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1 Einstieg © JOACHIM HERZ STIFTUNG HOMO OECONOMICUS – ZEIT FÜR DEN ABSCHIED? Der Homo oeconomicus verkörpert die Grundannahmen der klassischen Wirtschaftstheorie: Die Menschen handeln rational, sie maximieren ihren Nutzen. Lassen Sie sich bei Ihren Entscheidungen immer von rationalen Erwägungen leiten? Mithilfe verhaltensökonomischer Experimente versucht man, die Grundannahmen des Homo oecono- micus-Modells genauer zu überprüfen. Als besonders aufschlussreich haben sich sogenannte Verteilungsspiele erwiesen. Zu dieser Kategorie gehört das Ultimatumspiel. Beim Ultimatumspiel erhält ein Spieler einen Geldbetrag und muss davon dem Mitspieler etwas abgeben. Er stellt damit dem Mitspieler ein Ultimatum: Dieser kann nur annehmen oder ablehnen – im letzteren Fall wird das Geld vom Spielleiter wieder komplett eingezogen. Was denken Sie, wird passieren? Müssen wir uns vielleicht vom Modell des Homo oeconomicus verabschieden? ÜBERBLICK ÜBER DIE UNTERRICHTSEINHEIT THEMENBEREICH Grundannahmen des ökonomischen Denkens Ökonomische Entscheidungsmodelle VORWISSEN Knappheitsprinzip, Opportunitätskosten, Kosten-Nutzen-Prinzip, Marginalanalyse, ökonomisches Verhaltensmodell ZEITBEDARF 2-3 Unterrichtsstunden METHODEN Verhaltensökonomisches Experiment, Fishbowl-Diskussion KOMPETENZEN Die Schülerinnen und Schüler … erläutern das Modell des Homo oeconomicus und konkurrierende Modelle. erklären die Kritik des Ultimatumspiels am Modell des Homo oeconomicus. beurteilen die Folgen für die ökonomische Theoriebildung. SCHLAGWORTE Homo oeconomicus, Ultimatumspiel, Diktatorspiel, Verteilungsspiele, Fairness, Neid, Homo reciprocans, Modellbildung, Rationalität(sbegriff) AUTOR Dr. Stephan Podes PRODUKTON C.C. Buchner Verlag

980010 Modul Homo oeconomicus Inhalt - teacheconomy.de · homo oeconomicus – zeit fÜr den abschied? Der Homo oeconomicus verkörpert die Grundannahmen der klassischen Wirtschaftstheorie:

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Einstieg

© JOACHIM HERZ STIFTUNG

HOMO OECONOMICUS – ZEIT FÜR DEN ABSCHIED?

Der Homo oeconomicus verkörpert die Grundannahmen der klassischen Wirtschaftstheorie: Die

Menschen handeln rational, sie maximieren ihren Nutzen.

Lassen Sie sich bei Ihren Entscheidungen immer von rationalen Erwägungen leiten? Mithilfe

verhaltensökonomischer Experimente versucht man, die Grundannahmen des Homo oecono-

micus-Modells genauer zu überprüfen. Als besonders aufschlussreich haben sich sogenannte

Verteilungsspiele erwiesen. Zu dieser Kategorie gehört das Ultimatumspiel.

Beim Ultimatumspiel erhält ein Spieler einen Geldbetrag und muss davon dem Mitspieler

etwas abgeben. Er stellt damit dem Mitspieler ein Ultimatum: Dieser kann nur annehmen oder

ablehnen – im letzteren Fall wird das Geld vom Spielleiter wieder komplett eingezogen.

Was denken Sie, wird passieren? Müssen wir uns vielleicht vom Modell des Homo oeconomicus

verabschieden?

ÜBERBLICK ÜBER DIE UNTERRICHTSEINHEIT

THEMENBEREICH Grundannahmen des ökonomischen Denkens � Ökonomische Entscheidungsmodelle

VORWISSEN Knappheitsprinzip, Opportunitätskosten, Kosten-Nutzen-Prinzip, Marginalanalyse,

ökonomisches Verhaltensmodell

ZEITBEDARF 2-3 Unterrichtsstunden

METHODEN Verhaltensökonomisches Experiment, Fishbowl-Diskussion

KOMPETENZEN Die Schülerinnen und Schüler …

• erläutern das Modell des Homo oeconomicus und konkurrierende Modelle.

• erklären die Kritik des Ultimatumspiels am Modell des Homo oeconomicus.

• beurteilen die Folgen für die ökonomische Theoriebildung.

SCHLAGWORTE Homo oeconomicus, Ultimatumspiel, Diktatorspiel, Verteilungsspiele, Fairness, Neid,

Homo reciprocans, Modellbildung, Rationalität(sbegriff)

AUTOR Dr. Stephan Podes

PRODUKTON C.C. Buchner Verlag

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Homo oeconomicus – Zeit für den Abschied?

© JOACHIM HERZ STIFTUNG

DAS MODELL DES HOMO OECONOMICUS UND SEINE GRENZEN

Das Modell des Homo oeconomicus ist ohne Zweifel nach wie vor das herrschende Paradigma

der Ökonomie an den Universitäten (im Sinne von Thomas S. Kuhn). Die klassischen Theorien der

Wirtschaftswissenschaften gehen davon aus, dass der Mensch rational und egoistisch ist und

für sich das Beste will. Das mag unter anderem damit zusammenhängen, dass sich die ökonomi-

sche Forschung aus methodischen Gründen bei der Betrachtung des ökonomischen Verhaltens

eher den Restriktionen als den Präferenzen widmet. Öffnet man nämlich die Präferenzen, d. h.

die Wünsche, Motive, Einstellungen und Ziele des Handelnden, über die wenigen robusten

Annahmen des rationalen Nutzenmaximierers hinaus und verwendet eine sehr breite Operatio-

nalisierung von Rationalität hin in Richtung der Verfolgung allgemeiner Ziele, entsteht das

Problem einer gewissen Beliebigkeit. Rationalität als striktes Eigeninteresse verstanden ermög-

licht klare und damit gut überprüfbare Voraussagen, die dann auch falsch sein können. Rationali-

tät im Sinne der Verfolgung von anderen Zielen als des eigenen Wohlergehens kann dagegen

(fast) alles erklären. Ökonomen haben sich immer wohler bei der strengeren Auslegung gefühlt

und führen die Handlungsmöglichkeiten des Individuums auf beobachtbare Änderungen der

Restriktionen, d. h. der Handlungsbeschränkungen und Anreizstrukturen, zurück, z. B. in Form

von Preisen.

Dieses Verhaltensmodell des perfekten Nutzenmaximierers hat seit jeher Kritik auf sich

gezogen. In diesem Zusammenhang sind aus der jüngeren Zeit vor allem verhaltensökonomische

Forschungen zu nennen, die sich unter anderem des Experiments im Labor bedienen. Sie können

zeigen, dass in vielen Einzelheiten das Modell des Homo oeconomicus nicht dem tatsächlichen

menschlichen Verhalten gerecht wird. Relativ bekannt ist zum Beispiel der sogenannte Besitztums-

effekt (endowment effect): Der Preis, den ein Mensch für ein Gut verlangt oder zahlen will,

hängt auch davon ab, ob sich dieses Gut in seinem Besitz befindet oder nicht. In der klassischen

ökonomischen Theorie dagegen ist der Wert eines Objektes für das einzelne Wirtschaftssubjekt

unabhängig vom Besitz dieses Gutes.

Diese neue Sicht der Ökonomie auf den Menschen hat breite Anerkennung gefunden, wie zum

Beispiel 2002 die Verleihung des Wirtschaftsnobelpreises an Vernon L. Smith und Daniel

Kahneman oder 2005 des Gottfried-Wilhelm-Leibniz-Preises an Axel Ockenfels belegen. Ein

Alternativ modell zum Homo oeconomicus ist zum Beispiel der homo reciprocans (z. B. Armin

Falk und Ernst Fehr).

Aktuell berufen sich auch die Kräfte, die für eine Pluralisierung der ökonomischen Ansätze

plädieren, wie zum Beispiel die „Initiative für eine bessere ökonomische Bildung“, auf die Kritik

am Homo oeconomicus-Modell.

Vor allem aber genießen die Homo oeconomicus-kritischen Stimmen die Aufmerksamkeit der

publizistischen Öffentlichkeit: Wolfang Uchatius übertitelt seinen Beitrag vom 31. Mai 2000 in

DIE ZEIT mit „Der Mensch, kein Egoist“, sein Kollege Uwe Jean Heuser seinen Beitrag vom

17. Oktober 2002 ebendort mit „Die Revolution hat begonnen“ und das Handelsblatt zählt 2012

unter dem Schlagwort „Ökonomie in der Krise“ den Homo oeconomicus zu den „größten

Irrtümer[n] der Volkswirtschaftslehre“.

Insofern trägt dieses Modul dem Kontroversitätsgebot des Beutelsbacher Konsenses in besonde-

rer Weise Rechnung.

Aber noch einmal: Als theoretische Vereinfachung hat das Modell des Homo oeconomicus mit

der Annahme von einem selbstinteressierten, vorteilsorientierten menschlichen Verhalten unter

Knappheitsbedingungen gute Dienste geleistet und in der Bilanzierung gilt, was Hanno Beck in

seinem Lehrbuch „Behavioral Economics“ 2014 zusammenfasst:

Sachanalyse

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Homo oeconomicus – Zeit für den Abschied?

© JOACHIM HERZ STIFTUNG

„Im Gegensatz zur Rationalitätsannahme der Ökonomen sind die breitgefächerten Ideen der

Behavioral Economics noch weit davon entfernt, ein geschlossenes Theoriegebäude zu präsen-

tieren. […] Fasst man diese Befunde zusammen, so lässt sich mit aller gebotenen Vorsicht

konstatieren, dass die Ideen der Behavioral Economics nicht das Modell funktionsfähiger und

wohlfahrtsmaximierender Märkte diskreditieren [...]. Auch nach mehr als 40 Jahren Forschung

der Behavioral Economics haben wir noch keine Veranlassung, die Idee des vernunftbegabten

Menschen über Bord zu werfen – wir müssen sie vermutlich nur ein wenig adjustieren. Bis dahin

wird es aber noch ein langer Forschungsweg sein.“ (S. 395, 400 und 404)

Sachanalyse

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Homo oeconomicus – Zeit für den Abschied?

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Zeit Phase Inhalte Materialien Tipps / Hinweise

1. Unterrichtsstunde: Experiment Ultimatumspiel

Einstieg Problemaufriss: Einminuten-Sequenz „Griff ins Portemonnaie – Präsentation eines Geldscheins – Hinweis auf die Frage der Vertei-lung – Ankündigung, dass es dazu gleich ein Spiel geben wird.“

Geldschein Hinführung auf das Problem der Verteilung

Der Unterricht kann auch sofort mit der Durchführung des Ultimatumspiel beginnen.

20' Erarbeitung Durchführen des Ultimatumspiels

M1 Spielanleitung für den Spielleiter und Rollenkarten

Methode: Experiment

Spielvariationen: siehe Lösungsteil

Die Rollenkarten können auch für alle SuS vervielfältigt / laminiert werden.

10' Ergebnissicherung Auswertung Muster zur Auswertung und Darstellung der Ergebnisse: siehe Lösungsteil

15‘ Reflexion und Ergebnissicherung

Genaue Beschreibung dessen, was im Spiel passiert ist und Konfrontation mit dem Modell des Homo oeconomicus

Tafelbild (siehe Lösungsteil)

2. Unterrichtsstunde: Verallgemeinerung

20‘ Erarbeitung Vorbereitung auf die Fishbowl-Diskussion mit der Fragestellung: „Abschied vom Homo oeconomicus?“

M2a/b und M 3a/b Quellenarbeit mit kontroversen Materialien

Arbeitsteilige Einzelarbeit

Materialien am besten gruppieren zu 2a/b versus 3a/b

15' Auswertungs-gespräch / Problematisierung

Durchführung der Fishbowl-Diskussion

Methode: Fishbowl-Diskussion

Auch an dieser Stelle wäre das zusammenfassende Tafelbild geeignet (s. Lösungsteil)

10‘ Ergebnissicherung Visualisierung des Diskussionsstandes an Tafel

Unterrichtsgespräch oder Lehrervortrag

3. Unterrichtsstunde: Vertiefung (optional)

30‘ Erarbeitung Radiobeitrag „Der teilende Mensch“ mit Beobachtungsauf-trägen

Hörbeitrag: Der teilende Mensch

Kann auch als Hausaufgabe aufgegeben werden zur Wiederholung und Vertiefung der Thematik

15‘ Auswertung Raum für offene Fragen der SuS

Unterrichtsgespräch

Unterrichtsverlauf

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Materialien

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Homo oeconomicus – Zeit für den Abschied?

M1 Ultimatumspiel: Spielanleitung für die Spielleitung

Jeder Schüler / jede Schülerin nimmt zuerst die Rolle von Spieler A ein und entscheidet sich laut Aufgabenblatt für

eine von elf festgelegten Verteilungen von 1.000 (fiktiven) Euro. In der zweiten Runde findet er / sie sich in der Rolle

von B und entscheidet, welchen der elf Verteilungen er / sie zustimmen würde beziehungsweise welche er / sie

ablehnen würde. Das Ergebnis lässt sich nach dem Muster der Abbildungen darstellen und analysieren.

Rollenkarten

Rollenkarte Spieler A

Spielbeschreibung

Ein Betrag von 1.000 (fiktiven) Euro soll unter zwei Personen aufgeteilt werden. Spieler A muss Spieler B ein Angebot

machen, wie viel letzterer erhalten soll. Spieler B kann dem Angebot zustimmen oder es ablehnen. Wenn Spieler B

zustimmt, wird das Geld dem Vorschlag gemäß aufgeteilt. Lehnt er jedoch ab, so gehen beide leer aus.

Die Regeln sind sehr streng: Beide Personen dürfen nicht miteinander kommunizieren, sodass Feilschen unmöglich

ist. Spieler A stellt B ein Ultimatum. Die Summe verschwindet, wenn sie nicht beim ersten Versuch aufgeteilt wird,

und das Spiel ist nicht wiederholbar.

Rollenkarte Spieler B

Spielbeschreibung

Ein Betrag von 1.000 (fiktiven) Euro soll unter zwei Personen aufgeteilt werden. Spieler A muss Spieler B ein Angebot

machen, wie viel letzterer erhalten soll. Spieler B kann dem Angebot zustimmen oder es ablehnen. Wenn Spieler B

zustimmt, wird das Geld dem Vorschlag gemäß aufgeteilt. Lehnt er jedoch ab, so gehen beide leer aus.

Die Regeln sind sehr streng: Beide Personen dürfen nicht miteinander kommunizieren, sodass Feilschen unmöglich

ist. Spieler A stellt B ein Ultimatum. Die Summe verschwindet, wenn sie nicht beim ersten Versuch aufgeteilt wird,

und das Spiel ist nicht wiederholbar.

AUFGABE

Sie sind in der Rolle von Spieler A: Entscheiden Sie sich für eine der folgenden elf Verteilungen (die Auszah-

lung an Spieler A ist zuerst genannt): 1.000:0 / 900:100 / 800:200 / 700:300 / 600:400 / 500:500 / 400:600 / 30

0:700 / 200:800 / 100:900 / 0:1.000

AUFGABE

Sie sind in der Rolle von Spieler B: Entscheiden Sie sich für eine der folgenden elf Verteilungen

(die Auszahlung an Spieler A ist zuerst genannt):

1.000:0 / 900:100 / 800:200 / 700:300 / 600:400 / 500:500 / 400:600 / 300:700 / 200:800 / 100:900 / 0:1.000

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Materialien

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Homo oeconomicus – Zeit für den Abschied?

M2a So schlau wie das Trompetentierchen

Das blaue Trompetentierchen (Stentor Coeroleus),

so darf man vermuten, ist ein eher schlichter Gesel-

le, es hat beinahe nichts, was man als Gehirn oder

Nervensystem identifizieren könnte. Dennoch ist

das Verhalten dieses Tierchens bemerkenswert rati-

onal: Stellt man es vor die Wahl zwischen billigem

und teuren Futter, wobei der Preis des Futters sich

über die Mühe bestimmt, welche das Tier aufwen-

den muss, um an das Futter zu gelangen, so achtet

es auf den Preis des Futters. Ist sein bevorzugtes

Futter teuer, gibt es sich mit dem billigen, zweitklas-

sigen Futter zufrieden, wird das bevorzugte Menü

billiger, so spuckt es das bereits verzehrte zweit-

klassige Futter aus und wendet sich der günstiger

gewordenen Lieblingsspeise zu. Ähnliche Versuche

haben Ökonomen und Biologen mit vielen Tieren –

Tauben, Ratten, Schlangen – angestellt, mit stets

ähnlichen Ergebnissen: Tiere verhalten sich, wenn

es um Futter geht, bemerkenswert rational, als hät-

ten sie die Einführung in die VWL gelesen, speziell

das Kapitel „Konsumentenverhalten“.

Während Forscher also bei Tieren Hinweise auf

rationales Verhalten suchen, dreht sich die Debatte

bei Menschen eher darum, dass sie irrational sind –

die Annahme des Homo Oeconomicus gerät vor al-

lem in der Presse immer mehr unter Beschuss. Diese

publizistische Kritik am Homo Oeconomicus leidet

oft an einem falschen Wissenschaftsverständnis –

ohne Kunstgriffe wie den Homo Oeconomicus ist

keine Wissenschaft, keine Modellbildung möglich.

So funktioniert Wissenschaft: Man macht vereinfa-

chende Annahmen, eliminiert Umwelteinflüsse,

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beispielsweise durch die Schaffung von Labor-

bedingungen, und entwickelt auf der Basis dieser

Annahmen ein Modell. Dieses Modell erklärt dann

einen Ausschnitt aus der Realität, gerade deswegen,

weil es die Realität reduziert. Kein Modell hat den

Anspruch die gesamte Welt erklären zu können –

das wäre die Landkarte im Maßstab 1:1. Der

Homo Oeconomicus ist nicht das Weltbild der Öko-

nomen, er ist ihr Versuch, gedankliche Laborbedin-

gungen herzustellen, unter denen man neue Er-

kenntnisse über die Welt gewinnt. Wer diese

Annahme wegen ihrer Realitätsferne kritisiert,

verfehlt den entscheidenden wissenschaftstheore-

tischen Punkt dieses Modells, er müsste dann auch

Physiker dafür kritisieren, dass sie Versuche im

Vakuum vornehmen statt unter normalen

Bedingungen.

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Hanno Beck, Behavioral Economics, Springer Gabler, Wiesbaden 2014, S. 6 f.

© Getty Images / NNehring

Das Trompetentierchen ist ein Wimpertierchen mit trompetenartig erweitertem Mundfeld und schlankem, am Substrat verankertem Hinterkörper.

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Homo oeconomicus – Zeit für den Abschied?

M2b Der Verhaltensökonom Matthias Sutter im Interview: „Wir sind keine kalten Nutzenmaximierer.“

Herr Sutter, Sie beschäfti-

gen sich als Wirtschafts-

wissenschaftler mit der

Frage, wie wir Entscheidun-

gen treffen. Warum?

Die Wirtschaft ist doch nichts

anderes als ein System, das

bestimmt wird von den tägli-

chen Entscheidungen von

Milliarden von Menschen.

Alle diese Menschen lassen

sich dabei in ihren Entschei-

dungen von unterschiedlichs-

ten Anreizen beeinflussen,

wie wir Ökonomen das nen-

nen. Dies können natürlich die Preise von bestimm-

ten Gütern sein: Ist beispielsweise ein neues Auto

gerade besonders billig, entschließe ich mich eher

zum Kauf. Aber auch ganz andere Umstände spielen

bei unseren Entscheidungen eine Rolle: zum Bei-

spiel, wie man selbst im Vergleich zu jemand

anderem dasteht. Oder ob wir ein bestimmtes Ver-

halten als fair betrachten oder nicht.

Da hat die Universität Studenten jahrzehntelang

etwas anderes beigebracht: Wir entscheiden

stets so, dass wir unseren Nutzen maximieren,

hieß es immer.

Ja, der klassische Ansatz hat in der Tat so funktio-

niert und dabei häufig Nutzen mit irgendeiner Form

von Auszahlung gleichgesetzt. Weil sich damit

wunderbar rechnen lässt. Aber dieser Ansatz hält

der Realität nicht stand: Er geht nämlich davon aus,

dass wir in Sekundenbruchteilen alle unsere unter-

schiedlichen Optionen wahrnehmen, sie bewerten

und dann die beste auswählen. Doch wer kennt

schon alle Optionen? Dies ist bereits bei einer ver-

meintlich simplen Entscheidung wie der Wahl eines

neuen Stromanbieters nahezu unmöglich – weil es

einfach so unglaublich viele Anbieter gibt.

Gibt es weitere Einschränkungen?

Aber ja. Selbst viele der uns bekannten Optionen sind

mit großen Unsicherheiten verbunden. Nehmen Sie

nur die Studienwahl: Wer weiß denn schon, was

beispielsweise dabei herauskommt, wenn man Volks-

wirtschaftslehre, Altphilologie oder Theologie

studiert? Uns fehlt ebenjene vollständige Informati-

on, von der viele klassische Ökonomen ganz selbst-

verständlich ausgehen. Nun würden diese zwar ein-

wenden: Es genügt doch, die Wahrscheinlichkeit zu

kennen, mit der ein bestimmtes Ereignis eintritt. Aber

nur weil Joachim Gauck es als Pastor ins Bundespräsi-

dentenamt geschafft hat, lässt sich daraus doch nicht

ableiten, dass dies nun einem bestimmten Prozent-

satz aller Theologie-Studenten gelingen wird.

Bei aller Kritik: Dass Menschen stets das Beste

für sich herausholen wollen, würden Sie aber

nicht bezweifeln, oder?

Dazu haben wir unlängst ein wirklich faszinieren-

des Experiment mit Taxifahrern gemacht. Es fand in

Athen statt – einer Stadt, in der Taxifahrer normal-

erweise mehrere Stunden auf den nächsten Fahr-

gast warten müssen. Das heißt: Jeder Taxifahrer hat

einen hohen Anreiz, aus jeder Fahrt das Maximum

herauszuholen. Aber genau das ist verblüffender-

weise nicht geschehen. Die Mehrheit der Menschen

handelt, so das Ergebnis unserer Forschung, viel fai-

rer als angenommen – sie nutzt einen Informations-

vorsprung viel seltener aus als gedacht.

Wie haben Sie das festgestellt?

Unsere Testpersonen haben sich ein Taxi genom-

men und dann jeweils unterschiedliche Situationen

durchgespielt: Einmal haben sie nur das Fahrtziel

genannt. Ein anderes Mal haben sie den Fahrer zu-

sätzlich darüber informiert, dass sie fremd in der

Stadt seien. Und beim dritten Mal haben sie außer-

dem schon beim Einsteigen um eine Quittung am

Ende der Fahrt gebeten – was ja nichts anderes be-

deutet, als dass ihr Arbeitgeber die Fahrt zahlen

wird. Nun war es in der Tat so, dass mehr Fahrer

kleine Umwege eingebaut haben, wenn sie hörten,

dass der Gast fremd sei. Und ein paar haben zusätz-

lich Gebühren erfunden, als sie wussten, dass ihr

Gast die Rechnung gar nicht selbst bezahlen muss.

Das wirklich Erstaunliche an unserem Experiment

aber war: Fast 70 Prozent der Fahrer sind all diesen

Versuchungen nicht erlegen. Wir sind also keine

kaltherzigen, egoistischen Nutzenmaximierer, son-

dern haben einen Sinn für Fairness.

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© dpa Picture Alliance / Malte Ossowski / Sven Simon

Der österreichische Verhaltensökonom Dr. Matthias Sutter lehrt an der Universität Köln.

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Materialien

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Homo oeconomicus – Zeit für den Abschied?

Was macht Sie so sicher, dass dies nicht nur für

Taxifahrer, sondern im gesamten Berufsleben

gilt?

Auch dazu haben wir Versuche angestellt: Stellen

Sie sich vor, wir beide haben jeder zehn Euro auf

der Hand. Davon kann jeder von uns so viel auf den

Tisch legen, wie er möchte – der Betrag wird dann

um 50 Prozent erhöht und darauf zu gleichen Tei-

len an uns beide verteilt. Wenn jeder alles setzt,

hat am Ende also jeder 15 Euro statt zehn Euro: Das

ist gewissermaßen ein Sinnbild dafür, dass sich

durch Zusammenarbeit ein höherer Wert schaffen

lässt. Das Risiko besteht nun darin, dass man

selbst alles setzt und der andere nichts -, dann hat

der andere 17,50 Euro, und einem selbst bleiben

nur 7,50 Euro. Diese Gefahr ist durchaus gegeben,

da sich die Personen in unseren Versuchen vorher

nicht kennen. Trotzdem ist das Ergebnis erstaun-

lich: Mehr als 50 Prozent der Menschen wählen die

Kooperation. Und zwar ohne zu wissen, ob dies

von der Gegenseite honoriert wird.

Mit Verlaub: Was hat eine solch künstlich

geschaffene Situation denn mit dem echten

Berufsleben zu tun?

Die Bereitschaft zur konditionalen Kooperation, wie

wir das in der Fachsprache nennen, zeigt sich nicht

nur im Experiment, sondern lässt sich meiner festen

Überzeugung nach genauso im Berufsleben beobach-

ten. Auch da sind die Menschen grundsätzlich gewillt

zu kooperieren, wenn – und das ist das spannende Re-

sultat unserer Forschung – sie davon ausgehen kön-

nen, dass die anderen dies auch tun. Im Büroalltag

heißt das: Wenn wir morgens ins Büro kommen und es

sieht so aus, als seien alle schwer beschäftigt, hat dies

einen interessanten Effekt auf die meisten von uns.

Welchen?

Wir wollen dann mitmachen, mitarbeiten, uns

jedenfalls nicht verweigern. Und dazu reicht es eben

aus, dass wir glauben, alle anderen würden viel

arbeiten. Jedem Unternehmen, das Erfolg haben

will, muss also daran gelegen sein, eine solche

Grund stimmung im Büro zu erzeugen.

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Interview: Dennis Kremer, FAZ, 27.2.2015 [Matthias Sutter ist Professor für Verhaltensökonomie an der Universität Köln]

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Homo oeconomicus – Zeit für den Abschied?

Wer Kuriositäten sucht, ist auf der Online-Auktions-

plattform E-Bay richtig: Da wird ein Topf voll Gold

angeboten, das Auto des Papstes, ein ausgespuckter

Kaugummi von Jürgen Klopp oder Grundstücke auf

der Sonne. Ein ökonomisches Kuriosum auf Ebay

sind Amazon-Warengutscheine, die über dem

Nennwert gekauft werden. Eine Suche bringt ver-

störende Resultate: Ein 100-Euro-Gutschein, für

den 115 Euro geboten werden, ein 500-Euro-Gut-

schein, der für 590 Euro gehandelt wird, ein 50-Eu-

ro-Gutschein, für den 59,90 Euro geboten werden –

ökonomischer Irrsinn. Mit Methode?

Dass es sich um Ausnahmen, Versehen oder Akte

der Dummheit handelt, scheint angesichts der Zah-

len ausgeschlossen. Der Ökonom Matthew Jones hat

dieses Phänomen untersucht und kam dabei zum

Ergebnis, dass in 41,1 Prozent dieser Fälle Gutscheine

zu einem Preis gekauft wurden, der über ihrem

Nennwert liegt. Jörn Boehnke von der Universität

Chicago hat das sogar bei mehr als 50 Prozent aller

Fälle festgestellt. Im Schnitt zahlen die Käufer für

diese Gutscheine, die man einen Mausklick weiter

zum Nennwert bekommt, vier Prozent mehr als auf

dem Gutschein angegeben – also 104 Euro. Aber

warum?

Erklärungen wie Betrug oder Geldwäsche scheiden

vermutlich angesichts der Zahl der Fälle aus. Für

Geldwäsche sind es zu wenige Fälle mit zu geringen

Beträgen, für Betrug sind es zu viele Fälle, diese Ma-

sche wäre dank geprellter Kunden schon längst

bekannt. Sind es Scheinverkäufe, um gute Bewer-

tungen zu bekommen? Aber jeder Verkauf auf E-Bay

kostet Gebühren – lohnt sich das?

Eine Erklärung wäre Unachtsamkeit. Unter-

suchungen zu Auktionen auf E-Bay zeigen, dass in

48 Prozent aller Fälle die Gewinner einer Auktion

den gleichen Gegenstand zu einem günstigeren

Preis bekommen hätten – auf E-Bay. Die Kunden

bezahlen zu viel, weil sie nicht ausreichend nach

billigeren Alternativen suchen. Für Amazon-Gut-

scheine ist das wenig plausibel. Jeder weiß, dass er

den gleichen Gutschein einen Mausklick weiter

billiger bekommt. Jones bietet als Erklärung Aukti-

onsfieber an: Man nimmt an einer Auktion teil und

zieht persönliche Genugtuung daraus, sie zu gewin-

nen. Also bietet man zu viel. Dieses Fieber tritt eher

in einem wettbewerblichen Umfeld auf. Das sieht

Jones im Falle der Gutschein-Auktionen gegeben,

hier schlage der Wille zum Sieg die ökonomische

Vernunft. Und es seien Bieter mit geringer Erfah-

rung, die zu viel bieten, was auf Auktionsfieber hin-

deute. Erfahrene Bieter verfallen diesem Fieber

nicht. […]

Boehnke widerspricht […]: Bei insgesamt 230 000

Transaktionen wurde die Hälfte der Gutscheine per

Sofortkauf erworben, ohne Auktion, was Auktions-

fieber […] ausschließt. Zudem seien Käufer, die zu

viel für einen Gutschein bezahlen, durchaus erfah-

ren – gemessen an der Zahl ihrer Transaktionen. […]

Letztlich steht eine Lösung für dieses Rätsel noch

aus.

M3a Warum bloß kaufen Menschen auf Ebay 100-Euro-Gutscheine für 104 Euro?

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Hanno Beck, Irrsinn mit Methode, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 07.02.2016, Nr. 5, S. 24© Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt. Zur Verfügung gestellt vom Frankfurter Allgemeine Archiv

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Homo oeconomicus – Zeit für den Abschied?

Derzeit wird in der etablierten wirtschaftswissen-

schaftlichen Lehre angenommen, dass jeder ein

Homo oeconomicus ist: ein rational handelndes,

selbstbezogenes und vornehmlich auf materielle

Zugewinne ausgerichtetes Individuum. Auf dieser

Basis definieren Lehrbücher die Ökonomie als Wis-

senschaft, die Allokation und Verteilung von Res-

sourcen untersucht. Diese sind dabei immer knapp,

weil Menschen ständig nach mehr streben. Das von

der Ökonomie zu lösende Problem besteht darin, zu

ermitteln, wer angesichts knapper Ressourcen wel-

che Güter und Dienstleistungen produziert und

nachfragt. In einer Marktwirtschaft läuft dieser Ko-

ordinationsprozess über frei gebildete Preise: Was

knapp ist, ist teuer. Wer etwas unbedingt möchte,

zahlt mehr dafür.

Das fundamentale Problem dieses Ansatzes ist, dass

der Homo  oeconomicus falsch abbildet, wie sich

Menschen verhalten. Sie sind eben nicht ausschließ-

lich rational, weil Verhalten vor allem durch Emoti-

onen und Erfahrungen gesteuert wird. Sie sind nicht

nur selbstbezogen, weil auch Fairness, Leidenschaft

und Fürsorge im Menschen verankert sind. Und weil

Präferenzen maßgeblich von den sozialen Gruppen

abhängen, in denen wir uns bewegen. Auch treibt

uns nicht nur Materielles an, sondern persönliche

Beziehungen sind uns wichtig, unsere soziale Ein-

bindung.

Indem die meisten Ökonomen den Homo oecono-

micus verinnerlicht haben, hat unsere Disziplin den

Blick auf das Ziel ökonomischer Aktivität verloren:

Es geht nicht darum, materiell so reich wie möglich

zu werden, sondern unser Wohlergehen muss im

Blickpunkt stehen – also ein viel umfassenderes

Bild des Wohlbefindens. Daher sollte die Wirt-

schaftswissenschaft nicht nur die Allokation und

Verteilung knapper Ressourcen behandeln, sondern

sich mit der materiellen Basis des menschlichen

Wohlergehens befassen. […]

Es gibt inzwischen zahlreiche wissenschaftliche Be-

lege, dass – sobald man den Bereich wirklicher Ar-

mut verlässt – mit dem materiellen Wohlstand nicht

in gleichem Maß das Glück wächst. Zumindest nicht

auf die gesamte Gesellschaft bezogen. Je stärker der

Wohlstand wächst, desto geringer fällt der Zuwachs

an Zufriedenheit aus, weil wir uns schnell an mate-

rielle Standards gewöhnen. Gleichzeitig sorgt ein

materiell motivierter Dauerlauf zum Wachstum für

die bekannten negativen Folgen: die Ausbeutung

natürlicher Ressourcen, Umwelt schäden und Kon-

flikte um materiellen Besitz.

Warum tun wir uns das an? Erstens, weil wir uns an

dieses Schema gewöhnt haben, zweitens, weil es die

anderen um uns herum auch tun, und drittens, weil

wir systematisch überschätzen, wie viel mehr Zu-

friedenheit uns das nächste Auto, Handy oder die

Designer-Handtasche bringt.

Was bringt uns denn wirklich nachhaltig Erfüllung?

Studien aus einer Reihe von Disziplinen – etwa Psy-

chologie, Anthropologie, Soziologie, Neurologie –

haben dazu inzwischen Erkenntnisse geliefert. Über

Zeiten, Länder und Kulturen hinweg sind dafür fol-

gende Faktoren wichtig: durch eigene Aktivität er-

reichte persönliche Erfolge; das Erkennen, Erwei-

tern und Einsetzen unserer persönlichen Stärken;

Selbstbewusstsein und Respekt für andere; erfül-

lende persönliche Beziehungen und ein soziales Zu-

gehörigkeitsgefühl. Wichtig ist zudem, anderen zu

geben und deren Glück zu steigern. […]

Die Wirtschaftswissenschaft sollte, zusätzlich zu

ihrem derzeitigen Fokus, die materielle Basis dieser

Lebenserfahrungen – die Beziehung zwischen die-

sen Erfahrungen und traditionell ökonomischen

Aktivitäten – erforschen. Wenn unser Ziel umfas-

sendes Wohlergehen ist, darf ökonomischer Erfolg

nicht nur am Zuwachs des Bruttoinlandsprodukts

gemessen werden. Diese Forderung hat auch die

Bundeskanzlerin in Lindau erhoben und sie hat da-

mit recht.

Aber hier wird es kompliziert. Denn die genannten

Faktoren des Wohlergehens sind weder durch ein

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M3b Besitz bedeutet nicht alles

© dpa Picture Alliance / Friso Gentsch

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Materialien

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Homo oeconomicus – Zeit für den Abschied?

einzelnes Maß messbar, noch in vergleichbaren

Kennzahlen zu erfassen. […] [U]nser Wohlergehen ist

kein homogenes Gut, das sich einfach messen lässt.

Es hängt zum Beispiel vom sozialen Umfeld ab, in

dem wir uns befinden. Das Toben und Lachen eines

Kindes kann uns erfreuen, in einer anderen Situati-

on stört es uns und weckt unsere Abwehr. Wer hofft,

ein oder zwei neue Kennzahlen können uns künftig

bei ökonomischen Entscheidungen leiten, um das

Wohlergehen zu erhöhen, wird enttäuscht werden.

Um auch das klarzustellen: Es geht nicht darum, den

Sinn von Marktmechanismen generell in Frage zu

stellen. Sie sind nach wie vor das effizienteste Steu-

erungsinstrument für Volkswirtschaften, die poli-

tisch und sozial stabil sind. Aber Ökonomen müssen

klassische Modelle ergänzen, um unsere materiel-

len Bestrebungen im Kontext einer dauerhaft erfül-

lenden Lebensgestaltung zu integrieren.

Wir müssen uns fragen, welche Bereiche unseres Le-

bens durch Marktkräfte bestimmt werden und ob

dies immer sinnvoll ist. Wenn wir im Glauben an

den Homo oeconomicus immer mehr Entscheidun-

gen durch Marktprozesse steuern lassen, könnten

wir andere Motivationen wie Verantwortungsbe-

wusstsein, Mitgefühl und Vertrauen verdrängen, die

uns womöglich mehr Lebenserfüllung bringen

könnten.

Wir können dann Antworten auf ganz praktische

Fragen gewinnen: Ist es sinnvoll, Kinder für gute

Schulnoten mit Geld zu belohnen? Ist es für Länder

zielführend, Einwanderungsrechte zu verkaufen?

Sollten wir militärische Aufgaben von privaten

Firmen erledigen lassen? […]

Mit dem Leitbild des Homo oeconomicus alleine

werden wir als Ökonomen nicht Wege zu nachhalti-

gem Wohlergehen aufzeigen können. Wir brauchen

ergänzende Konzepte, die andere im Menschen

verankerte Triebkräfte wie soziale Einbindung,

Vertrauen und Mitgefühl nutzen. Dazu werden wir

gemeinsam mit anderen Disziplinen forschen

müssen, die sich mit den Grundlagen menschlichen

Verhaltens befassen.

Auch hier sprechen wir nicht von rein theoretischen

Überlegungen, sondern von Fragen, die sich in Poli-

tik übersetzen lassen. Das Kanzleramt richtet gerade

eine Projektgruppe ein, die verhaltensökonomische

Erkenntnisse für politische Entscheidungen nutz-

bar machen soll. Ähnliche Teams gibt es in den USA

und Großbritannien. Das zeigt: Wenn wir Ökonomen

offen sind für neue Ansätze und interdisziplinär for-

schen, werden wir unseren gewaltigen Einfluss auf

die Politik und Gesellschaft besser rechtfertigen

können und zeigen, dass wir alles andere als über-

flüssig sind.

Dennis J. Snower, Süddeutsche Zeitung (sueddeutsche.de), 13. Oktober 2014. [Dennis J. Snower ist Präsident des Instituts für Weltwirtschaft in Kiel]

AUFGABEN

3. Teilen Sie sich in Kleingruppen ein und bearbeiten Sie arbeitsteilig entweder die Materialien M2a / b oder

M3a / b.

4. Bereiten Sie sich mit Hilfe der Materialien auf eine Diskussion zum Thema „Homo oeconomicus – Zeit für

den Abschied?“ vor, indem Sie die Pro- und Kontra-Argumente herausarbeiten.

Anschließend führen Sie eine Fishbowl-Diskussion durch.

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Materialien

© JOACHIM HERZ STIFTUNG

Homo oeconomicus – Zeit für den Abschied?

AUFGABEN

5. a) Auch der Radiobeitrag kommt auf das Ultimatumspiel zu sprechen. Protokollieren Sie, wie viel der

Gesamtsumme (in Prozent) die meisten Anbietenden im Ultimatumspiel an den anderen abgeben und

ab welchem Angebot (wieder in Prozent) die Nehmenden die Angebote ablehnen.

b) Beschreiben Sie, wie sich die Spielregeln des Diktatorspiels von denen des Ultimatumspiels unter-

scheiden.

c) Erläutern Sie, wie sich die Befunde zum Diktatorspiel von denen des Ultimatumspiels unterscheiden.

d) Stellen Sie dar, welche weiteren Differenzierungen der Befunde zum Ultimatumspiel berichtet werden.

e) In dem Beitrag wird auch berichtet, wovon diese unterschiedlichen Verteilungen abhängen. Arbeiten

Sie die Zusammenhänge heraus.

f) Welche Befunde / Experimente haben Sie am meisten beeindruckt und warum. Erläutern Sie.

6. Welche Frage ist für Sie nach wie vor offen? Gibt es eine Variation des Ultimatumspiels, die bei der Lösung

behilflich sein könnte?

Der teilende Mensch

Der Radiobeitrag aus der Sendung des SWR 2 zum Thema „Der teilende Mensch“ widmet sich der Frage, ob der

Mensch von Natur aus rational und egoistisch im Sinne des Homo oeconomicus handelt. Denn in vorzivilisatorischen

Jäger-Sammler-Gesellschaften war es durchaus üblich, zu teilen. Heute dagegen, im Kapitalismus, dominiert ein

individuelles Besitz- und Konkurrenzdenken. Wie viel von dem alten Erbe der Jäger-Sammler-Gesellschaften, von

ihrem natürlichen Bedürfnis zu teilen, steckt noch im Homo sapiens, nachdem sein Ich und sein Eigentum immer

wichtiger geworden sind? Wie lässt es sich reaktivieren? Zahlreiche Experimente, die in diesem Radiobeitrag vorge-

stellt und von Wirtschaftswissenschaftlern erläutert werden, suchen Antworten auf diese Fragen.