten aus: Zur Erklärung des Zu­

in den oben angeführten Formen aktiv zu werden. Insgesamt planten 38 % der Befragten, sich in Zukunft an mindestens einer der genannten Engagementformen zu beteiligen. Ein Drittel der Befragten gab an, in Zukunft Geld­ und Sachspen­den für Gef lüchtete leisten zu wollen. 12 % planten, künftig vor Ort mit Ge­flüchteten zu arbeiten, und 9 % konnten sich eine Beteiligung an Demonstratio­nen oder Unterschriftenaktionen zur Flüchtlingsthematik vorstellen. Bei Letz­teren kann es sich sowohl um Aktivitäten zur Unterstützung von Geflüchteten han­deln als auch um Aktivitäten, die der Ablehnung von Gef lüchteten Ausdruck verleihen sollen. u Abb 5

Überdurchschnittlich häufig enga­gierten sich Personen für Geflüchtete, die bereits in der Vergangenheit ein Engage­ment in der Gesellschaft übernommen hatten. So engagierten sich 47 % der Per­sonen, die bereits 2013 und 2015 ehren­amtlich aktiv gewesen waren, seit 2015 in mindestens einer der angegebenen For­men für Geflüchtete. 11 % jener, die be­reits 2013 und 2015 ein ehrenamtliches Engagement ausgeübt hatten, engagierten sich seit 2015 vor Ort für Geflüchtete, während diese Engagementform insge­samt lediglich 6 % der Bevölkerung aus­übten. Im Hinblick auf Geld­ und Sach­

Der Erwerbsstatus beeinf lusst eben­falls die Spendenbereitschaft. Arbeitslose spenden erklärtermaßen aus ihrer wirt­schaftlichen Situation heraus seltener als Erwerbstätige. Nichterwerbstätige, zu denen besonders Personen im Rentenalter gehören, haben die höchste Spenderquote.

sammenhangs zwischen Einkommen und Spendenverhalten wird oft angeführt, dass höherer Wohlstand den Personen die Möglichkeit bietet, einen Teil ihres Vermögens anderen Menschen oder Pro­jekten zukommen zu lassen, ohne selbst in wirtschaftliche Schwierigkeiten zu ge­raten oder Verzicht leisten zu müssen. Menschen mit hohem Einkommen ver­kraften demnach eine finanzielle Förde­rung gemeinnütziger Zwecke leichter und dementsprechend nimmt die Spenden­freudigkeit mit steigender Prosperität zu.

Im Zeitvergleich zeigen sich nicht nur Unterschiede in der Spenderquote, son­dern auch hinsichtlich der Spendenhöhe bei einzelnen Spendern. Während 1999 nach Angaben des Freiwilligensurveys 67 % der jährlichen Spendenbeträge bis zu 100 Euro betrugen, waren es 2014 mit 59 % deutlich weniger. Hingegen hatten Beträge von über 500 Euro 1999 einen Anteil von 8 %. Dieser Anteil stieg 2014 auf 10 %. Es zeigt sich generell in den Un­tersuchungen, dass weniger Personen spenden, diese dafür aber einen höheren Betrag geben.

9.5.5 Zivilgesellschaftliches Engagement für GeflüchteteZivilgesellschaftliches Engagement spielt eine große Rolle bei der Integration von Menschen aus anderen Kulturen und ins­besondere bei der Integration von Ge­flüchteten. Das zeigt sich besonders im Hinblick auf die hohe Zahl an Geflüchte­ten, die Deutschland seit 2015 erreichten. Nach aktuellen Ergebnissen des SOEP im Befragungsjahr 2016 gaben 32 % der Be­fragten an, sich seit 2015 in mindestens einer freiwilligen Tätigkeit für Geflüchte­te engagiert zu haben. Geld­ und Sach­spenden stellten hierbei die häufigsten Engagementformen dar (28 %). Weitaus weniger häufig wurde ein Engagement vor Ort – zum Beispiel die Begleitung bei Behördengängen oder in der Sprachför­derung (6 %) – sowie in Form der Teil­nahme an Demonstrationen und Beteili­gung an Unterschriftenaktionen genannt (5 %). Es wurde weiterhin erhoben, ob die Befragten sich vorstellen könnten, künftig

Datenbasis: SOEP 2013, 2015 & 2016, Version 33.1, gewichtete Werte.

u Tab 3 Engagement im Umfeld Geflüchteter seit 2015 nach allgemeinem Engagement und Spenden in Vorjahren — in Prozent

Geld-/Sachspenden

Demonstrationen/Unterschriftenaktionen

zur Thematik

Engagement vor Ort

mindestens eine derEngagementformen

künftig geplantes Engagement Engagement seit 2015

32

6

28

5

38

12

33

9

380

9 / Politische und gesellschaftliche Partizipation 9.5 / Zivilgesellschaftliches Engagement

Page 43: 9 Politische und gesellschaftliche Partizipation

spenden für Geflüchtete wird die Bedeu­tung eines Engagements noch deutlicher: 34 % derjenigen, die nur 2015 ehrenamt­lich aktiv waren, und sogar 42 % derjeni­gen, die 2013 und 2015 aktiv waren, spen­deten Geld­ und Sachgüter. Auch das Spenden für wohltätige Zwecke im vor­angegangenen Jahr (2014) stand im engen Zusammenhang mit einem Engagement in Form von Spenden für Gef lüchtete (39 %). Das Engagement mit Geflüchte­tenbezug in Form von Demonstrationen oder Unterschriftenaktionen fiel eben­falls höher aus, wenn bereits ein Engage­ment im Vorjahr und darüber hinaus ausgeübt wurde (8 %). Weiterhin wird er­sichtlich, dass in Reaktion auf die Her­ausforderungen, die mit der Zuwande­rung von Geflüchteten nach Deutschland einhergehen, ein nennenswertes Engage­mentpotenzial mobilisiert wurde. So enga­gierten sich 43 % der Personen, die in den Vorjahren nicht ehrenamtlich aktiv wa­ren, seit 2015 in mindestens einer Form mit Bezug auf Gef lüchtete. Besonders häufig leistete dieser Personenkreis Geld­ und Sachspenden (21 %). Die Ergebnisse zeigen jedoch, dass es insbesondere jene bereits vorher ehrenamtlich engagierten Personen sind, die mit einem verstärkten Engagement auf aktuell aufkommende Herausforderungen reagieren. u Tab 3

in den oben angeführten Formen aktiv zu werden. Insgesamt planten 38 % der Befragten, sich in Zukunft an mindestens einer der genannten Engagementformen zu beteiligen. Ein Drittel der Befragten gab an, in Zukunft Geld­ und Sachspen­den für Gef lüchtete leisten zu wollen. 12 % planten, künftig vor Ort mit Ge­flüchteten zu arbeiten, und 9 % konnten sich eine Beteiligung an Demonstratio­nen oder Unterschriftenaktionen zur Flüchtlingsthematik vorstellen. Bei Letz­teren kann es sich sowohl um Aktivitäten zur Unterstützung von Geflüchteten han­deln als auch um Aktivitäten, die der Ablehnung von Gef lüchteten Ausdruck verleihen sollen. u Abb 5

Überdurchschnittlich häufig enga­gierten sich Personen für Geflüchtete, die bereits in der Vergangenheit ein Engage­ment in der Gesellschaft übernommen hatten. So engagierten sich 47 % der Per­sonen, die bereits 2013 und 2015 ehren­amtlich aktiv gewesen waren, seit 2015 in mindestens einer der angegebenen For­men für Geflüchtete. 11 % jener, die be­reits 2013 und 2015 ein ehrenamtliches Engagement ausgeübt hatten, engagierten sich seit 2015 vor Ort für Geflüchtete, während diese Engagementform insge­samt lediglich 6 % der Bevölkerung aus­übten. Im Hinblick auf Geld­ und Sach­

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