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Susan Meissner Die Weite des Himmels Roman

9783865913043 Die Weite des Himmels

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Roman Susan Meissner Susan Meissner ist eine vielfach ausgezeichnete Zei- tungskolumnistin, Ehefrau eines Pastors und lehrt Journalismus an einer Highschool. Sie lebt mit ihrem Ehemann Bob und den vier gemeinsamen Kindern in Minnesota. Zwei ihrer Romane wurden bereits erfolgreich ins Deut sche übersetzt: „Leih mir deine Flügel“ und „Die Stimme meines Herzens“. Über die Autorin Roman Susan Meissner Aus dem Englischen übersetzt von Antje Balters

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Susan Meissner

Die Weite des HimmelsRoman

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Über die Autorin

Susan Meissner ist eine vielfach ausgezeichnete Zei-tungskolumnistin, Ehefrau eines Pastors und lehrt Journalismus an einer Highschool. Sie lebt mit ihrem Ehemann Bob und den vier gemeinsamen Kindern in Minnesota.Zwei ihrer Romane wurden bereits erfolgreich ins Deut sche übersetzt: „Leih mir deine Flügel“ und „Die Stimme meines Herzens“.

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Susan Meissner

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Roman

Aus dem Englischen übersetzt von Antje Balters

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Die Originalausgabe erschienim Verlag Harvest House Publishers, Eugene, Oregon 97402, USA,

unter dem Titel „Why the Sky is blue“.© 2004 by Susan Meissner

© 2009 der deutschen Ausgabe by Gerth Medien GmbH, Asslar,in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München

1. Auflage 2009Bestell-Nr. 816 304

ISBN 978-3-86591-304-3

Übersetzung des Tennyson-Gedichtes: Karoline KuhnUmschlaggestaltung: Hanni Plato

Umschlagfoto: WORKBOOKSTOCK/JupiterimagesLektorat und Satz: Nicole Schol

Druck und Verarbeitung: GGP Media GmbH, PößneckPrinted in Germany

Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung des Verlages

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Für meinen Papa

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Was sagt das kleine Vogelkindim Nestchen, wenn der Tag beginnt?

Lass mich fliegen, sagt das Vogelkind.Mutter, ich will fort geschwind!

Bleib doch noch, mein Vogelkind,bis deine Flügel stärker sind.Und so ruht es sich noch aus,bis es fliegt in die Welt hinaus.

Was sagt das kleine Menschenkindim Bettchen, wenn der Tag beginnt?

Es sagt, so wie das Vogelkind,Mutter, ich will fort geschwind!

Bleib doch noch, mein liebes Kind,bis deine Glieder stärker sind.Und so ruht es sich noch aus,bis es fl iegt in die Welt hinaus.

Alfred Lord Tennyson

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CLAIRE

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PROLOG

ICH WAR ERST VIEREINHALB, als mein Vater starb, und kann mich daher kaum noch an ihn erinnern.

Es war im Jahr 1953. Als ich an jenem Morgen im Mai aufwachte, klang in meinen Ohren eine Stimme nach, eine Stimme, die mir gleichzeitig Ehrfurcht einflößte und Angst machte. Es war, als hätte Gott selbst mir etwas zugeraunt und das Echo seiner Botschaft hätte mich aufgeschreckt. Ich merkte, wie mir die Worte im Kopf herumschwirrten – doch es war weniger wie eine Empfindung als vielmehr wie eine tatsächliche akustische Wahrnehmung. Eine Vater-Stimme hatte geflüstert: Hab keine Angst. Angst? Wovor denn Angst?Ich wusste es nicht.

Ich schlüpfte aus dem Bett und ging in die Küche, wo meine Mutter gerade dabei war, Kaffee zu kochen. Ich erin-nere mich noch, dass ich sie fragte, ob Papa wieder zu Hause sei, ich hätte nämlich im Bett seine Stimme gehört. Ein etwas seltsamer Ausdruck huschte über ihr Gesicht, so als glaub te sie, dass ihr Mann wirklich im Nebenzimmer sei und nicht am anderen Ende der Welt, aber dann verschwand dieser Ausdruck rasch wieder. Sie hockte sich neben mich, umarmte mich und sagte, das müsse ein Traum gewesen sein. Papa sei immer noch in Korea. Dann begann sie, für meinen kleinen Bruder Matthew, der auf seinem Hochstühlchen saß, eine Scheibe Toast in kleine Häppchen zu schneiden.

Ich erinnere mich auch, dass ich noch ein Weilchen in der Küche blieb, nachdem sie sich schon längst wieder erhoben hatte. Mein vierjähriges kleines Köpfchen tief in Gedanken versunken, während Matthew ohrenbetäubenden Lärm mach te, indem er mit seinem Kinderlöffel auf das Metalltab-lett vorn an seinem Stühlchen schlug.

Hatte ich die tiefe, durchdringende Stimme nur geträumt, oder war es wirklich Gott gewesen, der da zu mir gespro-chen hatte? Ich erinnere mich auch, dass ich bei dem Gedan-

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ken, eines von beidem könnte wahr sein, anfing zu zittern. Selbst jetzt noch, Jahre später, erinnere ich mich daran, dass mir ganz beklommen zu Mute war bei dem Gedanken, ich könnte mir die Stimme Gottes eingebildet haben. Und ich wusste nicht, welche der beiden Möglichkeiten beunruhi-gender war. Ich wusste es damals nicht und ich weiß es auch heute noch nicht.

Ich wuchs jedoch mit der Überzeugung auf, damals in ein schreckliches Geheimnis eingeweiht worden zu sein, weil etwas später am selben Tag mehrere Männer in Uni-form bei uns zu Hause auftauchten. Es war Spätnachmittag, und Matthew hielt noch seinen Mittagschlaf, während ich leise mit meinen Puppen spielte, so wie meine Mutter es mir aufgetragen hatte. Da sah ich, wie ein schwarzes Auto auf unsere Auffahrt einbog. Der erste Mann, der ausstieg, sah genau so aus wie mein Vater. Er hatte nichts dabei außer einem weißen Briefumschlag. Ich rannte zu dem großen Pano ra ma fenster im Wohnzimmer und wunderte mich darü-ber, dass mein Vater ohne seinen Seesack und den braunen Lederkoffer aus Korea zurückkam.

Dann stieg ein weiterer Mann aus dem Auto, der eben-falls auch irgendwie wie mein Vater aussah. Und dann kam noch ein dritter. Er hatte ein kleines Kreuz an seiner Mütze und ein Buch in der Hand. Eine Bibel.

An den Rest dieses Tages kann ich mich nur noch ganz undeutlich erinnern. Ich erinnere mich nicht daran, wie die Männer meiner Mutter mitteilten, dass das Flugzeug meines Vaters abgeschossen worden sei. Ich erinnere mich nicht, wie sie schrie, obwohl sie mir Jahre später erzählt hat, dass sich Nachbarn um mich kümmern mussten, weil sie so sehr ge-weint und geschrien hätte, dass ich davongelaufen sei.

Das, woran ich mich noch am allerdeutlichsten erinnere, ist der Klang der Stimme, von der ich am Morgen aufge-wacht war. Deshalb erkannte ich sie auch sofort, als ich sie dreiunddreißig Jahre später erneut vernahm.

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EINS

ALS ICH ZUM ZWEITEN MAL IN MEINEM LEBEN Gottes Stimme hörte, war ich immer noch dabei, wieder auf die Beine zu kommen – nach etwas, das die Menschen in meinem unmit tel-baren Umfeld leise als den Überfall bezeichneten. Die Worte den Überfall bezeichneten. Die Worte den Überfallwurden meist nur geflüstert, aber von mir aus hätten sie sie auch genauso gut laut schreien können, denn ich konnte mich an nichts mehr erinnern – und daran hat sich auch bis heute nichts geändert. Ich erinnere mich nicht an den Abend, an dem mir ein Mann so ziemlich das Schlimmste antat, was ein Mann einer Frau nur antun kann. Ich erinnere mich auch nicht daran, dass er seine großen Hände um meinen Hals legte und versuchte, mich umzubringen – allerdings vergeb-lich. Man musste mir später erst erzählen, was ich überlebt hatte. Ein Arzt teilte mir ein paar Tage danach im Kran-kenhaus mit, dass mir in der nächsten Zeit alles irgendwie verschwommen vorkommen würde. Genau dasselbe Wort verwendete auch der Neurologe. Verschwommen.

Ich erinnere mich erst wieder an das Aufwachen. Ich wachte in einem Krankenhausbett auf und hatte Verletzun-gen, die ich mir nicht erklären konnte. Als ich dem Neurolo-gen dies mitteilte – unter Schmerzen, weil meine Stimmbän-der in Mitleidenschaft gezogen worden waren –, meinte er, das sei völlig normal. Ich sagte ihm, ich könne mich an nichts erinnern, was nach dem Frühstück passiert sei, obwohl der Überfall erst irgendwann zwischen acht und halb neun Uhr abends stattgefunden hatte. Auch das sei normal, meinte er.

An alldem ist absolut gar nichts normal, hätte ich am liebsten entgegnet, fuhr aber stattdessen fort: „Ich kann mich nicht einmal mehr daran erinnern, warum ich Tenny-son so liebe.“ Ich spürte, wie mir eine Träne die Wange hi-nablief, ohne dass ich wusste, weshalb.

An diesem Punkt wurde er nervös. Ich merkte, dass wir die Sphäre der harten medizinischen Fakten über das Gehirn

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verließen und in die Welt des unergründlichen Geistes eintra-ten, die ja in der Tat verschwommen ist.

Mit einer Geste, die ich als echt und mitfühlend empfand, ergriff er meine Hand, beugte sich über mein Krankenhaus-bett und sagte, dass ich mich an einiges wieder würde erin-nern können, an anderes nicht. Es sei unmöglich zu sagen, an was mein Verstand in der Lage sei, sich zu erinnern, und an was nicht. Und dann gab er mir einen ziemlich guten Rat, den ich leider erst sehr viel später zu schätzen wusste.

„Wenn Sie sich nicht erinnern können, weshalb Sie Al-fred Tennyson so lieben, dann finden Sie doch neue Gründe dafür“, sagte er. Dann hielt er kurz inne, und ich merkte, dass er seine Worte mit Bedacht wählte. „Sie haben wirklich Glück, dass Sie noch am Leben sind, Mrs Holland. Ich habe schon Leute mit Verletzungen wie den Ihren erlebt, die das Krankenhausbett nie wieder verlassen haben.“

In den darauffolgenden Tagen versuchte ich, mich als je-manden zu betrachten, der Glück gehabt hatte, aber dieser Gedanke schien irgendwie nicht mit der Wirklichkeit über-einzustimmen.

Das traf ganz besonders auf den Oktobermorgen einen Monat nach meiner Entlassung aus dem Krankenhaus zu, als ich aufwachte und erneut die Stimme Gottes durch mei-nen Kopf tönen hörte – dieselbe Stimme, die mich damals als Kind wachgerüttelt hatte, an dem Tag, als ich erfuhr, dass mein Vater ums Leben gekommen war.

An dem besagten Oktobermorgen nach dem Überfall hat te ich sogar zwei erschreckende Erkenntnisse. Eine kam von Gott – jedenfalls glaube ich, dass sie von ihm kam. Und die zweite hatte ich selbst, als ich aus dem Bett aufstand und über die erste nachdachte. Eine unerwartete Welle der Übelkeit erfasste mich. Als ich aufstand und meine Hand auf meinen Bauch pressen wollte, berührte ich dabei meine Brüste und hatte eine Empfindung, die ich bereits vier Mal zuvor in meinem Leben gehabt hatte. Ich war wie betäubt,

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als ich es bemerkte. Ich wankte zur Toilette, klappte den De-ckel hoch und übergab mich immer wieder.

Es war eine körperliche Reaktion auf einen körperlichen Zustand, und es dauerte nur einen kurzen Moment, bis mir das klar war. Aber als die Sekunden verstrichen, begriff ich auch langsam die grausige Wirklichkeit. Weitere Wellen von Übelkeit brachen über mich herein und diese zweite Übel keitswelle und das Erbrechen hatten nichts mehr mit Schwangerschaftsübelkeit zu tun.

Ich war schwanger. Ich war schwanger mit einem Kind, von dem ich sicher war, dass es in den Stunden nach dem Überfall in mir zu wachsen begonnen hatte – nach dem Über fall, an den ich mich nicht einmal erinnern konnte. In einem völlig unbeobachteten Augenblick hatte sich in der Notfallambu-lanz oder im Aufwachraum im fünften Stock der Klinik, in die ich gebracht worden war, in mir ein Leben zu bilden begon-nen. Es war ein Leben, von dem ich schon jetzt wusste, dass es mich zerreißen würde. Der Mann, der – vergeblich – versucht hatte, mich umzubringen, hatte offenbar stattdessen angefan-gen, mich auf andere Weise zu vernichten.

Als das Würgen und Erbrechen nachließ und Fassungslo-sigkeit über mich hereinbrach, legte ich mich auf den Flie-senboden im Bad und betete, dass ich aufwachen würde. Das musste alles ein schrecklicher Traum sein. Im Nebel meines Elends, der mir das Denken schwer machte, hörte ich, wie mein Mann Dan unserer elfjährigen Tochter Katie sagte, sie sollte doch bitte darauf achten, immer ihren Lockenstab aus-zuschalten, wenn sie ihn benutzt hatte. Dann hörte ich den sechsjährigen Spencer fragen, ob er Nutella zum Frühstück haben könne. Mir kam der absurde Gedanke, dass wir kein Nutella mehr hatten – und dann huschte er wieder davon, flink wie eine Eidechse, von der man gar nicht sicher ist, ob man sie wirklich gesehen hat.

Einen sehr kurzen Moment lang wünschte ich, der Mann, der mich überfallen hatte, hätte seine Sache gründlicher zu

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Ende gebracht. Es ist mir wirklich peinlich, es zuzugeben, aber in diesem Augenblick wäre ich am liebsten tot gewe-sen. Ich wollte nicht mehr leben. Doch die Stimmen der drei Menschen im Untergeschoss, die ich von ganzem Herzen liebte, drangen zu mir nach oben, und ich war dankbar, dass dieser Todeswunsch sich wieder verflüchtigte. An seine Stelle trat allerdings eine Verzweiflung, deren Tiefe und Schwere mich überraschte.

Die Botschaft, die ich am Morgen von Gott erhalten hat te, klang immer noch in mir nach, als ich zusammenge-rollt wie ein schlafendes Kind dort auf dem Fliesenboden im Bad lag. Es war eine Botschaft, die aus drei Worten bestand und die ich in den folgenden acht Monaten versuchen würde zu verstehen. Gott wusste, was mir bevorstand. Er wusste, dass es mich unglaublich viel Kraft und Anstrengung kosten würde zu begreifen, wieso er zugelassen hatte, dass mir so etwas zustieß. Ich wusste, dass ich ernsthaft an seiner Liebe zweifeln würde. Ich wusste, dass es immer wieder Augenbli-cke geben würde, in denen ich ganz kurz davor wäre, mei-nen Glauben über Bord zu werfen.

Während ich also eigentlich damit gerechnet hätte, dass seine Botschaft „Verbittere nicht“ oder: „Verlier nicht den Mut“ oder: „Zweifle nicht“ lauten würde, war ich etwas überrascht, dass es keine davon war.

Seine Botschaft war dieselbe wie die, die er mir auch an jenem Morgen zugeraunt hatte, als mein Vater starb.

Hab keine Angst.

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ZWEI

ICH STAUNE ÜBER DIE STÄRKE – und gleichzeitig die Zerbrech-lichkeit – des menschlichen Körpers. Ich staune darüber, dass er so viel kann, aber dann auch wieder so vielen Einschrän-kungen unterliegt. Nur Gott kann etwas so Wundervolles, aber gleichzeitig auch so Empfindliches und Schwaches er-schaffen.

Und es erfüllt mich im selben Augenblick mit Ehrfurcht und Furcht, dass der Körper so unabhängig und losgelöst von der Seele funktionieren kann.

Mein Körper – mein Gehirn – lässt nicht zu, dass ich mich an das erinnere, was an dem Abend passiert ist, als ich überfallen wurde. Manchmal ärgere ich mich über diesen Gedächtnisverlust, aber meistens bin ich über diese grund-sätzliche und gütige Weigerung meiner Psyche, sich zu erin-nern, doch eher beruhigt.

Als ich aus dem Krankenhaus entlassen wurde, wurde ich zunächst von der Angst ergriffen, dass ich mich vielleicht urplötzlich wieder an alles erinnern würde. Das Gespenst der Erinnerung kauerte am Rande von fast allem, was ich tat und dachte. Ich machte mir Sorgen darüber, dass sie vielleicht wie eine Flutwelle zurückkommen würde, und ich machte mir Sorgen darüber, dass die Erinnerung vielleicht auch qualvoll Stückchen für Stückchen zurückkehren könnte – wie eine Art langsame Folter. Ich wusste nicht, was von beidem schlimmer gewesen wäre. Aber letztlich war es auch gleichgültig. Das Letzte, woran ich mich von jenem 9. September 1985 noch erinnern kann, ist das Frühstück, zu dem ich einen Bagel aß. Für meine Psyche endet der Tag unmittelbar nach dem Früh-stück. Das Nächste, woran ich mich dann wieder erinnere, ist, wie ich in den frühen Morgenstunden des 10. Septembers im Krankenhaus wieder aufwachte.

Und jetzt, an diesem Morgen, als mir klar wurde, dass ich schwanger war, wurde mein erstaunlicher Körper, der sich

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so heldenhaft bemüht hatte, mich von Bildern abzuschir-men, die ich nicht noch einmal durchleben sollte, offenbar zum Verräter.

Während ich dort auf dem kühlen Fliesenboden lag und darauf wartete, dass meine Welt aufhören würde, sich zu drehen, war mir überdeutlich bewusst, dass mein Körper gerade dabei war, in mir emsig und unablässig Zelle für Zelle zu bilden und einen Menschen in der Dunkelheit mei-nes Inne ren heranwachsen zu lassen. Mein wundervolles Gehirn, das vor einem Monat zunächst den Versuch, mich zu erwürgen, überlebt hatte und dann auch noch mein seeli-sches Gleichgewicht durch eine selektive Amnesie schützte, ermöglichte ironischerweise dieses Wachstum von Leben in meinem Leib überhaupt.

Ich war noch in der Highschool, als ich zum ersten Mal etwas von den autonomen Systemen des Körpers hörte. Ich fand die Erkenntnis faszinierend, dass wir nicht bewusst wahr-nehmen, wenn sich die Größe von Blutgefäßen verändert, un-ser Herz schneller schlägt oder sich die Pupillen weiten. Ich habe in der Highschool Griechisch gelernt und weiß deshalb, dass autonom „selbstständig, sich selbst regulierend“ bedeu-tet. Und jetzt erfuhr ich im Alter von sechsunddreißig Jahren auf dem Badezimmerfußboden liegend, was das eigentlich konkret bedeutete: Ich hatte auf all die Entwicklungen in meinem Körper keinen Einfluss, und deshalb trug auch mein innerer Aufruhr an diesem Morgen kein bisschen dazu bei, dass der geheimnisvolle Entstehungsprozess in mir abgebro-chen wurde. Ich erhob mich – ein für alle Mal verändert.

Obwohl ich seelisch und körperlich völlig aufgelöst war, wusste ich instinktiv, dass ich aufstehen und dafür sorgen musste, dass ich einigermaßen vorzeigbar war. In ein paar Minuten würde Becky, eine gute Freundin und Frau unse-res Pastors, kommen, um die Kinder abzuholen und in die Schule zu bringen. Früher war das meine Aufgabe gewesen, aber seit dem Überfall hatte sie es übernommen.

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Katie und Spencer kamen nach oben, um sich von mir zu verabschieden, und ich wollte auf keinen Fall, dass sie sich meinetwegen Sorgen machten. Sie machten sich ohnehin schon so viele Sorgen, dass es für ihr ganzes Leben reichen würde.

Ich stützte mich an dem marmornen Waschtisch ab, als mir plötzlich erneut übel wurde. Ich drehte den Wasserhahn auf, spritzte mir Wasser ins Gesicht und blickte dann in den Spiegel, um festzustellen, ob ich es schaffen würde, mich ohne Zwischenfälle und möglichst normal von den Kindern zu verabschieden. Meine Augen waren rot und geschwollen und mein Gesicht aschfahl. Die Schwellung an meinem Hals war zwar schon lange wieder abgeklungen, aber die Bluter-güsse, die wie eine Halskette um meinen Hals lagen, hatten immer noch einen kranken, gelblichen Schimmer.

Ich sah schrecklich aus. Ich schloss die Tür, klappte den Toilettendeckel herunter,

setzte mich darauf und hielt mir ein nasses Handtuch vors Gesicht. Ich würde mich bei geschlossener Tür von den Kin-dern verabschieden, denn ich fürchtete, ich würde in Tränen ausbrechen, wenn ich sie sähe. Und Tränen hatten wir in letzter Zeit wirklich genug gehabt.

Dan konnte ich jedoch nichts vormachen. Er würde niemals aus dem Haus gehen, ohne sich zu vergewissern, dass alles in Ordnung war und er beruhigt gehen konnte. Er hatte erst in der Woche zuvor wieder angefangen, normal, also ganztags, zu arbeiten. Dan war Tierarzt in einer Gemeinschaftspraxis in Minneapolis. Seine beiden Partner waren während all der Zeit sehr großzügig gewesen, indem sie ihm viel Arbeit abge-nommen und so dafür gesorgt hatten, dass er sich einige Tage freinehmen konnte. Doch Dan war der beste Kleintierchirurg von den dreien, und er hatte in der Zeit, in der er sich um mich gekümmert hatte, in der Praxis wirklich gefehlt. Auch er würde gleich nach oben kommen, um sich zu verabschieden. Aber daran wollte ich jetzt noch nicht denken.

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Kurz nachdem ich die Badezimmertür geschlossen hatte, vernahm ich Schritte. Spencer kam als Erster.

„Mama?“, rief er. „Ich bin im Bad, mein Schatz“, antwortete ich so munter

wie möglich. „Kann ich dich nachher drücken und dir einen Kuss geben? Ich hab heute irgendwie Bauchweh.“

„Okay“, entgegnete er und trollte sich. Katie musste direkt an der Schlafzimmertür gestanden

haben. „Pass doch auf, Spencer“, sagte sie ungehalten. „Das ist heiß.“

„Na, dann stell dich doch woandershin …“, hörte ich ihn erwidern und merkte, wie seine Stimme mit jedem Wort leiser wurde, während er sich von der Tür entfernte.

„Mama, ich hab dir eine Tasse Kaffee gemacht“, teilte Katie mir mit und wartete dann.

„Danke, Schätzchen“, brachte ich heraus. „Kannst du ihn bitte auf meinen Nachttisch stellen? Ich trinke ihn dann gleich, wenn ich hier fertig bin. Ich fühle mich nicht so be-sonders.“

Trotz meiner gespielten Munterkeit war sie offenbar alar-miert. „Soll ich Papa holen?“, fragte sie und in ihrer Stimme schwangen Angst und Sorge mit.

„Ach, das geht sicher gleich wieder“, log ich. „Bis heute Nachmittag dann, ja? Dann kannst du mir erzählen, wie dein Tag war.“

Sie schwieg kurz. „Okay, Mama“, meinte sie dann. „Ich hab dich lieb.“

Das war das erste Mal überhaupt, dass sie diese Worte als Erste und von sich aus sagte.

„Ich hab dich auch lieb.“ Ich habe keine Ahnung, woher ich die Kraft nahm, diese

Worte herauszubringen.

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Es hätte sicher niemand verstanden, also erzählte ich nie-mandem – nicht einmal Dan – davon, dass ein winzig kleiner Teil von mir auch aufgeregt war bei dem Gedanken, schwan-ger zu sein. Das mag makaber klingen, aber ich wusste, dass dieser kleine Funke von Freude ein Relikt aus den Zeiten war, in denen Dan und ich uns sehnlich Kinder gewünscht hatten und beinahe daran verzweifelten, dass wir keine be-kamen – jedenfalls nicht mehr als eins.

Ich lernte Dan 1970 während meines Abschlussjahres an der Universität von Minnesota kennen. Er machte gerade seinen Abschluss in Tiermedizin und lernte immer bis spät in die Nacht in einer der kleinen Lesekabinen in der Univer-sitätsbibliothek – so wie ich. Wir waren beide nicht darauf aus, uns zu verlieben. Ich hatte gerade mit einem Mann Schluss gemacht, in den ich große Hoffnungen gesetzt hatte, die sich allerdings als unberechtigt erwiesen hatten, und Dan war völlig von seiner Doktorarbeit und dem Abschluss sei-nes praktischen Jahres mit Beschlag belegt.

Ich saß ihm also in der Bibliothek gegenüber und ließ aus Versehen meinen Stift fallen, der wiederum seinen Schuh traf. Er bückte sich, hob den Stift auf und gab ihn mir zu-rück. So einfach war das. Wir fingen an, uns zu unterhalten, und stellten fest, dass wir zu derselben Gemeinde gehörten. Und wir hatten auch noch andere Gemeinsamkeiten. Wir liebten beide klassische Musik, italienisches Essen, Gewitter und die Farbe Blau. Wir lachten über die Dinge, über die wir nicht einer Meinung waren, wie beispielsweise Sportteams, Bestsellerautoren und Autos.

Als die Bibliothek schloss, gingen wir zusammen in ein Café, das wir Stunden später als gute Freunde wieder verließen. Innerhalb eines Jahres waren wir dann verheiratet, und ich un-terrichtete Literatur an der Highschool, während er zusammen mit zwei Studienkollegen eine Tierarztpraxis eröffnete.

Als wir etwa ein Jahr verheiratet waren und beschlossen hatten, in Minneapolis zu bleiben, fühlten wir uns beide be-

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reit, eine Familie zu gründen. Rückblickend denke ich, dass es eigentlich gar nicht so lange dauerte, bis ich schwanger wurde, aber damals kam es mir schon unendlich lang und schwer vor, es ein ganzes Jahr ohne Erfolg zu versuchen. Mein Zyklus war sehr unregelmäßig, und deshalb war auch immer schwer abzuschätzen, wann ich einen Eisprung hatte. Sogar mein Gynäkologe meinte, mein Fall sei ausgesprochen schwierig. Als ich dann schließlich mit Katie schwanger wurde, kam es ungefähr in der Mitte der Schwangerschaft zu Komplikationen, und ich musste bis eine Woche vor dem errechneten Geburtstermin das Bett hüten, weil die Plazenta zu tief lag. Gegen Ende des letzten Schwangerschaftsdrittels schob sich die Plazenta dann aber doch noch weiter nach oben, dorthin, wo sie eigentlich auch hingehörte, und Ka-trina Noelle wurde am 21. Dezember 1973 ohne Komplika-tionen geboren.

Als Katie ein dreiviertel Jahr alt war, begann ich wieder zu unterrichten, allerdings nur einige Stunden in der Wo-che. Außerdem beschlossen Dan und ich, auf Verhütung zu verzichten, weil es so lange gedauert hatte, bis ich mit Katie schwanger geworden war. Doch im Juli 1976, als das ganze Land begeistert den 200. Geburtstag der USA feierte, erlitt ich aufgrund einer Schwangerschaftsvergiftung in der fünfzehnten Woche eine Fehlgeburt. Es war ein kleiner Jun ge gewesen. 1977 hatte ich eine weitere Fehlgeburt, diesmal in der neunzehnten Schwangerschaftswoche. Es war ein kleines Mädchen, dem wir den Namen Sarah gaben – einen Namen, den ich immer noch schön finde und den ich deshalb auch hin und wieder einfach vor mich hinflüstere.

Als ich dann im darauffolgenden Jahr mit Spencer schwan-ger wurde, beschlossen Dan und ich, dass er sich sterilisieren lassen würde, egal, wie die Schwangerschaft verliefe. Wir wünschten uns dieses Kind so sehr, aber keiner von uns wäre emotional mit dem Tod eines weiteren Kindes fertig geworden. Im Gebet befahlen wir das Kind Gott an, so wie

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wir es auch bei den anderen getan hatten, und dann zog ich nach unten ins Wohnzimmer und lebte die darauffolgenden sieben Monate buchstäblich auf dem Sofa, nachdem ich mei-nen Job aufgegeben hatte. Die vorangegangenen Fehlgebur-ten hatten zu Vernarbungen der Gebärmutter geführt, was wiederum das Risiko erhöhte, dass die Plazenta falsch lag. Kurz nach dem Beginn des achten Schwangerschaftsmonats bekam ich dann Blutungen. Wir rasten ins Krankenhaus, wo Spencer per Kaiserschnitt entbunden wurde. Er war winzig, aber gesund.

Einen Monat später ließ Dan sich dann sterilisieren, und wir empfanden beide eine seltsame Erleichterung darüber, dass wir nie wieder eine schwierige Schwangerschaft oder monatelanges Hoffen und Bangen und dann zerschlagene Hoffnung würden durchmachen müssen. Als Spencer ein Jahr alt war, kehrte ich wieder in meinen Beruf zurück –diesmal mit einer vollen Stelle als Englischlehrerin. Der in-nere Friede darüber, dass unsere Familie jetzt komplett war, hatte uns durch die folgenden sechseinhalb Jahre getragen, bis er sich an diesem Morgen, an dem ich erkannte, dass das Kind, das ich in mir trug, unmöglich von Dan sein konnte, jäh verflüchtigte.

Ich wusste, dass Dan die Treppe heraufkommen würde, sobald die Kinder weg waren. Während ich darauf wartete, wiederholte sich ein Gedanke im Rhythmus meines Herz-schlags: Es ist nicht Dans Kind … Es ist nicht Dans Kind … Es ist nicht Dans Kind. Ich hatte den Eindruck, in Schuldge-fühlen zu ersticken, so als wäre ich an allem schuld.

Ich hätte am liebsten laut herausgeschrien, dass es ja gar nicht mein Kind sei, aber das war es nun mal doch. Es war mein Kind. Das war das Allerschlimmste daran. Genauso wie Katie und Spencer aus einem winzigen Teil von mir ent-standen waren, galt das auch für dieses Kind. Ich empfand widerstreitende Gefühle der Zuneigung für es, obwohl ich erst seit etwa einer Viertelstunde wusste, dass es da war.

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In den darauffolgenden Tagen und Wochen würden mir eine ganze Reihe von Personen raten, die Schwangerschaft lieber abzubrechen. Aber diese Möglichkeit zog ich nicht einmal in Erwägung. Ich war ein Vergewaltigungsopfer, und natürlich war mir auch bewusst, dass meine Schwanger-schaften immer schwierig und kompliziert gewesen waren, aber ich hätte niemals das Leben eines Kindes, das in mir wuchs, von mir aus beenden können. Und das hatte nichts mit Politik oder irgendwelchen gesellschaftlichen Maßstä-ben zu tun. Es hatte mit mir zu tun und mit dem, was da in mir war – ein winziger Mensch mit einem schlagenden Herzen. Ich konnte es einfach nicht. Ich hatte mich so sehr nach Kindern gesehnt, hatte ungeborene Kinder geliebt und wieder verloren, und weil ich ziemlich sicher war, dass ich auch diesmal wieder eine Fehlgeburt erleiden würde, konnte ich mir einreden, dass es eigentlich auch gleichgültig war.

Ich hörte, wie die Haustür aufging und Dan sich von Ka-tie und Spencer verabschiedete. Dann wurde die Tür wieder geschlossen, und ich wusste, dass er jetzt zur Treppe ging und zu mir kam.

Bitte hilf mir, es ihm zu sagen, betete ich. Während die wenigen Augenblicke, die mir wie eine

Ewig keit vorkamen, vorübergingen, redete ich mir immer wieder ein, dass ich dieses Kind genauso verlieren würde wie die anderen auch. Aber seltsamerweise war unter dieser Gewissheit ein ganz winziges Körnchen Hoffnung, das mir Angst machte, weil es zu unmöglich schien, um es auch nur in Betracht zu ziehen. Es machte mir Angst, dass ich ganz tief in meinem Innern dieses Kind nicht verlieren wollte. Ich wünschte mir schon jetzt, dass dieses Kind leben würde.