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<1> vom 1.Feber VO Bild- und Wortkombinationen. WS2013. 1. Einheit | 1.2.2013 [ A1 | Bilder als historische Quellen ] Historiker fragen sich, ob Bilder Auskunft geben können, über historische (Lebens)umstände, Mentalitäten oder Ereignisse. Darstellungskonventionen in Kunst gehen mit der Zeit, man muss etwas über Vergangenheit wissen, um etwa Gesten auf antiken Bildern richtig deuten zu können. Um mehr von einem Bild zu verstehen, muss man sich mit ästhetischen und kulturellen Codes der Epoche, aus jener das Bild entstammt, beschäftigen. Quellenkritik üben: Treffen Bilder wirklich Aussagen, sind sie nicht einfach nur wg. Ihres ästhetischen Werts geschaffen? Bilder, Worte und Texte operieren mit unterschiedlichem Zugang von Offenheit, aber auch Genauigkeit. (Text sagt was er will, Bild zeigt es u.U. aber genauer). Religiöse, Ästhetische und Kulturell bedingte Codes. Bilder spiegeln Herrschaftsverhältnisse und Mentalitäten, aber nicht zwangsläufig Lebensumstände. (Wenn Kolonisatoren etwa Bilder malen lassen, dann ist das eine ganz eigene Perspektive, die mit der Wirklichkeit nichts zu tun haben muss.) Darstellung kann Konventionenunterliegen, dem Bildverständnis einer Zeit. Bsp.: Das Wort „Baum“ löst unterschiedliche Bilder im Kopf aus, bei jedem ein anderes. Unterschiedliche Vorstellungen sind auch kulturell bedingt (in Südamerika schauen Bäume einfach anders aus). Je mehr Worte aber den Baum beschreiben, umso genauer/gleicher wird auch die Vorstellung bei allen. Signifikat = Vorstellungsebene (Was Buchstaben meinen) Signifikant = Geschriebenes Wort (der Buchstabe als schwarzer Fleck auf weißem Papier) Worte kommen in Sätzen und Sätzen operieren in Grammatik. Die Struktur der Grammatik bestimmt unsere Denkstruktur. Dinge, die wir als Selbstverständlichkeit lernen, etwa die Trennung, die Grenze (inkl. Hierarchie) zwischen Subjekt und Objekt – die ist anderswo fließend. Grammatik darf als ein Gehäuse begriffen werden, aus dem man kunstvoll ausbrechen kann, so gesehen etwa bei Ernst Jandl oder dem Dadaismus. Laut Frau Gnam sei der Versuch des Ausbruchs etwas durchaus Kunstspezifisches. 1

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VO Bild- und Wortkombinationen. WS2013.

1. Einheit | 1.2.2013

[ A1 | Bilder als historische Quellen ]

Historiker fragen sich, ob Bilder Auskunft geben können, über historische (Lebens)umstände, Mentalitäten oder Ereignisse. Darstellungskonventionen in Kunst gehen mit der Zeit, man muss etwas über Vergangenheit wissen, um etwa Gesten auf antiken Bildern richtig deuten zu können. Um mehr von einem Bild zu verstehen, muss man sich mit ästhetischen und kulturellen Codes der Epoche, aus jener das Bild entstammt, beschäftigen. Quellenkritik üben: Treffen Bilder wirklich Aussagen, sind sie nicht einfach nur wg. Ihres ästhetischen Werts geschaffen?

Bilder, Worte und Texte operieren mit unterschiedlichem Zugang von Offenheit, aber auch Genauigkeit. (Text sagt was er will, Bild zeigt es u.U. aber genauer). Religiöse, Ästhetische und Kulturell bedingte Codes. Bilder spiegeln Herrschaftsverhältnisse und Mentalitäten, aber nicht zwangsläufig Lebensumstände. (Wenn Kolonisatoren etwa Bilder malen lassen, dann ist das eine ganz eigene Perspektive, die mit der Wirklichkeit nichts zu tun haben muss.) Darstellung kann Konventionenunterliegen, dem Bildverständnis einer Zeit.

Bsp.: Das Wort „Baum“ löst unterschiedliche Bilder im Kopf aus, bei jedem ein anderes. Unterschiedliche Vorstellungen sind auch kulturell bedingt (in Südamerika schauen Bäume einfach anders aus). Je mehr Worte aber den Baum beschreiben, umso genauer/gleicher wird auch die Vorstellung bei allen.

Signifikat = Vorstellungsebene (Was Buchstaben meinen)Signifikant = Geschriebenes Wort (der Buchstabe als schwarzer Fleck auf weißem Papier)

Worte kommen in Sätzen und Sätzen operieren in Grammatik. Die Struktur der Grammatik bestimmt unsere Denkstruktur. Dinge, die wir als Selbstverständlichkeit lernen, etwa die Trennung, die Grenze (inkl. Hierarchie) zwischen Subjekt und Objekt – die ist anderswo fließend. Grammatik darf als ein Gehäuse begriffen werden, aus dem man kunstvoll ausbrechen kann, so gesehen etwa bei Ernst Jandl oder dem Dadaismus. Laut Frau Gnam sei der Versuch des Ausbruchs etwas durchaus Kunstspezifisches.

…dass Grammatik Denkweise bestimmt. Nietzsche hat sich damit ausführlich beschäftigt....auch Bilder sind begrenzt, auch hier gibt es Konventionen, wenigstens einen Rahmen

Die dt. Sprache kann recht viel, eine Unterscheidung zwischen picture (lässt sich anfassen) und image (kommt von imagination) kennt sie allerdings nicht, bei uns ist ein Bild ein Bild, ob an der Wand oder im Kopf.

Bild und Text sind zwei unterschiedliche Kulturträger mit eigenem Gewicht und regen jeweils andere Prozesse an (Haarmann). Die Verbindung von Wort und Bild ist konventionell (vereinbart) und arbiträr (zufällig).

Bild hat didaktischen (zeigenden) Charakter. Aber: Nicht immer ist das, was wir sehen, alles, was das Bild zeigt; und auch bei realistischer Darstellungsweise noch keine verlässliche Quelle.

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Man weiß nicht, wie viele Sprachen es genau gibt, vielleicht 5000 oder so. Sprachen ohne Verschriftlichung, die also ausschließlich gesprochen werden, sterben tendenziell aus.

Auf lange Sicht ist das Verhältnis von Wort und Bild veränderlich, Sprache lebt, Worte veralten. Der Begriff „Respekt“ etwa war früher durchaus negativ konnotiert, gerade in den Dreißigerjahren galt eine Respektsperson als angsteinflößend. Von der Jugendkultur ausgehend („Respekt, Alter!“) veränderte sich die Bedeutung dieses Wortes. Sprache ist oft ein Anlassfall für Generationenkonflikt.

Frühe Schriften konnte man nicht in kleine Teile, in Buchstaben, zerlegen, weil sie keine Begriffe, sondern Handlungen, Empfindungen und Ideenkomplexe versprachlicht haben. Allein schon weil es manche dieser Handlungen und Denkmuster heute nicht mehr gibt, sind alte Sprachen oft schwer zu erforschen, die historische Distanz ist einfach zu groß. Wort und Laut waren bei alten Schriften oft unterschiedlich, die Schrift also keine Abbildung der Worte.

Logografie ist, wenn ein Zeichen eine ganze Handlungsidee darstellt. In alten Sprachen ergänzen sie die gesprochene Schrift um zusätzliche Information, etwa in kultischen Stätten.

Die meisten Schriften gehen auf die Sumerer zurück, so 3000 v.Chr. Diese Schrift entstand (als einzige damals?) nicht in kultischem Zusammenhang, sie dient keiner Gottesbeschwörung, keiner Zauberei; nein sie wurde zur Steuereintreibung und Effizienzsteigerung in der Verwaltung erfunden.

Möglicherweise gab es aber auch schon 7000 (?) v.Chr. Schriften in Europa:

(x) Tontafel von Tărtăria, ca. 5300 v.Chr.(x) Tontafel von Tărtăria , ca 5300 v.

Tafel stammt aus dem heutigen Rumänien, aus 5300 v.Chr. Die Zeichen auf der Tafel könnten schon Schrift gewesen sein, sagt Haarmann, das ist aber umstritten. Ornamente (also irgendwelche Zierzeichen auf den Tafeln) sind/wären nämlich keine Schrift. Schrift braucht System, ihre Zeichen einen Abstraktionsgrad (Zeichen müssen sich funktionell zu Verbundsystem verdichten; visuelle Abstraktionsleistung), außerdem muss Intention der Mitteilung gegeben sein. Harmann spricht von Schrifttechnologie.

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(x) Höhle von Pech- Merle, ca. 25.000 v. Chr.

(In Schriftforschung werden Theorien, wie auch etwa in der Physik, öfter mal überworfen. Aktueller Glaubensstand in puncto gepunktete Pferde: Hat es wirklich gegeben, doch keine kultische Symbolik)

…sehr frühe Schriften nicht phonetisch sondern logozentrisch (nicht auf einzelne Worte fokussiert). Oft hatten diese Schriften animistischen Charakter (in diesem Zeichen da wohnt Gott)

Magisch animistisch. Animismus ist Glaube, dass Dinge beseelt oder Wohnsitz von Geistern sind, ein Eigenleben haben. Auch Ansatz der Voodoopuppe ist hier einzuordnen.

Im alten Ägypten wurde Bild nicht als Bild sondern als Körper angesehen. Man dachte, dass Götter Statuen kurzzeitig inne wohnen, diese beseelen könnten. Also dass ein Gott gelegentlich mal von der Wolke herabstieg und dass er, wenn man fleißig gebetet hat, möglicherweise sogar seinen Hauptsitz in die Statue verlegt. Für Ägypter waren Bilder also Wege zu Gottes Nähe. Man fürchtete, Götter würden sich von der Welt abwenden, würden Bilder/Statuen zerstört.…Bilderstürme (auch auf Statuen) haben manchmal auch etwas davon (so in der Art: Ich mach dir deinen Gott böse; erst zerstören wir ihre Mars-Statue, danach greifen wir sie an)

Anders im Juden- und Christentum: Dort misstraute man Bildern, stattdessen wählte man Sprache als Weg zu Gott. Jahwe wurde als eifersüchtiger/eifriger Gott beschrieben, der sich noch an deinen Kindern und Enkelkindern rächen wird, wenn du dir ein Bild von ihm machst. … Prinzip des Einwohnens bei Statuen im antiken Ägypten. Assmann: Dieses Bild prägt die Antike so stark, dass sich monotheistische Religionen vor Bildern gefürchtet und das Wort als Medium auf dem Weg zu Gott ausgerufen haben.

(Exkurs: Johann Joachim Winckelmann prägte idealisierte Vorstellung der Antike: Edler Einfall, stille Geste. Man dachte lange, dass diese Gottesstatuen unbemalt, einfach nur weiß gewesen wären. Tatsächlich waren sie aber geradezu kitschig bunt, die Farbe ist mit der Zeit nur abgeblättert. Selbiges gilt auch für gotische Kirchen. <Aufsatz von Assmann kommt auf Moodle>)

Logografisch ~ vorstellen, denkenPhonografisch ~ gesprochen

Sprung ins 18. Jahrhundert

[ A2 | Bilder in historischen Artikeln ]

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- Bildunterschrften/Kommentare ermöglichen Autoren, die Leserschaft noch zusätzlich und anders (als im Fließtext) anzusprechen

- Belegfunktion- Helfen beim Merken

Hatte eine alte Kultur Schrift, dann werden Bilder eher erst spät als Quellen zum Forschen herangezogen.

(x) Graffito eines Landsknechts nach der Plünderung Roms (1528) aus: Arnold Esch: Wege nach Rom, 2003 | „Was sol ich schreibenn und nit lachnen, die la(nz)knecht habenn den babst lauffenn machen“Kommentar: Text über Vandalismus, Bildschändung durch dt. Landsknechte(x) Calixtus Katakombe 3. Jhd: Betende Frau

….Texte als Ergänzung zu Bildern. Beispiel Bild über Schändung von Kirchengebäuden durch dt. Landsknechte. Der Herausgeber des Buches stellte der Abbildung einen Kommentar aus einer anderen Zeit zur Seite, einen Text in dem jemand den Papst glorifiziert; Komposition sollte zum Nachdenken anregen.

…Verbindung Wort + Bild kann komplementär sein, kann lenken, manipulieren, können sich gegenseitig stärken, gemeinsam verführen; können sich aber auch bekämpfen (Wort/Bildschere). Bild kann die Rezeption eines Textes beeinflussen und umgekehrt.

…Über Typographie und Schriftgröße können auch Aussagen transportiert werden (etwa in (polit.) Comics)

(x) Teppich von Bayeux (68, 3 m x 45,7-53,6 cm, Stickgarn auf Tuch) vor 1082, Ausschnitt

riesig: 68,3m lang, Stickerei auf Wolle, in 5 Farben, nicht naturalistisch (es gibt auch blaue Pferde

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darauf); chronologische Bildfolge (von links nach rechts); etwa 1082 in Südengland; Zeigt Vorgeschichte von Schlacht von Hastings, der Eroberung Englands durch die Normannen. Dazu gibt es kaum (verchristlichte) historische Quellen. Was kann der Teppich darüber erzählen?

Das ist schon mal ein Methodenproblem: Bilder bedürfen immer Interpretation des Betrachters, das kann schwer objektiv sein.

(x) Bernard de Montfaucon: L‘ ántiquité expliquée et representée en figures, Paris 1719 (x) Bernard de Montfaucon: L‘Antiquitée …S. 218 a, b

Vorgeschichte: Bernd Montfaucon, ein gebildeter Geistlicher, hat Kirchenväter übersetzt. (Kirchenväter sind so in der Art Philosophen wie Eusebius, die haben das Selbstverständnis der Kirche früher stark geprägt). Um die Texte, die sich auf vergangene Zeiten beziehen, verständlich zu machen, brachte er eine Art Lexikon über die Kultur (Krieg(?), Religion, Kleidung) zur Zeit Homers heraus (auf diese bezogen sich nämlich die Texte). Es war das erste seiner Art, ein illustriertes Geschichtsbuch. Sehr erfolgreich. Später hat er die Geschichte Frankreichs bebildert, mit visuellen Zeugnissen zur Geschichte Frankreichs, mit Abbildungen (Zeichnungen) französischer Denkmäler etwa.

Sein Co-Autor dabei war Gagnièrs. Dieser bereiste zwar Frankreich, zeichnete also vor Ort, nahm es mit der Wirklichkeit aber nicht immer genau, sich stattdessen künstlerische Freiheiten heraus. So kam es schon mal vor, dass er eine sitzende Statue als stehende gezeichnet hat. Diese (schon nicht ganz detailgetreuen) Zeichnungen wurden dann wieder kopiert – mit der Hand nämlich, von anderen Zeichnern… „Stille-Post-Prinzip“ „Textkorruption“.

Das Telefon läutet, die Stimme am anderen Ende bietet Montfaucon Zeichnungen an. Diese stellen Wilhelm den Normannen dar. M. lässt die Zeichnungen kopieren und verschickt die Kopien an andere Klöster: Weiß wer was, was kann das sein? Das Kloster in Bordieux meldet sich zurück: Hier ist das Original, auf einem fast 70m langen Teppich. M. lässt den Teppich abzeichnen und veröffentlicht die Abbildungen in einem Buch. Er schreibt auch Kommentare dazu, erklärt etwa, dass die Türme auf dem Teppich wohl als Trenner zwischen zwei Bildern/Bildabschnitten fungieren. Er verwendete selbst dieselbe Technik, weiß also, dass die Türme wohl der Fantasie der Teppichweber entsprangen - alles sonst am Teppich hält er allerdings für eine verlässliche historische Quelle. M. vertraute darauf, dass Menschen einer Zeit die Ereignisse ihrer Zeit unverzerrt abbilden. Der Wunsch war dabei zweifellos die Mutter des Gedanken.

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…Montfaucon gab illustrierte Geschichtsbände heraus. Vorgeschichte der hist. Schlacht von Hastings war umstritten, in der Not wurde der Teppich als historische Quelle herangezogen, er sollte die Reise Haralds in die Normandie erklären

….früher meinte man, dass Zeitgenossenschaft = Augenzeugenschaft = Garantie für unvoreingenommenen, objektiven Blick auf Dinge; dabei wurde übersehen, dass Zeitzeuge/Maler/Teppichknüpfer natürlich sehr wohl eigene Interessen vertreten könnte, oder dass Erzählungen der Propaganda dienen können.

Der Teppich als Quelle war schon damals umstritten, Lyttelton etwa prägte den Satz „Teppichweber sind schlechte Historiker“. Da die Teppichweber wohl über Schlachten berichteten, an denen sie nicht selbst teilgenommen hatten, sprachen manche auch von „Vulgärerzählung“ (also Sekundärerfahrung, aus zweiter Hand). Auch die Datierung des Teppichs war umstritten.

Nichtdestotrotz wurde der Teppich bis ins 18. Jahrhundert als historische Quelle verwendet. Dann erst das Eingeständnis, dass bildliche Darstellungen verzerrt sein, und vor allem auch gegensätzlich interpretiert werden können.

Historischer Streit um Harald: Was hat er in der Normandie gesucht?

- Wollte er fischen?- Wollte er den Thron?- Wollte er Geiseln befreien?

Bei den Spekulationen beriefen sich Historiker auf Bilder des Teppichs.

(x) Bernard de Montfaucon: „Monuments 2, Bd 1, Paris 1730: Reproduktion eines Teiles der für Montfaucon angefertigten Zeichnung des Teppichs von Bayeux(x) Teppich von Bayeux (Zeichnung nach Montfaucon): Ausschnitt (Szene 100)

Deutungen waren etwa: Gebärde des Königs (Rex) mit der rechten Hand = K. erteilt Auftrag an H.. Oder: Möglicherweise gibt er gar keinen Auftrag, möglicherweise hat er nur eine Haltung dazu, die er artikuliert. Oder: Der König ist gegen die Reise, er macht H. Vorwürfe und fuchtelt dabei mit der rechten Hand. Historiker gaben sich also der Esoterik hin, deuteten Bilder auf Teppichen ungewisser Herkunft und Datierung. Je nach politischer Sicht, deutete man, was man eben sehen wollte.

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(x) Teppich von Bayeux, Ausschnitt (Ausschnitt Original / Zeichnung)

Erschwerend hinzukommt: Man deutete Kopien (also Zeichnungen) des Teppichs, nicht mal das Original (das mitunter weit weg war).

Das Original lässt weniger Möglichkeiten zur Deutung als die Kopien. Im Mittelalter gezeichnete Figuren hatten nämlich alle denselben neutralen Gesichtsausdruck. Im Mittelalter waren Bilder in der Regel mit Texten erschienen, die Darstellung der Abgebildeten zeigten am ehesten noch den Rang an, keine individuellen Gefühle. Die Zeichner, die den Teppich kopierten, waren aus einer späteren Epoche, hier war es en vogue gewesen, Figuren in Gestik und Mimik individualisiert darzustellen. Die Zeichner hatten also etwas hineininterpretiert.

Dazu passend ein Text des französischen Bürgermeisters, der sich dafür stark gemacht hat, ein Museum um den Teppich zu bauen. In diesem Text beschreibt er, wie er sich als kleiner Junge zum ersten Mal vor dem Teppich gestanden ist und sich gefreut hat. Und nicht nur das: Er hat sich, wie im Spiel, so intensiv in die auf die abgebildeten Geschehnisse und Figuren identifiziert, er hat gar fantasiert, wie er Herold war und jemanden vorm Ertrinken rettete, wie es spannend in den Schlachten war, ja gar in Pfeile, Wolle und anderen Gegenstände aus den Abbildungen begann er sich hineinzuversetzen.So jemand wird ein Bild kaum neutral kopieren, abzeichnen können ;-)

Kunst bietet Fläche für Identifikationsprozesse.

Auch schon das Malen von Bildern, das Malen aus der Erinnerung ist, wie diese auch selbst, stets verklärt und verzerrt.

[ A3 | Problem: Wie stellt man Emotionen auf Bildern dar? ](erst nach dem Mittelalter relevant)

Bacchus, wie Dionisos ein Gott des Rausches.Bacchantin, ekstatische Tänzerin im Gefolge des Bacchus; Darstellung der Verherrlichung des Rauchzustandes; sehr emotional.

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Reynolds (?) (18. Jhdt.): Extreme Gefühle sehen oft gleich aus. Wenn Maria über dem toten Jesus weint, dann ist das eine zumindest ähnliche, wenn nicht gleiche Haltung, wie man sie von der Darstellung von Bacchanten kennt. Es ist auch schwierig, ein Lachen als fröhlich darzustellen, könnte oft auch ein Weinen sein. Die Frage nach der bildlichen Darstellung von Emotion stellt sich erst in der Renaissance, da Bilder im Mittelalter i.d.R. kommentiert waren. (starke Verknüpfung Bild + Kommentar)

(x) Legenda aurea, (Jacobus de Voragine) gedruckt 1488 in Nürnberg, Seite über Othmar von Sankt Gallen und Elisabeth von Thüringen(x) Martyrium des Hl. Saturinus von Toulouse, Illustration zu einer im 14. Jhd erschienenen Ausgabe der „Legenda aurea“ des Jacobus de Voragine (wurde totgeschliffen)(x) Dierick Bouts: Heiliger Christophorus, 1467-1468 (Heiliger der Überfahrt)(x) Francisco de Zurbáran: Heilige Agatha (Ausschnitt). 1630-1636

„Legenda aurea“ (1282, Spätmittelalter) Buch über Heilige. Darstellung erfolgte nach Konvention: Man zeigte sie mit Gegenstand ihres Martyriums (also dem Folterinstrument, das ihr Ende bedeutete) und einer Erklärung (einem Bildtext). An diesen Folterinstrumenten erkannte man die Heiligen auch gleich überall, Wissen über christliche Heldensagen war damals Populärkultur. Das Buch wurde in lokalen Kopien um regionale Heilige ergänzt und übersetzt.

4; Das ist die hl. Agatha, ihr Martyrium: Ihr wurden die Brüste abgeschnitten. Wer das nicht weiß, könnte zu dem Bild auch Prostitution assoziieren: Brüste quasi am Silbertablett serviert/angeboten)

(x) Agathabrötchen, Brauchtum, Q: Ökomenisches Heiligenlexikon

(Heilige hatten Zuständigkeitsbereich: Gab es viele regionale Heilige, die gegen Pest schützen sollten, dann gab es in der Gegend wahrscheinlich öfter mal Seuchenalarm. Ist alles gut, brauche ich keinen Heiligen.)

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(x) Michelangelo: Sixtinische Kapelle, Der Apostel Bartholomäus (1508-1512)(x) Bonaventura Berlinghieri (1228 - 1274), Florenz, Basilica di Santa Croce

1; Michelangelo zeigt Gehäuteten. Manche glauben, in der abgezogenen Haut habe sich der Maler selbst verewigt (Selbstporträt)2; Franz v. Assisi

(x) Der ältere Physiologus, 1070

48 Abschnitte zu Tieren und Fabeltieren im Kontext zu Christus‘ neutestamentarischer Heilsgeschichte (= Geburt, Kreuzigung und Auferstehung).

(x) Simone de Crocefessi: Kreuzigung Christi , 1370(x) Cimetière Notre-Dame-des Neiges, Montréal, 19. Jhd.

Jesus-Kreuz mit Pelikannest oben drauf. Die Geschichte dazu: Pelikane lieben ihre Kinder. Aber die Pelikankinder begannen die Mutter zu schlagen, diese schlug zurück und tötete die Kinder. Das tat ihr sehr leid. Am 3. Tag beträufelt sie die Kinder mit dem eigenen Blut, (füttert sie die Kinder mit dem eigenen Herzen?) Auferstehung. Christlicher Kontext dazu: So hat es auch Gott gemacht, nach dem Sündenfall, er hat uns immer noch lieb.

Ohne entsprechendes Hintergrundwissen kann man so ein Bild natürlich schon auch in seiner Ästhetik genießen, wenn die Darstellungen auch eher eigen wirken mögen. Und auch mit allem Wissen, allen Vermutungen, die wir heute über die Vergangenheit gesammelt haben, werden wir ein Bild von damals doch nie so sehen/verstehen können, wie es ein zeitgenössischer Betrachter gesehen hat.

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Nun der Einschnitt, die Bilder der Renaissance

(x) Giotto: Incontro di Anna e Gioacchino alla Porta d'Oro , Fresko in Capella degli Scrovegni, 1303-1305Wenig Text, Bild arbeitet mit Emotionen, da tut sich was, ein Kuss, Bewegung; ~3d-Raum mit Bühnencharakter.

Die Bilder der R. fesseln und emotionalisieren Rezipienten auf andere Weise, als es die eher trockenen Bilder des Mittelalters getan haben.

Zugleich auch Renaissance antiker Rhetorik: „Institutio Oratorie Libri“, ein Buch mit 40 Beschreibungen, wie man Hände und Finger und Körper beim Reden hält. So wurde dann oft auch gezeichnet.

(Exkurs:

Klassisches Modell der Rhetorik:

1) Inventio: Auffinden des Stoffs2) Dispositio: Anordnen des Stoffs3) Elocutio: Ankleiden des Stoffs mit schönen Worten (Stil, Ausführung einer Rede)4) Memoria: Einprägen ins Gedächtnis5) Actio: Hauptsache die Gesten stimmen, damit kann tatsächlich am meisten Botschaft vermittelt werden

)

Text von Leonardo: Wie man u.a. einen zornigen und verzweifelten Mann darstellt.Letzterer solle sich das Hemd vom Leibe reißen; das war sehr dramatisch und zeitspezifisch, das würde man heute nicht mehr so darstellen. Als Quelle fürs Studium vom Gestik und Mimik empfahl er übrigens Taubstumme und Prediger.

Die damalige Malerei übernahm diese Codes.

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(x) Pinturicchio: St. Antonius, der Abst u. St. Paulus der Eremit (Detail), Fresko Vatikan, Appartamento Borgia, Sala Die Santi

Auf der linken Bildhälfte sind Frauen zu sehen, die eine scheinbar höfische Grußgeste vollführen. Tatsächlich sind es Prostituierte, die Geste ein sexuelles Offert. (Bild zeigt die Verführung des A.)

(x) Giovanni Paolo Lomazzo: Head of an executioner, 1560

Bild von altem Mann. Maler meinte, man würde seinen Beruf ohne ergänzenden Text sofort erkennen. Tatsächlich regt Bild auch heute negative Assoziationen (etwa der Mann hat Angst); Henker waren ganz unten in der Gesellschaft, die die die Drecksarbeit machten.

(x) Video: Exploring Pergosa (?)Youtube. Zwei Männer sitzen nebeneinander und gestikulieren

(x) John Bulwer: Chirologia, London 1644 Beispiele zur Illustration der „natürlichen Sprache der Hand“(x) Bild aus 1707: Gérard de Lairesse: Het Groot Schilderboek. Haarlem 1740. Tafel 54.

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1; Bulwer dachte, Gesten seien universell, sie sind aber kulturspezifisch

2; Aus dem großen Buch der Malerei; Selbe Gesten in unterschiedlichen Ausführungen: Vom Bauern, von geputzten Frauenzimmer, von der feinen Dame, vom Fürsten… (Typisierung)

Der Arbeiter (oder Bauer?) hat die Ellenbogen am Tisch, als müsste er die Schüssel bewachenDer dumpfe Bauer als Stereotyp der damaligen Zeit. Obwohl die Darstellung sehr realistisch wirkt und bebildert ist und der Autor bestimmt auch über eine gute Beobachtungsgabe verfügt: Es ist eine Ironisierung, sie arbeitet mit Stereotypen. Mischung aus guter Beobachtungsgabe und sehr genauer Darstellung, aber auch Einzementierung gängiger Klischees. Bild vom unkultivierten Bauern, Bürgertum wollte sich von diesem abgrenzen.

Auch realistisch gezeichnete Porträts römischer Kaiser oft verzerrt: Kaiser, so sagte man, hatte diese und jene (guten) Eigenschaften. Maler hat diese guten Eigenschaften ins Porträt eingearbeitet, obwohl der Kaiser in echt vielleicht gar keine so gütigen Gesichtszüge gehabt hat. Wenn wir heute ein Bild von Kaiser X. dem Gütigen sehen, dann hat der oft tatsächlich einen gütigen Blick.

(x) Lavatar’s Physiognomie (x) Johann Caspar Lavater: Physiognomische Fragmente, 1775. Jedes Gesicht ist dumm, was vom Augwinkel an, bis mitten an den Nasenflügel, kürzer ist, als von dort zur Mundspitze.(x) Johann Kaspar Lavater: Physiognomische Aspekte zur Beförderung der Menschenkenntnis., 1772Hundert Physiognomische Regeln: 47. Mund. Jeder Mund, der völlig einmal so breit ist, als das Auge, ist der Mund eines Dummkopfs - das heißt, von der Spitze gegen die Nase, bis an's innere End' des Augapfels; beyde Breiten nach demselben flachen Maaße gemessen.(x) Schattenriss, zeitgenössische Darstellung(x) Vermessung von Schatternrissen nach Lavater

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Lavatar liest Charaktereigenschaften und Talente aus Eigenschaften des Körpers heraus. Er misst quasi innere Werte aus äußerlichen Begebenheiten, aus Körperformen heraus. Er reklamiert, seine Messungen inkl. Deutungen seien objektiv und wahrhaftig. Seine Bücher waren tatsächlich populär, seine Thesen etwa bei der Auswahl von Dienstboten angewendet. Sich selbst zu messen war ein beliebtes Gesellschaftsspiel der Upper-Class. Er zeichnete Kopfformen nicht frei ab, sondern arbeitete mit Schattenrissen (Kopf, Kerze, Leinwand -> Schatten)

Es gab die Mode, es gab aber natürlich auch Kritik an der Physiognomie, die natürlich Humbug ist; Georg Christoph Lichtenberg schrieb Polemiken und Satiren auf die „physiognomische Raserei“.

…Dass man Bilder als historische Quellen für Forschung vergangener Alltage heranzieht ist eher neu. …Es werden prinzipiell zuerst immer schriftliche Quellen ausgewertet.

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