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Studienkarten Recht der Sozialen Dienste und Einrichtungen – Prof. Dr. Florian Gerlach – July 22 Prof. Dr. Florian Gerlach Studienkarten Recht der Sozialen Dienste und Einrichtungen Teil I Sozialrecht www.florian-gerlach.net

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Studienkarten Recht der Sozialen Dienste und Einrichtungen – Prof. Dr. Florian Gerlach – Mai 23

Prof. Dr. Florian Gerlach

Studienkarten

Recht der Sozialen Dienste und Einrichtungen

Teil I Sozialrecht

www.florian-gerlach.net

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Prof. Dr. Florian Gerlach

Studienkarten Allgemeine Lehren im Recht für die Soziale Arbeit (Stand: Mai 23)

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Autor:

Prof. Dr. iur. Florian Gerlach, Jahrgang 1964, Hochschullehrer das Recht der Sozialen Arbeit mit dem Schwerpunkt Recht der Sozialwirtschaft am Fachbereich Soziale Arbeit, Bildung und Diakonie der Evangelischen Fachhochschule Rheinland-Westfalen-Lippe in Bochum

Ich habe auf die ausführliche Zitierung weiterführender Literatur in den Studienkarten bewusst verzichtet, um die Lektüre für die Praxis zu vereinfachen. Die Darstellung orientiert sich am gefestigten Bestand derjenigen rechtswissenschaftlichen Auffassungen, mit denen Praktiker/innen in der Sozialen Arbeit konfrontiert werden, also der sog. „herrschenden Meinung“. Damit soll nicht für sie geworben werden. Es soll aber das Wissen vermittelt werden, das man in jedem Fall benötigt, um für die Klienten und ihre Rechte argumentieren zu können, ohne dabei Idealismen aufzusitzen, die sich in der Rechtspraxis der sozialen Arbeit als nicht durchsetzbar erweisen.

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Inhalt:

Studienkarte 1: Aufbau des Kurses

Teil I: Entstehungsgeschichte und Struktur des SGB

Studienkarte 2: Einführung und Überblick über das System der sozialen Sicherung in Deutschland

Studienkarte 3: Die Geschichte der sozialen Sicherung in Deutschland

Studienkarte 4: Aufbau des SGB

Studienkarte 5: Strukturprinzipien der sozialen Sicherung in Deutschland

Teil II: Ausgewählte Sozialleistungen im Überblick

Studienkarte 6: Ausgewählte Sozialleistungen im Überblick - Einführung

Studienkarte 7: Existenzsicherung – SGB II – SGB XII – AsylbLG

Studienkarte 8: Die Berechnung von Grundsicherungsleistungen

Studienkarte 9: Prüfschema zur Berechnung von Grundsicherungsleistungen

Studienkarte 10: Jugendhilfeleistungen im Überblick

Studienkarte 11: Eingliederungshilfeleistungen im Überblick

Studienkarte 12: Ausgewählte Anspruchsgrundlagen zugunsten von Menschen mit Behinderungen

Teil III: Verwaltungsverfahren und Rechtsschutz

Studienkarte 13: Das Verwaltungsverfahren Überblick

Studienkarte 14: Antragstellung und Zuständigkeiten I

Studienkarte 15: Antragstellung und Zuständigkeiten II

Studienkarte 16: Verwaltungsverfahren

Studienkarte 17: Verwaltungsakt – Allgemeines

Studienkarte 18: Verwaltungsakt – Einzelheiten

Studienkarte 19: Das Vorverfahren („Widerspruchsverfahren) im Sozial-/Verwaltungsrecht

Studienkarte 20: Die Klage im Sozialverwaltungsrecht

Studienkarte 21: Das Eilverfahren im Sozialverwaltungsrecht

Studienkarte 22: Die Form von Rechtsbehelfen

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Studienkarte 1: Aufbau des KursesA. ÜberblickDer Kurs Recht der Sozialen Dienste und Einrichtungen vermittelt die für Leitungstätigkeiten notwendigen Rechtskenntnisse im Bereich des Sozialrechtes und des Einrichtungsfinanzierungsrechtes. Beachten Sie bitte, dass mit dem vorliegenden Material das Modul 2 des Studiengangs „Management in sozialwirtschaftlichen und diakonischen Organisationen“ nur zum Teil abgedeckt wird. Dieses Material bezieht sich allein auf die Veranstaltungen LV 1 (Sozialrecht I) und LV 3 (Sozialrecht II). Die Studienkarten sind gegliedert in Teil I des V. Die Teile I – IV werden im Wintersemester, Teil V wird im Sommersemester vorgestellt.

B. Rechtswissen als notwendige Grundlage wirtschaftlicher Tätigkeit in sozialwirtschaftlichen und diakonischen Organisationen

Sozialwirtschaftliche und diakonische Organisationen „verdienen“ ihr Geld mit öffentlichen Mitteln, die ihnen von den Sozialleistungsträgern für die Erbringung bestimmter sozialer Dienstleistungen zur Verfügung gestellt werden. Sie sind damit unmittelbar abhängig von der Zahlung dieser Geldmittel an sie. Die Auszahlung dieser Geldbeträge für die Erbringung bestimmter sozialer Dienstleistungen vollzieht sich auf Grundlage gesetzlicher Regelungen. Anders gesprochen: Die Leistungserbringung durch die freien Träger ist bis in die letzten Feinheiten verrechtlicht. Aus der Perspektive einer sozialwirtschaftlichen oder diakonischen Organisation, also eines Leistungserbringers, kommt es darauf an, diese rechtlichen Grundlagen der Leistungserbringung zu verstehen, weil nur so die Interessen der Organisation sachgerecht wahrgenommen werden können.C. Gegenstände des KursesIn einem ersten Teil wird zunächst auf die Entstehungsgeschichte und Struktur des Sozialgesetzbuches (SGB) eingegangen. Die einzelnen Sozialleistungsgesetze werden überblicksartig vorgestellt. Gleichzeitig werden einzelne Strukturprinzipien erläutert.

In einem zweiten Teil werden ausgewählte Sozialleistungen ebenfalls überblicksartig dargestellt. Denjenigen, die nicht bereits in ihrem grundlegenden Bachelor- oder Diplomstudiengang mit Fragen der Existenzsicherung und der Jugendhilfe befasst waren, rate ich, die hierzu bereitgestellten Studienkarten und Podcasts nachzuvollziehen. Denjenigen, die diesen Stoff bereits durch genommen haben, empfehle ich eine Wiederholung. Das Wissen dieser beiden Kurse wird unterstellt.

Teil III behandelt verfahrensrechtliche Fragen und Fragen des Rechtsschutzes. Das Verfahrensrecht wird von Nichtjuristen oft als langweilig und spröde empfunden. Es regelt, wie, also in welchem Verfahren, vor welcher Behörde, in welcher Form, etc. Ansprüche durchgesetzt werden können und müssen. Es gehört zum ganz elementaren Rüstzeug der Anspruchsdurchsetzung im Sozialverwaltungsrecht. Leitungspersonal in sozialwirtschaftlichen und diakonischen Organisationen muss elementares Wissen über die verfahrensrechtlichen Grundlagen der Anspruchsdurchsetzung haben, erstens weil Rechtsanwälte mit entsprechenden Fachkenntnissen rar sind und zweitens weil bereits im Vorfeld einer juristischen Auseinandersetzungen ein hohes Risiko besteht, auf der verfahrensrechtlichen Ebene Fehler zu machen, die erhebliche finanzielle Folgen haben können.

In Teil IV geht es schließlich um Fragen der Steuerung und Finanzierung von Leistungen im Bereich der Jugendhilfe, Eingliederungshilfe und Pflege. Die Erläuterungen beziehen sich im Wesentlichen auf den Bereich der Jugendhilfe. Die angesprochenen Probleme lassen sich aber auf den Bereich der Eingliederungshilfe nahezu unmittelbar und auf den Bereich der Pflege in wesentlichen Teilen übertragen.D. PrüfungDie Prüfung besteht aus einer Fragen-Klausur, die die Inhalte der Veranstaltungen LV 1 bis LV 5 abdeckt. Ich stelle im Vorfeld eine Vielzahl von Aufgaben zur Verfügung. Aus diesem Fragenpool werden die Prüfungsaufgaben ausgesucht.

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Studienkarte 2: Einführung und Überblick über das System der sozialen Sicherung in Deutschland

Die soziale Absicherung obliegt in der Gesellschaftsordnung der Bundesrepublik sowohl was die notwendigen persönlichen Hilfen, als auch was die materiellen Hilfen angeht, grundsätzlich dem Einzelnen. Es ist deshalb zunächst an ihm, sich notwendige Hilfe zu beschaffen. Der Mehrheit der Bevölkerung gelingt dies, insofern sie sozial integriert ist und ihren Lebensunterhalt aus Erwerbseinkommen und/oder Vermögen bestreiten kann. Selbst diese Bevölkerungsgruppe gerät jedoch in eine Krise, wenn sie in außerordentliche Lebenslagen (Krankheit, Arbeitslosigkeit, Erwerbsunfähigkeit wegen Alters, Behinderung, Pflegebedürftigkeit, etc.) gerät. In aller Regel können dadurch notwendig werdende Hilfen nicht aus laufendem Einkommen finanziert werden. Auch das soziale Umfeld (Familie und andere nahe stehende Personen) kann - in Ermangelung hinreichender Mittel - in aller Regel nicht angemessen auf diese Situationen reagieren. Weil diese Lebenslagen zwar besondere nicht aber unvorhersehbare sind, hat der Gesetzgeber auf sie mit dem System der gesetzlichen Zwangsversicherung in der Sozialversicherung für alle abhängig Beschäftigten reagiert.A. SozialversicherungDie fünf Sparten („Säulen“) der Sozialversicherung sind

die Arbeitslosenversicherung – SGB III,

die Krankenversicherung – SGB V,

die Rentenversicherung – SGB VI,

die Unfallversicherung – SGB VII sowie

die Pflegeversicherung – SGB XI.

Dieses System der Sozialversicherung weist jedoch Lücken auf. Zum einen, weil nicht alle Personen in allen Bereichen der Sozialversicherung sozialversichert sind.

Bsp.: So stellt z.B. das SGB VI (Rentenversicherung) Leistungen zur Rehabilitation behinderter und kranker Menschen zur Verfügung. Um diese Leistungen in Anspruch nehmen zu können, muss der betroffene Hilfesuchende nachweisen, dass er über eine bestimmte Zeit Beiträge eingezahlt hat (sog. Vorversicherungszeiten); darüber hinaus muss er darlegen können, dass durch die Hilfeleistung seine Arbeitsfähigkeit voraussichtlich wieder hergestellt werden wird (sog. positive Rehabilitationsprognose). Erfüllt der Hilfesuchende eine dieser Voraussetzungen nicht, hat er keinen Anspruch aus der Sozialversicherung (hier: Rentenversicherung – SGB VI). Leistungsansprüche ergeben sich dann im Regelfall aus den Regelungen des Fürsorgerechts (hier: Sozialhilfe: SGB XII).

Zum anderen, weil es auch bei bestehender Sozialversicherung Lücken in den einzelnen Sicherungssystemen gibt. Auch hier gilt wiederum: diese Lücken zu schließen ist zunächst Aufgabe der Familie. Kann auch diese - wie in der Regel - den Hilfebedarf nicht oder nur zum Teil auffangen, ist es Aufgabe der Sozialfürsorge, die verbleibenden Lücken im System der sozialen Sicherung zu schließen.B. SozialfürsorgeDie Gesetze der Sozialfürsorge sind

die Grundsicherung für Arbeitssuchende – SGB II,

die Kinder- und Jugendhilfe – SGB VIII sowie die,

Sozialhilfe – SGB XII.

Das deutsche Sozialrecht unterscheidet damit scharf zwischen Regelungen des Sozialversicherungsrechtes und solchen des (Sozial-)Fürsorgerechtes. Die praktische Konsequenz dieser Systematik liegt zunächst in der Refinanzierung der jeweiligen Systeme: während die Sozialversicherung (primär) durch Beiträge ihrer Mitglieder und damit vor allem durch die abhängig beschäftigten Arbeitnehmer selbst refinanziert wird, bringt der Staat die Mittel für die Erbringung der Fürsorgeleistungen unmittelbar aus dem Staatshaushalt auf. Auf Seiten des Hilfebedürftigen wirkt sich dieses System in der Weise aus, dass er Anspruch auf Leistungen der Sozialversicherung nur haben kann, wenn er Mitglied in der jeweiligen Sozialversicherung ist. Hilfesuchende, die nicht Mitglied einer gesetzlichen Sozialversicherung sind oder deren Hilfebedarf durch die jeweilige Sozialversicherung nicht gedeckt wird, können Anspruch auf Leistungen des Fürsorgerechts haben. In den jeweiligen Fürsorgegesetzen finden sich – gleichsam spiegelbildlich zu den Regelungen des Versicherungsrechtes – Leistungen der Krankenhilfe, der Arbeitslosenhilfe, der Hilfe für alte Menschen, der Hilfe zur Pflege, etc. Fallen vorrangige Sicherungssysteme aus, lebt das Fürsorgerecht auf. Das Fürsorgerecht ist damit als unterste Stufe der sozialen Sicherung ein Auffangsystem, welches erst greift, wenn vorrangige Sicherungssysteme nicht in Betracht kommen. Leistungen des Fürsorgerechts sind gegenüber anderen Sozialleistungen subsidiär. Man spricht deshalb vom Subsidiaritätsprinzip im deutschen Sozialleistungsrecht.

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Studienkarte 3: Geschichte der sozialen Sicherung in DeutschlandA. Etwas GeschichteDie ältesten Rechtsquellen bestehen in Regelungen zur sog. „Armenlast“, die die Kommunen zu tragen hatten. Die Armenlast reicht zurück bis in das ausgehende Mittelalter. Sie war der Vorläufer des Fürsorgerechts, das in der Weimarer Zeit ab 1922 mit den „Reichsgrundsätzen über Art und Maß der öffentlichen Fürsorge“ sowie der „Fürsorgepflichtverordnung“ und dem „Reichsjugendwohlfahrtsgesetz“ weiter normiert wurde.

Die deutsche Sozialversicherung ist ca. 130 Jahren alt. Sie nahm ihren Ausgang im Deutschen Kaiserreich des 19. Jahrhunderts unter dem damaligen Reichskanzler Otto von Bismarck (sog. Bismarcksche Sozialgesetzgebung). In den 90er Jahren des 18. Jahrhunderts führte Bismarck zunächst

die Krankenversicherung (1883), sodann

die Unfallversicherung (1884) und schließlich,

die Rentenversicherung (1889) ein;

Die

Arbeitslosenversicherung (1927)

trat erst über ein Vierteljahrhundert später, während der Weimarer Zeit, die fünfte und letzte Säule der Sozialversicherung

die Pflegeversicherung (1995)

trat erst mit der 1990er Jahre in Kraft.

Ein weiterer wesentlicher Schritt in der Sozialgesetzgebung der Bundesrepublik war das Inkrafttreten des

Bundessozialhilfegesetzes (1962).

Anfang der 1960er Jahre.

Das Bundessozialhilfegesetz war ein Fürsorgegesetz. Es regelte auf unterster Stufe der sozialen Sicherung die Absicherung elementarer Lebensrisiken, wie Erwerbslosigkeit, Krankheit, Behinderung, Alter, etc. Wegen seines strengen Nachrangs und der zur damaligen Zeit herrschenden Vollbeschäftigung entfaltete es seine Wirkung als System zu Absicherung des Armutsrisikos in größerem Umfang erstmalig während der sog. „Ölkrise“ Anfang der 1970er Jahre.

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B. Vereinheitlichung durch das Sozialgesetzbuch (SGB) seit den 1970er JahrenSeit den Anfängen der Sozialgesetzgebung im 19. Jahrhundert war das Sozialrecht in Deutschland immer unübersichtlicher geworden. Zu Beginn der 60er Jahre fand sich ein nahezu unüberschaubares und intransparentes sowie von einer Vielzahl von Überschneidungen geprägtes Sozialrecht vor. Die Regierung Brandt (SPD) entschloss sich daher Ende der 1960er Jahre (Regierungserklärung v. 1969) zur Vereinheitlichung und Vereinfachung des Sozialrechtes zur Schaffung eines einheitlichen Sozialgesetzbuches. Der Beratungsprozess einer von der Bundesregierung eingesetzten 30-köpfigen Expertengruppe vereinnahmte zunächst eine Zeitspanne von ca. 10 Jahren. Die Expertengruppe schlug die Schaffung von zunächst zehn Sozialgesetzbüchern (SGB I bis SGB X), gegliedert nach Sachgebieten (Arbeitsförderung, Sozialversicherung, Jugendhilfe, Sozialhilfe, etc.) vor. Der erste Teil des Sozialgesetzbuches, der Allgemeine Teil – SGB I, wurde im Jahre 1975 in Kraft gesetzt. Die weiteren Gesetze folgten in den kommenden 30 Jahren sukzessive. Hervozuheben ist hier das Inkrafttreten des SGB VIII durch das Kinder- und Jugendhilfegesetz, das das zuvor geltende Jugendwohlfahrtsgesetz 1990 ablöste.

Erst im Jahre 2005 wurde im Rahmen der sog. „Hartz IV“-Gesetzgebung das Bundessozialhilfegesetz aufgehoben und das SGB II sowie das SGB XII in das SGB integriert. Der Gesetzgebungsprozess ist damit noch immer nicht abgeschlossen. § 68 SGB I zählt diejenigen Sozialleistungsgesetze auf, die noch nicht in das SGB eingeordnet sind. Sie gelten bis zu ihrer Einordnung in das SGB als besondere Teile des Sozialgesetzbuches.

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Studienkarte 4: Aufbau des SGBA. Die zwölf Sozialgesetzbücher und ihre Gliederung in allgemeine und besondere TeileDas Sozialrecht weist trotz des Bemühens um Systematisierung und Vereinheitlichung eine komplexe Regelungsstruktur auf. Es nimmt innerhalb des Rechtssystems der Bundesrepublik Deutschland eine Sonderstellung ein. Es ist dem öffentlichen Recht zugeordnet und bildet dort einen Unterbereich des Verwaltungsrechtes. Wegen seiner Sonderstellung im Recht verfügt es über eine eigene Gerichtsbarkeit, die Sozialgerichtsbarkeit, mit den Instanzen Sozialgericht, Landessozialgericht und Bundessozialgericht, neben den sog. ordentlichen Gerichtsbarkeiten (Zivil- und Strafgerichte) sowie den Verwaltungs- und Finanz- und Arbeitsgerichtsbarkeiten.

Das Sozialgesetzbuch in seiner heutigen Form ist in 12 nach Sachgebieten geordnete sog. Bücher gegliedert:

SGB I Allgemeiner Teil

SGB II - Grundsicherung für Arbeitssuchende

SGB III - Arbeitsförderung

SGB IV - Allgemeiner Teil Sozialversicherung

SGB V - Gesetzliche Krankenversicherung

SGB VI - Gesetzliche Rentenversicherung

SGB VII Gesetzliche Unfallversicherung

SGB VIII Kinder- und Jugendhilfe

SGB IX - Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen

SGB X - Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz

SGB XI - Soziale Pflegeversicherung

SGB XII Sozialhilfe

Die einzelnen Gesetze nehmen innerhalb des Sozialgesetzbuches unterschiedliche Funktionen ein: Rechtsansprüche auf Sozialleistungen zugunsten von Hilfesuchenden (also Ansprüche auf Arbeitslosengeld, Krankenhilfe, Rente, Pflegegeld, etc.) sind ausschließlich in den oben in Fettdruck gesetzten Gesetzen enthalten. Die übrigen Gesetze enthalten keine Leistungsansprüche (Ausnahme: Vorleistungsansprüche, § 43 SGB I, Zinsansprüche, § 44 SGB I). Sie übernehmen die Funktion sog. allgemeiner Teile, enthalten also vor die Klammer gezogene, allgemeine Regelungen. SGB I und SGB X sind dabei allgemeine Teile, die für alle anderen Sozialgesetzbücher gelten. Das SGB I regelt dabei allgemeine Fragen, wie etwa die Form und die Struktur des SGB, die Verjährung von Ansprüchen, etc., das SGB X regelt alle Fragen des Verwaltungsverfahrens, wie etwa die Beteiligung von Bevollmächtigten (z.B. Rechtsanwälten), den Amtsermittlungsgrundsatz, das Recht auf Akteneinsicht, etc. Soweit sich im besonderen Teil des Sozialgesetzbuches Regelungen finden, die die gleiche Materie regeln, so gehen die Regelungen des besonderen Teiles denjenigen des allgemeinen Teiles vor.

Beispiel: Das SGB X regelt den Sozialdatenschutz umfassend in den §§ 67 – 85a SGB X. Das SGB VIII enthält (zusätzliche) Sonderregelungen für den Datenschutz in der Jugendhilfe in den §§ 61 – 68 SGB VIII (so genannter bereichsspezifischer Datenschutz). Die Regelungen des SGB VIII weichen zum Teil von denjenigen des SGB X ab. Im Interesse der Eltern und Kinder ist der Datenschutz im SGB VIII strenger als im SGB X. Weil das SGB VIII zum besonderen Teil, das SGB X dagegen zum allgemeinen Teil des SGB gehört, gehen die Regelungen des SGB VIII vor.

Im Verhältnis von SGB I und SGB X einerseits zu den übrigen Sozialleistungsgesetzen ergibt sich daher folgendes Schema:

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Die untere Ebene bildet zusammen den besonderen Teil.B. SGB IV und SGB IX als allgemeine Teile innerhalb des besonderen TeilsI. Das SGB IV als allgemeiner Teil des Sozialversicherungsrechts

In diesem Schema fehlen SGB IV (Sozialversicherung allgemeiner Teil) und SGB IX (Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen). Sie bilden ihrerseits allgemeine Teile innerhalb des besonderen Teils.Für den Bereich der Sozialversicherung ist das SGB IV allgemeiner Teil, enthält also allgemeine Regelungen, welche ausschließlich den Bereich der Sozialversicherung betreffen. Insoweit ergibt sich folgendes Schema:

II. Das SGB IX als „allgemeiner Teil“ des Rechts der Eingliederungshilfe für behinderte Menschen

Komplizierter ausgestaltet ist der Bereich des SGB IX (Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen – im Sprachgebrauch: „Eingliederungshilferecht“ oder „Rehabilitationsrecht“). Hier geht es in der Sache um die Eingliederung behinderter Menschen in die Gesellschaft. Zu diesem Zweck werden behinderten Menschen und solchen, die von einer Behinderung bedroht sind, Leistung zur Eingliederung in Arbeit, Schule und soziales Leben sowie Leistungen zur medizinischen Rehabilitation bereitgestellt. Die Leistungsansprüche zugunsten behinderter Menschen sind – obwohl der Titel des Gesetzes anderes erwarten lässt – nicht im SGB IX selbst geregelt, sondern finden sich in den übrigen Sozialversicherungsgesetzen und Sozialfürsorgegesetzen an Einzelstellen verstreut (z.B. § 53 SGB XII, § 35 a SGB VIII, § 40 SG V, § 9 SGB VI, etc.). Deshalb ergibt sich für das Eingliederungshilferecht folgende Struktur:

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Details des Eingliederungshilferechtes können hier nicht verdeutlicht werden. Erläutert werden soll nur die Struktur.

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Studienkarte 5: Strukturprinzipien der sozialen Sicherung in Deutschland

A. ÜberblickDie tragenden Strukturprinzipien der Sozialen Sicherung in Deutschland sind:

Für das Sozialversicherungsrecht

Versicherungspflicht

Prinzip der Beitragsfinanzierung

Prinzip der Solidarität

Prinzip der Selbstverwaltung

Äquivalenzprinzip in der Rentenversicherung

Für das Fürsorgerecht:

Subsidiaritätsprinzip

Bedarfsdeckungsgrundsatz

Wunsch- und Wahlrecht

„Keine Hilfe für die Vergangenheit“B. Sozialversicherungsrecht:I. Versicherungspflicht

Die Sozialversicherung ist eine gesetzliche Zwangsversicherung. Für (abhängig beschäftigte) Arbeitnehmer mit Einkommen unterhalb bestimmter Beitragsbemessungsgrenzen besteht grundsätzlich Versicherungspflicht. Die Beitragsbemessungsgrenzen variieren je nach Versicherungsart (z.B. Beitragsbemessungsgrenze gesetzliche Krankenversicherung im Jahr 2008: 43.200 €; Rentenversicherung: 63.600 €). Spitzenverdiener, Beamte und Selbständige sind grundsätzlich nicht versicherungspflichtig, können sich aber unter bestimmten Voraussetzungen freiwillig in der gesetzlichen Sozialversicherung versichern. Von der gesetzlichen Sozialversicherung streng zu trennen sind Versicherungssysteme auf freiwilliger Basis, die in der Regel von den nicht versicherten Personengruppen abgeschlossen werden sowie private Zusatzversicherungen, die z.T. auch staatlich gefördert werden (z.B. „Riester-Rente“). Hierbei handelt es sich um rein private Sicherungssysteme, die – obwohl unmittelbar oder mittelbar (Steuererleichterungen) staatlich gefördert – nicht um Teile des gesetzlichen Sozialversicherungssystems. Nach Schätzungen der Bundesregierung sind ca. 90 % der Bevölkerung zumindest in einem Teilbereich der gesetzlichen Sozialversicherung versichert. Die Beiträge zur gesetzlichen Sozialversicherung sind vom Arbeitgeber unmittelbar vom Lohn abzuziehen und an die gesetzliche Krankenversicherung abzuführen, die auch als Einzugsstelle für die anderen Sozialversicherung wirkt.II. Beitragsfinanzierung

Die Finanzierung der Sozialversicherung erfolgt wesentlich über Beiträge. Der Gesamtbeitrag beträgt ca. 40 % vom sog. Arbeitgeberbruttolohn. Vielfach wird von einer Belastung sowohl der Arbeitnehmer wie auch der Arbeitgeber gesprochen. Technisch wird auch so verfahren, dass der Beitrag in einen Arbeitgeber- und einen Arbeitnehmeranteil aufgeteilt wird. Der Lohn stellt sich ökonomisch jedoch stets als Bruttolohn dar (Arbeitgeberbrutto), d.h. als die Gesamtsumme die vom Arbeitgeber für den Kauf der Arbeitskraft zu verausgaben ist. Tatsächlich sind die Beiträge zur Sozialversicherung daher von der Gesamtheit der abhängig beschäftigten Arbeitnehmer zu tragen sind. Die Sozialversicherung wird nach diesem System gespeist aus Zahlungen der aktuell beschäftigten Arbeitnehmerschaft. Eine Kapitaldeckung existiert nicht. Insbesondere erhält ein Arbeitnehmer nicht Leistungen aus „seinen“ Beiträgen. Er spart nicht. Dieses Prinzip zeigt eine zentrale und z.Zt. auch aktuelle Problematik des Deutschen Sozialversicherungssystems an: Sinkt die Gesamtlohnsumme dieser Gruppe, etwa infolge eines raschen Anstiegs der Arbeitslosenzahlen oder infolge der demographischen Entwicklung, sinken damit die Einnahmen der Sozialversicherung bei gleichzeitigem Ansteigen der Auszahlungsverpflichtungen in der Arbeitslosen- bzw. Rentenversicherung.III. Beitragshöhe

Die Höhe der Einzelbeiträge beträgt zur Zeit (in % vom Arbeitslohn, Arbeitnehmerbrutto):

Arbeitslosenversicherung 3,30 %

Krankenversicherung 13,95 %

Rentenversicherung 19,90 %

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Unfallversicherung variabel (abhängig von den tatsächlichen Aufwendungen je Kalenderjahr Arbeitsentgeltsumme sowie nach

der Gefahrklasse, zu der der Unternehmer veranlagt worden ist)

Pflegeversicherung 1,95 %

Neben Beiträgen fließen den Sozialkassen auch sonstige Mittel zu, wie etwa Bundeszuschüsse und Umlagen (z.B. Winterbauumlage in der Arbeitslosenversicherung nach SGB III). Im Einzeln variieren Umfang und Form der sonstigen Mittel in Abhängigkeit von der jeweiligen Versicherungsart.IV. Kollektivierung sozialer Risiken (auch Solidarität)

Durch die Beitragspflicht aller abhängig Beschäftigten werden die sozialen Risiken innerhalb dieser Gruppe kollektiviert. Auch wer gesund ist und bleibt, finanziert die Krankheit anderer mit, auch wer jung ist, finanziert die Erwerbsunfähigkeit wegen Alters mit, etc. pp.V. Selbstverwaltung

Die Träger der Sozialversicherung sind rechtlich eigenständige Körperschaften des öffentlichen Rechts, die nicht unmittelbar in die Staatsverwaltung integriert sind. Grund für diese Organisationsform ist vor allem die Einbindung sowohl der Arbeitnehmer- wie auch der Arbeitgeberseite in die Selbstverwaltung der Sozialversicherung. Die Träger der Sozialversicherung üben ihre Tätigkeit eigenverantwortlich unter der Rechtsaufsicht des Staates aus.VI. Äquivalenzprinzip in der Rentenversicherung

In der gesetzlichen Rentenversicherung herrscht das sog. Äquivalenzprinzip. Es deutet an, dass ein Zusammenhang zwischen den in der Erwerbsphase eingezahlten Leistungen und den zu erwartenden Leistungen besteht. Der Begriff ist freilich irreführend, suggeriert er doch, dass so etwas wie ein konkretes Wertigkeitsverhältnis zwischen Leistung und Gegenleistung besteht. Äquivalenz meint eigentlich Gleichwertigkeit, suggeriert also, dass der Beitragszahler mindestens Leistungen in Höhe seiner Einzahlungen erhält. Dass dieses nicht so ist, jedenfalls keinesfalls gesichert ist, liegt im System der Sozialversicherung begründet: Die aktuell abhängig Beschäftigte Bevölkerung finanziert die aktuellen Rentenbezieher. Das aktuelle Rentenniveau ist daher stets abhängige Variable der Gesamtlohnsumme aller aktuell Beschäftigen. Sinkt diese, sinkt die Rente. Das Äquivalenzprinzip drückt daher lediglich aus, dass die Rentenhöhe überhaupt abhängig ist von der Höhe der in einer Erwerbsbiographie erarbeiteten Beiträge. Die volle Rentenhöhe (z.Zt. ca 70 % des vorherigen Nettolohns) wird in der Regel nur bei lückenloser Erwerbsbiographie und daher – insbesondere in den unteren Einkommensgruppen – von immer weniger Beschäftigten erreicht. Weil die Beitragszahler durch ihre Beitragszahlungen keinen Anspruch auf eine bestimmte Geldsumme im Alter erwerben, werden ihnen auf einem Beitragskonto sog. Entgeltpunkte gutgeschrieben, deren Wert erst bei Rentenbezug feststeht (sog. Teiläqivalenz).C. Fürsorgerecht:I. Subsidiaritätsprinzip

Das Subsidiaritätsprinzip im Fürsorgerecht wurde oben bereits kurz erläutert. Es drückt den Nachrang von Fürsorgeleistungen nach allen anderen sozialen Sicherungssystemen und der Selbsthilfe aus.II. Bedarfsdeckungsgrundsatz

Der Bedarfsdeckungsgrundsatz gewährleistet die vollständige Deckung des fürsorgerechtlichen Bedarfes. Er stellt auf die tatsächliche gegenwärtige Lage des Leistungsberechtigten und den individuellen Einzelfall ab. Er ermöglicht z.T. die Deckung von Bedarfen, die durch Sozialversicherungsgesetze im Einzelfall nicht abgedeckt sind.III. Wunsch- und Wahlrecht

Das SGB VIII wie das SGB XII regeln das Wunsch- und Wahlrecht des Leistungsberechtigten. Danach soll dem Wunsch und der Wahl des Leistungsberechtigten entsprochen werden, wenn dieses keine unverhältnismäßigen Mehrkosten verursacht. Danach können Eltern etwa bei einer Unterbringung ihrer Kinder in einem Heim selbst entscheiden, in welches Heim sie ihr Kind geben.IV. „Keine Hilfe für die Vergangenheit“

Fürsorgeleistungen haben den Zeck einen gegenwärtigen unabweisbaren Notlagenbedarf zu decken. Sie werden daher grundsätzlich nicht für die Vergangenheit gewährt. Durch die Sozialfürsorge werden daher insbesondere auch keine Schulden übernommen.

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Studienkarte 6: Ausgewählte Sozialleistungen im Überblick – Einführung

Im Folgenden soll ein Überblick über ausgewählte Leistungen des SGB gegeben werden.. Die Auswahl der Vorschriften orientiert sich an ihrer Relevanz für die die Arbeit in Einrichtungen.

Es werden zum einen Überblicksartig die Regelungen des SGB II und die Regelungen des SGB VIII dargestellt. Eine Vertiefung oder Wiederholung kann mit Hilfe der Studienkarten von Gerlach/Hinrichs zu diesen Gebieten erfolgen. Denjenigen Teilnehmern, die in ihren bisherigen Ausbildungsgängen kein Rechtswissen in diesen Bereichen erworben haben, wird die Lektüre dringend empfohlen. Auch stehen Podcasts zu diesem Themen zur Verfügung.

Sodann wird – ebenfalls überblicksartig auf Leistungen zugunsten von Menschen mit Behinderungen eingegangen.

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Studienkarte 7: ExistenzsicherungA. HinweisDas Existenzsicherungsrecht ist Gegenstand der Bachelor-Studienganges Soziale Arbeit. Zu den dortigen Lehrinhalten existieren gesonderte, ausführlichere Studienkarten und Podcasts, deren Studium empfohlen wird.

B. ÜberblickDie Versorgung der Menschen mit den Notwendigkeiten des täglichen Lebens, also mit Wohnraum, Essen, Kleidung, etc., ist in der kapitalistischen Gesellschaftsordnung keine Selbstverständlichkeit. Nur wer über ein Einkommen, also Geld verfügt, das ihm den Zugriff auf die Notwendigkeiten des täglichen Lebens gewährleistet, kann sich versorgen (lies hierzu Studienkarte 4 und 5 zum Familien– und Jugendhilferecht). Für die Masse der Bevölkerung wird dieses Einkommen entweder durch Erwerbsarbeit selbst oder von Angehörigen oder sonstigen nahestehenden Personen verdient. Wer weder auf eigenes Einkommen oder Vermögen, noch auf Einkommen von Angehörigen oder Trägern anderer Sozialleistungen (zum Beispiel der Arbeitslosenversicherung) zurückgreifen kann, gilt als hilfebedürftig (vgl. § 9 Abs. 1 SGB II, §19 SGB XII). Hilfebedürftige in diesem Sinne erhalten Leistungen aus dem Grundsicherungssystem. Leistungen der Grundsicherung sind deshalb nachrangig (subsidiär) gegenüber anderen Sozialleistungen (vgl. §§ 9 Abs. 1, 12 a SGB II). Man sagt deshalb: im SGB II gilt das Subsidiaritätsprinzip. Leistungen der Grundsicherung sind steuerfinanziert und gehören zu den so genannten staatlichen Fürsorgeleistungen (Gegenbegriff: Versicherungsleistungen). Ihr Zweck ist die Existenzsicherung, also die Versorgung der betroffenen Hilfebedürftigen mit dem aktuell Lebensnotwendigen (Leistungen „von der Hand in den Mund“). Es gilt deshalb auch das Prinzip, dass Schulden grundsätzlich nicht übernommen werden, weil es sich bei ihnen um vergangene und nicht mehr aktuelle Notlagen handelt. „Grundsicherung“ ist der Oberbegriff für diejenigen Leistungen, aus denen die für jedermann notwendigen Bedarfe (Wohnraum, Essen, Kleidung, etc.) finanziert werden. Neben dem Begriff „Grundsicherungsleistungen“ ist auch der Begriff „Existenzsicherungsleistungen“ gebräuchlich. Nicht von den Grundsicherungsleistungen umfasst sind zusätzliche Hilfebedarfe, die sich aus „besonderen Lebenslagen“, wie etwa Behinderung, Krankheit, Pflegebedürftigkeit, etc., ergeben (vgl. 5. – 9. Kapitel SGB XII). Diese Hilfen werden „Hilfen in besonderen Lebenslagen“ genannt (Im Gegensatz zur allgemeinen Lebenslage, die sich eben für die Hilfebedürftigen dadurch auszeichnet, dass sie ihren normalen Lebensunterhalt nicht sichern können). Ein weiteres wichtiges Gesetz, welches der „Grundsicherung“ von Hilfebedürftigen dient, ist das Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbewLG), welches – entgegen seinem Wortlaut – nicht nur für Asylbewerber, sondern auch für andere Ausländer, zum Beispiel geduldete Flüchtlinge, Anwendung findet. Einzelheiten zum Asylbewerberleistungsgesetz können hier nicht erörtert werden. Hinzuweisen ist darauf, dass das Leistungsniveau beim Asylbewerberleistungsgesetz gegenüber dem „normalen“ Grundsicherungsniveau abgesenkt ist und z.T. Sachleistungen anstelle von Geldleistungen gewährt werden. Auch der Bereich der Krankenhilfe ist beschränkt. Zum Asylbewerberleistungsgesetz hat das Bundesverfassungsgericht unlängst eine Grundsatzentscheidung getroffen, in deren Folge die Leistungen für Asylbewerber wesentlich angehoben wurden. Unterschiede zu „normalen“ Existenzsicherungsleistungen verbleiben jedoch.

C. Die sog. „Hartz IV Reform“Fürsorgeleistungen zur Lebensunterhaltssicherung wurden bis Ende 2004 auf Grundlage des Bundessozialhilfegesetzes (BSHG) als Sozialhilfe gewährt. Das Bundessozialhilfegesetz wurde aufgehoben und im Zuge der sog. „Hartz IV Reform“ durch das SGB II und das SGB XII ersetzt. Kritik der damaligen rot-grünen Bundesregierung am „alten“ System war, dass das Zusammenspiel der Sozialleistungen Arbeitslosengeld, Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe dazu führe, dass Hilfesuchende keine ausreichenden Anreize hätten, einer Erwerbsarbeit nachzugehen. Außerdem wurden Sparziele verfolgt. Diese Ziele wurden durch folgende Schritte umgesetzt:I. Begrenzung der Bezugsdauer beim Arbeitslosengeld I

Vor Inkrafttreten der Hartz IV Reform wurden Personen, die arbeitslos wurden und die in der Arbeitslosenversicherung (SGB III) versichert waren, zunächst Arbeitslosengeld und nach Ablauf bestimmter Zeitkorridore Arbeitslosenhilfe gezahlt. Sowohl das Arbeitslosengeld als auch die Arbeitslosenhilfe wurden der Höhe nach einkommensabhängig als Prozentsatz vom bisherigen Einkommen gezahlt. Dies auch für die Dauer mehrerer Jahre. Hier hat die Hartz IV Reform einen radikalen Schnitt herbeigeführt. Die Arbeitslosenhilfe wurde abgeschafft. Es gibt nur noch Arbeitslosengeld I (geregelt im SGB II) als einkommensabhängige Sozialversicherungsleistung. Die Bezugsdauer wurde grundsätzlich (Ausnahmen gelten für ältere Arbeitnehmer) auf ein Jahr beschränkt. Danach erhalten alle erwerbsfähigen Arbeitslosen nur noch das so genannte Arbeitslosengeld II, welches der Höhe nach nicht mehr einkommensabhängig, sondern im Grundsatz für alle gleich ist (seit 2012 beträgt der Regelsatz 374 €).II. Kein Berufsschutz im System der Grundsicherung

Im „alten“ System von Arbeitslosengeld und Arbeitslosenhilfe gab es einen – wenn auch eingeschränkten – Berufsschutz. Im Grundsatz galt: Wer einen bestimmten Ausbildungsstand oder eine bestimmte Qualifikation erreicht hatte, brauchte sich nicht auf Arbeit niederer Qualifikation einzulassen. Dies galt während der gesamten Bezugsdauer von Arbeitslosengeld und Arbeitslosenhilfe, die – wie dargestellt – über mehrere Jahre andauern konnte. Im neuen System gibt es diesen Berufsschutz nur noch für die Dauer des Bezuges von Arbeitslosengeld I, also maximal für ein Jahr. Nach

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Ablauf dieses Zeitraumes ist jeder erwerbsfähige Hilfebedürftige grundsätzlich verpflichtet, jede zumutbare Arbeit anzunehmen (vgl. § 10 SGB II).III. Abschaffung der einmaligen Leistungen

Im „alten“ System wurden die regelmäßig wiederkehrenden Bedarfe des täglichen Lebens durch den damals geltenden Regelsatz von knapp 300 € abgedeckt. Soweit Bedarf entstand, der über das regelmäßig wiederkehrende hinausging (z.B. Kühlschrank, Waschmaschine) wurde dieser als einmaliger Bedarf anerkannt und als sogenannte einmalige Leistung finanziert. Diese sogenannten einmaligen Leistungen wurden – bis auf wenige Ausnahmen – abgeschafft. Gleichzeitig wurde der Regelsatz um etwa 50 € erhöht. Bezieher von Grundsicherungsleistungen sollten dazu angehalten werden, zu sparen und bestimmte Geldbeträge für künftig anfallende einmalige Bedarfe zurückzulegen.IV. Senkung des allgemeinen Lohnniveaus

Bezieher von Erwerbseinkommen, die arbeitslos werden, sind nach Ablauf des einen Jahres Bezugsdauer von Arbeitslosengeld I mit einem Absacken auf das Existenzsicherungsniveau und damit mit oft massiven Einkommenseinbrüchen konfrontiert. Dieser ökonomische Druck zwingt sie zur Annahme von Arbeit auf niedrigerem Qualifikations- und Lohnniveau. Dieses wiederum führt zu einem Mehrangebot an billiger Arbeit und senkt das allgemeine Lohnniveau. Diese Wirkungen der Hartz IV Reform waren einerseits intendiert. Andererseits sieht sich der Gesetzgeber nun selbst mit dem Problem konfrontiert, dass die in den sogenannten Niedriglohnberufen gezahlten Einkommen zum Teil unter dem so-genannten Hartz-IV-Niveau liegen, sodass ergänzende Grundsicherungsleistungen notwendig werden (vgl. hierzu die Diskussion um Mindestlöhne).V. Die Reform von SGB II und SGB XII

Die Neuregelungen von SGB II und SGB XII waren nach ihrem Inkrafttreten vielfältiger Kritik ausgesetzt. Diese Kritik betraf einerseits die „handwerkliche“ Qualität des Gesetzes, die von vielen beanstandet wurde. Das Gesetz enthält viele Widersprüche und Unklarheiten, die zu zahllosen Sozialgerichtsverfahren geführt haben. Bis zu 50 % der Klagen vor den Sozialgerichten sind erfolgreich. Andererseits bezog sich die Kritik auch auf rechtspolitische Aspekte des Gesetzes. Ihren Gipfel erreichte die Kritik in dem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes vom 9. Februar 2010 (NZS 2010, 270), welches das bis dahin geltende System der Regelsatzbemessung für verfassungswidrig erklärte und den Gesetzgeber zu einer Neuregelung zwang (vgl. hierzu Schnath, das neue Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums, NZS 2010, S.297 ff.). Der Gesetzgeber hat auf dieses Urteil reagiert und nach langem politischen Streit das sogenannte Regelbedarfs-Ermittlungsgesetz – RBEG (Bundesgesetzblatt I, Seite 453) erlassen. Neben einer Reform des Verfahrens zur Ermittlung der Regelsätze und einer Neufestsetzung der Regelsätze enthält das Gesetz auch zahlreiche weitere Änderungen im SGB II und im SGB XII.

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Studienkarte 8: Die Berechnung von Grundsicherungsleistungen A. EinführungGrundsicherungsleistungen erhält nur wer bedürftig ist (vgl. § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr.3 SGB II). Hilfebedürftig ist nur, wer seinen Lebensunterhalt nicht oder nicht ausreichend aus dem zu berücksichtigenden Einkommen oder Vermögen sichern kann (§ 9 Abs. 1). Ob die Lebensunterhaltssicherung aus dem eigenen Einkommen und Vermögen „ausreicht“, wie es § 9 Abs. 1 SGB II verlangt, ist anhand einer Berechnung zu ermitteln: Diese Berechnung von Grundsicherungsleistungen folgt einem Schema, bei dem für jede Person, deren Anspruch es zu berechnen gilt, zunächst ein Bedarf ermittelt wird (§§ 19 ff. SGB II). Dieser Bedarf setzt sich ganz wesentlich aus einem sogenannten Regelsatz und individuellen Zuschlägen zu diesen Regelsatz einerseits und aus den Kosten für Unterkunft und Heizung andererseits zusammen. Die Summe aus Regelsatz, Zuschlägen und Kosten für Unterkunft und Heizung bildet den Bedarf. Auf diesen Bedarf wird dann Einkommen und Vermögen der betreffenden Person angerechnet (vgl. § 19 Abs. 3 SGB II). Die „Formel“ für die Berechnung von Grundsicherungsleistungen lautet daher:

Bedarf -- Einkommen/Vermögen = Leistung

Unter bestimmten Voraussetzungen wird auch Einkommen und Vermögen anderer Personen mit angerechnet - dieses Prinzip nennt man „Queranrechnung von Einkommen“ (vgl. § 9 Abs. 2 und 5). Neben eigenem und fremdem Einkommen und Vermögen werden auch (bestimmte) Sozialleistungen (z.B. Kindergeld) angerechnet. Einkommen und Vermögen werden nicht in voller Höhe angerechnet. Vielmehr erlaubt der Gesetzgeber sowohl beim Einkommen als auch beim Vermögen den Abzug bestimmter Positionen (z.B. Steuern). Nach Bereinigung spricht man von „bereinigtem Einkommen“ bzw. „bereinigtem Vermögen“ (vgl. §§ 11 b, 12 Abs. 2 SGB II). Es gibt auch Einkommen und Vermögen, welches überhaupt nicht angerechnet wird, wie z.B. Schadensersatzleistungen oder ein angemessener PKW (vgl. § 11 a, 12 Abs. 3 SGB II).

B. Prüfungsschema zur Berechnung von GrundsicherungsleistungenDie Berechnung von Grundsicherungsleistungen erfolgt nach einem Schema, welches auf der folgenden Studienkarte dargelegt ist. Dieses Schema ist weitgehend identisch, unabhängig von der Frage, ob die Ansprüche auf der Basis des SGB II oder auf der Basis des SGB XII berechnet werden. Stets erfolgt zunächst die Ermittlung des Bedarfes. Stets wird diesem Bedarf Einkommen und Vermögen gegenübergestellt und aus der o.a. Subtraktion die Leistung abgeleitet. Die Berechnung erfolgt daher immer in 2 Schritten: Zunächst wird der Bedarf ermittelt. Sodann werden Einkommen und Vermögen ermittelt und bereinigt. Was die Sache kompliziert macht, ist, dass die Vorschriften, auf deren Grundlage diese zwei Prüfschritte vorgenommen werden, sich in den jeweiligen Gesetzen (SGB II bzw. SGB XII) an völlig unterschiedlichen Stellen befinden. Es macht deshalb Sinn, sich bei der Berechnung konkreter Fälle an der auf folgender Studienkarte niedergelegten Gegenüberstellung (Synopse) zu orientieren.

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Studienkarte 9: Prüfschema zur Berechnung von Grundsicherungsleistungen1

A. Zuordnung zum System?

Erwerbsfähig, § 8 I SGB II? Sozialgeld („Anhängsel“), § 19 I 2 SGB II? Grundsicherung nach § 41 I SGB XII? Hilfe zum Lebensunterhalt?, § 27 I SGB XII?

B. Bedarfsgemeinschaften (Begriff existiert nur im SGB II) ?

§ 7 III SGB II

C. Bedarf – Einkommen/Vermögen = Anspruch

D. Bedarfsermittlung:

SGB II SGB XII

ALG II Sozialgeld

(Besonderheiten)

Grundsicherung im Alter

und bei Erwerbsminderung

Hilfe zum Lebensunterhalt

Anspruchsgrundlage § 19 I 1 § 19 I 2 § 41 I, II (Alter)

§ 41 I, III (Erwerbsminderung)

§ 27 I

Regelbedarf und Höhe des Regelsatzes

§ 20 II – IV § 23 Nr. 1 § 42 Nr. 1

iVm Anlage zu § 28

§ 27a I, II iVm Anlage zu § 28

Mehrbedarfe § 21 § 23 Nr. 2 – 4 § 42 Nr. 2 iVm § 30 § 30

Unterkunft und Heizung § 22 § 42 Nr. 4 iVm § 35 § 35

Bildung und Teilhabe

(Altersgrenzen!)

§§ 28, 29 § 42 Nr. 3 iVm § 34 § 34

abweichende Leistungen

/ einmalige Bedarfe

§ 24 § 42 Nr. 2 iVm § 31

§ 42 Nr. 5 iVm § 37

§ 31

§ 37

Sonstiges §§ 25 – 27 § 42 Nr. 2 iVm § 32, 33 §§ 32, 33

1 Die Paragraphen beziehen sich auf die neue Rechtslage ab 2011.

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E. Einkommensanrechnung

SGB II SGB XII

ALG II Sozialgeld Grundsicherung im Alter

und bei Erwerbsminderung

Hilfe zum Lebensunterhalt

Begriff des Einkommens § 11 I § 11 I § 41 I iVm § 82 I § 27 I iVm § 82 I

Nicht zu berücksichtigendes Einkommen

§ 11a § 11a §§ 82 I, 83, 84 §§ 82 I, 83, 84

Abzusetzende Beträge § 11b § 11b § 82 II, III § 82 II, III

Queranrechnung fremden Einkommens

§ 9 II, V § 9 II, V §§ 39, 43 § 39

F. Vermögensanrechnung

SGB II SGB XII

AlG II Sozialgeld Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung

Hilfe zum Lebensunterhalt

Begriff des Vermögens § 12 I § 12 I § 90 I § 90 I

Abzusetzende Beträge § 12 II § 12 II § 90 III § 90 III

Nicht zu berücksichtigendes Vermögen

§ 12 III § 12 III § 90 II § 90 II

G. Rechnung

H. Hinweise auf im Regelsatz enthaltene Leistungen bewerten („Ist bereits im Regelsatz enthalten“)

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Studienkarte 10: Jugendhilfeleistungen im ÜberblickA. HinweisDas Kinder- und Jugendhilferecht ist Gegenstand der Bachelor-Studienganges Soziale Arbeit. Zu den dortigen Lehrinhalten existieren gesonderte, ausführlichere Studienkarten und Podcasts zum Kinder- und Jugendhilferecht, deren Studium empfohlen wird.B. Gemeinsame Wohnformen für Mütter Väter Kinder nach § 19 SGB VIIINach § 19 Abs.1 S.1 SGB VIII haben Mütter oder Väter, die allein für ein Kind zu sorgen haben oder sorgen, einen Anspruch („sollen“) auf Betreuung in einer geeigneten Wohnform gemeinsam mit Ihrem Kind, wenn und solange sie aufgrund ihrer Persönlichkeitsentwicklung dieser Form der Unterstützung bei der Pflege und Erziehung ihres Kindes bedürfen. Das klassische, tradierte Hilfsangebot dieser Hilfeart ist die sog. Mutter-Kind-Einrichtung, bei der eine gemeinsame Betreuung von Mutter und Kind(ern) in einer stationären Einrichtung erfolgt. In der Regel handelt es sich um jüngere Mütter, z.T. auch um behinderte und/oder suchtkranke Mütter, die neben der Unterstützung bei der Pflege und Erziehung ihres Kindes sowie persönlichen Hilfen auch Hilfen zur schulischen und beruflichen Bildung benötigen. Insbesondere werden durch Sicherstellung der Kinderbetreuung entsprechende Freiräume für Schul- und Berufsausbildung geschaffen. Im Vordergrund der Hilfen steht bei § 19 SGB VIII die „Qualifizierung“ der Eltern, vor allem der Mutter für diese Rolle. Neben Fragen der eigenen Persönlichkeitsbildung, der Ausbildung eines entsprechenden Rollenverständnisse und Verantwortungsbewusstseins gehört dazu auch die Befähigung zu wirtschaftlicher Eigenverantwortung, also Schul- und Ausbildung.C. Hilfe zur ErziehungNach § 27 SGB VIII erhalten Personensorgeberechtigte „Hilfe zur Erziehung“, wenn eine „dem Wohl des Kindes entsprechende Erziehung nicht gewährleistet“ ist. Wenn also die Familie die in sie gesetzten Erwartungen und Ansprüche auf Erziehung und Förderung ihrer Kinder nicht gewährleistet, wird erstens versucht, mit sozialpädagogischer Beratung und Therapie die Familie wieder in Stand zu setzen, ihre Aufgaben zu erfüllen.

Wichtig ist, dass die Ansprüche den Personensorgeberechtigten (Eltern bzw. Vormund oder Pfleger) und nicht dem Kind zustehen. Wollen diese die Hilfe nicht, bleib das Kind unbeholfen.

Art und Umfang der Hilfen: Die Hilfen werden nach § 27 Abs.2 SGB VIII insbesondere nach den §§ 28 – 35 SGB VIII gewährt. Diese Regelungen enthalten eine katalogartige Aufzählung tradierter und fachlich etablierter Hilfen. Durch das Wort „insbesondere“ betont der Gesetzgeber aber, dass über den Katalog hinaus alle Hilfen gewährt werden können, die bedarfsgerecht sind. Auch die weitere Formulierung in § 27 Abs.2 SGB VIII („…nach dem erzieherischen Bedarf im Einzelfall …“) betont dieses: Art und Umfang der Hilfen sind vom jeweiligen Bedarf abhängig; es gilt der Bedarfsdeckungsgrundsatz. Will man also eine bestimmte Hilfe zugunsten des jungen Menschen durchsetzen, so bedarf es einer fachlichen Ableitung des konkreten Hilfebedarfes aus dem jeweiligen Defizit („Der junge Mensch hat dieses oder jenes Problem; er braucht gerade die begehrte Hilfe, weil …“).D. Eingliederungshilfe für seelisch behindertet Kinder und JugendlicheSiehe unten bei der Studienkarte „Ausgewählte Anspruchsgrundlagen zugunsten von Menschen mit Behinderungen“.E. Hilfe für junge VolljährigeNach § 41 SGB VIII haben junge Volljährige eine Anspruch auf Hilfe für die Persönlichkeitsentwicklung und zur eigenverantwortlichen Lebensführung, wenn und solange die Hilfe aufgrund der individuellen Situation des jungen Menschen erforderlich ist. § 41 SGB VIII etabliert damit ein Hilfsangebot zugunsten von (jungen) volljährigen Menschen. Zweck der Norm ist es, junge Volljährige durch Einsatz von Hilfsangeboten der Jugendhilfe Eigenverantwortlichkeit und Gemeinschaftsfähigkeit der jungen Volljährigen zu entwickeln und zu stärken.

Die Hilfe wird in der Regel nur bis zum 21. Lebensjahr gewährt. In begründeten Einzelfällen soll sie für einen begrenzten Zeitraum darüber hinaus fortgesetzt werden. Ein Beginn der Hilfe kommt damit nur zwischen 18. und dem 21. Geburtstag in Betracht. Ab dem 21. Geburtstag kann diese Hilfe nicht mehr begonnen werden (vgl. § 41 Abs.1 S.2, s. Hs.: „…fortgesetzt werden“). Obergrenze für die Hilfe für junge Volljährige ist das 27. Lebensjahr. Diese Obergrenze wird zwar in § 41 SGB VIII nicht ausdrücklich genannt. Sie folgt aber daraus, dass nach den Begriffsbestimmungen des § 7 Abs. 1 SGB VIII ein junger Volljähriger ein Mensch ist, der 18 aber noch nicht 27 Jahre alt ist. Typische Fälle für eine Fortsetzung der Hilfe über das 21. Lebensjahr hinaus sind solche, in denen die Hilfe weiter gewährt werden muss, weil die Ausbildung noch nicht abgeschlossen ist. Darüber hinaus kommt eine Verlängerung der Hilfe über das 21. Lebensjahr hinaus auch bei Vorliegen einer seelischen Behinderung im Sinne des § 35 a SGB VIII in Frage.

Hinsichtlich der Art und Ausgestaltung der Hilfe verweist § 41 Abs. 2 SGB VIII auf die Hilfen zur Erziehung und die Eingliederungshilfe für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche. § 41 Abs. 2 SGB VIII regelt dies etwas unübersichtlich in einer Paragraphenkette (lesen!). Im Ergebnis sind dort alle Vorschriften aufgezählt, die solche Hilfearten enthalten, die auch eine Verselbstständigung des jungen Menschen ermöglichen können. Dagegen sind solche Hilfearten, die einen familiären Bezug haben und darauf ausgerichtet sind das „System Familie“ zu stärken, ausgeschlossen. In der Praxis haben sich neben so genannten Regelangeboten für junge Volljährige eine Reihe von

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Spezialangeboten insbesondere für junge Frauen, Suchtkranke und psychisch kranke junge Menschen heraus-gebildet. Auch bei §§ 41 SGB VIII gilt der sog. Bedarfsdeckungsgrundsatz (siehe dazu oben die Studienkarte zu § 19 SGB VII).

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Studienkarte 11: Eingliederungshilfeleistungen im ÜberblickA. ÜberblickLeistungen zugunsten von Menschen mit Behinderungen finden sich über das Sozialgesetzbuch verstreut in verschiedenen Leistungsgesetzen. Im Rahmen der Betreuung behinderter Menschen in Einrichtungen sind insbesondere das SGB XII, das SGB VIII, das SGB IX sowie das SGB V relevant. Die Gesamtheit der Regelungen, die sich mit der (Wieder-)eingliederung von Menschen mit Behinderungen in die Gesellschaft befassen, wird Rehabilitationsrecht (Eingliederungshilferecht, =Reha-Recht) genannt. Das SGB IX nimmt unter den vorgenannten Gesetzen insofern eine Sonderstellung ein, als es zwar einerseits umfassend für alle Bereiche des Rehabilitationsrecht geltende Regelungen enthält, andererseits aber subjektive, also auf den einzelnen bezogene Rechtsansprüche nicht enthält. Geregelt ist zum Beispiel, was rechtlich überhaupt unter einer „Behinderung“ verstanden wird (§ 2 SGB IX), wie Zuständigkeitskonflikte gelöst werden (§ 14 SGB IX), wie die Leistungen ausgeführt werden (§§ 17 ff. SGB IX), etc. pp. Das SGB IX erfüllt damit die Funktion eines allgemeinen Teils für das Rehabilitationsrecht, wie sich aus § 7 SGB IX ergibt. Die jeweiligen Anspruchsgrundlagen für Leistungen finden sich jedoch in den anderen, speziellen Sozialleistungsgesetzen, wie SGB V, SGB VIII, SGB XII (siehe dazu oben SK 4).

Allen Anspruchsgrundlagen zugunsten von Menschen mit Behinderungen setzen voraus, dass der jeweilige Hilfesuchende „behindert“ ist. Der Behinderungsbegriff findet sich daher als Tatbestandsvoraussetzung in allen Leistungsgesetzen, welchen Ansprüche zugunsten von Menschen mit Behinderungen regeln. Der Behinderungsbegriff wird deshalb im Folgenden dargestellt. Sodann wird ein Überblick über ausgewählte Anspruchsgrundlagen gegeben.B. Der BehinderungsbegriffDer Begriff der Behinderung erfährt in § 2 SGB IX eine Legaldefinition: Danach sind Menschen behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht und daher (!) ihre Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft beeinträchtigt ist. Behinderung beinhaltet also stets zwei Elemente: ersten den abweichenden (Gesundheits-) zustand, zweitens die Beeinträchtigung der Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft. Man spricht deshalb auch vom zweigliedrigen Behinderungsbegriff. Behinderung ist als immer eine Kombination aus abweichenden (Gesundheits-)zustand einerseits und gesellschaftlicher Desintegration andererseits; genauer: Behinderung ist gesellschaftliche Desintegration als Folge von Krankheit. Der behinderte Mensch ist deshalb immer auch krank, nicht aber umgekehrt. Leistungen für Behinderte, die auf gesellschaftliche (Re-) integration gerichtet sind, gehen deshalb über die Krankenbehandlungen hinaus.

Bsp.: Leistungen für Menschen mit Sehbehinderungen können z.B. Hilfen unmittelbar zur Verbesserung der Sehfähigkeit sein (dann handelt es sich um reine SGB V Leistungen), es können aber auch Leistungen sein, die Ihnen eine Teilnahme am gesellschaftlichen und beruflichen und schulischen Leben ermöglichen (z.B. Fahrdienste, moderne Schreibtechnologie, etc.). Der Alkoholkranke hat im Anschluss an seine akutmedizinische Behandlung in einem Suchtkrankenhaus Anspruch auf eine Rehabilitationsbehandlung, bei der etwa Techniken zur Reorganisation des Alltags- und Berufslebens erlernt werden. Der jugendliche Alkoholkranke kann Therapieleistungen nach § 35a SGB VIII beanspruchen, sofern er durch die Alkoholkrankheit von einer seelischen Behinderung zumindest bedroht ist.

Eine schematische Darstellung des Behinderungsbegriffes finden Sie auf der Folgeseite

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Studienkarte 12: Ausgewählte Anspruchsgrundlagen zugunsten von Menschen mit Behinderungen

A. Leistungen nach dem SGB XIINach § 53 Abs.1 SGB XII haben behinderte oder von Behinderung bedrohte Personen Anspruch auf Eingliederungshilfe. Der Begriff der Behinderung wird in § 53 SGB XII nicht definiert. Die Vorschrift verweist auf die Definition in § 2 SGB IX. Zu dem dort normierten zweigliedrigen Behinderungsbegriff siehe die vorhergehende SK. Hervorzuheben ist, dass das SGB IX und damit auch das SGB XII alle Arten von Behinderung, also körperliche, geistige und seelische Behinderung sowie auch alle Altersgruppen Behinderter erfasst.

Die Leistungen der Eingliederungshilfe nach dem SGB XII ergeben sich aus §§ 53 Abs.4 54 ff. SGB XII sowie den §§ 26 – 59 SGB IX geregelt. Auf die Leistungen im Einzelnen kann hier nicht eingegangen werden. Entscheidend für die hier zu erörternde Problematik ist jedoch, dass die Leistungen des Behindertenrechts in verschiedene Leistungsgruppen eingeteilt werden: Leistungen zur Teilhabe am Leben in der Gesellschaft werden erbracht als

Leistungen zur medizinischen Rehabilitation, Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben, unterhaltssichernde und ergänzende Leistungen, Leistungen zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft (allgemeine soziale Rehabilitation).

Die §§ 26 – 59 SGB XII listen die jeweils in Frage kommenden Leistungen im Detail auf. Von besonderer Bedeutung ist, dass Leistungen zur Teilhabe in den §§ 26 – 59 SGB XII zwar – wie im Bereich des gesetzlichen Krankenversicherung – katalogartig aufgezählt sind. Anders als im SGB V handelt es sich jedoch hier nicht um abgeschlossene Leistungskataloge mit der Folge, dass dort nicht enthaltene Leistungen nicht gewährt werden könnten. Dies gilt jedenfalls für den Bereich der Leistungen zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft. Viel-mehr kann jede Leistung, die geeignet und notwendig ist, um das Rehabilitationsziel zu erreichen, gewährt werden, auch wenn sie nicht katalogartig aufgeführt ist. B. Leistungen nach dem SGB VIIII. Eingliederungshilfe für seelische behinderte Kinder und Jugendhilfe

Nach § 35 a SGB VIII haben seelisch behinderte Kinder und Jugendliche Anspruch auf Eingliederungshilfe. Wie in § 2 Abs.1 SGB IX ist der Behinderungsbegriff auch im Kinder- und Jugendhilferecht zweigliedrig aufgebaut. In § 35a SGB VIII wird dies dadurch hervorgehoben, dass der Leistungstatbestand in zwei durch Nummern unterteilte Elemente gegliedert ist. Man trifft also auch im SGB VIII auf einen Behinderungsbegriff, der sich beschreiben lässt als gesellschaftliche Desintegration infolge von Krankheit (zweigliedriger Behinderungsbegriff). Anders als im SGB XII richtet sich der § 35 a SGB VIII jedoch nicht an alle Behinderten sondern ist beschränkt auf seelisch behinderte Kinder, Jugendliche und junge Volljährige. Überschneidungen zum Bereich des SGB XII ergeben sich daher nur in diesem Bereich: Das SGB XII sieht entsprechende Leistungen für alle Arten von Behinderungen und für alle Altersgruppen vor, das SGB VIII dagegen nur für Personen, die seelisch behindert sind und die darüber hinaus Kind, Jugendlicher oder junger Volljähriger sind. Leistungen des SGB VIII für Behinderte sind daher nicht nur durch Festschreibung auf eine bestimmte Behinderungsart sondern auch im Hinblick auf das Alter beschränkt: Sie können längstens bis zum 27. Lebensjahr gewährt werden.

Inhaltlich können diejenigen Leistungen gewährt werden, die auch nach dem SGB XII gewährt werden können. Der § 35a Abs.3 SGB VIII verweist insoweit auf die Leistungen nach dem SGB XII. Beschränkt auf den vorgenannten Personenkreis können auch im Bereich des SGB VIII gewährt werden:

Leistungen zur medizinischen Rehabilitation, Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben, unterhaltssichernde und ergänzende Leistungen, Leistungen zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft (allgemeine soziale Rehabilitation).

Im Übrigen gilt daher das zu A. Gesagte. Insbesondere existiert auch im Bereich der Eingliederungshilfe für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche grundsätzlich keine Beschränkung auf Leistungskataloge. Es kann jede Hilfe gewährt werden, sofern sie geeignet und notwendig ist.

Wegen der Überschneidungen sowohl bei den Tatbestandsvoraussetzungen wie bei den einzelnen Leistungen bedarf es einer Abgrenzung zwischen den Leistungen des SGB VIII und den Leistungen des XII.

§ 35 a SGB VIII verlangt einen abweichenden, also krankhaften Gesundheitszustand. Dieser krankhafte Gesundheitszustand ist nach § 35 a Abs.1a SGB VIII auf Grundlage der Regeln der ICD 10 zu diagnostizieren. Die Diagnose von Krankheiten obliegt aufgrund des Approbationsvorbehaltens grundsätzlich Ärzten bzw. anderen approbierten Berufsgruppen (Psychologische Psychotherapeuten, Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten). Das SGB VIII verlangt dieses seit der Reform durch das KICK ausdrücklich. Die Feststellung der (drohenden) Beeinträchtigung der Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft sowie die Auswahl der erforderlichen Leistungen obliegt

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dagegen allein dem jeweils zuständigen Jugendamt. Dieses entscheidet auf Grundlage der Stellungnahme des Arztes bzw. des Psychotherapeuten über die geeignete und notwendige Hilfe.

Weil die Feststellung einer seelischen Behinderung immer auch die Feststellung einer psychischen Erkrankung beinhaltet, ergeben sich neben den Abgrenzungsproblemen zum SGB XII notwendig auch Abgrenzungsfragen im Hinblick auf die Leistungen nach dem SGB V.II. Hilfen zur Erziehung

Nach § 27 Abs.3 SGB VIII können Personensorgeberechtigte als Hilfe zur Erziehung auch therapeutische Leistungen erhalten. Zu den Tatbestandsvoraussetzungen hatte ich oben schon das Nötige gesagt. Therapeutische Leistungen gehören auch zum Leistungskatalog nach dem SGB V. Sie kommen auch als Leistungen der Eingliederungshilfe nach dem § 53 ff. SGB XII und nach § 35a SGB VIII in Betracht.III. Hilfe für junge Volljährige

§ 41 Abs.2 SGB VIII verweist sowohl auf § 27 Abs.3 SGB VIII als auch auf § 35a SGB VIII. Auch jungen Volljährigen können daher die unter I. genannten Leistungen gewährten werden.

Hinzuweisen ist auf die in § 41 Abs.1 S.2 SGB VIII genannte Altersgrenze, wonach Hilfe in der Regel nur bis zum 21. Lebensjahr zu gewähren ist, in „begründeten Einzelfällen“ allerdings auch darüber hinaus bis längstens zum 27. Lebensjahr. Die Frage, ob der Einzelfall eine Verlängerung rechtfertigt, ist eine Frage der Anspruchsvoraussetzungen. Verlängerungen werden in der Praxis – wenn überhaupt – in Regel im Zusammenhang mit Ausbildungs- oder Schulabschlüssen begründet. Auch psychische Erkrankungen können eine Verlängerung erforderlich machen.C. Leistungen nach dem SGB VI. Krankenbehandlung

Nach § 27 SGB V haben Versicherte Anspruch auf Krankenbehandlung. Welche Leistungen die Krankenbehandlung umfasst, ist zunächst in § 27 Abs.1 S.2 Nr.1 – 6 SGB VIII aufgezählt (ärztliche Behandlung einschließlich Psychotherapie, zahnärztliche Behandlung, Krankenhausbehandlung, etc.).II. Leistungen der medizinischen Rehabilitation und ergänzende Leistungen

Zu den Leistungen der Krankenbehandlung gehören nach § 27 Abs.1 S.2 Nr.6 SGB V auch die Leistungen der medizinischen Rehabilitation und ergänzende Leistungen:

§ 40 SGB V (Leistungen zur medizinischen Rehabilitation) § 43 SGB V (Ergänzende Leistungen zur Rehabilitation) § 43a SGB VIII (Nichtärztliche sozialpädiatrische Leistungen).

Diese Krankenversicherungsleistungen sind Teil des Rehabilitationsrechtes und haben damit die Eingliederung behinderter Menschen bzw. Kinder zum Ziel, dienen also nicht unmittelbar der Krankenbehandlung. An dieser Stelle ergeben sich Schnittmengen und damit Abgrenzungsfragen im Hinblick auf andere Leistungen der Eingliederungshilfe, insbesondere der Eingliederungshilfe nach dem SGB VIII und dem SGB XII.

Die konkreten Leistungen der Krankenversicherung werden vom „Gemeinsamen Bundesausschuss“ der Ärzte und Krankenversicherungen gemäß § 92 SGB V festgelegt. Im Bereich der Versorgung psychisch kranker sind die sowohl die Psychotherapie-richtlinien und als auch die sog. Heilmittelrichtlinie von besonderer Bedeutung. Auf Einzelheiten dieser Regelungswerke soll an dieser Stelle nicht eingegangen werden. Entscheidend ist, dass diese Richtlinien diejenigen Leistungen, die auf Grundlage des SGB V erbracht werden können abschließend regeln. Leistungen außerhalb des Kataloges können nicht durch die gesetzliche Krankenversicherung gewährt werden (Numerus Clausus der Leistungen). Ist eine bestimmte Leistung nicht in den Richtlinien enthalten, führt dies zu der Vermutung, dass die Leistung zur Krankenbehandlung ungeeignet ist.

Bsp.: Therapien zur Lese-/Rechtsschreibschwäche: Die Heilmittelrichtlinie stuft Therapien bei Lese-Rechtsschreibschwäche als nicht verordnungsfähig ein . Als SGB V-Leistung können sie deshalb nicht finanziert werden. Folge: SGB VIII oder SGB XII-Leistung.

Darüber hinaus dürfen heilkundliche therapeutische Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung nach den Vorgaben des SGB V, denjenigen des Psychotherapeutengesetzes sowie denjenigen der Richtlinien nur durch zugelassene Berufsgruppen erbracht werden (Approbationsvorbehalt, §§ 95 ff. SGB V). Für den Bereich der Psychotherapie sind dies vorrangig Ärzte, psychologische Psychotherapeuten sowie Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten. Nicht zugelassene Leistungserbringer sind von der Leistungserbringung ausgeschlossen (z.B. Heilpädagogen).

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Studienkarte 13: Das Verwaltungs- und Klageverfahren Überblick

A. Hauptsacheverfahren:

Im Folgenden der schematische Ablauf des Verwaltungs- und Klageverfahrens. Bitte studieren Sie gründlich die textlichen Ausführungen zu den einzelnen Verfahrensschritten auf den nachstehenden Studienkarten.

Berufung, etc.Urteil wird bestandskräftig, wenn Bescheidadressat keine weiteren Rechtsmittel einlegt; spätestens ab diesem Verfahrenschrift muss/sollte eine anwaltliche Begleitung

erfolgen

Urteildas zust. Gericht (Sozialgericht oder Verwaltunsggericht prüft die Rechtmäßigkeit des Bescheides und entscheidet über die Rechtmäßigkeit durch Urteil; Schriftform

KlageBescheid wird bestandskräftig, wenn Bescheidadressat keine Klage einlegt; Bescheidempfänger muss ggf. binnen eines Monats Klage beim zust. Gericht

einreichen; anwaltliche Begl. sinnvoll

WiderspruchsbescheidWiderspruchsstelle erlässt einen Widerspruchsbescheid; entweder ändert Sie den angefochtenen Bescheid; Schriftform

VerwaltungsverfahrenWiderspruchsstelle führt eine erneutes VwVf durch und prüft die Rechtmäßigkeit des Ausgangsbescheides

WiderspruchBescheid wird bestandskräftig, wenn Bescheidadressat keinen Widerspruch einlegt; Bescheidempfänger muss gegebenenfalls innerhalb eines Monats Widerspruch

einlegen

Bescheidzuständige Behörde erlässt einen Bescheid (=Verwaltungsakt), der verbindlich feststellt, ob auf die beantragte Leistung ein Anspruch besteht; Schriftform

Verwaltungsverfahrenzuständige Behörde prüft im Verwaltungsverfahren, ob Leistungsvoraussetzungen vorliegen; sie muss dabei die Regeln des SGB X einhalten (Sozialverwaltungsverfahren

und Sozialdatenschutz)

Antragdurch Leistungsberechtigen in der Regel schriftlich auf vorgegebenen Formularen bei der zuständigen Behörde

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B. Eilverfahren

Im Folgenden der Ablauf des verwaltungs- und sozialgerichtlichen Eilverfahrens gem. § 123 VwGO bzw. § 86 b SGG. Bitte studieren Sie auch hier gründlich die textlichen Ausführungen zu den einzelnen Verfahrensschritten auf den nachstehenden Studienkarten.

Einweilige AnordnungGericht erlässt eine sog. "einstweilige Anordnung" und verpflichtet die Behörde zur Leistung, wenn der Anspruch besteht und wenn die Sache eilt

Prüfung durch das GerichtGericht prüft die Anspruchsvoraussetzungen und die Eilbedürftigkeit,; es gilt der Amtsermittlungsgrundsatz

Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung an das zuständige Sozialgericht oder VerwaltungsrerichtVoraussetzung ist die Eilbedürtigkeit und das Bestehen des behaupteten

Anspruches; der Anspruch muss in jedem Fall vorher/gleicheitig bei der Behörde geltend gemacht werden

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Studienkarte 14: Antragstellung und Zuständigkeiten IA. Überblick Sozialleistungen werden zum Teil nur auf Antrag gewährt. Zum Teil werden Sozialleistungen auch ohne Antrag gewährt. Während zum Beispiel im SGB II („Hartz-4“) ein strenges Antragsprinzip gilt (§ 37 SGB II), reicht es im SGB XII (Sozialhilfe) aus, wenn der Sozialleistungsträger Kenntnis vom Hilfebedarf hat (§ 18 SGB XII). Im Jugendhilferecht gilt wiederum etwas anderes: Hier bedarf es zwar keines förmlichen Antrages, wohl aber muss der Hilfesuchende (idR also die Eltern) zum Ausdruck bringen, dass er die Hilfe will. In der Praxis hat es sich etabliert, dass auch dort, wo kein strenges Antragsprinzip herrscht, Anträge gestellt werden. In der Regel halten die Sozialleistungsträger hierfür entsprechende Formulare bereit. In der Praxis sollten diese Anforderungen auch bedient werden, weil sie für den Hilfesuchenden mehr Rechtssicherheit herbeiführen. Denn so kann er belegen, dass und wann er einen entsprechenden Antrag gestellt hat.B. Form von AnträgenAnträge sollten immer schriftlich (also nicht per E-Mail oder mit ähnlichen elektronischen Kommunikationsmitteln) gestellt werden. Der Antragsteller trägt die Beweislast für den Eingang seines Antrages beim zuständigen Sozialleistungsträger. Zur Absicherung ist daher es sachgerecht, den Eingang des Antrages telefonisch abzufragen und auch einen Vermerk darüber zu fertigen, wer wann den Eingang des Antrages bestätigt hat. Alternativ dazu kann der Antrag auch per „Einschreiben/Rückschein“ bei der Post aufgegeben werden. Der Rückschein beweist den Zugang.C. ZuständigkeitAnträge müssen grundsätzlich bei der zuständigen Behörde gestellt werden (§ 16 SGB I). Welche Behörde für die Gewährung der jeweiligen Sozialleistung zuständig ist, ist in den einzelnen Sozialleistungsgesetzen geregelt (meist im hinteren Teil). Werden Sozialleistungen bei einem unzuständigen Leistungsträger geltend gemacht, so hat dieser unzuständige Träger den Antrag unverzüglich an den zuständigen Leistungsträger weiterzuleiten (§ 16 Abs. 2 Satz 2 SGB I). Der Antrag gilt in dem Zeitpunkt als gestellt, in dem er bei einem Sozialleistungsträger (eben auch einem unzuständigen) gestellt wurde. Dies ist deshalb wichtig, weil bei antragsabhängigen Sozialleistungen dann rückwirkend ab diesem Zeitpunkt gezahlt wird.D. Sachliche und örtliche ZuständigkeitDie sachliche Zuständigkeit meint die Zuständigkeit nach Aufgabenbereichen. So ist etwa die Aufgabe, Jugendhilfeleistungen zu erbringen, den Jugendämtern zugewiesen, während etwa die Aufgabe Sozialhilfeleistungen zu erbringen, den Sozialhilfeträgern zugewiesen ist. Im Bereich des Versicherungsrechtes gibt es zum Beispiel die Zuweisung der Aufgaben der gesetzlichen Krankenversicherung an die Krankenkassen, während für Rentenversicherungsleistungen der Rentenversicherungsträger zuständig ist. Will man also die sachliche Zuständigkeit klären, so muss man danach fragen, aus welchem Leistungsgesetz sich der Anspruch ergibt oder ergeben könnte. Die örtliche Zuständigkeit meint die unter räumlichen bzw. geographischen Gesichtspunkten zugewiesene Zuständigkeit. Sie ist oft abhängig vom (gewöhnlichen oder tatsächlichen) Aufenthalt des Hilfesuchenden (§ 86 SGB VIII) oder von seinem Aufenthalt vor Beginn der Leistung (zB. § 86 b SGB VIII). Unsicherheiten über Zuständigkeiten klärt man am schnellsten durch telefonische Rückfragen bei den in Frage kommenden Sozialleistungsträgern.E. Ungeklärte ZuständigkeitenI. Allgemeines

Das Sozialleistungsrecht wirft aufgrund seiner Struktur eine Vielzahl von Zuständigkeitskonflikten auf.1. Streit über die örtliche Zuständigkeit

Einmal kann es Streit über die örtliche Zuständigkeit geben, zum Beispiel, weil unklar ist, wo ein Leistungsberechtigter seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat oder hatte. Manchmal ist auch unklar, ob der Leistungsberechtigte überhaupt einen gewöhnlichen Aufenthalt (das ist der Lebensmittelpunkt) hat. Manchmal kommt es auch vor, dass der Leistungsberechtigte überhaupt keinen gewöhnlichen Aufenthalt hat. Dann ist oft die Behörde am Ort des tatsächlichen Aufenthaltes örtlich zuständig. Die Zuständigkeit wird dann dort begründet, „wo der Hilfesuchende gerade ist“.2. Streit über die sachliche Zuständigkeit

Häufiger sind Konflikte um die sachliche Zuständigkeit und zwar in der Form, dass Streit um die Frage entsteht, ob Leistungsansprüche nach dem einen Leistungsgesetz oder nach dem anderen Leistungsgesetz bestehen. Je nach Zuordnung des Leistungsanspruches werden dann unterschiedliche Sozialleistungsträger zuständig.

Bsp.: Soll z.B. ein behindertes Kind stationär untergebracht werden, weil es zum einen leicht behindert ist, zum anderen aber seine Eltern aufgrund eigener Probleme nicht in der Lage sind das Kind adäquat zu fördern und zu betreuen, so muss danach gefragt werden, ob im Ergebnis die fehlende Erziehungseignung der Eltern (dann SGB VIII) oder die Behinderung (dann SGB XII) Grund für die Unterbringung ist.

In diesen Fällen kommt es dadurch zu Konflikten um die Zuständigkeit, dass die jeweiligen Sozialleistungsansprüche voraussetzen, dass der Hilfesuchende bestimmte Kriterien, man kann auch sagen: „Zuschreibungen“ erfüllen muss, um in

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den Genuss einer bestimmten Leistung zu kommen. Der Hilfesuchende muss also „behindert“ (dann einer der Reha-Träger), „krank“, (dann die GKV) in seiner Persönlichkeitsentwicklung beeinträchtigt“ (dann das Jugendamt), geistig behindert (dann der Sozialhilfeträger), seelisch behindert (dann der Jugendhilfeträger), etc. pp. sein. Je nach Zuschreibung wird entweder der eine oder der andere Sozialleistungsträger zuständig. Diese vom Hilfesuchenden zu erfüllenden Kriterien bzw. Zuschreibungen liegen oft nicht klar auf der Hand. So ist zum Beispiel oft nicht klar, ob ein junger Mensch deshalb hilfebedürftig ist, weil seine Persönlichkeitsentwicklung nicht abgeschlossen ist (§ 41 SGB VIII) oder ob sie deshalb nicht abgeschlossen ist, weil er behindert (§ 53 SGB XII) ist. Oft sind auch die Tatbestandsvoraussetzungen beider Anspruchsgrundlagen erfüllt. In diesem Fall entsteht notwendig ein Konflikt um die richtige Zuständigkeit. Eine geteilte Zuständigkeit gibt es – von bestimmten Ausnahmen abgesehen – grundsätzlich nicht.3. Streit um die Nachrangige Leistungspflicht

Schließlich können Zuständigkeitskonflikte auch daher rühren, dass sich bestimmte Sozialleistungsansprüche sowohl aus dem einen wie auch aus dem anderen Gesetz herleiten lassen.

Bsp.: Ein Beispiel sind z.B. die Vorschriften zur Unterhaltssicherung im SGB VIII einerseits und die Leistungen zur Existenzsicherung im SGB XII andererseits. Für diesen Fall ist in § 10 Abs.4 SGB VIII gesetzlich geregelt, dass dann, wenn sich ein Leistungsanspruch zur Unterhaltssicherung aus dem SGB VIII herleiten lässt (vergleiche hierzu § 39 SGB VIII) die Regelungen des SGB II und des SGB XII keine Anwendung mehr finden.

Ist ein Kind z.B. im Rahmen der Vollzeitpflege nach § 33 SGB VIII untergebracht so ist nach § 39 SGB VIII auch der notwendige Unterhalt des Kindes oder Jugendlichen außerhalb des Elternhauses durch das Jugendamt sicherzustellen. Das jeweilige Kind hätte (Bedürftigkeit vorausgesetzt) nach den Buchstaben des SGB XII zwar auch einen Anspruch auf Existenzsicherungsleistungen in Form von Hilfe zum Lebensunterhalt nach § 27 SGB XII. Nach § 10 Abs. 4 SGB VIII gehen die Leistungen nach dem SGB VIII aber den Leistungen nach dem SGB XII vor. Im Ergebnis muss daher der Sozialhilfeträger nicht, der Jugendhilfeträger aber wohl leisten.

Regelungen dieser Art finden sich an vielen Stellen im Sozialgesetzbuch (weitere Beispiele sind § 2 SGB XII, § 67 S.2 SGB XII, § 5 SGB II). Diese Regelungen nennt man Nachrangregelungen. Durch diese Nachrangregelungen werden die einen Leistungsträger nachrangig verpflichtet und die anderen Leistungsträger vorrangig verpflichtet. Diese Aussage drückt ein wichtiges Prinzip aus, welches von den Sozialleistungsträgern regelmäßig nicht berücksichtigt wird: Zwar gibt es eine vorrangige und eine nachrangige Pflicht zur Leistung, beide Sozialleistungsträger sind und bleiben aber im Verhältnis zum Leistungsberechtigten zur Leistung verpflichtet. Dies gilt eben auch für den nachrangig verpflichteten Sozialleistungsträger. Auch der nachrangig verpflichtete Sozialleistungsträger muss gegenüber dem Hilfesuchenden leisten. Der Nachrang wird dadurch verwirklicht, dass der nachrangig verpflichtete Sozialleistungsträger dann, wenn er anstelle des vorrangig verpflichteten Sozialleistungsträgers gegenüber dem Hilfesuchenden Hilfen gewährt, einen Anspruch auf Kostenerstattung gegenüber dem eigentlich verpflichteten vorrangigen Leistungsträger hat (§§ 102 – 114 SGB X). Vgl. hierzu das wichtige Urteil des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG, Urteil vom 23. neunten 1999, Az.: 5 C 26/98, juris, Rn. 14, am Ende).

Der Unterschied zum vorhergehenden, unter 2. beschriebenen Fall besteht darin, dass bei dem unter 2. beschriebenen Streit um die sachliche Zuständigkeit beide Sozialleistungsträger jeweils behaupten, der Hilfesuchende erfülle die Anspruchsvoraussetzungen nicht.

Bsp.: In dem unter 2. zitierten Beispiel (behindertes Kind) würde also der Träger der öffentlichen Jugendhilfe behaupten, es bestehe kein Leistungsanspruch nach Jugendhilferecht, weil allein die Behinderung und nicht die fehlende Erziehungseignung der Eltern Grund für die Unterbringung sei. Der Sozialhilfeträger würde dagegen behaupten nicht die Behinderung, sondern die fehlende Erziehungseignung sei der Grund für die Unterbringung.

Bei nachrangige Leistungsverpflichtung ist es genau umgekehrt: Es existieren zwei Anspruchsgrundlagen zugunsten des Hilfesuchenden. Die Hilfesuchenden erfüllen somit die Anspruchsvoraussetzungen beider Anspruchsgrundlagen und die streitenden Sozialleistungsträger negieren dieses auch nicht. Einer der Träger behauptet in diesen Fällen lediglich nachrangig zuständig zu sein. Diese Fälle sind eigentlich gar keine Zuständigkeitskonflikte, weil ja beide zuständig sind. 4. Die häufige Konsequenz von Zuständigkeitskonflikten: Keine Hilfe für den Hilfesuchenden

Weil Zuständigkeit immer auch finanzielle Verantwortung für den jeweiligen Klienten bedeutet, sind alle Sozialleistungsträger bestrebt, solche Fälle zu identifizieren, für die nicht sie sondern andere zuständig sind. Weil alle Sozialleistungsträger in irgendeiner Form budgetiert sind, nehmen alle eine entsprechend parteiliche Sicht ein und versuchen unberechtigte Ansprüche abzuweisen, für die sie sich zuständig sind. Dies ist ihr gesetzlicher Auftrag.

Praktisch führt dieses dazu, dass der Hilfebedürftige trotz rechtzeitigen Antrages seine Leistung weder vom einen noch vom anderen Sozialleistungsträger erhält, weil beide jeweils auf die Zuständigkeit des anderen verweisen. Die Zuständigkeitskonflikte werden so zunächst zum Problem des Hilfesuchenden.

Berufen sich Sozialleistungsträger auf den Nachranggrundsatz und verweigern deshalb die Leistung reicht oft die Androhung einer Klage und eines einstweiligen Rechtsschutzverfahrens und der Hinweis auf die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts vom 23. September 1999 (s.o.) aus, um den Kostenträger zur Leistung zu bewegen. Leistet

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der dann immer noch nicht, kann im Wege der sogenannten einstweiligen Anordnung schneller Rechtsschutz erreicht werden.

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Studienkarte 15: Antragstellung und Zuständigkeiten II Vorleistungspflichten und Zuständigkeitsklärung

A. Der Umgang mit Zuständigkeitskonflikten in der SozialrechtsberatungEs ist zwischen Zuständigkeitsproblemen die aus Unkenntnis über Zuständigkeitsfragen bestehen und echten Zuständigkeitskonflikten zu unterscheiden: Die Zuständigkeitsprobleme entstehen in der Regel dadurch, dass der Betroffene Leistungsberechtigte aus schlichter Unkenntnis über die gesetzlichen Grundlagen nicht weiß wo er seinen Antrag stellen soll. Zuständigkeitskonflikte haben dagegen eine andere Wurzel. Sie rühren eben aus dem oben beschriebenen Problem, dass die Abgrenzung zweier Leistungsbereiche auf rechtlichen Gründen oft nicht einfach vorzunehmen ist und dass deshalb Behörden ihre Zuständigkeit wechselseitig verneinen und sie an die jeweils andere Stelle abgeben wollen.

Bezogen auf Zuständigkeitsprobleme, die aus Unkenntnis herrühren bietet sich zunächst ein praktischer Umgang an. Der Leistungsberechtigte bzw. sein Berater sollte bei Zweifeln über die Zuständigkeit zunächst versuchen über die üblichen Quellen versuchen, herauszufinden, wer zuständig ist und in welcher Form die entsprechenden Anträge zu stellen sind. Hierbei hilft auch systematisches Wissen über den Aufbau des Sozialgesetzbuches (siehe oben SK 4). Erfahrungsgemäß sind Anrufe wesentlich effizienter als stundenlange Recherchen in Internetforen und ähnlichen Quellen. Bleiben danach weitere Zweifel, so ist es ohne weiteres möglich, die Anträge formlos und auch bei verschiedenen in Betracht kommenden Leistungserbringern zu stellen. Denn es ist Aufgabe der Behörden die Zuständigkeit von Amts wegen zu klären (siehe dazu unten die Ausführungen zum sogenannten Amtsermittlungsgrundsatz).

Echte Zuständigkeitskonflikte, die aus der Systematik des SGB herrühren erfordern dagegen einen anderen Umgang. Der Gesetzgeber hat erkannt, dass es zwischen den einzelnen Sozialleistungsbereichen zu Schnittmengen und Konkurrenzen kommen kann. Er hat erkannt, dass dadurch Zuständigkeitskonflikte entstehen, die dazu führen können, dass Hilfesuchenden von mehreren in Betracht kommenden Sozialleistungsträgern Leistungen verweigert werden und dass schließlich die Gefahr besteht, dass der Hilfesuchende von keinem der in Betracht kommenden Leistungsträger die Leistung erhält. Der Gesetzgeber hat deshalb sog. Vorleistungsregelungen (§ 43 SGB I, § ) bzw. Regelungen zur Zuständigkeitsklärung und Selbstbeschaffung (§ 14,15 SGB IX) geschaffen, die dieses Problem lösen sollen. Die Erläuterung dieser Vorschriften erfolgt auf der folgenden Studienkarte.B. ÜberblickDer Gesetzgeber hat an verschiedenen Stellen im Sozialgesetzbuch Regelungen zur Bewältigung von Zuständigkeitskonflikten geschaffen. Eine Regelung findet sich im allgemeinen Teil des Sozialgesetzbuches (§ 43 SGB I). Die weiteren Regelungen finden sich im besonderen Teil des Sozialgesetzbuches (§§ 14,15 SGB IX sowie § 86 d SGB VIII). Schwierig ist auch hier wieder herauszufinden, welche der drei Vorleistungsregelungen Anwendung findet. Hierzu muss man sich zunächst der Systematik des Sozialgesetzbuches erinnern (vgl. Studienkarte 4): Die Regelungen des allgemeinen Teils finden immer dann Anwendung, wenn die Regelungen des besonderen Teils keine Spezialregelungen vor. Findet man also zur Lösung von Zuständigkeitskonflikten weder in §§ 14, 15 SGB IX noch in § 86 d SGB VIII eine Regelung, so bleibt es bei der Anwendung des § 43 SGB I. Man muss also klären, welche Fallgruppen von §§ 14, 15 SGB IX und von § 86 d SGB VIII abgedeckt werden:

§§ 14, 15 SGB IX gehören zum Recht der Eingliederungshilfe. Es geht hier also ausschließlich um Zuständigkeitskonflikte die im Zusammenhang mit sogenannten Eingliederungshilfeleistungen, also Leistungen zugunsten von Menschen mit Behinderungen stehen. Geht es nicht um Eingliederungshilfeleistungen, können diese Vorschriften keine Anwendung finden.

§ 86 d SGB VIII ist eine Spezialregelung aus dem Bereich der Kinder- und Jugendhilfe. Geht es nicht um Kinder- und Jugendhilfeleistungen, kann diese Vorschrift keine Anwendung finden. C. Vorläufige Leistungen nach § 43 SGB IStreiten sich zwei Sozialleistungsträger über die sachliche oder auch die örtliche Zuständigkeit und greifen nicht die zuvor erwähnten Sonderregelungen, so verhilft § 43 SGB I dem Leistungsberechtigten zu einer schnellen Lösung. Der Gesetzgeber will nämlich, dass Zuständigkeitskonflikte nicht auf dem Rücken der Hilfesuchenden ausgetragen werden und verpflichtet deshalb denjenigen Sozialleistungsträger, bei dem der Hilfesuchende seine Leistung zuerst beantragt bzw. in anderer Form begehrt hat, so genannte vorläufige Leistungen zu erbringen: Nach § 43 Abs. 1 Satz 1 SGB I kann der zuerst angegangene Leistungsträger vorläufig Leistungen erbringen wenn ein Anspruch auf Sozialleistungen besteht und zwischen mehreren Leistungsträgern streitig ist, wer zur Leistung verpflichtet ist. „Kann“ bedeutet zwar, dass ein Ermessen der Behörde besteht. Dieses Ermessen besteht aber nicht mehr, wenn der Leistungsberechtigte einen Antrag auf vorläufige Leistungen stellt (§ 43 Abs. 1 Satz 2 SGB I). Folgende Voraussetzungen müssen also erfüllt sein:

Antrag auf die begehrte Leistung bei den infrage kommenden Leistungsträgern es muss ein Anspruch auf die Leistung bestehen und zwar entweder gegen den einen oder gegen den anderen

Sozialleistungsträger

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beide Leistungsträger (es können auch mehr als zwei sein) müssen die Leistung ablehnen (hieran fehlt es oft, weil die Behörden schlicht gar nicht entscheiden; hier helfen Anrufe bei den jeweiligen Behörden)

Antrag auf vorläufige Leistung gegenüber dem zuerst angegangenen Leistungsträger (man braucht also mindestens drei Anträge: Den Antrag auf die Leistung bei der einen Behörde unter Berufung auf die Anspruchsgrundlage aus dem jeweiligen Leistungsgesetz (z.B. § 27 SGB VIII), den Antrag auf die Leistung bei der anderen Behörde unter Berufung auf die Anspruchsgrundlage aus dem jeweiligen Leistungsgesetz (z.B. § 53 SGB XII). Den Antrag auf die vorläufige Leistung gegenüber dem zuerst angegangenen Leistungsträger nach § 43 SGB I.)

Zahlt der zuerst angegangene Sozialleistungsträger dann noch immer nicht, kann mit guten Erfolgsaussichten bei dem Verwaltungsgericht oder beim Sozialgericht (zur Zuständigkeit der Gerichte vgl. § 40 VwGO und § 51 SGG) ein Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung („Eilantrag“) gestellt werden. Dies ist deshalb risikolos, weil das Gericht in diesen Fällen beide Seiten zur Stellungnahme auffordert. Erklärt sich dann eine der Behörden dahingehend, sie sei nicht zuständig, verpflichtet das Gericht den zuerst angegangenen Leistungsträger. Erklärt sich dagegen eine der Behörde für zuständig, ist das Verfahren auch erledigt, weil der Fall gelöst ist.D. Zuständigkeitsklärung und Erstattung selbst beschaffter LeistungenI. Zuständigkeitsklärung nach § 14 SGB IX

Im Bereich des sogenannten Eingliederungshilferechtes, also desjenigen Rechtsgebietes innerhalb des Sozialgesetzbuches, dass Leistungsansprüche zugunsten von Menschen mit Behinderungen regelt, sind Zuständigkeitskonflikte besonders häufig. Der Gesetzgeber hat deshalb hier im SGB IX, welches als allgemeiner Teil des Eingliederungshilferechtes fungiert, eine Sondervorschrift geschaffen: § 14 Abs.1 Satz 1 SGB IX verpflichtet den Rehabilitationsträger (dies ist der Oberbegriff für die Sozialleistungsträger im Eingliederungshilferecht) innerhalb von zwei Wochen nach Eingang des Antrages bei ihm festzustellen, ob er nach dem für ihn geltenden Leistungsgesetz für die Leistung zuständig ist. Stellt er fest, dass er für die Leistung nicht zuständig ist, muss er den Antrag unverzüglich dem nach seiner Auffassung zuständigen Rehabilitationsträger zuleiten, der dann unabhängig von seiner tatsächlichen Zuständigkeit innerhalb von drei Wochen nach Antragseingang bei ihm über den Antrag entscheiden muss (§ 14 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 2 Satz 3 und Abs. 2 Satz 2. SGB IX). Wird der Antrag nicht weitergeleitet, so wird der Rehabilitationsträger bei dem der Antrag vom Hilfesuchenden gestellt wurde, ohne Rücksicht auf dessen tatsächliche Zuständigkeit zuständig. Dieser Rehabilitationsträger muss dann innerhalb von drei Wochen nach Eingang des ursprünglichen Antrages entscheiden (§ 14 Abs. 2 Satz 1 und Satz 2 SGB IX). Müssen für die Feststellung des Rehabilitationsbedarfes Gutachten eingeholt werden, so gelten andere Fristen. Einzelheiten können hier nicht erläutert werden. Siehe hierzu im Bedarfsfall § 14 Abs. 1 und Abs. 2 SGB IX.II. Erstattung selbst beschaffter Leistungen nach § 15 SGB IX

Wird dem Hilfesuchenden nicht innerhalb von drei Wochen die Entscheidung mitgeteilt oder liegt ein zureichender Grund für die Nichtentscheidung nicht vor, kann der Hilfesuchende sich die Hilfe selbst beschaffen und die dafür entstehenden Kosten selbst einklagen (§ 15 SGB XII).III. Verpflichtung zum vorläufigen Tätigwerden nach § 86 d SGB VIII

diese Vorschrift ist eine Spezialregelung aus dem Jugendhilferecht. Sie bezieht sich nur auf die örtliche und nicht auf die sachliche Zuständigkeit. Nach 86 d SGB VIII ist, sofern die örtliche Zuständigkeit nicht fest steht oder sofern der zuständige örtliche Träger nicht tätig wird, der örtliche Träger vorläufig zum Tätigwerden verpflichtet, in dessen Bereich sich der Leistungsberechtigte vor Beginn der Leistung tatsächlich aufhält. Leistungsbeginn ist das erste Geltendmachen des Hilfebedarfs beim Leistungsträger. Der Begriff tatsächliche Aufenthalt ist vom Begriff gewöhnlicher Aufenthalt abzugrenzen. Gewöhnlicher Umwelt ist der Lebensmittelpunkt. Tatsächlicher Aufenthalt ist der Ort, an dem sich der Mensch zum Zeitpunkt des Leistungsbeginn faktisch aufhält. Man hat hier den Begriff des tatsächlichen Aufenthaltes gewählt, weil er keine Zweifel lässt, während die Ermittlung des gewöhnlichen Aufenthaltes oftmals schwierig ist.

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Studienkarte 16: VerwaltungsverfahrenA. ÜberblickNach Eingang des Antrages und der weiteren Antragsunterlagen leitet die Behörde ein sogenanntes Verwaltungsverfahren ein. Sie prüft im Verwaltungsverfahren der geltend gemachte Anspruch besteht oder nicht besteht und erlässt am Ende des Verfahrens einen Verwaltungsakt (= Bescheid), der verbindlich gegenüber dem Hilfesuchenden feststellt, ob sein Anspruch besteht oder nicht besteht. Der Sozialleistungsträger ist – wie alle Behörden – bei der Prüfung an Verfahrensvorschriften gebunden, die den Ablauf und die Form der Entscheidungsfindung regeln. Diese Verfahrensvorschriften finden sich im Verfahrensrecht. Das im Bereich des Sozialverwaltungsrechtes einschlägige Verfahrensrecht findet sich im SGB X. Es geht im Verfahrensrecht um das “Wie“ der Entscheidungsfindung. Das Verfahrensrecht ist ein wichtiges Instrument auch für den Hilfesuchenden, weil es eine Reihe von Rechten zu seinen Gunsten regelt. Es kann in seiner Komplexität hier nicht im Detail dargestellt werden. Deshalb nur einige wesentliche Grundsätze:B. Grundsätze des SozialverwaltungsverfahrensI. Beteiligte

Am Verfahren beteiligt ist zunächst der Antragsteller und der Sozialleistungsträger (§ 12 SGB X). Jeder kann sich im Verfahren durch einen Bevollmächtigten oder einen Beistand vertreten lassen (§ 13 SGB X). Hierbei ist darauf zu achten, dass die reine Rechtsvertretung nach dem sogenannten Rechtsdienstleistungsgesetzes (RDG) grundsätzlich nur Rechtsanwälten vorbehalten ist. Hierauf wird auch in § 13 Abs. 5 SGB X Bezug genommen. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus sozialen Berufen dürfen eine entsprechende Funktion nur dann übernehmen, wenn es sich dabei um Nebentätigkeit im Zusammenhang mit einer Sozialberatung handelt.II. Amtsermittlungsgrundsatz und Mitwirkungspflichten

Nach § 20 SGB X ermittelt die Behörde den Sachverhalt von Amts wegen. Sie bestimmt Art und Umfang der Ermittlungen; an das Vorbringen und an die Beweisanträge der Beteiligten ist sie nicht gebunden. Hier wird der Amtsermittlungsgrundsatz formuliert, der zu einem der wichtigsten Prinzipien des Verfahrensrechtes im öffentlichen Recht gehört. Im gesamten öffentlichen Recht und so auch im Sozialverwaltungsrecht gilt, dass die Behörde verpflichtet ist, von sich aus alle für die Anspruchsquerung relevanten Tatsachen von sich aus zu ermitteln. Anders als im Zivilprozess, wo die Parteien durch umfangreichen Sachvortrag ihre Klage substantiieren und ihre Behauptungen beweisen müssen, übernimmt im öffentlichen Recht die Behörde die „Ermittlungsarbeit“. Welcher Mittel sie sich dabei bedienen kann ist im einzelnen in den § 21 – 24 SGB X geregelt. Ein wichtiges Mittel der Aufklärung ist natürlich die Anhörung und sonstige Beteiligung des Hilfesuchenden (§ 24 SGB X). Der Hilfesuchende muss also an der Aufklärung mitwirken. Hierüber gibt es oft Streit. Die Verpflichtung des Hilfesuchenden zur Mitwirkung ist im Detail in §§ 60 – 67 SGB I geregelt. So musste Hilfesuchende auf Verlangen persönlich erscheinen, Untersuchungen akzeptieren, an Maßnahmen teilnehmen, etc. pp. Wirkt er nicht mit, kann dieses sanktioniert werden und zum Verlust der Sozialleistung führen (§ 66-67 SGB I).III. Akteneinsicht durch Beteiligte

Die Beteiligten eines Verwaltungsverfahrens haben nach § 25 SGB X das Recht die Verfahrensakten einzusehen. Bei Rechtsanwälten ist es üblich, dass sie Stellungnahmen zur Sache überhaupt erst abgeben sobald sie Einblick in die Verfahrensakten genommen haben. Die Behörde ist nicht verpflichtet, die Akte zu übersenden. In der Regel sind die Behörden jedoch bereit, Abschriften der Verfahrensakte zu überlassen. Die Behörden sind verpflichtet, im Rahmen der Akteneinsicht vor Ort dem Betroffenen auf Verlangen Kopien auszuhändigen. Aus den Verfahrensakten lassen sich oft wichtige Hinweise gewinnen, die bei der Anspruchsdurchsetzung hilfreich sind.IV. Fristen und Termine

Fristen und Termine spielen im Verfahrensrecht eine wichtige Rolle. Zum einen kann die Behörde den Beteiligten Fristen setzen. Vor allem aber müssen Rechtsbehelfe gegen Bescheide innerhalb einer bestimmten Frist eingelegt werden, wenn verhindert werden soll, dass die jeweiligen Bescheide rechtskräftig werden. Die Berechnung der Fristen ist § 26 SGB X geregelt (lesen).

Bsp.: Bescheid geht am 15.09. zu. Frist endet am 15.10. Ist der 15.10. ein Sonntag, endet Frist am 16.10.

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Studienkarte 17: Verwaltungsakt – AllgemeinesA. Hoheitliche Regelung eines EinzelfallsHeerscharen von Juristen lernen diesen Satz in ihren Ausbildungen und jeder der Jura studiert hat kann ihn rezitieren: „Ein Verwaltungsakt ist die hoheitliche Regelung eines Einzelfalls mit Außenwirkung“. So in etwa steht es auch in § 31 SGB X bzw. in § 35 VwVfG. Aber was sagt uns das? Wichtiger als diese Definition auswendig zu lernen ist es, zu verstehen, was mit dem Erlass eines Verwaltungsaktes rechtlich passiert und welche Konsequenzen ein Verwaltungsakt hat. Hier führen folgende Überlegungen weiter: Wie wird aus einem Interesse, dass eine Person oder Gruppe von Personen hat, eigentlich ein individuelles Recht, welches sich in einen individuellen Vorteil verwandelt. Oder umgekehrt: wie wird ein Interesse oder politscher Zweck, den etwa staatliche Institutionen/Behörden, verfolgen, zu einer individuellen Verpflichtung des Einzelnen. Oder beispielhaft: Was muss rechtlich geschehen, bis Frau Müller Elterngeld in Höhe von 300,- € auf ihrem Konto verbuchen kann? Was muss rechtlich geschehen, bis das Bafög-Amt einen Rückforderungsanspruch gegenüber einer Studierenden wirksam durchsetzen kann?B. Gesetze als „geronnene“ politische EntscheidungenEin Interesse ist in dieser Gesellschaftsordnung nur dann relevant und „durchsetzbar“, wenn es sich auf ein Recht, eine Anspruchsgrundlage berufen kann. Will Frau Müller Elterngeld oder will das Bafög-Amt Bafög zurück, müssen beide jeweils auf Anspruchsgrundlagen verweisen können, die ihnen diese jeweiligen Rechte vermitteln. Diese Anspruchsgrundlagen finden sich in Gesetzen. Diese Gesetze sind keine Naturgesetze, sondern werden von Parlamenten durch Mehrheitsbeschluss beschlossen. Gesetze und damit auch die in ihnen enthaltenen Anspruchsgrundlagen sind damit immer auch Ergebnis einer politischen Willensbildung. Sie sind „geronnene Politik“. Sie verkörpern einen durchgesetzten politischen Zweck. Diese jeweiligen Zwecke leiten sich aus den Notwendigkeiten der kapitalistischen Wirtschaftsordnung ab.

Was der Gesetzgeber inhaltlich regelt, steht also gar nicht frei zur Disposition, sondern gehorcht eben diesen Notwendigkeiten. Erst wenn diese bedient sind, beginnt das Reich der gesetzgeberischen Freiheit. Die erste Notwendigkeit, an der sich jedes Gesetzgebungsvorhaben messen lassen muss, ist eben das Wachstum der deutschen Wirtschaft. Einmal zu Gesetzen geworden, entfalten die politischen Interessen ihre praktische Wirkung: Als Gesetze sind sie zunächst allgemeine Regeln, die in weiten Bereichen auch ohne, dass staatliche Institutionen sich ständig um ihre Durchsetzung bemühen müssten, ihre Wirkung entfalten, weil den Betroffenen die jeweiligen Sanktionen bekannt sind.

Im Bereich des öffentlichen Rechtes, also dort wo es um die Rechtsbeziehungen zwischen Bürger und Staat geht, werden zwei Kategorien von Gesetzen, bzw. genauer gesagt von Normen unterschieden, nämlich solche, die den Staat zu Eingriffen in Rechte der Bürger ermächtigt (Bsp.: Bußgeldbescheid, Bafög-Rückforderung, etc.) und solchen, die den Bürgern Leistungsansprüche gegenüber staatlichen Behörden vermitteln (Anspruch auf SGB II-Leistungen, Anspruch auf Baugenehmigung, Anspruch auf Bafög, etc.). Mit dem Erlass des Gesetzes ist aber noch nichts darüber ausgesagt, ob jeweils einzelne Bürger auch tatsächlich einen Anspruch auf die begehrte Leistung haben oder umgekehrt ob im Einzelfall die staatliche Behörde in die Rechte der jeweiligen Person oder Institution eingreifen darf.C. Verwaltungsakte machen Recht im Einzelfall praktisch geltendGesetze sind allgemein formuliert und beziehen sich nicht auf den jeweiligen Einzelfall. Sie regeln in abstrakter Form zunächst die Voraussetzungen, die vorliegen müssen, unter denen zum Beispiel ein entsprechender Leistungsanspruch besteht oder unter denen die staatliche Behörde in die Rechte des betreffenden Bürgers eingreifen darf. Diese Voraussetzungen nennt man Tatbestandsvoraussetzungen. Die in den Normen formulierten Leistungsansprüche oder aber auch Ansprüche des Staates in Rechte des Bürgers einzugreifen, sind dann auf der Seite der Rechtsfolge normiert und auch inhaltlich bestimmt. Um zu klären, ob im Einzelfall die abstrakten Merkmale des Tatbestandes mit dem konkreten Lebenssachverhalt übereinstimmen, bedarf es der Subsumtion des Lebenssachverhaltes unter dem Tatbestand des Gesetzes.

Diese Subsumtionsarbeit kann jeder leisten, der Rechtskenntnis hat. Eine solche Subsumtion durch jedermann nützt den Betroffenen jedoch praktisch nichts, hat also keine praktischen Konsequenzen, weil sie keine rechtlichen Wirkungen entfaltet (Bsp.: es nützt einem nichts, wenn einem die befreundete Jurastudentin erzählt, man habe einen Anspruch auf Bafög). Soll rechtlich verbindlich festgestellt werden, dass ein bestimmter Lebenssachverhalt mit dem Tatbestand eines Gesetzes übereinstimmt und dass deshalb bestimmte Ansprüche bestehen oder nicht bestehen, so muss diese Subsumtionsarbeit und die Ableitung der Rechtsfolge daraus durch eine dafür zuständige staatliche Behörde vorgenommen werden. Nur sie kann rechtlich verbindlich regeln, ob Ansprüche bestehen oder nicht.

Diese Prüfung ist prozesshaft und erfolgt in einem so genannten „Verwaltungsverfahren“ (vgl. § 8 SGB X). Am Ende dieses Verwaltungsverfahrens steht als Ergebnis des Prüfungs– und Feststellungsprozesses der „Verwaltungsakt“, der verbindlich und bezogen auf den Einzelfall regelt, ob Ansprüche bestehen oder nicht bestehen. Im Verwaltungsakt wird also das zunächst abstrakte Recht im Einzelfall praktisch geltend gemacht; und diesen Begriff des praktisch geltend machen muss man ernst nehmen, denn eine der wichtigsten Regeln und Prinzipien des Verwaltungsrechts ist es, das Verwaltungsakte gelten und zwar auch dann, wenn sie inhaltlich falsch und rechtswidrig sind. Juristen sprechen deshalb von der „Wirksamkeit“ des Verwaltungsaktes (vgl. § 39 SGB II). Verwaltungsakte haben daher einen ähnlichen

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Charakter wie Urteile von Gerichten. Der Behörde dienen sie als Titel zur Vollstreckung staatlicher Ansprüche gegenüber dem Bürger. Bürger können individuelle Leistungsansprüche gegenüber dem Staat erst geltend machen, wenn per Verwaltungsakt über ihr Bestehen entschieden wurde. (Beide Regeln kennen Ausnahmen, die hier nicht erläutert werden sollen.). D. SchlussfolgerungenNunmehr erschließt sich die eingangs erwähnte Formel vom Verwaltungsakt als hoheitliche Regelung eines Einzelfalles mit Außenwirkung: nur der Staat kann verbindlich im Einzelfall regeln (deshalb „hoheitlich“). Die Entscheidungen sind nur dann Verwaltungsakte, wenn sie eine konkrete Regelung treffen (Bsp.: Studentin K. hat einen Anspruch auf Bafög in Höhe von 368,- €). In Verwaltungsakten geht es regelmäßig um den Einzelfall (Ausnahme: Allgemeinverfügung i.S.d. § 31 Abs. 1 Satz 2 SGB X – wird hier vernachlässigt). Mit „Außenwirkung“ ist gemeint, dass die Behörde ihre Entscheidung mit dem Willen erlässt, Wirkung außerhalb der eigenen Institution zu erzielen. Wenn also eine Behörde lediglich Entscheidungen vorbereitet und dazu zum Beispiel Schreiben formuliert, die lediglich für den behördeninternen Verkehr gedacht sind, so ist dies noch kein Verwaltungsakt.

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Studienkarte 18: Verwaltungsakt – EinzelheitenA. Form und Aufbau von VerwaltungsaktenVerwaltungsakte werden in der Regel schriftlich erlassen; zwingend ist dies nicht (mündliche Verwaltungsakte werden zum Beispiel bei Demonstrationen erlassen, wenn Versammlungsverbote oder Platzverweise ausgesprochen werden). Im Bereich der sozialen Arbeit sind jedoch allein schriftliche Verwaltungsakte relevant.

Verwaltungsakte müssen die erlassende Behörde erkennen lassen und die Unterschrift oder die Wiedergabe des Behördenleiters, seines Vertreters oder seines Beauftragten enthalten (§ 33 SGB X). Praktisch werden Verwaltungsakte auf den üblichen Briefköpfen der Behörden erlassen und enthalten neben den Angaben zur Behörde selbst in der Regel auch die Angabe des Sachbearbeiters mit Telefonnummer und außerdem ein so genanntes Aktenzeichen, welches in der Kommunikation mit der Behörde, sei sie schriftlich, mündlich, telefonisch oder in elektronischer Form stets angegeben werden soll. Dem Namen der im Briefkopf enthaltenen Behörde muss praktisch Beachtung geschenkt werden, wenn die Behörde verklagt werden soll oder wenn Widerspruch eingelegt werden soll, denn Klage und Widerspruch verlangen eine genaue Bezeichnung der Behörde. Wenn die handelnde Behörde eine Kommune oder ein Landkreis ist – und das ist bei Sozialleistungen oft der Fall - erscheint im Briefkopf als Name der Behörde in der Regel („Der Bürgermeister der Stadt XY“ oder „der Landrat des Kreises…“). Die Behörde wird also mit dem Amt des Bürgermeisters bzw. des Landrates bezeichnet. Bei anderen Behörden erscheint im Kopf der Behördenname und der amtliche Vertreter der Behörde (z.B.: „Der Direktor des Landschaftsverbandes Rheinland“ oder „Der Minister für…“ oder „Der Bundespräsident…“).

In der Betreffzeile des Verwaltungsaktes wird in der Regel das Verfahren schlagwortartig bezeichnet. Nach der Anrede erfolgt der so genannte Tenor der Entscheidung. Der Tenor eines Verwaltungsaktes ist der Kern der Entscheidung. In ihm wird ausgesagt, welche Regelung im jeweiligen Einzelfall getroffen wird (Bsp.: „Ihr Antrag auf Gewährung von Leistungen zur Eingliederung in Arbeit vom … wird zurückgewiesen“ oder „Auf ihren Antrag vom … gewähre ich Ihnen Hilfe zur Erziehung nach § 27 SGB VIII in Form der Unterbringung in der Jugendhilfeeinrichtung XY“. Im Anschluss an die Begründung erfolgt die Darstellung des Sachverhaltes. Dabei werden nur die für die Subsumtion erforderlichen Sachverhaltsangaben in den Sachverhalt aufgenommen. Im Anschluss an die Darstellung des Sachverhaltes folgt die an der jeweiligen Anspruchsgrundlage orientierte einzelfallbezogene Begründung der Entscheidung; sie enthält die eigentliche Subsumtion des Sachverhaltes unter die jeweilige Norm. Die hier beschriebene Form ist eine idealtypische. Oftmals entsprechend Verwaltungsakte, weil schlecht ausgeführt, nicht dieser Form.B. RechtsbehelfsbelehrungSchriftliche Verwaltungsakte sind mit einer so genannten Rechtsbehelfsbelehrung zu versehen, in der die Beteiligten über den Rechtsbehelf (in der Regel Widerspruch oder Klage) die Behörde oder das Gericht, bei denen der Rechtsbehelf einzulegen ist, deren Besitz, die einzuhaltende Frist und die Form, in der die Rechtsbehelfsbelehrung eingelegt werden muss, schriftlich zu belehren sind. Einzelheiten zum Widerspruchs und Klageverfahren sind auf der entsprechenden Studienkarte erläutert. Wichtig im Zusammenhang mit dem Begriff des Verwaltungsaktes ist, dass eine fehlende Rechtsbehelfsbelehrung keine Aussage darüber ist, ob es sich bei dem entsprechenden Schreiben um einen Verwaltungsakt handelt oder nicht. Eine Rechtsbehelfsbelehrung ist für den Verwaltungsakt nicht konstitutiv. Das Fehlen einer Rechtsbehelfsbelehrung hat allein Auswirkung auf die Dauer der Rechtsbehelfsfristen (Regel: 1 Monat, ohne Rechtsbehelfsbelehrung: ein Jahr).

Der Rechtsschutz gegen Verwaltungsakte ist auf den folgenden Studienkarte stichwortartig dargestellt.C. ZusicherungIn der Praxis kommt es nicht selten vor, dass zwischen Leistungsberechtigten und Sachbearbeitern der Behörde oder auch zwischen den die Leistungsberechtigten betreuenden Einrichtungen (z.B. Jugendhilfeeinrichtungen) und den Sachbearbeitern Absprachen hinsichtlich des Inhaltes und des Umfanges von Leistungen getroffen werden. Werden diese Absprachen möglich und ohne schriftliche Fixierung getroffen, so sind sie ohne jede Verbindlichkeit. Rechtlich ist auf sie kein Verlass. § 34 SGB X regelt dies ausdrücklich unter dem Begriff der „Zusicherung“. Danach ist eine Zusage, einen bestimmten Verwaltungsakt später zu erlassen oder zu unterlassen nur wirksam, wenn sie schriftlich erfolgt. Deshalb ist es im Umgang mit Hilfefällen wichtig, entsprechende Zusagen schriftlich zu erhalten. Meistens ist es aber sachgerechter sogleich auf den Erlass eines entsprechenden Verwaltungsaktes zu bestehen.D. BestandskraftVerwaltungsakte sind wirksam und zwar unabhängig von der Frage, ob die dem Verwaltungsakt zu Grunde liegenden Sachverhaltsinformationen richtig ermittelt wurden und unabhängig auch von der Frage ob die Behörde das Recht richtig angewandt hat, § 39 SGB X. Dieses Prinzip wurde bereits erläutert. Ein Verwaltungsakt bleibt so lange wirksam, soweit er nicht zurückgenommen, widerrufen, anderweitig aufgehoben oder durch Zeitablauf oder auf andere Weise erledigt ist.

Die wichtigsten Instrumente die Wirksamkeit eines Verwaltungsaktes zu durchbrechen sind der Widerspruch und die Klage. Widerspruch und Klage sind Rechtsbehelfe. Sie können nur innerhalb einer bestimmten Frist (in der

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Regel 4 Wochen) eingelegt werden. Ist diese Frist abgelaufen, wird der Bescheid „bestandkräftig“, kann also in der Regel nicht mehr durch Widerspruch und Anfechtungsklage aufgehoben werden. Stellt die Widerspruchsbehörde fest, dass bei richtiger Würdigung des Sachverhaltes oder aber des Rechtes der Verwaltungsakt anders hätte ergehen müssen, so hebt sie den ursprünglichen Verwaltungsakt auf und ersetzt diesen durch einen neuen (Bsp.: „Unter Aufhebung des Bescheides vom … gewähre ich Ihnen Leistungen zur Eingliederung in Arbeit in Form von …“). Andernfalls weist sie den Widerspruch zurück. Wird der Widerspruch zurückgewiesen oder ist der Betroffene auch mit der neuen Entscheidung nicht einverstanden, kann er gegen den Bescheid Klage bei Gericht (Sozialgericht oder Verwaltungsgericht) erheben. Unter bestimmten Voraussetzungen kann gegen ein Urteil in Berufung gegangen werden bei dem nächsthöheren Gericht (Oberverwaltungsgericht oder Landessozialgericht).

In wenigen Fällen kann dann gegen letztere Urteile noch eine so genannte Revision bei den jeweiligen obersten Gerichten (Bundesverwaltungsgericht oder Bundessozialgericht) eingelegt werden. Bei jedem dieser Schritte gelten so genannte Rechtsbehelfsfristen (ein Monat). Wenn entweder die Rechtsbehelfsfrist verstrichen ist oder aber kein weiterer Rechtsbehelf mehr eingelegt werden kann, weil alle Verfahrensschritte durchlaufen sind, spricht man von der „Bestandskraft des Verwaltungsaktes“. Die Bestandskraft kann unter bestimmten Voraussetzungen auch durchbrochen werden oder sein. Einzelheiten hierzu sind in §§ 39-51 SGB X geregelt. Sie können hier nicht erläutert werden. Eine wichtige Regel, die zu einer Durchbrechung der Bestandskraft führt, die also zu einer Aufhebung des Verwaltungsaktes führen kann, obwohl er schon – zum Beispiel wegen Fristablaufes – bestandskräftig ist, ist § 44 Abs. 1 SGB X. Nach dieser Vorschrift sind Verwaltungsakte auch nach Fristablauf zurückzunehmen und zwar auch nach dem sie unanfechtbar geworden sind, wenn wegen fehlerhafter Rechtsanwendung oder fehlerhafter Sachverhaltsermittlung Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht worden sind.

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Studienkarte 19: Das Vorverfahren („Widerspruchsverfahren“) im Sozial-/Verwaltungsrecht

A. BegriffVor einem gerichtlichen Streitverfahren über einen VA ist von Ausnahmen abgesehen im Verwaltungsrecht (§§ 68 ff. VwGO) und im Sozialrecht (§§ 77 ff SGG) ein Vorverfahren durchzuführen. Es wird wegen des vom Bürger einzulegenden Rechtsbehelfs in der juristischen Praxis auch „Widerspruchsverfahren“ genannt. Es dient dem Rechtsschutz des Bürgers, der Selbstkontrolle der Verwaltung und der Entlastung der Gerichte. B. PrüfungsfolgeI. Zulässigkeit1. Statthaftigkeit

Hier wird überprüft, ob das Vorverfahren überhaupt durchgeführt werden muss und damit, ob der Widerspruch der richtige, also der statthafte Rechtsbehelf ist.

a) Eröffnung des Verwaltungs-/Sozialrechtswegs

aa) § 51 SGG für die Sozialgerichtsbarkeit. Grundsatz: alle Sozialversicherungssachen sowie Grundsicherung und Sozialhilfe

bb) § 40 VwGO als Generalklausel für die Verwaltungsgerichtsbarkeit. Alle verbleibenden öff.-rechtl. Streitigkeiten. Ggf. ist hier zum Privatrecht abzugrenzen nach:

– Subordinationstheorie: Benutzen Behörden von juristischen Personen des öffentlichen Rechts Handlungsformen, die typisch hoheitlich sind, liegt eindeutig öffentliches Recht vor. Dies sind: Bescheide, Verfügungen, Verordnungen, Satzungen, Zwangsmittel.

– Subjektstheorie für verbleibende Zweifelsfälle: Danach ist eine Norm (und damit auch das darauf beruhende Verwaltungshandeln) dann öff.-rechtlich, wenn sie einen Hoheitsträger einseitig berechtigt oder verpflichtet.

Zum Verwaltungsgericht gehen insbesondere: Jugendhilfesachen und Kriegsopferfürsorge

b) Gegenstand VA?

Nur zur Abwehr von belastenden bzw. zur Erlangung von begünstigenden VA ist ein Vorverfahren statthaft.

aa) Anfechtungswiderspruch bei Vorliegen eines belastenden VAs, § 78 Abs. 1 SGG/§ 68 Abs. 1 VwGO

bb) Verpflichtungswiderspruch bei Ablehnung eines begünstigenden VAs, § 78 Abs. 3 SGG/§ 68 Abs. 2 VwGO2. Form und Frist

a) Der Widerspruch muss schriftlich, d.h. durch eigenhändige Unterschrift (§ 126 BGB) eingelegt werden. Nicht geeignet daher mündliche oder telefonische Einlegung; auch nicht per E-Mail, da Unterschrift nicht möglich. (E-Mail mit elektronischer Signatur: möglich aber kompliziert). Möglich ist jedoch Einlegung per Fax. Mündliche Einlegung zur Niederschrift ebenfalls möglich (§ 84 Abs. 1 SGG/§ 70 Abs. 1 S. 2 VwGO).

b) Fristbeginn mit Zugang des VAs, bzw. seiner Ablehnung, § 39 Abs. 1 SGB X.

c) Fristende: Ein Monat ab Zugang bei korrekter Rechtsbehelfsbelehrung (§ 84 Abs. 1 SGG/ § 70 Abs. 1 VwGO), sonst ein Jahr (§§ 84 Abs. 2 S. 3, 66 Abs. 2 SGG/§§ 70 Abs. 2, 58 Abs. 2 VwGO). Die Monatsfrist des § 70 Abs. 1 VwGO berechnet sich gem. § 64 SGG bzw. §§ 57 Abs. 2 VwGO i.V.m. § 222 Abs. 1 ZPO, § 188 Abs. 2, 3 BGB. Bezogen auf den Tag, in den der Zugangs des VA fällt, ist das entsprechende Datum des Folgemonats, 24 Uhr, entscheidend (Ausnahme bei Fristende am Wochenende bzw. gesetzlichen Feiertag: Hier endet die Frist mit Ablauf des nächsten Werktages, § 222 Abs. 2 ZPO).

Bsp.: Bekanntgabe des VA am 3.5., Fristablauf 3.6. 24 Uhr. Bekanntgabe am 31.1., Fristablauf 28.2. 24 Uhr. Bekanntgabe am 28.2., Fristablauf am 28.3. 24 Uhr. Ist der 28.3. ein Samstag, endet die Frist am 30.3. um 24 Uhr. Bekanntgabe am 30.4., Fristende am 30.5. 24 Uhr (§ 64 Abs. 2 S. 2 SGG/§ 188 Abs. 3 BGB).

3. Beschwer

a) Geltendmachung der Verletzung eines subjektiv-öffentlichen Rechts, § 54 Abs. 1 SGG/§ 42 Abs. 2 VwGO analog: Es darf nicht völlig ausgeschlossen sein, dass der Widerspruchsführer einen Anspruch auf Abwehr/Erlass eines bestimmten VA hat, sog. „Möglichkeitstheorie“.

b) Das subjektive Recht leitet sich bei einem Abwehrfall aus der Behauptung der Rechtswidrigkeit des Eingriffs ab; in Leistungsfällen besteht es in der als Anspruchsgrundlage geltend gemachten Leistungsnorm.

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II. Begründetheit1. Obersatz/Tenor

In Abwehrfällen (Anfechtungswiderspruch): Die Widerspruchsbehörde hebt den Ausgangs-VA auf, wenn er rechtswidrig ist und den Widerspruchsführer in seinen Rechten verletzt. In Leistungsfällen: Die Widerspruchsbehörde hebt den Ausgangs-VA auf und erlässt zugleich einen bewilligenden VA, wenn der Widerspruchsführer einen Anspruch auf die Leistung hat und daher in seinen Rechten verletzt ist. In beiden Fällen spricht man dann von einem Abhilfebescheid.2. Prüfung der Rechtmäßigkeit des angegriffenen/begehrten Verwaltungshandelns

a) Rechtsgrundlage des angegriffenen VerwHandelns/Anspruchsgrundlage des begehrten VerwHandelns.

b) Voraussetzungen

c) RechtsfolgeC. Hinweis zur Abschaffung des WiderspruchsverfahrensIn einigen Bundesländern ist das Vorverfahren im Bereich des Verwaltungsrechts durch Landesgesetz abgeschafft. Ist das Vorverfahren abgeschafft, so kann und muss gegen einen Bescheid sofort, also ohne vorheriges Widerspruchsverfahren geklagt werden. Wenn der Bescheid mit einer Rechtsbehelfsbelehrung versehen ist, ergibt sich dieses in der Regel aus der Rechtsbehelfsbelehrung, in der dann formuliert wird, dass gegen den Bescheid vor dem genannten Gericht (sofort) „Klage erhoben“ werden kann. Wenn das Widerspruchsverfahren nicht abgeschafft ist, ist in der Rechtsbehelfsbelehrung formuliert, dass gegen den Bescheid bei der genannten Behörde „Widerspruch“ eingelegt werden kann.

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Studienkarte 20: Die Klage im Sozial-/Verwaltungsrecht A. BegriffMit der verwaltungs- bzw. sozialgerichtlichen Klage kann der Bürger gegen die (Sozial-)Verwaltung vorgehen, um gegen sie ein Tun oder Unterlassen durchzusetzen. Gegen die Exekutive richtet sich die Klage, über die die Judikative entscheidet. Dies folgt aus dem Prinzip der Gewaltenteilung (Art. 20 Abs. 2 GG) und der Garantie effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG). Um mit seinem Rechtsmittel Erfolg zu haben, benötigt der Kläger eine Anspruchsgrundlage, deren Voraussetzungen vorliegen müssen. Die Prüfungsfolge unterscheidet sich je nachdem, ob es um einen Abwehrfall, einen Leistungsfall, oder um den (seltenen) Fall einer Feststellung geht. Im Sozialverwaltungsrecht geht es weit überwiegend um Leistungsfälle, da der Staat in diesem Bereich durch Gewährung von Leistungen herrscht.B. PrüfungsfolgeI. Zulässigkeit 1. Eröffnung des Verwaltungs-/Sozialgerichtswegs

a) § 51 SGG für die Sozialgerichtsbarkeit. Grundsatz: alle Sozialversicherungssachen sowie Grundsicherung und Sozialhilfe

b) § 40 VwGO als Generalklausel für die Verwaltungsgerichtsbarkeit. Alle verbleibenden öff.-rechtl. Streitigkeiten. Ggf ist hier zum Privatrecht abzugrenzen nach:

– Subordinationstheorie: Benutzen Behörden von juristischen Personen des öffentlichen Rechts Handlungsformen, die typisch hoheitlich sind, liegt eindeutig öffentliches Recht vor. Dies sind: Bescheide, Verfügungen, Verordnungen, Satzungen, Zwangsmittel.

– Subjektstheorie für verbleibende Zweifelsfälle: Danach ist eine Norm (und damit auch das darauf beruhende Verwaltungshandeln) dann öff.-rechtlich, wenn sie einen Hoheitsträger einseitig berechtigt oder verpflichtet.

Zum Verwaltungsgericht gehen insbesondere: Jugendhilfesachen und Kriegsopferfürsorge2. Statthafte Klageart

a) (Abwehrfall) – Aufhebung eines Verwaltungsaktes Anfechtungsklage

§ 42 Abs. 1 i.V.m. § 113 Abs. 1 S. 1 VwGO/ § 54 Abs. 1 i.V.m. § 131 Abs. 1 SGG

b) (Leistungsfall) Verpflichtungsklage

§ 42 Abs. 2 VwGO i.V.m. § 113 Abs. 5 VwGO/ kombinierte Anfechtungs- u. Verpflichtungsklage, § 54 Abs. 4 i.V.m. § 131 Abs. 2 SGG

c) (sonstiges/schlichtes Verwaltungshandeln) – allgemeine Leistungsklage:

§ 42 Abs. 2 VwGO analog/§ 54 Abs. 5 SGG

d) (subsidiär) – Feststellungsklage

§ 43 VwGO/§ 55 SGG3. Besondere Sachentscheidungsvoraussetzungen für Anfechtungs- und Verpflichtungsklagen

a) Beschwer: Geltendmachung der Verletzung eines subjektiv-öffentlichen Rechts, § 54 Abs. 1 SGG/§ 42 Abs. 2 VwGO: Es darf nicht völlig ausgeschlossen sein, dass der Kläger einen Anspruch auf Abwehr/Erlass eines bestimmten VA hat, sog. Möglichkeitstheorie.

b) Das subjektive Recht leitet sich bei einem Abwehrfall aus der Behauptung der Rechtswidrigkeit des Eingriffs ab; in Leistungsfällen besteht es in der als Anspruchsgrundlage geltend gemachten Leistungsnorm.

c) Vorverfahren/Widerspruchsverfahren nach §§ 78 ff. SGG/68 ff. VwGO.

d) Form und Frist: Schriftlich und gem. §§ 87 ff. SGG/§§ 81 f. VwGO. Fristbeginn: Zugang des Widerspruchsbescheides. Fristende: Ein Monat ab Zugang bei korrekter Rechtsbehelfsbelehrung (§ 87 Abs. 1 SGG /§ 74 VwGO), sonst ein Jahr (§§ 84 Abs. 2 S. 3, 66 Abs. 2 SGG/§§ 70 Abs. 2, 58 Abs. 2 VwGO). Die Monatsfrist berechnet sich gem. § 64 SGG bzw. §§ 57 Abs. 2 VwGO i.V.m. § 222 Abs. 1 ZPO, § 188 Abs. 2, 3 BGB. Bezogen auf den Tag, in den der Zugang des VAs fällt, ist das entsprechende Datum des Folgemonats, 24 Uhr, entscheidend. (Einzelheiten und Bsp. vgl. SK 8)

4. Besondere Sachentscheidungsvoraussetzungen für allgemeine Leistungsklage

Geltendmachung der Verletzung eines subjektiv-öffentlichen Rechts, § 42 Abs. 2 VwGO/ §54 Abs. 1 SGG analog: i. E. darf nicht völlig ausgeschlossen sein, dass der Kläger einen Anspruch auf Vornahme der begehrten Handlung/des Unterlassens hat.

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5. Besondere Sachentscheidungsvoraussetzungen für Feststellungsklagen

konkretes Rechtsverhältnis, Feststellungsinteresse, keine SubsidiaritätII. Begründetheit1. Obersatz/Tenor

Abwehrfall: Das SG/VG hebt den angegriffenen VA der Behörde auf, wenn der VA rechtswidrig ist und der Kläger dadurch in seinen Rechten verletzt ist (, wenn er sich also auf einen Abwehranspruch stützen kann).

Leistungsfall: Das SG/VG verpflichtet die beklagte Behörde, den begehrten VA zu erlassen, wenn die Ablehnung des VA rechtswidrig ist und der Kläger dadurch in seinen Rechten verletzt ist (, wenn er sich also auf einen Leistungsanspruch stützen kann).2. Prüfung der Rechtmäßigkeit des angegriffenen/begehrten Verwaltungshandelns

a) Rechtsgrundlage des angegriffenen VerwHandelns/Anspruchsgrundlage des begehrten VerwHandelns.

b) Voraussetzungen

c) Rechtsfolge

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Studienkarte 21: Einstweilige Anordnung (Eilverfahren)A. ÜberblickDas für den Bereich der Durchsetzung von Ansprüchen im Jugendhilferecht einschlägige Eilverfahren heißt „einstweiliges Anordnungsverfahren“ und ist in § 123 VwGO bzw. § 86b SGG geregelt. Dieses Verfahren gibt dem Hilfesuchenden die Möglichkeit, auf schnellem Wege eine gerichtliche Entscheidung herbeizuführen. Vom Klageverfahren unterscheidet es sich sowohl hinsichtlich der Voraussetzungen als auch hinsichtlich der Wirkungen.B. VoraussetzungenI. Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund

Voraussetzung für den Erlass einer einstweiligen Anordnung zugunsten des Hilfeempfängers ist zunächst, dass - entgegen der Auffassung der Behörde - ein Anspruch auf die Jugendhilfe-leistung besteht. Dies ist auch beim Klageverfahren nicht anders. Weitere Voraussetzung ist aber, dass Eilbedürftigkeit vorliegt. Erst sie rechtfertigt eine Entscheidung im Eilverfahren. Im Jugendhilferecht ist die Eilbedürftigkeit regelmäßig gegeben, weil bei einem Abwarten auf eine Entscheidung im Klageverfahren, welches u.U. mehrere Jahre in Anspruch nähme, der Hilfeempfänger mit seinen Rechten nicht mehr zum Zuge kommen würde.II. Verfahren

In der Wirkung unterscheidet sich der in einem einstweiligen Anordnungsverfahren ergangene Beschluss von einem im Klageverfahren ergangenen Urteil dadurch, dass die im Eilverfahren durch das Gericht getroffene Regelung nur vorläufig ist, (theoretisch) also wieder aufgehoben werden kann. In der Praxis kommt es allerdings sehr häufig schon im Eilverfahren zu einer endgültigen Entscheidung des Rechtsstreits, entweder weil das Gericht sich bereits im Eilverfahren schon mit der entscheidenden Frage des Rechtsstreits – etwa durch Einholung eines Gutachtens – befasst hat, oder aber weil eine der Parteien ihre Rechtsansicht aufgibt und die Ansprüche nicht weiter verfolgt.

Ein weiterer wesentlicher Unterschied zum Klageverfahren liegt in der Ausgestaltung des Verfahrens. Während im Klageverfahren die mündliche Verhandlung die Regel ist, ist sie im Eilverfahren die Ausnahme. Im Eilverfahren werden i. d. R. keine Zeugen vernommen. Auch Gutachten werden hier nur ausnahmsweise eingeholt. Der vorgetragene Sachverhalt muss deshalb auf andere Weise „bewiesen“ werden. Dies geschieht durch die Glaubhaftmachung. Der eigene Sachvortrag wird in der Regel durch Vorlage von Originalbescheiden, Gutachten und eidesstattlichen Versicherungen glaubhaft gemacht. Mit der eidesstattlichen Versicherung bekräftigt der Antragsteller, dass die gemachten Ausführungen der Wahrheit entsprechen. Da die Abgabe einer falschen eidesstattlichen Versicherung mit Strafe bedroht ist (§ 156 StGB), lässt der Gesetzgeber einer solchen Erklärung eine erhöhte Bedeutung zukommen. Sind Gutachten vorhanden, die sich für die Durchführung einer bestimmten Maßnahme aussprechen, kommt diesen Gutachten in aller Regel eine erhebliche Bedeutung zu. Gleichwohl wird es dem Hilfeempfänger i.d.R. verwehrt sein, vor Durchführung eines gerichtlichen Verfahrens ein entsprechendes Gutachten einzuholen, da psychologische, pädagogische oder medizinische Gutachten erhebliche Kosten verursachen. Diese Kosten werden i.d.R. auch dann nicht erstattet, wenn der Hilfeempfänger mit seinem Begehren durchdringt. Liegt kein förmliches Gutachten vor, sind auch die oft schon vorliegenden Entwicklungsberichte hilfreich.

Auf der folgenden Studienkarte finden Sie einen Entwurf für einen entsprechenden Antrag:

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Studienkarte 22: Muster für Widerspruch, Klage und EilverfahrenA. WiderspruchWiderspruch zur Fristwahrung:

An den

Kreis Göttingen

Az.: XY

Sehr geehrte Damen und Herren,

hiermit lege ich (bei mehreren Personen, z.B. Eltern: „legen wir“) gegen ihren Bescheid vom (Datum), Aktenzeichen (Az.: ...)

Widerspruch

ein.

Eine Begründung werde ich (durch meinen Anwalt) nachreichen.

alternativ:

Die Widerspruchseinlegung erfolgt zunächst zur Fristwahrung. Von einer Bescheidung des Widerspruches bitte ich zunächst abzusehen. Falls das Widerspruchsverfahren durchgeführt werden soll, werde ich den Widerspruch unaufgefordert kurzfristig be-gründen. Andernfalls werde ich den Widerspruch zurücknehmen.

alternativ:

Bevor ich den Widerspruch begründe, erbitte ich zunächst Akteneinsicht. Bitte teilen Sie mir dazu einen entsprechenden Termin zur Akteneinsicht in ihrer Behörde mit. Nach Akteneinsicht werde ich den Widerspruch begründen.

Mit freundlichem Gruß

Unterschrift des LeistungsberechtigtenB. KlageKlage zur Fristwahrung:

An das

Verwaltungsgericht Göttingen

Klage

des Jugendlichen Felix Bergmann, Bahnhofstr.11, 37115 Duderstadt , vertreten durch seine Eltern,

-Kläger-

gegen

den Landkreis Göttingen, Jugendamt, Rathausplatz 3, 37083 Göttingen, vertreten durch den Oberkreisdirektor.

-Beklagter-

wegen: Kinder- und Jugendhilfe

Antrag:

Unter Aufhebung des Bescheides des Beklagten vom 1.2.2006, Az.: 123, in Form des Widerspruchsbescheides vom 3.7.2006, Az.: XY, wird der Beklagte verurteilt, dem Kläger Eingliederungshilfe gem. § 35a SGB VIII zur Durchführung einer stationären Lern- und Spieltherapie in der Jugendhilfeeinrichtung – St. Klara- Heim e.V., Rosdorf, zu bewilligen und die entstehenden Kosten zu übernehmen.

Die Klageerhebung erfolgt zunächst zur Fristwahrung. Eine Begründung wird ggf. nachgereicht.

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Unterschrift des LeistungsberechtigtenC. Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung („Eilantrag“)Muster für einen Eilantrag an das Verwaltungsgericht

An das

Verwaltungsgericht Göttingen

Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung

des Jugendlichen Felix Bergmann, Bahnhofstr. 11, 37115 Duderstadt, vertreten durch seine Eltern,

-Antragsteller-

gegen

den Landkreis Göttingen Jugendamt, Rathausplatz 3, 37083 Göttingen, vertreten durch den Oberkreisdirektor,

- Antragsgegner-

wegen: Kinder- und Jugendhilfe.

Antrag:

Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem Kläger Eingliederungshilfe gem. § 35a SGB VIII zur Durchführung einer stationären Lern- und Spieltherapie in der Jugendhilfeeinrichtung St. Klara - Heim e.V., Rosdorf bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache zu bewilligen und die bis dahin entstehenden Kosten zu übernehmen.

Begründung:

1. (Darstellung des Sachverhaltes).

2. Der Antragsteller hat einen Anspruch auf Bewilligung der beantragten Maßnahme. Der Anspruch folgt aus § 35a SGB VIII. Die vom Antragsgegner vertretene Rechtsauf-fassung ist fehlerhaft. Es wird verkannt, dass ... (hier muss die eigentliche Begründung folgen).

3. Der Antragsteller hat einen Anspruch auf Entscheidung im Eilverfahren, weil bei ei-nem Abwarten bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache, die u.U. mehrere Jahre auf sich warten ließe, die Jugendhilfeansprüche des Antragstellers vereitelt würden. Auf-grund der dargestellten Problemlage benötigt dieser die Hilfe sofort und nicht erst nach Ablauf eines langen Zeitraumes. Eine Hauptsacheentscheidung käme zu spät.

4. Zur Glaubhaftmachung des Sachvortrages ist beigefügt:

– Bescheide vom (Ausgangs- und Widerspruchsbescheid)

– Gutachten

– Entwicklungsbericht

– eidesstattliche Versicherung (bei eigenhändiger Abfassung des Antrages ist auch fol-gende Formulierung am Ende des Textes möglich: „Die Richtigkeit des Vorsehenden versichere ich in Kenntnis der Strafbarkeit der Abgabe einer falschen eidesstattlichen Versicherung an Eides Statt.“).

Unterschrift des Leistungsberechtigten