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93 {94} 5. DIE EVOLUTION DER KOMMUNIKATION Aufrichtigkeit und Manipulation In den vorausgehenden Kapiteln haben wir evolutions- und kulturtheoretische Grundlagen behandelt und eine Skizze von Bau und Funktion des menschlichen Gehirns entworfen. Diese Überlegungen können wir nun nutzen, um ein vertieftes Verständnis von Kommunikationsvorgängen zu entwickeln. Was aber ist Kommunikation? Das Wort "Kommunikation" ist zwar in aller Munde, aber seine Bedeutung ist meistens alles andere als klar. 1 Bis in die letzten Jahrzehnte ist es der Forschung schwergefallen, tierische und menschliche Kom- munikation einigermaßen unvoreingenommen zu betrachten. Man neigte vielfach dazu, Kommunikationsvorgänge durch die theoretische Brille der Artselektion zu sehen: Wie wir im zweiten Kapitel festgestellt haben, nimmt diese Theorie an, die natürliche Auslese richte sich nicht auf Individuen, sondern auf ganze Arten. Das führt zu der optimistischen Auffassung, die Individuen einer Art säßen sozusagen im gleichen Boot und seien deshalb grundsätzlich auf wechselseitige Zusammen- arbeit zum Wohle ihrer Art bedacht. Bei der Untersuchung von Kommunikationsvorgängen ging man folglich da- von aus, Lebewesen würden daraufhin ausgelesen, einander aufrichtig zu infor- mieren und ihre Signale zu diesem Zweck immer weiter zu verbessern. Die An- ziehungskraft einer solchen Vorstellung ist erklärlich: Ebenso wie die falsche Theorie der Artselektion spiegelt die Theorie der innerartlichen Aufrichtigkeit zwar nicht die Realität, wohl aber verbreitete Wunschvorstellungen von tieri- schem und vor allem von menschlichem Zusammenleben wider. Die natürliche Selektion liest aber eben nicht Arten, sondern Individuen aus, so daß die Individuen einer Art miteinander in Konkurrenz stehen. Mit dieser Ein- sicht setzte sich ein weit nüchternerer und realistischerer, ja zynischer Kommuni- kationsbegriff durch. Kommunikation liegt demnach dann vor, wenn ein Sender ein Verhalten an den Tag legt, das vom Empfänger wahrgenommen werden kann und geeignet ist, dessen Verhalten zum Vorteil des Senders zu verändern. 2 Damit aber ist Manipulation der kommunikative Normalfall. Wenn bei der Kommunika- tion dagegen zum Vorteil aller Beteiligten Informationen ausgetauscht werden, handelt es sich um Sonderfälle, die einer besonderen Erklärung bedürfen. Bei solchen Erklärungen können wir auf die evolutionstheoretischen Vorüber- legungen aus dem zweiten Kapitel zurückgreifen: Kooperative Kommunikation kann sich unter bestimmten Bedingungen nach dem Muster des rezi{95}proken Altruismus entwickeln. So haben etwa Rothirschmännchen ein kooperatives Kommunikationssystem für die Auseinandersetzung um Hirschkühe entwickelt. Bevor sie sich auf einen gefährlichen Kampf einlassen, suchen sie die Entschei- 1 Vgl. Köck (1987) S. 340-342; zur aktuellen Diskussion vgl. Schmidt (1994) 2 Vgl. Dawkins/Krebs (1981) S. 223

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{94} 5. DIE EVOLUTION DER KOMMUNIKATION

Aufrichtigkeit und Manipulation

In den vorausgehenden Kapiteln haben wir evolutions- und kulturtheoretischeGrundlagen behandelt und eine Skizze von Bau und Funktion des menschlichenGehirns entworfen. Diese Überlegungen können wir nun nutzen, um ein vertieftesVerständnis von Kommunikationsvorgängen zu entwickeln.

Was aber ist Kommunikation? Das Wort "Kommunikation" ist zwar in allerMunde, aber seine Bedeutung ist meistens alles andere als klar.1 Bis in die letztenJahrzehnte ist es der Forschung schwergefallen, tierische und menschliche Kom-munikation einigermaßen unvoreingenommen zu betrachten. Man neigte vielfachdazu, Kommunikationsvorgänge durch die theoretische Brille der Artselektion zusehen: Wie wir im zweiten Kapitel festgestellt haben, nimmt diese Theorie an, dienatürliche Auslese richte sich nicht auf Individuen, sondern auf ganze Arten. Dasführt zu der optimistischen Auffassung, die Individuen einer Art säßen sozusagenim gleichen Boot und seien deshalb grundsätzlich auf wechselseitige Zusammen-arbeit zum Wohle ihrer Art bedacht.

Bei der Untersuchung von Kommunikationsvorgängen ging man folglich da-von aus, Lebewesen würden daraufhin ausgelesen, einander aufrichtig zu infor-mieren und ihre Signale zu diesem Zweck immer weiter zu verbessern. Die An-ziehungskraft einer solchen Vorstellung ist erklärlich: Ebenso wie die falscheTheorie der Artselektion spiegelt die Theorie der innerartlichen Aufrichtigkeitzwar nicht die Realität, wohl aber verbreitete Wunschvorstellungen von tieri-schem und vor allem von menschlichem Zusammenleben wider.

Die natürliche Selektion liest aber eben nicht Arten, sondern Individuen aus, sodaß die Individuen einer Art miteinander in Konkurrenz stehen. Mit dieser Ein-sicht setzte sich ein weit nüchternerer und realistischerer, ja zynischer Kommuni-kationsbegriff durch. Kommunikation liegt demnach dann vor, wenn ein Senderein Verhalten an den Tag legt, das vom Empfänger wahrgenommen werden kannund geeignet ist, dessen Verhalten zum Vorteil des Senders zu verändern.2 Damitaber ist Manipulation der kommunikative Normalfall. Wenn bei der Kommunika-tion dagegen zum Vorteil aller Beteiligten Informationen ausgetauscht werden,handelt es sich um Sonderfälle, die einer besonderen Erklärung bedürfen.

Bei solchen Erklärungen können wir auf die evolutionstheoretischen Vorüber-legungen aus dem zweiten Kapitel zurückgreifen: Kooperative Kommunikationkann sich unter bestimmten Bedingungen nach dem Muster des rezi{95}prokenAltruismus entwickeln. So haben etwa Rothirschmännchen ein kooperativesKommunikationssystem für die Auseinandersetzung um Hirschkühe entwickelt.Bevor sie sich auf einen gefährlichen Kampf einlassen, suchen sie die Entschei-

1 Vgl. Köck (1987) S. 340-342; zur aktuellen Diskussion vgl. Schmidt (1994)2 Vgl. Dawkins/Krebs (1981) S. 223

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dung in Röhrduellen herbeizuführen. Dabei täuschen sie nicht: Die Röhrfähigkei-ten eines Rothirschs erlauben tatsächlich verläßliche Rückschlüsse auf seineKampfkraft. Meist gibt der im Röhren unterlegene Hirsch kampflos auf. Es istleicht zu sehen, warum Aufrichtigkeit sich hier für beide Rivalen auszahlt: Demschwächeren Männchen bleibt auf diese Weise ein aussichtsloser Kampf erspart;das stärkere vermeidet die Anstrengungen des Kampfes und das trotz seinerÜberlegenheit beträchtliche Verletzungsrisiko.3 Ähnlich könnte sich bei unserenmenschlichen Vorfahren kooperative Kommunikation bei der gemeinsamen Jagdentwickelt haben:4 Große Tiere konnten nur dann in gemeinsamer Anstrengunggestellt und erlegt werden, wenn die Jäger sich über Vorgehen und Situationwirksam verständigen konnten. Der Vorteil für alle Beteiligten, eine reichlicheFleischmahlzeit für die gesamte Gruppe, liegt auf der Hand.

Kooperation und Täuschung hängen eng zusammen.5 Gäbe es nicht Signale,deren Befolgung auch für den Empfänger vorteilhaft ist, so würden sich Signalbe-folger evolutionär gar nicht entwickeln. Ist eine Tendenz zur Signalbefolgungaber erst einmal entstanden, so kann sie betrügerisch ausgenutzt werden. Aller-dings darf die Täuschung nicht überhandnehmen, wenn sie nicht Gegenmaßnah-men oder sogar einen Zusammenbruch des gesamten Kommunikationssystemsauslösen soll: Schwarzfahren ist nur bei Vorhandensein und auf Kosten ehrlicherFahrkarteninhaber möglich. Auch in der Kommunikation der Lebewesen sind dieunterschiedlichsten Mischungen naiver, betrügerischer und kooperativ-wehrhafterVerhaltensstrategien denkbar, die je nach Anfangsbedingungen, Interessenlagenund Dauer der Begegnungen mehr oder weniger erfolgreich sein können. In dermenschlichen Kommunikation ist ein gewisses Maß von Wehrhaftigkeit sprich-wörtlich. Obwohl die Maxime "Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht, und wenner auch die Wahrheit spricht."6 in dieser Schärfe kaum befolgt werden dürfte, ver-ringern sich die Chancen eines Lügners nach der Entdeckung erster Lügen sehrschnell.

Betrügerische Glühwürmchen

Kehren wir noch einmal zu elementareren Beispielen zurück: Bestimmte Tieresondern sogenannte Pheromone ab. Pheromone sind Duftstoffe, die in besonderenDrüsen eines Tieres gebildet und von anderen Tieren derselben {96} Art wahrge-nommen und ausgewertet werden. Pheromone führen etwa bei bestimmtenSchmetterlingen als Lockstoffe Geschlechtspartner zusammen oder warnen beibestimmten Fischen als Alarmstoffe die Artgenossen vor Gefahren. Die Bienen-königin verhindert mit Hilfe eines besonderen Pheromons, daß sich bei ihren Ar-

3 Sommer (1993) S. 58f.4 Vgl. Ornstein (1991) S. 495 Vgl. Sommer (1993) S. 52ff.6 Vgl. Sommer (1993) S. 53 und Anm. 25 (S. 189)

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beiterinnen Geschlechtsorgane entwickeln; auf diese Weise steuert sie die Ka-stenbildung in ihrem Volk.7

Schon Insekten und Spinnen wenden wesentlich komplexere Kommunikation-stechniken an: Bestimmte Spinnenmännchen trommeln mit ihren Tastern oder mitdem Hinterkörper besondere Rhythmen auf das Netz ihrer Erwählten. AndereSpinnenarten reiben zur Signalerzeugung ähnlich wie die Grillen harte Körper-teile aus Chitin aneinander. Bienen verständigen sich durch Tänze über die Lagevon Futterquellen. Glühwürmchen erzeugen mit ihren Hinterkörpern differen-zierte Blinksignale, um Geschlechtspartner anzulocken.8

Die Weibchen der Glühwürmchengattung Photuris versicolor verwenden ne-ben den arteigenen gelegentlich auch die Blinksignale der GlühwürmchenartPhotinus. Durch dieses Signal angelockte und in froher Erwartung heranfliegendePhotinus-Männchen bieten den Photuris-Weibchen eine nahrhafte Mahlzeit. Inter-essant ist dieser Vorgang vor allem deshalb, weil hier Kommunikation ganz of-fensichtlich zum Zwecke der Manipulation eingesetzt wird: Das Photuris-Weibchen verschafft sich einen Vorteil, indem es das Blinksignal des Photinus-Weibchens imitiert.9

Das Beispiel verdeutlicht, was wir oben bereits festgestellt haben, daß nämlichKommunikation nicht immer kooperativ und informativ sein muß, - jedenfallsnicht in dem Sinne, daß der Sender vom Empfänger etwas Neues und Zutreffen-des erfährt. Nun könnte man dem entgegenhalten, es sei wohl kaum zu erwarten,daß Räuber und Beute sich gegenseitig informierten: Zwischenartliche Täuschungsei etwas durchaus Normales. Dieser Einwand ist berechtigt, solange er nicht un-terstellt, es gebe keine innerartliche Täuschung: Ein Blick in einschlägige Veröf-fentlichungen10 zeigt in aller Deutlichkeit, daß die Grenzen zwischen Informationund Täuschung quer zu den Grenzen zwischen den Arten verlaufen. Im Banne derTheorie der Artselektion glaubte man lange, Lug und Trug seien nur unter Men-schen gang und gäbe.11 Inzwischen weiß man aber, daß auch im Tierreich kei-neswegs nur Räuber und Beute einander durch Tarnung und Mimikry12 hintersLicht führen.

Ich beschränke mich auf wenige Beispiele:13 Innerartliche Kooperation liegtvor, wenn ein Photinus-Weibchen ein Photinus-Männchen anlockt. Daß {97} dieWespe einem möglichen Freßfeind durch ihre auffällige Warntracht ihre Giftig-keit signalisiert, kann als zwischenartliche Kooperation interpretiert werden. Mitzwischenartlicher Täuschung haben wir es zu tun, wenn das Photuris-Weibchendas Photinus-Signal imitiert oder wenn zum Beispiel harmlose Schwebfliegen die

7 Vgl. Müller (1990) S. 198-2018 Müller (1990) S. 201f.9 Müller (1990) S. 203, Sommer (1993) S. 40f.10 Dawkins/Krebs (1981), Sommer (1993), Sommer (1993a)11 Vgl. Sommer (1993a) S. 1077ff.12 Vgl. Sommer (1993) S. 28-4513 Zahlreiche Beispiele finden sich bei Sommer (1993) und (1993a).

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Warntracht der gefährlichen Wespen imitieren und auf diese Weise Freßfeindevon sich fernhalten.

Ein besonders interessanter Fall innerartlicher Täuschung hat sich im An-schluß an die beschriebene zwischenartliche Täuschung der gefräßigen Photuris-Weibchen entwickelt. Auch bei jenen Glühwürmchen-Arten, deren Männchendurch Photuris-Weibchen bedroht sind, konkurrieren zahlreiche Männchen umwenige Weibchen. Männchen der Gattung Macdermotti verschaffen sich in dieserKonkurrenz dadurch Vorteile, daß sie nun ihrerseits wieder die Blinksignale dergefährlichen Photuris-Weibchen imitieren. Damit täuschen sie anderen Männchendie Anwesenheit einer Räuberin vor, so daß sie eher als ihre irritierten Konkur-renten bei einem Weibchen ihrer eigenen Art eintreffen und zum Zuge kommenkönnen.14

Die Glühwürmchen haben dem Gebäude ihrer betrügerischen Komunikationensogar noch ein weiteres Stockwerk innerartlicher Täuschung aufgesetzt: DiePhoturis-Männchen ahmen die Blinksignale einiger Beutearten ihrer Weibchennach. Man vermutet, daß sie auf diese Weise das Interesse ihrer beutegierigenWeibchen wecken, die wohl erst in letzter Sekunde bemerken, daß ihr Besuchkeine schmackhafte Mahlzeit, sondern ein Paarungspartner ist.15

Evolution der Signale: Ritualisierung emotionalen Verhaltens

Die klassische Verhaltensforschung geht davon aus, daß kommunikative Si-gnale aus ursprünglich emotional bestimmten Verhaltensweisen durch Ritualisie-rung entstanden seien. Man kann sich das folgendermaßen erklären:16 Nehmenwir an, ein evolutionärer Vorfahre des Hundes habe jedesmal unwillkürlich dieZähne gefletscht, bevor er auf andere Tiere losging. Da die anderen Tiere lernfä-hig waren, erlaubte ihnen ihr assoziatives Gedächtnis mit der Zeit eine - nichtnotwendig bewußte - Voraussage über das Verhalten des Hundes und damit einerechtzeitige Flucht.

Die regelmäßigen Fluchtreaktionen der anderen Tiere schufen eine neue Situa-tion. Die natürliche Auslese begünstigte nun Hunde, die diese Situation ausnutz-ten und Gegner kraftsparend durch das Zähnefletschen allein - und ohne den an-schließenden aufwendigen und möglicherweise gefährlichen Beißkampf - in dieFlucht schlugen. Spätere Hundegenerationen ritualisierten das {98} Zähneflet-schen: Was ursprünglich nur Ausdruck einer Emotion war, wurde durch nochweiteres Zurückziehen der Lippen von den Zähnen zu einem wirksamen Signalverdeutlicht. In anderer Begrifflichkeit: Ursprünglich analoge Anzeichen für Ge-fühlszustände des Senders werden bei der Ritualisierung zunehmend digitali-

14 Sommer (1993) S. 6515 Sommer (1993) S. 6516 Vgl. Dawkins/Krebs (1981) S. 225f.; auch Smith (1979)

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siert:17 Während die Anzeichen den Gefühlszuständen im weitesten Sinne ähnlichsind, geht diese Ähnlichkeit bei der Ritualisierung zum Signal allmählich verlo-ren.

Diese Erklärung bestimmter kommunikativer Signale aus der Ritualisierungemotionalen Verhaltens ist durchaus einleuchtend. Zugleich aber entsteht hier einweiteres Mal die Verlockung, die kommunikative Realität nach menschlichenWunschvorstellungen zu modellieren: Nach diesen Vorstellungen bilden die ri-tualisierten Signale eine Art elementarer sprachlicher Vereinbarung, mit derenHilfe Lebewesen sich innerhalb ihrer Art und über die Artgrenzen hinweg ver-ständigen. Von dieser Vorstellung ist es nur ein kleiner Schritt zu der weiteren,die Weltbilder der Lebewesen glichen oder ähnelten einander. Schließlich entstehtder durchaus falsche Eindruck, Kommunikation sei der mehr oder weniger ab-sichtsvolle Austausch von Information über eine allen Beteiligten in gleicherWeise zugängliche Welt. Die Informationen denkt man sich dabei nicht selten alshandliche Wissensbausteine, die auf dem Rücken fleißiger Signale vom Senderzum Empfänger transportiert und dort in das bereits vorhandene Wissensgebäudeeingesetzt werden.

Warum ein weiter Kommunikationsbegriff nützlich ist

Wir wollen deshalb noch hinter den oben vorgestellten zynischen Kommuni-kationsbegriff zurückgehen. Wir sprechen zunächst sehr vorsichtig von Kommu-nikation zwischen Lebewesen dann, wenn Lebewesen Verhaltensweisen oder Ei-genschaften anderer Lebewesen wahrnehmen und auswerten.18 Dieser sehr allge-meine Kommunikationsbegriff liegt auch der bekannten These zugrunde, mankönne nicht nicht kommunizieren:19 Das ist platterdings richtig, weil jedes Lebe-wesen zu jeder Zeit durch Verhaltensweisen und Eigenschaften gekennzeichnetist, die von anderen wahrgenommen und ausgewertet werden können.20 Die Aus-wertung besteht darin, daß der Empfänger auf seine Wahrnehmungen nicht nurpassiv wie ein angestoßener Ball, sondern über eine mehr oder weniger komplexeAktivität seines nervösen oder hormonalen Steuerungssystems reagiert.21 DieserKommunikationsbegriff hat den Vorteil, daß neben den beschriebenen ritualisier-ten auch nichtritualisierte Verhaltensweisen und körperliche Eigenschaften alsSignale in Frage kom{99}men, daß dem Sender keine Absicht und den Beteiligtenkein gemeinsames Weltbild unterstellt wird, und daß schließlich der durchausmißverständliche Begriff 'Information'22 vermieden wird.

17 Vgl. Watzlawick/Beavin/Jackson (1972) S. 61-6818 Vgl. Müller (1990) S. 17919 Watzlawick/Beavin/Jackson (1972) S. 50-5320 Vgl. Kienzle (1991) S. 1021 Watzlawick/Beavin/Jackson (1972) S. 3022 Vgl. Dawkins/Krebs (1981) S. 225

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Der naheliegende und häufig vorgebrachte Einwand, dann seien ja mehr oderweniger jede Eigenschaft und jedes Verhalten kommunikativ,23 ist inhaltlich zwarrichtig, aber als Einwand weniger stichhaltig, als es zunächst aussieht. Es stehtzwar jedermann frei, einen wesentlich engeren Kommunikationsbegriff zu ver-wenden. Man könnte dann zum Beispiel den Begriff 'Kommunikation' nur aufsolche Interaktionen zwischen Lebewesen anwenden, bei denen Sender und Emp-fänger über einen gemeinsamen Kode von Zeichen und Bedeutungen verfügen, sodaß der Empfänger jeweils angemessen verstehen kann, was der Sender gemeinthat.24 Dann besteht aber die Gefahr, daß die auf einen derart engen Kommunikati-onsbegriff gegründete Theorie der Kommunikation unter der Hand zu einer bloßenTheorie des Verstehens gerät. Eine solche Theorie käme zwar dem verbreitetenWunsch nach einer optimistischen Weltsicht entgegen; man vergäbe aber dieChance, zumindest ein paar Trampelpfade in das Dickicht von Lügen, Täuschun-gen, Mißverständnissen und Selbsttäuschungen zu treten, das die helle Lichtungdes Verstehens auf allen Seiten umschließt.

Unsichere Bedeutungsvermutungen

JULIE. Glaubst du an mich?DANTON. Was weiß ich? Wir wissen wenig voneinander. Wir sindDickhäuter, wir strecken die Hände nacheinander aus, aber es istvergebliche Mühe, wir reiben nur das grobe Leder aneinander ab - wirsind sehr einsam.JULIE. Du kennst mich, Danton.DANTON. Ja, was man so kennen heißt. Du hast dunkle Augen undlockiges Haar und einen feinen Teint und sagst immer zu mir: lieberGeorg! Aber (er deutet ihr auf Stirn und Augen) da, da, was liegt hinterdem? Geh, wir haben grobe Sinne. Einander kennen? Wir müßten unsdie Schädeldecken aufbrechen und die Gedanken einander aus denHirnfasern zerren. [Georg Büchner (1813-1837), "Dantons Tod", 1.Akt,1.Szene]25

Leserinnen bzw. Leser könnten spätestens hier übertriebene Skepsisver{100}muten: Noch kurz bevor sie sich zum Lesen hinsetzten, haben sie mit ih-ren Ehemännern oder Ehefrauen, mit ihren Kindern, Kollegen oder Freunden ge-sprochen. Die deutsche Sprache diente dabei als durchaus gemeinsamer Zeichen-kode; möglicherweise gab es keinerlei Anzeichen für ein Mißlingen der Verstän-

23 Vgl. Köck (1987) S. 358-36324 Köck (1987) S. 359; vgl. dazu auch Linke/Nussbaumer/Portmann (1991) S. 27-29 u. S.

173f.; * für einen wesentlich optimistischeren Kommunikationsbegriff vgl. Lindauer (1990)S. 25 *

25 Büchner (1963) S. 78

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digung; vielleicht haben sogar Hund, Katze oder Reitpferd eben noch anstandslosgehorcht. Gelogen hat dabei niemand, - oder jedenfalls nur ein bißchen.

Selbstverständlich geht es kaum jemandem anders: Fast jeder erfährt dieKommunikation mit seinen Mitmenschen meistens als selbstverständlich, unmit-telbar und erfolgreich. Aber wir sollten gewarnt sein. Im vorausgehenden Kapitelhaben wir gesehen, daß die vermeintliche Unmittelbarkeit unserer Wahrnehmungbloßer Schein ist. Wir haben uns mit dem Bild geholfen, das Gehirn sitze in sei-nem Körper wie der Lenker eines Panzerwagens, der seinen Wagen nie verlassenhat und sich im Dunkel seines Führerhauses nur durch einförmig blinkende Si-gnallämpchen über den Zustand der Außenwelt informieren kann.

Der Bremer Neurophysiologe, Biologe und Philosoph Gerhard Roth vergleichtdas Gehirn "mit einer Person, die durch ein fremdes Land reist, um wichtige Din-ge zu lernen oder auch nur um heil nach Hause zu kommen, die aber nicht dieSprache dieses Landes spricht" und deshalb auf die Hilfe von Dolmetschern an-gewiesen ist - ohne jede Möglichkeit, die Korrektheit der jeweiligen Übersetzun-gen direkt zu überprüfen.26

Der Wissenschaftstheoretiker und Philosoph Karl Popper formuliert noch ein-dringlicher: "Unsere Situation ist immer die eines schwarzen Mannes, der in ei-nem schwarzen Keller nach einem Hut sucht, der vielleicht gar nicht dort ist."27

und: "Wir wissen nichts - das ist das Erste. Deshalb sollten wir sehr bescheidensein - das ist das Zweite. Daß wir nicht behaupten zu wissen, wenn wir nicht wis-sen - das ist das Dritte."28

Wenn es um unsere Wahrnehmung und Erkenntnis so bestellt ist, dann wäre esäußerst erstaunlich, ja geradezu ein Wunder, wenn unsere grundsätzlich von derWahrnehmung abhängige Kommunikation tatsächlich jenen Grad von Unmittel-barkeit und Verläßlichkeit erreichte, den unser Alltagsbewußtsein ihr zuschreibt.Eher hat es den Anschein, als ob unser Nervensystem daraufhin angelegt sei, unsauch in dieser Hinsicht durch freundliche Illusionen eine gewisse Verhaltenssi-cherheit zu geben. Daß Lebewesen ihre Wahrnehmungen systematisch mit derWelt und das in der Kommunikation jeweils Verstandene nicht minder systema-tisch mit dem Gemeinten verwechseln, dürfte durchaus lebensdienlich sein.

Woher weiß ein Lebewesen überhaupt, was ein wahrgenommenes Signal be-deutet? Ein Teil der Signalbedeutungen ist angeboren: Auf diese Weise {101}"verstehen" Vögel die Warntrachten von Beutetieren; daß Wespen gefährlich undMarienkäfer ungenießbar bitter sind, müssen sie nicht erst lernen. Ähnlich "ver-stehen" Photinus-Männchen die manipulativen Signale der Photuris-Weibchen.Ebensowenig müssen Menschen die Bedeutung elementarer mimischer Aus-drucksbewegungen wie Lächeln, Lachen oder Weinen lernen.29 Nebenwirkungenliegen darin, daß Vögel deshalb auf die Täuschung wespenähnlicher Schwebflie-

26 Roth (1987) S. 241f.27 Popper (1987) S. 3528 Popper (1987) S. 37 [Layout gegenüber dem Original verändert]29 Eibl-Eibesfeld (1991) S. 71-80

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gen hereinfallen, daß die Photuris-Weibchen zu nahrhaften Photinus-Mahlzeitenkommen und daß die angeborenen Auslösemechanismen der Menschen auch aufMasken, Schminke und Attrappen ansprechen.

Wie aber kommen Bedeutungen dort zustande, wo Lebewesen einen Zeichen-kode erlernen? Machen wir uns ganz klar, daß Kinder beim Spracherwerb nichtein einziges Mal in den Köpfen ihrer Eltern nachsehen können, was diese meinen!Bedeutungen entwickeln sich vielmehr stets innerhalb des autonomen Systemsdes individuellen Gehirns.30 Auch bei der Kommunikation bleibt das Gehirn imPanzerwagen des Körpers auf das spärliche Blinken der Kontrollämpchen, bleibtes als sprachunkundiger Reisender auf die Leistungen und Fehlleistungen seinerDolmetscher angewiesen. Was es lernt und erfährt, lernt und erfährt es indirekt.Kontrollieren kann es nur, indem es die kommunikativen Botschaften mit denBotschaften der übrigen Sinne und des Gedächtnisses vergleicht. Diese interneKonsistenzprüfung mag für einen gegenständlichen und handlungsbezogenenAlltagswortschatz und die entsprechenden Alltagskommunikationen relativ zu-verlässig sein; für den Wortschatz der theoretischen Abstraktion oder der Ver-ständigung über Gefühle aber versagt sie nicht selten erbärmlich.31

Der Grund dafür ist leicht zu sehen - trotz des inneren Widerstandes, den diesebittere Wahrheit zunächst auslöst. Kinder erlernen ihre Sprache grundsätzlich inHandlungszusammenhängen:32 Sie hören Wörter und bringen diese in Verbindungmit anderen Wahrnehmungen; sie beobachten das Verhalten und den Sprachge-brauch ihrer Bezugspersonen; sie bilden Hypothesen über den Zusammenhangzwischen Sprache und nichtsprachlichem Verhalten und über die Bedeutung dergehörten Wörter; sie verwenden die Wörter entsprechend ihren Hypothesen underleiden damit Schiffbruch; kommunikativer Mißerfolg veranlaßt sie, ihre Be-deutungshypothesen zu verändern; sie machen unter Einbeziehung sinnlicherWahrnehmungen neue Kommunikationsversuche und erzielen hier und da Erfol-ge.

Was aber sind Erfolge? Ob wir kommunikativ erfolgreich waren, stellen wir inaller Regel nicht mit Hilfe psychologischer Testverfahren oder durch umständli-che sprachwissenschaftliche Bedeutungsanalysen fest. Wir registrie{102}renvielmehr, was unsere Kommunikationspartner auf unsere Äußerungen hin tunoder sagen. Hier aber schleicht sich Ungenauigkeit ein: Entspricht die Reaktionunseren Erwartungen, so nehmen wir an, unser Gegenüber habe uns verstanden.33

Wiederholt sich dieses oft nur vermeintliche Verstehen, so nehmen wir an, wirordneten den verwendeten Wörtern die gleichen Bedeutungen zu und sprächen al-so die gleiche Sprache.

Wie gesagt ist dieses Verfahren in praktischen Alltagszusammenhängendurchaus zuverlässig. Was aber geschieht, wenn wir über abstrakte Gegebenhei-

30 Vgl. Roth (1991) und die Diskussion in Schmidt (1994) S. 48-12031 Vgl. auch Köck (1987) S. 370f.32 Vgl. Köck (1987) S. 362f.33 Vgl. Hejl (1987) S. 319

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ten oder Gefühle sprechen? Ganz offensichtlich sind hier die Möglichkeiten einerwechselseitigen Kontrolle unserer Sinne und unseres Gedächtnisses weit spärli-cher. Woran erkennen wir, daß unsere Liebesgeständnisse verstanden wurden? Ananschließender Zärtlichkeit unseres Partners oder daran, daß er uns seinerseitsseine Liebe bekundet? Woran erkennen wir, daß unser Gesprächspartner das Wort"Liberalität" so verwendet wie wir? An der Unordnung im Zimmer seiner heran-wachsenden Kinder? An den Büchern in seinem Bücherschrank? An seiner Mit-gliedschaft in einer liberalen Partei?

Man könnte antworten: "Ja, an solchen Merkmalen und an dem, was er tut undsagt." Die Schwierigkeit ist nur, daß unsere Auswertung von Zärtlichkeit und Lie-besgeständnis, von Kinderzimmer, Bücherschrank, Parteibuch, Handlungen undWorten sich ihrerseits auf eine Vielzahl von Bedeutungshypothesen stützen muß,- auf Bedeutungshypothesen, die unser Gehirn bereits ebenfalls aufgrund indirek-ter Sinnesinformationen in sich selbst gebildet hat - ohne jeden Zugang zur Au-ßenwelt oder zu den Gehirnen der Mitmenschen.

Unbestreitbar bietet eine Mischung aus gemeinsamen Handlungen und Ge-sprächen die Chance, Bedeutungshypothesen zu verbessern und einander anzu-passen. Ein kommunikativer Pessimismus, der sogar diese Möglichkeit relativenVerstehens leugnet, ist sicher ebenso wenig angebracht wie der gängige kommu-nikative Optimismus, der wechselseitiges Verstehen für den Normalfall und Miß-verständnisse für eine Art seltener Unfälle hält. Alle Anzeichen sprechen jedochdafür, daß in vielen Situationen menschlichen Zusammenlebens der Grad des er-reichten Verständnisses weit geringer ist, als die Beteiligten annehmen. Skepsis istalso durchaus angebracht. Wir tun gut daran, uns klarzumachen, daß zum Beispieldie Verzerrung eines Gerüchts zwar meist um so gröber ausfällt, je länger die Per-sonenkette ist, über die es weitergegeben wird; aber diese grobe Verzerrung trätenicht ein, wenn sich nicht auch bei jeder einzelnen Kommunikation zumindestkleinere Fehler einschlichen.

Die verbreitete Neigung, sich mit seinen Liebesbekundungen bereits dann ver-standen zu fühlen,34 wenn sie Geschlechtsverkehr, gemeinsame Anschaffungen,den Bezug einer gemeinsamen Wohnung und die Geburt von Kindern nach sichziehen, dürfte die Wurzel zahlloser Ehescheidungen sein. Was {103} Schnulzenwie "Meine Liebe, deine Liebe, die sind beide gleich..." voraussetzen, wäre in ei-ner gewaltigen kommunikativen Anstrengung allererst vorsichtig zu überprüfen.Hier wie etwa auch beim Gebrauch theoretischer und politischer Begriffe veran-laßt uns unser hartnäckiger, wenn auch durchaus ungerechtfertigter kommunikati-ver Optimismus, uns über weite Strecken mit bloßer Scheinverständigung zufrie-denzugeben. Vielfach wird die Chance zur Verständigung bereits dadurch vertan,daß Gesprächsteilnehmer nicht zuhören und das Rederecht für sich monopolisie-ren; solche Menschen nutzen Gespräche überwiegend dazu, ihr eigenes Weltbilddurch Sprechen festzuklopfen und sich durch die stumme Gegenwart ihrer Zuhö-rer eine scheinbare Bestätigung ihrer Auffassungen zu erschleichen. 34 Vgl. dazu Dormagen (1981)

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Unsere Illusion kommunikativer Sicherheit dürfte vor allem damit zusammen-hängen, daß wir in der Mehrzahl der Situationen kommunikativen Erfolg wie ge-sagt nicht nach dem unbeobachtbaren Verstehensprozeß, sondern nach der beob-achtbaren Reaktion unserer Partner bemessen.35 Weniger schmeichelhaft ausge-drückt: Wir geben uns dann zufrieden, wenn wir unsere Partner erfolgreich mani-puliert haben, und scheren uns meist nicht darum, was sie tatsächlich verstandenhaben. Wir neigen dazu, das in praktischen und konkreten Alltagssituationen er-worbene Sicherheitsgefühl auf Situationen zu übertragen, in denen dieses Gefühlsehr irreführend ist. Wir schließen naiv aus Manipulationserfolgen und aus dertatsächlichen Gemeinsamkeit verwendeter Ausdrücke auf eine nur vermeintlicheGemeinsamkeit komplexer Bedeutungen. Deshalb ist es - jedenfalls in bezug aufmenschliche Verständigung - bedenklich, von Kommunikation nur bei Vorhan-densein eines Sender und Empfänger gemeinsamen Zeichenkodes zu sprechenund bereits durch diese Begrifflichkeit eine falsche Voraussetzung in die Theoriezu tragen.

Kultur, Genbestand und Kommunikation

An dieser Stelle unserer Überlegung ist es notwendig, noch einmal auf den Zu-sammenhang zwischen Genbestand und Kultur zurückzukommen. Wir habenschon im dritten Kapitel festgestellt, daß sich im kulturellen Schonraum derDruck der natürlichen Auslese verringert. Das hat die aus kultureller Perspektivedurchaus erstrebenswerte und unaufgebbare Folge, daß sich im menschlichenGenbestand auch solche Varianten und Mutanten erhalten, die ohne den Schutzkultureller Einrichtungen nicht hätten überleben können.36 Allerdings ergebensich Nebenwirkungen auf die Kommunikation, die nicht vermieden, aber jeden-falls gesehen und in Rechnung gestellt werden können.

{104} Beim Menschen haben sich wie bei vielen anderen Tieren genetischfestgelegte Sozialsignale entwickelt, die aus dem Blickwinkel moderner Rationa-lität klischeehaft wirken mögen, die aber nach wie vor eine wichtige Rolle bei derRegulierung sozialen Verhaltens spielen. Wir können nicht umhin, breite Schul-tern und schmale Hüften eines Mannes mit Tapferkeit, breite Hüften und großeBrüste einer Frau mit Fruchtbarkeit und Mütterlichkeit in Verbindung zu bringen.Unter den Bedingungen der Kultur sind solche Mechanismen in hohem Maße ir-reführend, weil die Variationsbreite der menschlichen Genkombinationen weitweniger durch die natürliche Auslese eingeschränkt wird, als dies in wildlebendenPopulationen der Fall wäre. Damit lösen sich ehemals relativ stabile Beziehungenzwischen Charaktereigenschaften und körperlichen Merkmalen auf, ohne daß aberunsere angeborenen Signal- und Interpretationsmechanismen ihre Wirksamkeitverlören. Das führt zu Mißverständnissen und Vorurteilen, die um so folgenrei-

35 Vgl. auch Hejl (1987) S. 31936 Liedtke (1972) S. 185

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cher und hartnäckiger sind, als sie nicht auf eine rationale Einschätzung andererMenschen, sondern auf genetisch tiefverwurzelte Gefühle und Intuitionen zurück-gehen.37

Wer kommuniziert hier eigentlich mit wem?

Unsere bisherigen Überlegungen zur Kommunikation berücksichtigen zwarden hypothetischen Charakter jeder Bedeutungszuordnung. Wir sind aber insofernhinter den Erkenntnisstand des vorausgehenden Kapitels zurückgefallen, als wirSender und Empfänger naiv mit ihrem jeweiligen Bewußtsein gleichgesetzt ha-ben. Wir wissen jedoch, daß das Bewußtsein Präsident eines Milliardenvolks vonNeuronen ist und in dieser Eigenschaft zwar allerhand repräsentative Aufgaben,aber nur wenig politische Macht hat. Wir wissen auch, daß im menschlichen Kopfrationale, emotionale und triebhafte Gehirnbereiche in gespannter Koexistenz ste-hen und zu unterschiedlichen Zeiten in unterschiedlichen Arbeitsbündnissen aktivwerden. Wir wissen schließlich, daß ein großer Teil menschlicher Kommunikati-on gerade nicht auf das Bewußtsein des Adressaten, sondern auf diese unbemerkteinander abwechselnden Arbeitsbündnisse gerichtet ist.

Am Beispiel unbewußter Versprecher38 sowie nichtsprachlicher Kommunika-tion durch Gestik, Mimik, Körperhaltung oder Kleidung läßt sich ablesen, daß dieArbeitsbündnisse nicht nur Empfänger, sondern ebenso oft auch Sender kommu-nikativer Nachrichten sind. Unsere Fähigkeit zu bewußter sprachlicher Kommu-nikation ist nur Teil einer evolutionär entstandenen und weitgehend intuitivenManipulationsfähigkeit. Bereits Vogelmännchen nutzen {105} ihren Gesang nichtetwa, um weiblichen Vögeln sachlich ihre Kopulationsabsichten mitzuteilen, da-mit ihnen diese nach nüchterner Prüfung des Antrags ihrerseits einen sachlichenBescheid erteilen können. Eher ist der Balzgesang eine hypnotisierende, betören-de Musik, die direkt auf das Nervensystem der Weibchen wirken und diese imInteresse der Männchen umstimmen soll.39

Wer aber ist dann der Sender, wer der Empfänger bei einer bestimmten Kom-munikation zwischen Menschen? Es ist durchaus möglich, daß zum Beispiel eineAbteilungsleiterin mit ihrem Kollegen auf der rationalen Ebene ein wissenschaft-liches oder technisches Problem diskutiert, während zugleich unbewußte Hirnteilebeider Gesprächspartner einen innerbetrieblichen Machtkampf austragen und dar-über hinaus eine erotische Begegnung für den Abend vorbereiten. Die Ebenenmüssen dabei keineswegs fein säuberlich in der Weise getrennt sein, daß die Dis-

37 Liedtke (1972) S. 187-189. Nicht minder gefährlich ist in einer international vernetzten

Welt die - unter den Bedingungen des Stammeslebens ehemals durchaus sinnvolle -Tendenz, fremdartig aussehende Menschen intuitiv abzulehnen.

38 Vgl. Trivers (1991) S. 181 und Freud (1954) S. 52-9439 Vgl. Dawkins/Krebs (1981) S. 239-242; hier liegt ein erfolgversprechender Ansatz für eine

evolutionsbiologisch begründete Ästhetik tierischer und menschlicher Kommunikation.

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kussion sprachlich, der Machtkampf dagegen zum Beispiel über die Körperhal-tung und der Flirt über Kleidung und Blicke ausgetragen würden. Die Ebenenkönnen einander vielfach durchdringen: Sprachliche Argumente können alsMachtmittel, Blicke und Tonfall als Ersatz für sachbezogene Argumente einge-setzt werden; sprachliche Bilder können zugleich sachliche Zusammenhänge ver-deutlichen und erotische Assoziationen auslösen. Im kommunikativen Mika-dospiel wechselseitiger Beeinflussung können die unterschiedlichsten Stäbchenals Werkzeug dienen; zugleich gibt es kaum einen Spielzug, bei dem sich außerdem direkt berührten Stäbchen nicht noch andere mitbewegten.40

Das Beispiel deutet an, daß Sender und Empfänger in sich ebensowenig ein-heitlich, eindimensional und stabil sein müssen wie der verwendete Zeichenkode.Um ein zuvor verwendetes Bild noch einmal aufzunehmen: Der Pilot eines Jum-bojets gibt zwar einen Teil seiner Verantwortung an Computer und Servomotorenab; den Funkverkehr bestreitet jedoch er allein. Anders beim Menschen: Hier mi-schen sich unbewußte Gehirnfunktionen höchst eigenmächtig in den Sprechfunkein; sie überlagern die Stimme des Bewußtseinspiloten mit ihren Signalen, sendenzusätzlich auf eigenen, wechselnden Frequenzen, betätigen Leuchtsignale an derAußenhaut und versuchen so, nicht nur die Piloten, sondern auch die Bordelek-tronik anderer Flugzeuge zu beeinflussen.

Traditionelle kommunikationstheoretische und sprachwissenschaftliche Begrif-fe spiegeln bereits einen Teil dieser Zusammenhänge wider, - meist allerdings,ohne sie auf die Uneinheitlichkeit und Mehrschichtigkeit des menschlichen Ge-hirns zurückzuführen. So unterscheidet man etwa zwischen dem Inhaltsaspektund dem Beziehungsaspekt von Kommunikationen,41 {106} sowie zwischen demdenotativen Kern einer Wortbedeutung und der konnotativen Überlagerung diesesKerns mit zusätzlichen individuellen oder sozialen Gefühlswerten.42 Die Einsicht,daß kommunikative Äußerungen meistens mehrere Funktionen zugleich erfüllenund unterschiedliche Seiten der Beteiligten ansprechen, liegt auch gängigen Un-terscheidungen wie der zwischen Ausdrucksfunktion, Appellfunktion und Kon-taktfunktion der Sprache zugrunde.

Am besten lügt, wer sich selbst belügt

Wie groß die Bedeutung unbewußter Gehirntätigkeit auch für unsere sprachli-che Kommunikation sein kann, wird besonders deutlich im Zusammenhang mitTäuschung und Lüge. Die Evolutionsbiologie geht davon aus, daß sich mit neuenFähigkeiten zu innerartlicher Täuschung immer auch Fähigkeiten zur Aufdeckungsolcher Täuschung entwickelt haben.43 Auf diese Weise entstand ein evolutionärer

40 Vgl. Bayer (1984) S. 84-13241 Vgl. Watzlawick/Beavin/Jackson (1972) S. 53-56; Schulz von Thun (1981) S. 25-2942 Vgl. Linke/Nussbaumer/Portmann (1991) S. 15343 Trivers (1991) S. 175f.

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Rüstungswettlauf, bei dem ein neuer Betrug jeweils mit einem neuen Entlar-vungsmechanismus beantwortet wurde.

Wir wissen aus eigener Erfahrung, daß Lügen Mühe kostet: Unser inneres Mo-dell der Außenwelt enthält immer auch mehr oder weniger deutliche Modelle un-serer Mitmenschen, vor allem unserer Gesprächspartner. Wenn wir lügen, müssenwir dieses Partnermodell besonders sorgfältig ausarbeiten. Unsere Lüge kann nurErfolg haben, wenn wir uns klar darüber sind, was unser Partner bereits weiß, waswir selbst ihm schon gesagt haben, wie kritikfähig er ist und welche Informatio-nen ihm voraussichtlich in absehbarer Zeit zugänglich werden. Wir müssen des-halb sorgfältig beobachten und unser Gedächtnis bemühen. Diese Anstrengungaber erzeugt innere Anspannung. Weil uns darüber hinaus beim Lügen meist nichtganz wohl in unserer Haut ist, besteht die Gefahr, daß wir uns durch die äußerenAnzeichen von Stress und Unsicherheit verraten: Unsere Stimme verändert sich,wir machen linkische Bewegungen, vielleicht erröten wir sogar.44

Vieles spricht dafür, daß die Evolution dieser Gefahr dadurch begegnet ist, daßsie in sozial lebenden Tieren die Fähigkeit zu unbewußter Täuschung entwickelte.Wenn es uns gelingt, unser wahres Wissen ins Unbewußte abzusenken und zu-gleich bewußt unsere Lüge für wahr zu halten, dann werden wir überzeugenderlügen, ohne uns zu verraten.45 Es gibt deutliche Anzeichen für die Verbreitungund die Wirksamkeit dieses Mechanismus. Psychologen haben experimentell be-stätigt, daß zwischen sprachlich bekundeten Auffassungen und tatsächlichemVerhalten oft krasse Gegensätze bestehen. Menschen tun nicht, was sie sagen, undsie sagen nicht, was sie tun. Der {107} sprachlich urteilende Teil des Gehirnshängt mit den verhaltenssteuernden Teilen nur locker zusammen.46 Das hat denVorteil, daß wir inopportune oder unmoralische Absichten vor anderen Men-schen, ja sogar vor uns selbst verbergen und zugleich um so hartnäckiger verfol-gen können.

Monologisierende Schwätzer nutzen die Verbindungen zwischen bewußtenund unbewußten Gehirnteilen bisweilen noch in anderer Richtung: Bei ihnen dientdie Selbsttäuschung häufig nicht der Fremdtäuschung, sondern umgekehrt dieFremdtäuschung der Selbsttäuschung. Indem sie vor ihren Zuhörern wortreich einbestimmtes Bild der Wirklichkeit entwerfen, versuchen sie, ihr eigenes, durchAngst, Sorge oder Selbstzweifel geplagtes Unbewußtes von der Verläßlichkeitdieses Bildes zu überzeugen. Das scheint ihnen bisweilen selbst dann zu gelingen,wenn ihre geplagten Zuhörer nur mit höflichem Gemurmel und Räuspern reagie-ren.

Ganz ähnliche Mechanismen dürften magischen Ritualen zugrunde liegen:47

Indem die Ritualteilnehmer zum Beispiel einen Garten mit dem schwellendenBauch einer Schwangeren vergleichen oder einen kranken Menschen mit einer

44 Trivers (1991) S. 17645 Trivers (1991) S. 176f.46 Vroon (1993) S. 105-10847 Vgl. zum folgenden Tambiah (1968)

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kräftigen Pflanze berühren, beeinflussen sie durch den Gebrauch derart bildhafterWorte und Handlungen nicht nur die Eisbergspitze ihres bewußten Weltbildes,sondern zugleich auch dessen im Unbewußten verborgene Gefühlsgrundlage. Esist durchaus wahrscheinlich, daß magische Rituale auf diese Weise tatsächlich zurStabilisierung einer sozialen Gruppe, zur Koordination der Gruppenmitgliederund damit zum praktischen Erfolg der Gruppe beitragen.

Statt von Selbsttäuschung sollten wir deshalb weit vorsichtiger von Selbstbe-einflussung sprechen. Daß die klassische Anthropologie in magischen Ritualenmeist nur "Aberglauben" und einen Mangel an logischer und wissenschaftlich-technischer Kompetenz gesehen hat, ist in erster Linie auf den naiven Rationalis-mus ihres Menschenbildes und des zugehörigen Kommunikationsbegriffs zurück-zuführen. Wir wissen inzwischen um die unvermeidliche Selektivität und Kon-struktivität aller Weltbilder und um die Uneinheitlichkeit und Mehrschichtigkeitder Gehirne, die diese Weltbilder hervorbringen: Es gibt keinen archimedischenPunkt der Erkenntnis. Wir sollten deshalb nicht vorschnell bewerten und überalldort Täuschung oder Selbsttäuschung bemängeln, wo die Regeln der Logik oderempirischer Wissenschaft verletzt werden.

Wer also kommuniziert mit wem? Nicht nur beeinflussen unterschiedliche Ge-hirnteile einander auf mehreren, miteinander verschränkten Ebenen; die gespannteKoexistenz zwischen Bewußtem und Unbewußtem, zwischen Vernunft, Gefühlund Trieb bringt vielmehr meist auch inhaltliche Gegensätze hervor: Wohldurch-dachte Handlungspläne können in Konflikt mit unbewußten Ängsten, rational be-gründete ethische Normen in Konflikt mit unbewußten {108} Trieben geraten.Kommunikation dient deshalb häufig auch der Selbstmanipulation, zum Beispieldem internen Ausgleich von Spannungen zwischen Bewußtem und Unbewußtem.

Der nun schon mehrfach bemühte Flugzeugpilot verlegt seine Notizen überden tatsächlichen Kurs; er verstimmt halb mit Absicht, halb in unbewußter Nach-lässigkeit seine Navigationsgeräte, um sich im Funkverkehr mit Konkurrenten beifalschen Positionsangaben nicht zu verhaspeln oder um sich auf schwieriger Mis-sion Mut zu machen; er ändert und meldet seinen Kurs bisweilen nur, um die Ser-vomotoren der Ruderanlage zu überprüfen und abzustimmen. Gelegentlich redeter an seinem Mikrophon auch nur einfach drauflos,48 ohne zu bemerken, daß dierebellische Bordelektronik längst das Kommando übernommen hat.

Unsichere Partnermodelle

Dschuang Dsï ging einst mit Hui Dsï spazieren am Ufer eines Flusses.Dschuang Dsï sprach: "Wie lustig die Forellen aus dem Wasserherausspringen! Das ist die Freude der Fische."Hui Dsï sprach: "Ihr seid kein Fisch, wie wollt Ihr denn die Freude derFische kennen?"

48 Vroon (1993) S. 108

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Dschuang Dsï sprach: "Ihr seid nicht ich, wie könnt ihr da wissen, daßich die Freude der Fische nicht kenne?"Hui Dsï sprach: " Ich bin nicht Ihr, so kann ich Euch allerdings nichterkennen. Nun seid Ihr aber sicher kein Fisch, und so ist es klar, daßIhr nicht die Freude der Fische kennt."Dschuang Dsï sprach: "Bitte laßt uns zum Ausgangspunktzurückkehren! Ihr habt gesagt: Wie könnt Ihr denn die Freude derFische erkennen? Dabei wußtet Ihr ganz gut, daß ich sie kenne, undfragtet mich dennoch. Ich erkenne die Freude der Fische aus meinerFreude beim Wandern am Fluß." [Dschuang Dsï, "Das wahre Buchvom südlichen Blütenland" XVII, 12]49

Bedenken wir, daß der Pilot nie ein fremdes Flugzeug betreten und gesteuerthat. Wenn er mit anderen Piloten in Funkkontakt tritt, muß er ihnen deshalb zuersteinmal unterstellen, daß ihr Flugzeug dem seinen gleicht. Dies wird angesichtsder Fülle unterschiedlicher Flugzeugtypen unweigerlich zu grotesken Fehlein-schätzungen führen. Bisweilen kann der Pilot zwar das eine oder andere Detailseiner Einschätzung ein wenig korrigieren; aber angesichts wirksamer Tarnanstri-che und angesichts der Verzerrung des Funkverkehrs durch {109} Täuschung,Selbsttäuschung und durch die eigenmächtigen Botschaften undurchschaubarerBordelektronik können solche Korrekturen seine Unkenntnis der anderen nur un-wesentlich verringern.

Nicht anders ergeht es dem Menschen bei der Konstruktion seiner Partnermo-delle. Er schafft sich nicht nur seine Götter, sondern auch seine Mitmenschennach seinem Ebenbilde. Sein autonomes Gehirn konstruiert als Teil seines Welt-bildes auch seine menschlichen Partner: Unsere Mitmenschen sind uns nur alsHypothesen unseres eigenen Gehirns gegeben. Diese Hypothesen sind in vielenFällen noch weit vager und unzuverlässiger als die Hypothesen unserer sinnlichenWahrnehmung und unseres Spracherwerbs.

Menschliche Kommunikation wird zusätzlich kompliziert und vielschichtigdadurch, daß wir sozusagen die Bauten unserer Partnermodelle nicht nur mit Stei-nen ausschließlich aus unserem eigenen Kopf, sondern dazu noch in mehrerenStockwerken errichten. Zu unserem Bild des Partners gehört auch eine Vorstel-lung davon, welches Bild der Partner seinerseits von uns haben könnte.50

Die psychische Ebene dessen, was wir menschliche Beziehung nennen, dürftevor allem durch diese wechselseitigen Einschätzungen bestimmt sein. Je mehrStockwerke wir aufsetzen, um so größer wird die Gefahr von Irrtümern und Be-ziehungskonflikten. In gestörten Beziehungen wachsen bei den Beteiligten vielge-schossige Hochhäuser miteinander unvereinbarer Perspektiven in den Himmel.Machen wir uns klar, daß das Verhalten anderer Menschen uns immer nur ver-

49 Dschuang Dsi (1991) S. 19250 Vgl. Laing/Phillipson/Lee (1973), Laing (1972)

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mittelt durch unsere Wahrnehmung erreicht und daß diese Wahrnehmung wieder-um durch das Gebäude unserer Perspektiven bestimmt ist.

Jill glaubt Jack glaubt Jill sieht etwas nicht.

Jack glaubt Jill sieht esaber Jack sieht nicht, daß Jill glaubt, daß Jack glaubt, daß Jill es nicht sieht. [Ronald D. Laing (*1927), "Knoten"]51

Eine besondere Rolle spielen wechselseitige Perspektiven bei allen Formen derTäuschung. Wir haben schon gesehen, warum Lügen jedenfalls dann kurze Beinehaben, wenn wir uns bei der Einschätzung des Partners nicht genug {110} Mühegeben, - wenn wir zum Beispiel nicht sehen, daß er uns mißtraut, und irrtümlichannehmen, er habe unsere früheren Täuschungsversuche nicht bemerkt.

51 Laing (1972) S. 72

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Die Abbildung zeigt ein von Verhaltensforschern entwickeltes Stufensystemzur Unterscheidung verschieden komplexer Perspektiven:52 Eine Perspektive er-ster Ordnung ist durch einfache Vermutungen und Wünsche gekennzeichnet; An-nahmen über Vermutungen und Wünsche anderer Lebewesen gibt es auf dieserStufe noch nicht. Vermutet ein Lebewesen dagegen, was ein anderes vermutet, soliegt eine Perspektive zweiter Ordnung vor: Hier gibt es bereits so etwas wie"natürliche Psychologie" oder "Gedankenlesen". Die dritte Ordnung ist erreicht,wenn ein Lebewesen aufgrund einer komplexen Denkleistung etwa anstrebt, daßein anderes Lebewesen glaubt, es glaube zum Beispiel, in Gefahr zu sein. EinerPerspektive nullter Ordnung (die wir hier nicht abgebildet haben) fehlen dagegenderartige wunschhafte, vermutungsartige usw. Selbst- und Fremdeinschätzungen.

Perspektiven höherer Ordnung fügen weitere Stufen hinzu: Ein Schimpansefindet zum Beispiel53 Bananen, ignoriert diese jedoch, als ein Artgenosse auf-taucht, - wohl damit der Artgenosse nicht seinerseits auf die Bananen aufmerksamwird. Der schlaue Artgenosse schlendert in der Tat davon, versteckt sich aber inder Nähe. Sobald der erste Schimpanse in der Annahme, seine {111} Täuschungsei erfolgreich gewesen, zu den Bananen zurückkehrt, springt der Artgenosse ausseinem Versteck hervor und stürzt sich auf die Bananen. Der schlaue Artgenosseweiß, daß der erste Schimpanse Bananen gefunden hat, ihn aber glauben machenwill, er habe keine Bananen gefunden. Er reagiert mit einer Gegentäuschung, in-dem er die Perspektive des ersten Schimpansen so manipuliert, daß dieser glaubt,er glaube, der erste Schimpanse habe keine Bananen gefunden.

Bausteine zu einer zynischen Kommunikationstheorie

Das in den letzten Abschnitten entworfene Bild der Kommunikation hat mitden säuberlichen Kommunikationsmodellen sprachwissenschaftlicher Einfüh-rungsveranstaltungen nur noch wenig gemeinsam. Fassen wir zusammen:• Der vom falschen Gedanken der Artselektion bestimmte idyllische Kommuni-

kationsbegriff muß aufgegeben werden: Kommunikation ist nicht notwendigSignalaustausch zum Vorteil von Sender und Empfänger.

• Da die natürliche Auslese bei Individuen und nicht bei Arten ansetzt, ist Kon-kurrenz zwischen den Individuen auch in der Kommunikation zu erwarten.Kommunikation muß deshalb als Manipulation des Empfängers zum Vorteildes Senders verstanden werden. Dieser Kommunikationsbegriff ist insofernunvermeidlich zynisch, als er verbreitete Wert- und Wunschvorstellungenverletzt.

• Wie allgemein bei der Interaktion von Lebewesen können sich auch in derKommunikation reziproker Altruismus und Kooperation entwickeln.

52 Sommer (1993a) S. 1082f.53 Sommer (1993a) S. 1082f.

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• Kooperation und Täuschung stehen in enger Wechselbeziehung: Die Kehrseiteeiner in bestimmten Zusammenhängen vorteilhaften und deshalb evolutionärentwickelten Reaktionsbereitschaft ist stets eine entsprechende Manipulierbar-keit. Die Manipulation kann in evolutionärer Sicht allerdings nur erfolgreichsein, wenn sie nicht überhandnimmt. Nimmt sie überhand, so ist zu erwarten,daß die Manipulierbarkeit der Täuschungsopfer abnimmt oder die Fähigkeitzur Gegenmanipulation anwächst.

• Die Grenzen zwischen Kooperation und Manipulation verlaufen quer zu denArtgrenzen: Kooperation und Manipulation kommen innerartlich und zwi-schenartlich vor.

• Die Ritualisierung emotionalen Verhaltens darf nicht zum allgemeinen Modellder Signalbildung gemacht werden. Manipulationstechniken dürften vor allembei zwischenartlicher Kommunikation weit instabiler, kommunikative Wir-kungen weit zufälliger sein, als es die verbreitete Vorstellung eines Signal-oder Zeichenkodes nahelegt.

• Aus dem gleichen Grund ist ein enger Kommunikationsbegriff unangemessen,nach dem Sender und Empfänger stets über einen gemeinsamen Kode von Zei-chen und Bedeutungen verfügen, so daß der Empfänger jeweils angemessenverstehen kann, was der Sender gemeint hat. Eine auf einen {112} solch engenKommunikationsbegriff aufgebaute Theorie schrumpft unter der Hand zu einerTheorie des kommunikativen Verstehens zusammen.

• Erwägenswert ist ein sehr weiter Kommunikationsbegriff, der noch allgemei-ner ist als der oben vorgeschlagene zynische. Danach liegt Kommunikationdann vor, wenn Lebewesen Verhaltensweisen oder Eigenschaften anderer Le-bewesen wahrnehmen und auswerten. Dieser Kommunikationsbegriff hat denVorteil, daß neben ritualisierten auch nichtritualisierte Verhaltensweisen undkörperliche Eigenschaften als Signale in Frage kommen, daß dem Sender keineAbsicht und den Beteiligten kein gemeinsames Weltbild unterstellt wird, unddaß schließlich der mißverständliche Begriff 'Information' vermieden wird.

• Auch wo Menschen als kulturfähige Lebewesen einen Zeichenkode erlernen,bildet jeweils das einzelne autonome Gehirn Bedeutungshypothesen, die um sounsicherer sind, je weiter die Bedeutungen sich von alltagspraktischen Zu-sammenhängen entfernen. Der Begriff 'Sprache' legt durchaus irreführendeStabilitätsvorstellungen nahe.

• Die Unsicherheit der Bedeutungshypothesen ergibt sich daraus, daß kommuni-kativer Erfolg jeweils nur nach der Reaktion des Empfängers beurteilt werdenkann. Die Bedeutung der Empfängerreaktion kann aber ihrerseits nur unterRückgriff auf unsichere Bedeutungshypothesen ermessen werden. Diese Ver-mitteltheit der Erfolgskontrolle führt dazu, daß wir uns häufig eher an Mani-pulationserfolgen denn am Verständnis des Empfängers orientieren.

• Angesichts der Komplexität nicht nur des menschlichen Gehirns ist die Vor-stellung unhaltbar, Sender und Empfänger seien in sich einheitlich. Rationale,intuitive, emotionale und triebhafte Gehirnteile kommunizieren zum Teil

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gleichzeitig. Die Bedeutung von Signalen ist deshalb in einer Weise mehr-schichtig, der die gängige einfache Unterscheidung zwischen einer primärenkognitiven und einer sekundären emotionalen Bedeutung nicht gerecht wird.Kommunikation ist eine Art Mikadospiel, bei dem die Nebenwirkungen einesZuges jeweils nur teilweise vorausberechnet werden können. Ein weiteres Malerweist sich hier die Vorstellung eines stabilen Zeichenkodes als unzureichend.

• Die Komplexität des Gehirns ist auch im Zusammenhang kommunikativerTäuschung von Bedeutung. Die Fähigkeit zur Täuschung scheint evolutionärdurch eine parallele Fähigkeit zur Selbsttäuschung ergänzt worden zu sein. DasLügen wird erleichtert, indem wahres Wissen ins Unbewußte abgesenkt unddie Lüge ins Bewußtsein gehoben wird.

• Die Verbindungen zwischen Bewußtsein und Unbewußtem werden in umge-kehrter Richtung der Selbstbeeinflussung und der Magie dienstbar gemacht.Man täuscht sich - zugespitzt ausgedrückt - nicht nur, um besser zu lügen; son-dern man lügt auch, um sich besser zu täuschen.

• Kommunikation ist bestimmt durch die wechselseitigen Perspektiven der Teil-nehmer. Je höher die Ordnung der Perspektiven, um so mehr Ebenen {113}gegenseitiger Einschätzungen werden abgebildet; um so größer ist aber auchdie Unsicherheit der Einschätzungen und die Gefahr von Irrtümern.

• Der Begriff der Täuschung selbst ist insofern fragwürdig, als er das Mißver-ständnis nahelegt, es gäbe ein "richtiges" Weltbild und damit eindeutige Krite-rien zur Unterscheidung von Richtig und Falsch. Das ist aber angesichts derKonstruktivität und Selektivität aller Weltbilder nicht der Fall. Eventuell sollteman vorsichtiger zwischen fitnessfördernder und fitnessschädigender Manipu-lation des Empfängers unterscheiden.

Graffiti-Kommunikation

Die Graffiti, die sich seit einigen Jahren unübersehbar auf Mauern, Hausfassa-den und Straßenbahnwagen westlicher Großstädte ausbreiten, sind mehr als nurein Bild für die moderne Entwicklung menschlicher Kommunikation: Sie sind ihrunmittelbarer Ausdruck. Sie sind für den Durchschnittsspassanten nur sehr be-grenzt verständlich: Er erkennt einzelne Buchstaben, gelegentlich ein englischesWort; vorwiegend aber ist er mit Abkürzungen konfrontiert, die er nicht ent-schlüsseln kann. Dennoch kann er sich der Beeinflussung durch die allgegenwär-tigen Sprühdosenschnörkel nicht entziehen.

Er spürt, wie er durch den alltäglichen Anblick manipuliert wird: Sind dieBuchstabenkombinationen Namenszeichen? Beziehen sie sich auf populäre Mu-sikgruppen oder politische Bündnisse? Versuchen die Sprüher, ein Gefühl eigenerBedeutungslosigkeit dadurch zu bekämpfen, daß sie sich in U-Bahn-Schächtenund auf Strommasten verewigen? Sind die bisweilen mannshohen, grellbuntenSchriftzüge eine Art moderner Tempelbilder, postmoderne Heiligen- oder Stifter-

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bildnisse, deren fortdauernde Gegenwart indirekt der Beruhigung und Tröstungihrer menschlichen Schöpfer dient? Drücken sie mehr oder weniger unbewußtaus, daß die Sprüher die architektonische Harmonie historischer Fassaden nichtmehr verstehen oder verstehen wollen? Oder geht es ihnen, wie die Kratzer inStraßen- und Eisenbahnscheiben nahelegen, um Zerstörung und aggressive Be-sitzergreifung? Was drücken Größe und Farbe der Graffiti aus? Einzelne sind an-genehm für das Auge, durchaus harmonische und schwungvolle Kombinationenaus farbigen Buchstaben und Piktogrammen, die an chinesische Kalligraphie er-innern; andere sind scharf, grell, riesenhaft und unausgewogen.

Ist möglicherweise bereits der Versuch falsch, den Schnörkeln überhaupt eineBedeutung beizumessen? Große Teile der modernen Jugendkulturen sind geradedurch das Vorherrschen ästhetisch stilisierter Oberflächen gekennzeichnet, hinterdenen deutungswillige Eltern, Lehrer und Jugendforscher sehr zu Unrecht logischund rational faßbare Aussagen vermuten.54 Sind die Sender der Graffiti-Botschaften eher emotional-ästhetische Neuronenkomitees {114} in den rechtenHirnhälften ihrer jugendlichen Produzenten? Handelt es sich um kulturelle Hilfs-mittel im Balzritual subkultureller Jugendlicher, die Unbeteiligten nun als über-dimensionale Pfauenschwänze in die Augen stechen? Die Art, in der die Bildereinander überdecken und umeinander herumwachsen, könnte darauf hindeuten,daß kulturelle Meme um freie Flächen und um Gehirnkapazitäten konkurrieren.

Diese Fragen können hier nicht beantwortet werden. Entscheidend ist, daß siesich in der einen oder anderen Form jedem Großstadtbewohner stellen. Die Graf-fiti manipulieren durch ihre aufdringliche Gegenwart und dadurch, daß sie in denGehirnen der Passanten mehr oder weniger umfangreiche Deutungsversuche aus-lösen. Dabei sind sie um so erfolgreicher, je mehr sie vertraute Buchstaben, Bild-elemente und Gestaltungsmittel einstreuen, ohne doch insgesamt verständlich zusein. Dieses Beispiel zeigt noch einmal deutlich, warum man sinnvollerweise vonKommunikation nicht erst dann sprechen sollte, wenn Sender und Empfänger ein-ander auf der Grundlage eines gemeinsamen Zeichenkodes verstehen. Die Über-gänge sind fließend: Neben dem Idealtypus zeichengestützter Kommunikationgibt es eine Vielzahl von Kommunikationsformen, bei denen von einem gemein-samen Zeichenkode nicht die Rede sein kann, der Empfänger das Verhalten desSenders aber dennoch intensiv auswertet. Die folgende Zen-Geschichte illustriertdas noch einmal eindrücklich.

Ein Mönch namens Yunshui hörte, wie man sich erzählte, die Lehre desZen-Meisters Wuxiang sei vorzüglich. Deshalb entschloß er sich, mitihm die Methoden der Zen-Meditation zu erörtern. Es traf sich abergerade, daß Wuxiang ausgegangen war. Deshalb kam sein Diener, einNovize, zur Tür, um den Gast zu empfangen, und sagte: "Der Meister istnicht da. Wenn etwas zu erledigen ist, kann ich das an seiner Stelletun." Der Mönch Yunshui sagte: "Das geht nicht: Du bist zu jung." Der

54 Vgl. dazu Baacke (1993) S. 184-200, bes. S. 194-197

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Novize sagte: "Die Zahl meiner Jahre ist zwar gering, aber meineWeisheit ist nicht gering."Der Mönch Yunshui hörte das, und es gefiel ihm. Also beschrieb er mitder Hand einen kleinen Kreis und zeigt dann nach vorwärts. DerDiener breitete beide Arme aus und beschrieb einen großen Kreis.Yunshui streckte einen Finger aus; darauf erhob der Diener fünfFinger. Darauf zeigte Yunshui wiederum drei Finger, und der Dienerdeutete zur Antwort mit der Hand auf seine Augen.Yunshui kniete voller Ehrfurcht nieder, verneigte sich dreimal und gingmit gesenktem Kopf davon. Yunshui dachte bei sich: "Ich habe mit derHand einen kleinen Kreis beschrieben und nach vorwärts gedeutet.Damit wollte ich ihn fragen, wie groß seine Geisteskraft sei. Er hatbeide Arme ausgebreitet und einen großen Kreis beschrieben; dasheißt, seine Geisteskraft ist so groß wie das Meer. Ich habe dann einenFinger ausgestreckt, um ihn zu fragen, wie er lebt. {115} Er hat fünfFinger ausgestreckt, um mir zu sagen, er halte die fünf Gebote desBuddhismus. Schließlich habe ich drei Finger ausgestreckt, um ihn zufragen, wie es um die drei Teile des Universums bestellt sei. Und er hatauf seine Augen gezeigt, um mir zu bedeuten, die drei Teile desUniversums existierten nur in unseren Augen. Wenn bereits ein bloßerDiener in solchem Grad erleuchtet ist, dann weiß ich nicht, welcheTiefe erst die Meditation des Zen-Meisters Wuxiang haben mag. Ichwerde noch viel lernen müssen."Einige Zeit später kam der Zen-Meister Wuxiang zurück. Sein Dienerberichtete ihm von den beschriebenen Vorfällen: "Meister, ich habeeuch etwas zu berichten! Ich weiß nicht warum, aber dieser MönchYunshui hat gewußt, daß meine Familie vom Verkauf von Fladenbrotlebt! Er hat mit der Hand einen kleinen Kreis beschrieben, um mich zufragen: »Sind die Fladenbrote deiner Familie nur so klein?« Ich habedarauf beide Arme ausgebreitet, um anzudeuten: »Nein, sie sind sogroß!« Er hat einen Finger ausgestreckt, um zu fragen: »Kostet einFladen einen Wen?« Ich habe fünf Finger ausgestreckt und ihm gezeigt,daß ein Fladen fünf Wen kostet. Er wiederum hat drei Fingerausgesteckt, um zu fragen, ob es nicht doch auch für drei Wen einenFladen gibt. Ich fand das schlecht von ihm. Deshalb habe ich auf meineAugen gedeutet, um ihm vorzuwerfen, daß er sich im Warenhandel nichtauskennt. Und darauf ist er zu meinem Erstaunen erschrecktdavongelaufen."Als Zen-Meister Wuxiang das gehört hatte, sagte er: "Die Lehre ist inallem, Versenkung und Erleuchtung sind überall. Verstehst du das?"Der Diener war sehr überrascht und wußte darauf nichts zuantworten.55

55 Xingyun (1991) Bd. III, S. 130f. [Übersetzung K.B.]; ähnlich Bd. IV, S. 108f.

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Warnung vor dem naturalistischen Fehlschluß

Man könnte die obige Zusammenstellung kommunikationsskeptischer Thesenals wenig erbaulich und eben als zynisch abtun. Warum soll man die Allgegen-wart von Täuschung und Selbsttäuschung, die Vagheit aller Bedeutungen, die in-nere Uneinheitlichkeit der Kommunikationsteilnehmer und die Irrtumsanfälligkeitihrer wechselseitigen Einschätzungen so stark hervorheben?

In der Tat besteht die Gefahr, daß der sachliche Hinweis auf die Unsicherheitund Zerbrechlichkeit aller Kommunikation grob mißverstanden wird als Aufforde-rung, sich um Klarheit, Sachlichkeit und sprachliche Präzision erst gar nicht mehrzu bemühen, Trieben und Gefühlen freien Lauf zu lassen und nach Herzenslust zutäuschen, wo immer ein Vorteil winkt. Dieses Mißver{116}ständnis säße dem so-genannten naturalistischen Fehlschluß56 auf: Aus Einsichten über Sachzusam-menhänge können grundsätzlich keine moralischen Normen abgeleitet, aus demSein kann nicht auf ein Sollen geschlossen werden. Ob ich zum Beispiel eine kor-rekte Steuererklärung abgebe, ist eine Frage meiner Entscheidung; die wissen-schaftlich fundierte Erkenntnis, daß ein hoher Prozentsatz der Bevölkerung fal-sche Angaben macht, kann mir diese Entscheidung nicht abnehmen. Ebensogutkönnte ich die Normen für mein Sexualverhalten einem wissenschaftlichen Se-xualreport entnehmen. Es gibt keinen einfachen Übergang von der Erkenntnis zurEntscheidung - und also auch keine Möglichkeit, aus der Kommunikationstheorieeine Kommunikationsmoral abzuleiten!

So wenig wissenschaftliche Ergebnisse zur Herleitung moralischer Normentaugen, so nützlich sind sie allerdings bei der Bestimmung unserer Handlungs-spielräume.57 Es wäre offensichtlich unsinnig und unzulässig, aus der Einsicht indie Verbreitung kommunikativer Manipulation eine moralische Berechtigungoder gar Pflicht zu Manipulation und Täuschung herzuleiten. Ebenso unsinnigwäre aber die moralische Forderung, man solle ausschließlich auf einer Ebene derSachlichkeit und Rationalität kommunizieren und dabei strikt auf intersubjektiveEinheitlichkeit der Bedeutungen achten.

Vom Nutzen des Zynismus

Und in eben diesem Zusammenhang sind Skepsis und Zynismus durchaus biszu einem gewissen Grad nützlich und notwendig: Menschliche Kommunikati-onsmoral leidet häufig darunter, daß sie die tatsächlichen Handlungsspielräumenicht realistisch einschätzt. Sie setzt dann innere Einheitlichkeit der Gespräch-steilnehmer, Harmonie zwischen Bewußtem und Unbewußtem, Stabilität des Zei-

56 Vgl. Sommer (1993) S. 173, Albert (1968)57 Vgl. Albert (1968) S. 76ff.

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chenkodes und eine natürliche Tendenz zur Aufrichtigkeit voraus. Sie stützt sichdabei auf die rationalistisch verengte Perspektive des mehrfach erwähnten Piloten,der seine unausweichliche Abhängigkeit von eigenmächtiger Bordelektronikübersieht und sich für den selbstbestimmten Lenker seines Flugzeugs hält.

Eine solche Kommunikationsmoral mißachtet den einfachen Grundsatz, daßSollen Können voraussetzt.58 Das führt zu unzähligen Widersprüchen: Da ist derLehrer, der die Verstehensfähigkeit seiner Schüler und ihre Beeinflußbarkeitdurch rationale Argumente völlig überschätzt. Da sind die Eltern, die sich für in-nerlich einheitlich, folgerichtig, "logisch" und vor allem selbstverständlich fürgute Eltern halten; die deshalb nicht sehen können, daß sie {117} nicht nur gut,sondern auch triebhaft und machtgierig sind und ihren Äußerungen unbewußtWiderhaken und Giftstacheln mitgeben, die in den Seelen ihrer Kinder Verwü-stungen anrichten. Da sind die bereits erwähnten Paare, die ihre Manipulationser-folge für Anzeichen kommunikativen Verstehens halten und die lustvolle Zu-sammenarbeit ihrer Geschlechtsorgane naiv mit emotionaler Übereinstimmungverwechseln. Da sind die Sitzungsteilnehmer, die unter unerfüllbaren Sachlich-keitsforderungen leiden und deshalb immer wieder durch unbewußte Gefühlskon-flikte aufgehalten werden. Da ist schließlich der genannte Schwätzer, der imRausch seiner Monologe nicht einmal Einwürfe duldet und so die ohnehin unent-rinnbare Einsamkeit menschlichen Bewußtseins für sich noch einmal steigert.

Sie alle - wir alle - gehen von falschen Voraussetzungen aus. Vieles spricht da-für, daß wir bei der Einschätzung unseres eigenen Kommunikationsverhaltens ei-ner teils genetisch vorgegebenen, teils kulturell überformten Selbsttäuschung un-terliegen. Was für unser Bewußtsein als Präsidenten eines unüberschaubaren Neu-ronenvolkes allgemein gilt, gilt insbesondere auch für unsere bewußte Wahrneh-mung unserer Kommunikation: Von vielleicht nicht einmal zwanzig Prozent dertatsächlichen Vorgänge haben wir bestenfalls eine blasse, von weiteren siebzigProzent haben wir gar keine Ahnung. Das dürfte sich zwar in unserer evolutionä-ren Vergangenheit als vorteilhaft erwiesen haben. Es sieht aber so aus, als brächteuns solche Naivität zunehmend in Gefahr.

Die Jäger und Sammler unserer evolutionären Vergangenheit, ja noch die bäu-erlichen Bewohner eines Tiroler Dorfes im neunzehnten Jahrhundert dürften auf-grund der relativen Einfachheit ihrer weitgehend gemeinsamen Handlungszu-sammenhänge tatsächlich noch vergleichsweise ähnliche Zeichenbedeutungenund eine relativ ähnliche Feinorganisation ihrer Gehirne besessen haben. Es be-stand also kein Anlaß, genetische Voraussetzungen und kulturelle Ausformungendifferenzierter kommunikativer Selbstbeobachtung zu entwickeln.

Die Situation hat sich inzwischen dramatisch verändert. Ausschlaggebend sinddie immer noch zunehmende gesellschaftliche Aufsplitterung in Teil- und Sub-kulturen, die soziale und regionale Mobilität, internationale Wanderungsbewe-

58 Albert sieht in diesem Grundsatz ein "kritisches Brücken-Prinzip", das eine gewisse

Verbindung zwischen Natur und Moral gestattet; insofern relativiert Albert die prinzipiellnotwendige Kritik am naturalistischen Fehlschluß. Albert (1968) S. 76

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gungen und die Flut von Medien und Informationen, aus denen jeder einzelne ei-ne individuelle Auswahl trifft: Je unwahrscheinlicher es wird, daß wir mit anderenaufgrund früherer gemeinsamer Handlungszusammenhänge auch Bedeutungenund Feinstrukturen des Gehirns teilen, um so gefährlicher sind die Illusionen un-seres allzu schlichten alltäglichen Kommunikationsbewußtseins.

Die Geschwindigkeit der kulturellen Entwicklung macht die gemeinsamen Er-fahrungshintergründe und Handlungszusammenhänge nicht selten bereits inner-halb der Familien so schmal, daß sich Verständigung häufig nicht wirklich, son-dern nur noch im halb optimistischen, halb irritierten Bewußtsein der einzelnenFamilienmitglieder ereignet. Noch viel unsicherer ist die Kommuni{118}kationzwischen aus unterschiedlichen Weltteilen oder Sozialschichten aufeinanderpral-lenden Gesprächspartnern, zwischen Angehörigen unterschiedlicher subkulturel-ler Milieus und Parteien oder zwischen den sprichwörtlichen Fachidioten inner-halb der hochspezialisierten Wissenschaften.

Welche Hilfe kann hier eine zynische oder jedenfalls skeptische Kommunika-tionstheorie bieten? Es ist zwar wenig wahrscheinlich, daß die Menschheit, wieRobert Ornstein annimmt, in einer Art "bewußter Evolution"59 über ihre evolutio-när vorgegebenen Mängel und Beschränkungen hinauswächst. Aber es wäre be-reits ein Fortschritt, wenn allzu optimistische Illusionen über die Möglichkeitenmenschlicher Kommunikation an Boden verlören. Das allerdings ist leichter ge-sagt als erreicht.

Eine nahezu unüberwindliche Schwierigkeit ergibt sich aus dem erwähntenUmstand, daß ein gewisses Maß kommunikativer Naivität und Gewaltsamkeit -aus der kurzfristigen und nicht durch menschliche Moralvorstellungen beeinfluß-ten Perspektive der Evolution - durchaus lebensdienlich sein dürfte. Wer sich zumBeispiel durch unsensible Monologe selbst stabilisiert und andere an ihrer Ent-faltung hindert, kann auf diese Weise seinen Erfolg und seine Lebenschancen

59 Ornstein (1991) S. 267-279; * zur Kritik der Hoffnung auf eine "bewußte Evolution" vgl.

Hayek (1988) S. 22: "[...] I confess that I always have to smile when books on evolution,even ones written by great scientists, end, as they often do, with exhortations which, whileconceding that everything has hitherto developed by a process of spontaneous order, call onhuman reason - now that things have become so complex - to seize the reins and controlfuture developement. [...] The idea that reason, itself created in the course of evolution,should now be in a position to determine its own future evolution (not to mention anynumber of other things it is also incapable of doing) is inherently contradictory, and canreadily be refuted [...]."Der Mythos einer durch menschliche Vernunft kontrollierten "bewußten Evolution" ist nurein weiteres Instrument der bereits im 2. Kapitel (vgl. S. 20ff.) dieses Buches kritisiertenWiederverzauberung der Welt in der Moderne: Kriege, Bürgerkriege, Hungersnöte,Wirtschaftskrisen, Bildungskatastrophen, Umweltzerstörung und verlustreicheTraditionsbrüche haben eine machtvolle Allianz aus wohlmeinenden Optimisten,Zweckoptimisten, Funktionären und Politikern nicht von der Illusion bzw. der kaltblütigenLüge abbringen können, die wissenschaftlich aufgeklärte menschliche Vernunft habe allesunter Kontrolle. *

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steigern. Wer andere durch geschickte Werbung täuscht und zum Kauf verführt,hat wirtschaftlichen Erfolg. Wer selbstbewußt auftritt und andere einschüchtert,kann eine Gruppe zu seinem Vorteil beherrschen, - auch wenn uns all dies nichtgefällt.

Die Forderung nach kommunikativer Nachdenklichkeit und Bescheidenheit istgerade deshalb so schwer zu verwirklichen, weil sie häufig in Konflikt mit tief-verwurzelten biologischen Imperativen gerät. Daß Nachdenklichkeit unter denveränderten Bedingungen der modernen Welt langfristig sogar im streng biologi-schen Sinne nützlicher sein dürfte als Naivität und Brutalität, geht den auf kurzfri-stiges operantes Lernen festgelegten Gehirnen der Menschen ebenso schwer einwie der langfristige Nutzen von Umweltschutz und Konsumver{119}zicht.60 Wersich unter diesen Bedingungen zu der wenig populären Auffassung bekennt, Ma-nipulation und Täuschung seien allgegenwärtig, menschliche Kommunikation seistets vom Scheitern bedroht und jedes Verstehen sei nur relativ und unsicher, derhandelt sich all jene Nachteile ein, die auch in anderen Bereichen mit einseitigerAbrüstung verbunden sind: Er läuft Gefahr, seine eigene Position zu schwächenund zugleich jenen in die Hände zu arbeiten, die das Arsenal manipulativer Tech-niken bedenkenlos einsetzen.

60 Diese Zusammenhänge hat mit aller wünschenswerten Deutlichkeit Verbeek (1990)

dargestellt.