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ABB-Information Jahresheft 2012

ABB-Information · ABB-InformAtIon 2012 – – – 1 Arbeitskreis Begabungsforschung und Begabungsförderung e.V. ABB-Information Jahresheft 2012 Rostock, September 2012

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ABB-Information

Jahresheft 2012

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Impressum ABB Information, Jahresheft 2012

Herausgegeben von:ABB e.V., Universität Rostock

Institut für pädagogische Psychologie August-Bebel-Str. 28 18055 Rostock

Web: www.abb-ev.org ISSN 1619-1420

Redaktion: Dr. Wilfried Manke, Dr. Claas Wegner

Mitglieder des Vorstands

Mit Namen gekennzeichnete Artikel geben nicht notwendigerweise die Meinung des Herausgebers oder der Redaktion wieder.

© Arbeitskreis Begabungsforschung und Begabungsförderung e.V.

Prof. Dr. Christoph Perleth (1. Vorsitzender)August-Bebel-Str. 28, 18051 [email protected]

Gudrun Zeissler (Schatzmeisterin)Auf dem Brand 5, 53177 [email protected]

Dr. Brigitte Heink (Stellvertretende Vorsitzende)K. Günther-Str. 4, 04317 [email protected]

Prof. Dr. Helga Joswig (Stellvertretende Vorsitzende)Malchiner Str. 19, 18109 [email protected]

Dr. Claas Wegner (Schriftführer)Universität Bielefeld in der Universitäts-straße 25, 33615 [email protected]

Erweiterter VorstandDr. Wilfried Manke, HamburgDr. Thomas Zech, Köln

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ABB-InformAtIon 2012 – – – 1

Arbeitskreis Begabungsforschung und Begabungsförderung e.V.

ABB-InformationJahresheft 2012

Rostock, September 2012

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2 – – – ABB-InformAtIon 2012

I N H A L T

Vorwort ................................................................................................ 4

Vorstellung der Redaktion ................................................................... 5

Projekte und Berichte

Christoph Perleth: Bericht zur ABB-/MINT-EC-Tagung in Erfurt am 29./30.9.2011 .................................................................................. 8

Christoph Perleth & Daniela Hoese: Die Begabungspsychologische Beratungsstelle „Odysseus-Projekt“ der Universität Rostock feierte ihr 10jähriges Bestehen ....................................................... 10

Thomas Hofer: AlphaGenius – Europäisches Netzwerk zur Hochbegabung ............................................................................... 13

Roya Klingner: Deutsch-Ukrainische Junioruniversität für Luft- und Raumfahrt ....................................................................................... 15

Annika Borgmann & Claas Wegner: Förderung naturwissenschaftlich begabter Schüler im Projekt Kolumbus-Kids .................................. 19

Neues vom Österreichischen Zentrum für Begabtenförderung und Begabungsforschung (ÖZBF) ........................................................ 23

Forschungsstudien

Helga Joswig: Drei Jahre Besuch der Förderklasse für Hochbegabte ............................................................................ 27

Claas Wegner, Mareike Krooß, Sara Cordes & Norbert Grotjohann: Epistemologische Überzeugungen im naturwissenschaftlichen Unterricht ........................................................................................ 43

Claas Wegner, Sven Grügelsiepe & Andreas Dück: Das Experiment im Fokus der fachdidaktischen Forschung ..................................... 59

Claas Wegner, Andreas Dück & Christoph Perleth: Hilfe, NRW hat das achtjährige Gymnasium! .......................................................... 74

Stefanie Lange, Wolfgang Lehmann, Melanie Baumgarten & Inge Jüling: Spitzenleistungen – ein Mix aus Leidenschaft, Lernen und spezifischer Kognition .................................................................... 87

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ABB-InformAtIon 2012 – – – 3

Ines Müller, Jeanne Rademacher & Wolfgang Lehmann: Förderung mathematischer Kompetenz im Vorschulalter ................................ 93

Jeanne Rademacher, Wolfgang Lehmann & Ines Müller: Familien mit hochbegabten Kindern – systemische Perspektiven der Elternbegleitung ............................................................................. 101

Marold Reutlinger: Geschlechtsunterschiedlicher Einfluss von Soziotopen auf die Schulleistung ................................................... 107

Claas Wegner & Sven Grügelsiepe: Messung überfachlicher Kompetenzen im Projekt „Kolumbus-Youth“ zur Förderung naturwissenschaftlich begabter Schülerinnen und Schüler in der Oberstufe ........................................................................................ 113

Magazin

Ernst Hany: Laudatio für Prof. Dr. Kurt Heller...................................... 126

Christoph Perleth: Zum 80. Geburtstag von Prof. Dr. Franz J. Mönks 130

Thomas Hofer: Wir brauchen den begabungsgerechten Unterricht. Thesen zum Weiterdenken und Erwartungen an die Schule Teil 1 134

Anne Eckerle: Mehrfachtestungen bei hochbegabten Problemkindern ...................................................... 136

Richard Rasmussen: Hochbegabung heißt nicht Einser-Schnitt ......... 156

Gardy Hemmerde: Verwählt, aber nicht aufgelegt … ......................... 158

Weißbuch „Begabungs- und Exzellenzförderung“ ............................... 181

Buchbesprechung

Wilfried Manke: Olaf Steenbuck, Helmut Quitmann & Petra Esser (Hrsg.): Inklusive Begabtenförderung in der Grundschule. Konzepte und Praxisbeispiele zur Schulentwicklung. Beltz Verlag Weinheim und Basel 2011 .............................................................. 162

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4 – – – ABB-InformAtIon 2012

Vorwort

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

mit dem vorliegenden Jahresheft unseres „Arbeitskreises Begabungsfor-schung und Begabungsförderung e.V.“, der ABB-Information 2012, erhalten Sie erstmals den neukonzipierten Rundbrief unseres Vereins. Dieses Heft führt den bisherigen, von Prof. Lange herausgegebenen Rundbrief mit den in eher lose Folge erschienenen ABB-Bänden zusammen, in denen zuletzt ausgewählte Vorträge der Tagung in Saarbrücken publiziert und einem grö-ßeren Publikum zugänglich gemacht wurden. Ich bin überzeugt, dass wir mit der neuen Konzeption unseren Vereinszielen sehr gut gerecht werden, insbesondere weil in der ABB-Information künftig Nachwuchswissenschaft-ler ein gutes Forum und natürlich auch ein interessiertes Publikum finden können.

An dieser Stelle gilt mein Dank aber nicht nur den neuen Redakteuren sowie all denen, die diese in ihrer Arbeit tatkräftig unterstützt haben, sondern auch dem bisherigen Chefredakteur und Herausgeber Prof. Dr. Otto Lange. Dieser hat in jahrelangem, unermüdlichem Einsatz dafür garantiert, dass die bisherigen ABB-Informationen kontinuierlich erscheinen konnten.

Vielleicht vermissen Sie im neuen Jahresheft die vielen Informationen und Hinweise, die bisher in der ABB-Info zu lesen waren. Da das Heft in Zukunft jährlich erscheinen wird, finden Sie diese inzwischen auf unsere Homepage im Internet, wo solche Informationen viel aktueller eingestellt werden können.

Wie dem Vorwort der Radaktion entnommen werden kann, soll künftig jährlich ein solches Heft erscheinen, das nächste rechtzeitig zur Tagung 2013 in Köln, die wieder gemeinsam mit der Schulleitertagung des MINT-EC stattfinden wird und zu der ich Sie schon jetzt herzlich einlade.

Für das zum Kongress 2013 erscheinende Heft benötigt die Redaktion aber auch Beiträge aus den Reihen der Mitglieder/innen, also von Ihnen. Helfen Sie mit, den ABB zu einem lebendigen Verein zu machen und beteili-gen Sie sich mit ihren Berichten aus der Forschung, vor allem aber auch der Praxis. Meiner Ansicht nach gehören noch viel mehr Berichte aus der Praxis, vor allem auch von Unterrichtsprojekten, in die ABB-Information 2013.

Mit den besten Grüßen

Christoph Perleth

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ABB-InformAtIon 2012 – – – 5

Vorstellung der RedaktionDer vorliegende Rundbrief „ABB-Information“ des Arbeitskreises Bega-bungsforschung und Begabungsförderung e.V. liegt Ihnen zum ersten Mal als Jahresheft 2012 vor. Mit dieser Premiere nehmen wir Abschied von den bisher gewohnten Ausgaben der ABB-Information. Wir nehmen diese Gelegenheit natürlich auch wahr, um unseren Dank auszusprechen an den bisherigen redaktionellen Betreuer Prof. Dr. Otto Lange, der aus gesundheit-lichen Gründen diese Arbeit nicht weiter übernehmen kann.

Aktuelle Beiträge erscheinen zukünftig in der online-Ausgabe auf der von Dr. Claas Wegner neu gestalteten und betreuten Homepage des ABB. Wie auch dort umfasst jedes Jahresheft regionale und überregionale Projekte und

– Berichte – Forschungsstudien – Magazin – Buchbesprechungen

Mit dieser Neuausrichtung erhoffen wir uns einen noch lebendigeren und informationsreicheren Austausch, der längerfristig auch über den engeren Mitgliederbereich hinaus gehen soll. Das vorliegende erste Jahresheft zeigt die Richtung an: Voraussetzung ist Ihre aktive Mitarbeit bei der Gestaltung dieser Neuausrichtung.

Wir bedanken uns bei den Autoren und Autorinnen der hier versammelten Beiträge, hoffen auf eine gelingende Fortsetzung unserer neuen Aufgaben und wünschen Ihnen eine spannende Lektüre.

Dr. Wilfried Manke Dr. Claas Wegner

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6 – – – ABB-InformAtIon 2012

Im erweiterten Vorstand des Arbeitskreises Begabungsforschung und Begabtenför-derung ist Dr. Wilfried Manke redaktionell zuständig für die online-Ausgabe und für den als Jahresheft erscheinenden Rundbrief „ABB-Information“.

Seit 2008 arbeitet er als freiberuflicher Berater und Fortbildner zu Themen der Begabungs- und Begabtenförderung. Schwerpunkte seiner Tätigkeit sind hier Einzelfallberatung, Beratung und Fortbildung von Lehrkräften so-wie pädagogische Konzeptentwicklung von Schulen. Er war als Lehrer an verschiedenen Hamburger Schulen, als Hochschulassistent für Erziehungs-wissenschaft und Politische Bildung an der Universität Hamburg und zuletzt als Leiter der Beratungsstelle besondere Begabungen am Landesinstitut für Lehrerbildung und Schulentwicklung tätig. Er gehört zu den Gründern des Netzwerks Begabtenförderung Hamburg e.V. und ist dort Vorstandsmit-glied.

Im Jahre 2009 wirkte er mit bei der Planung, Organisation und Durchfüh-rung des bundesweiten Schüler-Kongresses „Wir machen Schule schlau. Begabung versus Schule? Schule versus Begabung?“, dessen Ergebnisse in einer umfangreichen Dokumentation veröffentlicht wurden.

In Kooperation mit Prof. Dr. Trautmann (Fachbereich Erziehungswissen-schaft der Universität Hamburg) organisierte er im Sommersemester 2011 eine vielbeachtete öffentliche Ringvorlesung „Begabung – Individuum – Ge-sellschaft“. Alle Beiträge dieser Veranstaltung erscheinen in diesem Jahr im Beltz-Juventa-Verlag als Buch.

Dr. Wilfried Manke ist pädagogischer Konzeptentwickler und Berater der neuen OKO PRIVATE SCHOOL (OPS) – Talentschule Hamburg.

Dr. Wilfried Manke

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Im Vorstand des ABB ist Herr Dr. Claas Wegner seit 2008. Seine Tätigkeiten hier umfassen die Betreuung der Homepage sowie die Mitarbeit bei der ABB-Information.

Seit 2008 ist Dr. Claas Wegner an der Universität Bielefeld in der Fakultät für Biologie beschäftigt und hier in der Biologiedidaktik (Botanik/Zellbiologie). Diese Tätigkeit wurde lediglich im Sommersemester 2011 durch die Vertre-tung der Professur in der Fachgruppe Biologie und ihre Didaktik (Humanbio-logie) an der Universität Siegen unterbrochen.

An der Universität Bielefeld leitet er die Projekte Kolumbus-Kids, Biolo-gie-hautnah, die Experimentier-AG und er ist Mitveranstalter der Regional-Akademie OWL. Neben der Projektleitung ist er mitverantwortlich für die Lehramtsausbildung in der Biologie und hier mit dem Schwerpunkt der Se-kundarstufe I und II.

Um den Bezug zur Schule nicht zu verlieren, unterrichtet er seit Erhalt des Zweiten Staatsexamens mit ca. 3 Stunden in der Woche am Ratsgymnasi-um in Bielefeld. Im Bereich der Begabtenförderung ist er durch die Projekte Kolumbus-Kids und die Regionalakademie OWL tätig, in der er naturwis-senschaftlich begabte SchülerInnen fördert und hier neue Förderkonzepte entwickelt. Die Begabungsforschung verfolgt er durch Studien innerhalb der eben genannten Projekte.

Derzeitige Studien sind: – wissenschaftspropädeutische Untersuchungen, – Untersuchungen zu Lernstrategien, – epistemologische Untersuchungen, – Untersuchung emotionaler Konzepte im naturwissenschaftlichen Un-

terricht, – Untersuchung der Entwicklung von naturwissenschaftlichen Fertigkei-

ten und Fähigkeiten , – Der Vergleich von G8 mit G9 in NRW.

Weitere Informationen finden Sie unter: www.Kolumbus-Kids.de

Dr. Claas Wegner

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8 – – – ABB-InformAtIon 2012

Projekte und Berichte

Bericht zur ABB-/MINT-EC-Tagung in Erfurt am 29./30.09.2011Christoph Perleth

Die gemeinsame Tagung von ABB und MINT-EC in Erfurt wies aus Sicht des ABB zwei Besonderheiten auf: Zum einen feierte der ABB seinen 20. Geburtstag, wobei besonders am Eröffnungsbankett am Donnerstagabend gefeiert wurde. Zum anderen wurde Prof. Dr. Kurt Heller, wohl das prominen-teste ABB-Mitglied, anlässlich seines 80. Geburtstags am Freitag mit einem internationalen Symposium geehrt, das auch bei den ABB- und MINT-EC-Mitglieder auf sehr großes Interesse stieß.

Das Symposium zu Ehren von Kurt Heller, das von dessen ehemaliger Promovendin Prof. Dr. Ai-Girl Tan (Nanyang Technological University Singa-pore, Singapur) organisiert und geleitet wurde, wurde von drei ehemaligen Assistenten von Prof. Heller eröffnet. Zunächst ging Prof. Dr. Ernst Hany (Universität Erfurt) mit einer Laudatio auf Leben und Werk des Jubilars ein, die in diesem Heft gesondert nachgelesen werden kann. Anschließend überbrachte Prof. Dr. Christoph Perleth (Universität Rostock) Glückwünsche von Kollegen/innen aus dem In- und Ausland, die nicht nach Erfurt kommen konnten, die aber alle Glückwunsch-Folien zu einer gemeinsamen Power-point-Präsentation beigetragen hatten. Schließlich konnte Prof. Dr. Albert Ziegler den Vorabdruck eines Buches Excellence: Essays in Honour of Kurt A. Heller (herausgegeben von Albert Ziegler und Christoph Perleth, erschie-nen im LIT-Verlag, Münster) präsentieren.

Nach dem Beitrag des Jubilars Kurt Heller selbst zum Thema „Perspek-tiven der Hochbegabungsförderung für das 3. Millenium“, der vor allem bei vielen MINT-EC-Schuleitern auf großes Interesse stieß, gab es folgende Beiträge ehemaliger Mitarbeiter, Assistenten und Promovenden von Prof. Heller:

– Dr. Mayumi Oie (Tokyo Woman’s Christian University, Tokyo, Japan): „Gender differences with age in motivation on mathematics and aca-demic competence across elementary school to junior high school in Japan“.

– Prof. Dr. Ai-Girl Tan (Nanyang Technological University Singapore, Singapur): „Creativity in the context of psychology of excellence: Re-flections and Suggestions“.

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– Prof. Dr. Heiner Rindermann (Technische Universität Chemnitz): „Er-gebnisse der Internationalen Mathematik Olympiaden (IMO) und ihr Effekt durch wissenschaftliche und technische Leistungen auf Wohl-stand“.

– Prof. Dr. Albert Ziegler (University of Erlangen-Nürnberg): „Gifted Edu-cation from a Systemic Perspective: The Importance of Educational Capital and Learning Capital for the Development of Actiotopes“.

– Prof. Dr. Shi Shiannong (Chinese Academy of Sciences, Peking): “Gifted Studies and Education in China”.

– Hans-Peter Langfeld (Universität Frankfurt, Adama University, Ethio-pia): „Aktivierung von Bildungsreserven – Back to the grass roots“.

– Prof. Dr. Helga Joswig (Universität Rostock): „Drei Jahre Besuch der Förderklasse für Hochbegabte – Persönlichkeitsentwicklung von drei Jahrgangsstufen querschnittlich betrachtet“.

– Prof. Dr. Claas Wegner (Universität Bielefeld/Siegen): „Untersuchung der naturwissenschaftlichen Fähigkeiten und Fertigkeiten von begab-ten Schülerinnen und Schülern“.

– Dipl.-Psych. Maria Neumann & Prof. Dr. Christoph Perleth (Universität Rostock): „Evaluationsbefunde zum mediengestützten Juniorstudium an der Universität Rostock“.

– Andreas Dück & Prof. Dr. Claas Wegner (Universität Bielefeld/Sie-gen): „G8 / G9 im Vergleich – Eine Gegenüberstellung des acht- und neunjährigen Gymnasiums in NRW mithilfe eines kognitiven Fähig-keitstests und eines Motivations-Fragebogens“.

Abb. 1: Referenten/innen und weitere Teilnehmer/innen am Symposium zu Ehren von Prof. Heller.

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10 – – – ABB-InformAtIon 2012

Die Begabungspsychologische Beratungsstelle „Odysseus-Projekt“ der Universität Rostock feierte ihr 10jähriges BestehenChristoph Perleth & Daniela Hoese

Seit nunmehr 10 Jahre existiert sie – die begabungspsychologische Bera-tungsstelle des Odysseus-Projekts am Institut für Pädagogische Psycholo-gie „Rosa und David Katz“. Am Freitag, den 14. Oktober 2011, feierte sie ihr zehnjähriges Bestehen und richtete anlässlich dieses Jubiläums im Orgel-saal der Hochschule für Musik und Theater Rostock (HMT Rostock) eine Festveranstaltung aus.

Seit September 2001 können sich Eltern, die Informationen bei begabungs-psycho logischen Fragestellungen und Hilfestellung in Angelegenheiten der Schullaufbahngestaltung erhalten möchten, an die Beratungsstelle wenden. Daneben steht die Beratungsstelle auch Lehrkräften an Schulen, pädago-gischem Personal in Kindergärten, Ergotherapeuten sowie Mitarbeitern in Förder instituten zur Verfügung. Die Kosten der Beratungsstelle teilten sich ursprünglich die Karg-Stiftung (Personal- und Sachkosten) und die Universi-tät Rostock (Räume und Infrastruktur), inzwischen hat das Land die Finan-zierung der Personalstelle über nommen.

Zu den häufigsten Beratungsanlässen zählen Informationswünsche zum Thema Begabung allgemein, oftmals im Zusammenhang mit der Überprü-fung einer vermuteten Hochbegabung von Kindern und Jugendlichen. Fra-gen nach gezielter schulischer und außerschulischer Förderung sowie zur individuell geeigneten Schullaufbahngestaltung stehen ebenfalls bei zahlrei-chen Eltern im Mittelpunkt. Aber auch plötzlich auftretende Schulleistungs-probleme oder nachlassende Motivation für schulische Inhalte sind Anliegen, mit denen sich Familien an die Beratungsstelle wenden.

Der Arbeit der Beratungsstelle liegt das in der Hochbegabungsszene gut bekannte Münchner (Hoch-)Begabungsmodell zu Grunde, nach dem Schü-ler/innen mit gutem und sehr gutem Denkvermögen, also hohem Potenzial, nicht zwangsläufig auch hohe Leistungen erreichen. Vielmehr kommt es bei der Umsetzung von Begabung in Leistung auf Persönlichkeitsmerkmale wie Anstrengungsbereitschaft, Stressbewältigung oder auch Arbeitsstrategien an. Natürlich können die familiäre Lernumwelt, die Qualität des Unterrichts und das Klassenklima hohe Leistungen ebenfalls begünstigen oder eben auch verhindern.

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ABB-InformAtIon 2012 – – – 11

Inzwischen ist die Beratungsstelle als feste Koordinierungsstelle in Fra-gen zu Möglichkeiten und Konzepten der Hochbegabtenförderung für Pä-dagogen und Schulen mit entsprechenden Förderkonzepten etabliert. Zur Geburtstagsfeier kamen dementsprechend neben Experten der Hochbegab-tenförderung und -forschung auch Vertreter der Hochschulen sowie zahlrei-che Lehrkräfte aus Rostocker Schulen. Grußworte sprachen im Einzelnen Prof. Christfried Göckeritz (Rektor der Hochschule für Musik und Theater Rostock, HMT ), Kurt Schanné (Bildungsministerium Mecklenburg-Vorpom-mern), Dr. Ingmar Ahl (Karg-Stiftung), Prof. Dr. Hans-Jürgen von Wensier-ski (Dekan der Philosophischen Fakultät), Frau Karin Kunze (Stadtschulä-tin Rostock) und Prof. Stephan Imorde (Projekt „young academy rostock“ - yaro).

Den Festvortrag am Vormittag, der besonders bei den anwesenden Lehrkräften bestens ankam, hielt Prof. Dr. Willi Stadelmann aus Luzern zum Thema „Die begabungsfördernde Schule“. Prof. Stadelmann ist Neurowis-senschaftler, Pädagoge und Psychologe und war bis vor kurzem als Rektor der Pädagogischen Hochschule der Zentralschweiz und Vorsitzender der Rektorenkonferenz der Schweizer pädagogischen Hochschulen tätig. Er ist seit Jahren in internationalen Gremien der Begabungsforschung tätig und wirkt in Expertenkommissionen für Schulentwicklung und Entwicklung der Lehrerbildung mit. Die Feier wurde umrahmt von zwei 10 und 11jährigen Schülerinnen der young academie rostock, die das Internat und Gymnasium des Rostocker CJD besuchen und gleichzeitig bereits an der HMT studieren. Beide Schülerinnen beeindruckten durch große Virtuosität, aber auch durch eine enorme Musikalität, die man nur sehr selten bei so jungen Musikern/innen findet.

Am Nachmittag fand ein Symposium statt, das ebenfalls vor allem die anwesenden Lehrkräfte ansprechen sollte. Frau Dr. Ana Altaras (Universität Belgrad) gab dabei Hinweise zu Persönlichkeitsmerkmalen und zum Um-gang mit Schülern, die trotz hoher Begabung nur mäßige oder gar schlechte Schulleistungen erzielen. Prof. Kurt Heller (Universität München) berichtete über seine Forschungen zur Gestaltung von naturwissenschaftlichen Ext-rakursen und Dr. Mitra Anne Sen (Rostock) und Jan Kwietniewski (Bera-tungsstelle besondere Begabungen Hamburg, BbB) führten die anwesen-den Lehrkräfte in den Gebrauch des Beobachtungsbogen LEBL ein, der die systematische Förderung hochbegabter Jugend licher unterstützen soll. Schließlich kamen abschließend in einem Podiumsgespräch auch Schüler und Schülerinnen zu Wort, die vor einigen Jahren mit ihren Eltern die Bera-tungsstelle aufgesucht hatten.

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Am Abend besuchten die Ehrengäste sowie viele andere Teilnehmer/innen die Premiere der von den HMT-Studierenden gestalteten Oper „Al-bert Herring“ von Benjamin Britten, die hervorragend inszeniert war und ein besonderes musikalisches Erlebnis darstellte. Abgesehen davon, dass die Motivation mancher der Nachwuchs-Künstler/innen besonders hoch gewe-sen sein dürfte, weil die Premiere gleichzeitig ihre Diplomprüfung darstellte, überzeugten alle Darsteller/innen bzw. Sänger/innen durch viel Spielwitz, hohe Musikalität und großes Engagement.

Abb. 1: Festvortrag von Prof. Stadelmann im Orgelsaal der Hochschule für Musik und Theater,

Foto: Universität Rostock, ITMZ/Medienzentrum

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AlphaGenius – Europäisches Netzwerk zur HochbegabungThomas Hofer

Die Entwicklung des sogenannten Web 2.0 als neues Netzverständnis geht hin zu einer „Architektur des Mitwirkens“, zu einer Verbreitung von Inhalten durch Personen und Organisationen, die sich untereinander vernetzen.

Ein Projekt für die Hochbegabten-Thematik, das mit dieser Entwicklung Schritt hält, war die Gründung des Europäischen Netzwerkes zur Hochbega-bung AlphaGenius, im März 2008.

Es versteht sich als freiwilliger Zusammenschluss ohne jegliche Kosten, ohne gegenseitige Verpflichtungen, aber mit der Dokumentation der Zuge-hörigkeit zu einem innerlichen Verbund für eine noch engere Kooperation im Interesse der gemeinsamen Klientel.

Das zentrale Anliegen für alle Ratsuchenden ist die strategische Partner-schaft von Fachleuten für Hochbegabung, unter Einbeziehung des wichtigen Sektors mit Breitenarbeit, nämlich der Elternvereine, Elterninitiativen und In-teressengemeinschaften.

Die Mitglieder dieses Netzwerkes lassen sich von folgendem Credo lei-ten:

– Sie zeigen, dass sie als Berater zur Hochbegabung aufklärend, hel-fend und fördernd zusammenarbeiten.

– Sie sind in der Lage, Beratung, Testdiagnostik, Förderung und Coa-ching anzubieten oder zu vermitteln.

– Sie stellen für den Gedankenaustausch Fachleute für Gespräch und Forum bereit.

– Sie erklären, für ortsnahe, direkte Kontakte zur Verfügung zu stehen. – Sie machen deutlich, dass ihre nutzbringende Kooperation eine gleich-

artige fachliche Denkrichtung beinhaltet. – Sie dokumentieren, wie dienlich den Betroffenen und Interessenten

eine stabile Vernetzung ist. – Sie weisen darauf hin, dass dieses Netzwerk ein Europäischer Ver-

bund ist und damit einen internationalen Beitrag zur Thematik leistet.

Die Arbeit des Netzwerkes hat sich seit 4 Jahren bewährt, weil sowohl die intervallmäßigen Netzwerk-Infos mit Neuigkeiten, Veranstaltungstipps und Schwerpunkthinweisen der einzelnen Bundesländer bzw. Regionen als auch die Lotsenfunktion für Betroffene und Interessenten zu einem engen Schul-terschluss im Interesse unserer gemeinsamen Klientel geführt haben.

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Das Netzwerk gestaltet sich damit als eine Verbindung beratender Fach-leute, die auf solider Wissens- und Erfahrungsbasis für eine gemeinsame Thematik in strategischer Partnerschaft kooperieren und tätig sind.

Dem Netzwerk AlphaGenius gehören zur Zeit 40 Mitglieder aus Deutsch-land, Österreich und der Schweiz an.

Mehr Informationen dazu, einschließlich der regionalen Sicht auf alle Netzwerk-Mitglieder, finden Sie auf den Webseiten der Gründer dieses Netz-werkes:

www.genius-hochbegabung.de www.ratgeber-hochbegabung.eu

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ABB-InformAtIon 2012 – – – 15

Abb. 1: Das Logo des Projektes Deutsch-Ukrainische Junioruniversität für Luft- und Raumfahrt (Design: Roya

Klingner)

Deutsch-Ukrainische Junioruniversität für Luft- und RaumfahrtRoya Klingner

Vom 16. April bis 21. April 2012 fand die erste Etappe der Deutsch-Ukrainische Junioruniversität für Luft- und Raum-fahrt in München statt. Die Deutsch-Uk-rainische Junioruniversität für Luft- und Raumfahrt ist ein binationales außer-schulisches Programm zur Förderung des mathematisch-naturwissenschaft-lichen Nachwuchses der Ukraine und Deutschlands. Sie ist eine Initiative der Kleinen Akademie der Wissenschaften der Ukraine – KAW (http://man.gov.ua/de/) und des Begabungszentrums Bay-ern (http://www.begabungszentrum-bayern.de/), an der neun ukrainische Schüler, die sich aktiv am Programm der KAW beteiligt haben, und neun deutsche Schüler des Maria-Theresia-Gymnasiums München teilnehmen. Partner der Initiative sind auf deutscher Seite auch das Maria-Theresia-Gymnasium München, die Technische Uni-versität München, das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt, das DLR_School_Lab in Oberpfaffenhofen und das Deutsche Museum München. In der Ukraine wird die Junioruniversität vom Institut für das hochbegabte Kind der Nationalen Akademie der pädagogischen Wissenschaften der Ukraine, vom Flugzeugwerk AMTK Antonow, von der Nationalen Technischen Univer-sität Kiew und von der Stiftung für hochbegabte Kinder und Jugendliche der Ukraine unterstützt. Die Schirmherrschaft wird vom deutschen Astronauten Prof. Dr. Ulrich Hans Walter und vom ukrainischen Astronauten Prof. Dr. Le-onid Kadeniuk übernommen. Das Projekt verfolgt folgende Ziele:

– das Interesse der Jugendlichen aus beiden Staaten an MINT-Fächern weitergehend zu fördern;

– den Schülerinnen und Schülern der beiden Staaten intellektuelle und soziale Herausforderungen anzubieten;

– die Fähigkeiten der Jugendlichen durch neues Herangehen ans Ler-nen (sprachliche und soziokulturelle Kompetenz) zu entwickeln;

– die Schülerinnen und Schüler der beiden Staaten zusammenzubrin-gen, damit sie einander kennen lernen, an naturwissenschaftlichen

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Problemen zusammen arbeiten sowie gemeinsame Lösung finden können;

– Voraussetzungen für Kooperati-on des wissenschaftlichen Nach-wuchses der beiden Staaten in ihrem weiteren Berufsleben zu schaffen;

– gegenseitiges Verständnis und Sympathie des wissenschaftlichen Nachwuchses der beiden Staaten zu fördern;

– Voraussetzungen für eine aktive Zusammenarbeit der beiden Staa-ten im Bereich der MINT-Förde-rung zu schaffen;

– einen entscheidenden Impuls für andere Staaten zu geben, sich noch aktiver im Bereich der MINT-Förderung einzusetzen.

Am 16. April kamen die ukrainischen Schüler in München an und besuchten das Maria-Theresia-Gymnasium München, wo sie ihre deutschen Partner kennen lernten. Am nächsten Tag begann das Lernprogramm: Am Vormittag besuchten die Teilnehmer den Robotik-Einstiegskurs im Experimentier-La-bor der Technischen Universität München im Deutschen Museum (TUMlab) , innerhalb dessen sie den RCX-Roboter aus Legosteinen und dem RCX-Controller zusammensetzten und dann programmieren konnten. Die Schü-ler lernten dabei Tast- und Lichtsensoren einzusetzen, um Hindernisse zu erkennen und einer schwarzen Linie zu folgen. Am Nachmittag fand eine Veranstaltung an der Fakultät für Maschinenwesen der Technischen Uni-versität München statt, bei der der Schirmherr der Junioruniversität, Prof. Dr. Ulrich Walter, die Studentenausweise verteilte und eine kurze Vorlesung hielt. Auch der Präsident der Kleinen Akademie der Wissenschaften der Uk-raine, Prof. Dr. Stanislav Dovgyi, war anwesend und lud den Schirmherrn und die deutschen Schüler zu einem Besuch in die Ukraine ein. Am Morgen des 17. April wurde eine Exkursion zur Flugwerft Schleißheim durgeführt, wo Herr Adrian Blank einen Überblick zum Thema „Die Entwicklung der Luft-fahrt“ gab. Danach konnten die Teilnehmer ihre DNA im DNA-Besucherlabor des Deutschen Museum isolieren lassen; die Probegläser mit eigener DNA haben sie für sich zum Andenken behalten. Am 18. April hatten die Schüler die Möglichkeit eine Vorlesung von Prof. Hock „Warum Pilze senkrecht nach oben wachsen“ und eine weitere Vorlesung von Frau Neuberger über die

Abb. 2: Die beiden Schirmherren des Projektes, Prof. Dr. Leonid Ka-denjuk und Prof. Dr. Ulrich Walter

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Abb. 3: Die Teilnehmer besuchten einen Robotik-Einstiegkurs im Deutschen Museum

Panspermie-Theorie und das aktuelle Astrobiologie-Projekt EXPOSE an der Fakultät Wissenschaftszentrum Weihenstephan für Ernährung, Landnutzung und Umwelt zu hören und einen Campus-Rundgang zu machen. Am Nach-mittag wurden alle in das Begabungszentrum Bayern eingeladen, wo Frau Roya Klingner, Leiterin des Zentrums, verschiedene Aufgabe zur Teambil-dung und zum Kulturaustauschangebot. Am Freitag, den 19. April, besuch-ten die ukrainischen Schüler den Chemieunterricht ihrer deutschen Partner im Maria-Theresia-Gymnasium München und dann nahmen alle Jugendli-chen noch an einem Experiment im DNA-Besucherlabor teil. Am letzten Tag der ersten Etappe war Zeit für die Schüler beider Länder einen Stadtbummel

Abb. 4: Prof. Dr. Ulrich Walter übereichte den Teilnehmern ihre Studentenausweise

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durch München zu ma-chen. Nach der Besichti-gung der Sehenswürdig-keiten fand anschließend die Abschiedsparty im Kerschensteiner Kolleg des Deutschen Museum statt.

Während der ersten Etappe haben die Schü-ler viel Neues gelernt, besonders über Deutsch-land und die Ukraine. Die ukrainischen Schü-ler haben nicht nur neue Kenntnisse im MINT-Be-reich erworben, sondern auch ihr Deutsch verbes-sern können. Die Schü-ler des Maria-Theresia-Gymnasiums München haben neue Freunde aus dem Ausland gefunden und ein paar ukrainische Wörter gelernt. Die ers-te Etappe war mehr an einer Kontaktaufnahme zwischen den deutschen und ukrainischen Schüler orientiert. Die zweite Etappe wird der gemeinsa-men „wissenschaftlichen Forschung“ gewidmet. Sie findet im Juli (oder im Oktober) in Kiew statt. Die deutschen und ukrainischen Schüler werden zu-sammen in einem Schulheim wohnen und in Laboren der Nationalen Tech-nischen Universität Kiew arbeiten. Bis zum Beginn der zweiten Etappe sol-len die Schüler eine wissenschaftliche Arbeit auf Deutsch schreiben und am Ende der Etappe präsentieren.

Den Schülern der beiden Länder hat die Session in München sehr gefal-len und sie zählen die Stunden bis zur zweite Etappe in Kiew.

Abb. 5: Gruppenbild der Teilnehmer mit Prof. Dr. Ulrich Walter in der Technichen Universität München

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Förderung naturwissenschaftlich begabter Schüler im Projekt Kolumbus-KidsAnnika Borgmann & Claas Wegner

Bielefeld. Betrachtet man eine durchschnittliche Schulklasse, ist diese aus einer Menge unterschiedlicher Kinder zusammengesetzt. Dies gilt sowohl für deren Verhalten und Aussehen als auch für deren Interessen und Be-gabung. Doch welche Begabungen finden auch wirklich Berücksichtigung durch eine angemessene Fördermaßnahme? Ist es nicht oftmals so, dass nur den mangelnden Fähigkeiten der Schüler durch besondere Maßnahmen entgegengewirkt werden soll und diese dadurch besonders hervorgehoben werden? Es stellt sich die Frage, ob die Kinder nicht einen größeren Vorteil daraus ziehen, wenn man ihre bestehenden Fähigkeiten und Interessen be-tont.

Aufgrund der Heterogenität innerhalb der Klassen und der durchschnitt-lich hohen Klassengröße ist es für Lehrkräfte oft nicht einfach, den Schwie-rigkeiten und Begabungen aller Kinder gerecht zu werden. Daher bietet die Abteilung für Biologiedidaktik der Universität Bielefeld bereits seit 2006 ein spezielles, außerschulisches Förderprogramm für begabte Schüler an, die sich besonders für das Gebiet der Naturwissenschaften interessieren. Das Besondere an diesem Projekt mit dem Namen Kolumbus-Kids ist neben der Orientierung an wissenschaftlichen Arbeitsweisen vor allem die Kontinuität, mit der die Förderung durchgeführt wird. Der Projektunterricht findet inner-halb des Universitätsgebäudes für jeden Kurs einmal pro Woche statt und dauert 90 Minuten. Das hat für die Teilnehmer den enormen Vorteil, dass sie schuljahresbegleitend gefördert werden und nicht – wie es bei anderen Förderprogrammen oft der Fall ist – lediglich eine einmalige oder auf weni-ge Besuche beschränkte Veranstaltung besuchen können. Somit unterstützt das Projekt Kolumbus-Kids seine Teilnehmer einerseits darin, ihren Inter-essen und Begabungen wissenschafts-propädeutisch nachzugehen, und beugt andererseits damit einer oft mit solchen Begabungen einhergehenden Unterforderung im normalen Schulunterricht vor, indem den Teilnehmern spannende biologische Phänomene vor Augen geführt und diese wissen-schaftlich betrachtet werden.

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Inhalte

Das Projekt Kolumbus-Kids orientiert sich nicht an curricularen Vorgaben, sondern behandelt besondere Themen aus dem Bereich der Naturwissen-schaften – sei das nun die Biologie, die Physik oder die Chemie –, die die Teilnehmer aus dem normalen Schulunterricht noch nicht kennen. Das er-gänzt einerseits das Spektrum der Schüler an bekannten fachlichen Inhalten beträchtlich, andererseits wird weder Schulstoff vorweggenommen noch wie-derholt. Für eine Unterrichtseinheit wird jeweils ein umfassendes Thema vor-gegeben bzw. nach Möglichkeit von den Schülern mit ausgewählt und dann in eine Reihe von kleineren Arbeits- und Forschungsprojekten unterteilt, die im Laufe der folgenden Wochen behandelt werden. Ein Paradebeispiel für ein solch umfassendes Thema ist die Bionik, also die interdisziplinäre Wis-senschaft, die Biologie und Technik miteinander vereint und deren Lösun-gen, die die Natur im Laufe der Evolution für bestimmte Sachverhalte hervor-gebracht hat, sich der Mensch schließlich anderweitig zunutze macht.

So haben die Teilnehmer am Projekt Kolumbus-Kids in der Bionik-Einheit beispielsweise das Abperlen von Schmutzwasser von selbstreinigenden Produkten industrieller Firmen nach dem Vorbild der Lotuspflanze unter-sucht. Auch das Haftprinzip verschiedener Klettfrüchte wurde erforscht und mit ebenfalls industriell erzeugten Klettverschlusssystemen verglichen. Doch nicht nur die Pflanzenwelt bietet sich für Forschungsexperimente an, auch die Tierwelt zeigt eine ganze Reihe von spannenden Phänomenen. Für die Bionik ist beispielsweise der Hai besonders interessant, dessen Hautstruktur aufgrund seiner hervorragenden Gleitfähigkeit im Medium Wasser als Vor-lage für die Entwicklung von Taucheranzügen und U-Boot-Beschichtungen dient. Doch nicht nur für bionische Fragestellungen sind die Tiere interes-sant. Neben kleinen chemischen und physikalischen Experimenten werden beispielsweise auch Themen wie Neurologie, Verhaltensbiologie und Anpas-sung an unterschiedliche Lebensräume besprochen. Das Projekt Kolumbus-Kids bietet seinen Teilnehmern dazu die Chance, mit einer ansehnlichen Auswahl verschiedener lebendiger Tiere hautnah in Kontakt zu kommen.

Abb.: 1: Bionik-Beispiele im Unterricht

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Lebende Tiere

Sowohl der Kursraum selbst beherbergt Vertreter verschiedener Tiergrup-pen, darunter Insekten, Fische, Amphibien, Reptilien und Nagetiere, als auch der eigens für das Projekt eingerichtete Meerwasserraum. Die dort be-findliche Meerwasseranlage umfasst 12.000 Liter und enthält diverse Orga-nismen, wie sie auch in Nord- und Ostsee vorkommen. Die Schüler erhalten hier die einmalige Chance, mit lebenden Krebsen, Muscheln, Seesternen und sogar Katzenhaien zu forschen und selbst entwickelte wissenschaftliche Fragestellungen und Hypothesen zu überprüfen.

Neben positiven Wirkungen auf affektiver Ebene durch die lebenden Tiere und einer in der Regel damit einhergehenden zunehmend positiven Einstel-lung den Tieren gegenüber wird auch die Frage nach einem angemessenen Umgang mit ihnen und einer geeigneten Haltungsform thematisiert. Die Teil-nehmer lernen so nicht nur durch eigenes Ausprobieren, wie Wissenschaft-ler Schlüsse aus verschiedenen Beobachtungen und Experimenten ziehen, sondern bekommen zudem einen respektvollen Umgang mit der Natur und ihren Schöpfungen vermittelt.

Ablauf

Eine Teilnahme am Projekt Kolumbus-Kids ist für Schüler der Sekundarstu-fen I und II möglich – durch eine erneute Erweiterung des Kursangebotes seit 2010 gilt dies nun auch für Primarschüler. Insgesamt werden derzeit fünf Kurse mit maximal 15 Teilnehmern angeboten, davon einer für die Primar-stufe Klasse 4, drei für die Jahrgangsstufe 5 und ein Kurs für Schüler der

Klasse 11 (bzw. 10 nach G8) der Oberstufe. Die Schüler werden von ihren Lehrkräften für die Teilnahme am Projekt Kolumbus-Kids vorgeschlagen; dafür besteht eine Kooperation mit über 30 Gymnasien und Grundschulen

Abb. 2: Bambus-Stabilitätstest

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der Region Ostwestfalen-Lippe. Sind auch die Schüler an einer Teilnahme interessiert, können sie am projekteigenen Aufnahmeverfahren teilnehmen. Dieses Verfahren ist notwendig, da die Anzahl der Teilnahmewünsche die Aufnahmekapazität der Kurse trotz steter Ausweitung des Angebots weiter-hin konsequent übersteigt. Der Test fragt dazu lediglich fachliche Kenntnisse und bekannte wissenschaftliche Arbeitsstrategien der Schüler ab und das erzielte Ergebnis entscheidet dann darüber, ob die Schüler in den nächst-möglichen Kurs aufgenommen werden oder nicht.

Ziele

Wie bereits angedeutet, steht die Problem- und Handlungsorientierung bei den Unterrichtseinheiten innerhalb des Projekts Kolumbus-Kids im Vorder-grund. Der wissenschaftspropädeutische Auftrag wird von allen Beteiligten als Grundlage der gemeinsamen Forschungsprojekte verstanden und sowohl bei der Entwicklung als auch bei der Durchführung der Unterrichtseinheiten berücksichtigt. Die Kursteilnehmer lernen so, bereits bekannte wissenschaft-liche Arbeitsweisen zu verfeinern, neue anzunehmen und auszuprobieren und in der Gruppe zu interagieren. Dabei werden auch die sozialen Fähig-keiten der Teilnehmer weiter geschult, denn die Forschungsfrage wird immer in kleinen, wechselnden Teams bearbeitet. Und auch die Medienkompetenz erfährt durch die Vielzahl an unterschiedlichen Methoden und Arbeitsgerä-ten – darunter beispielsweise ein Spektralphotometer, Messinstrumente für die Meerwasseranalyse und ein Smartboard – einen steten Zuwachs.

Abb. 3: Die Schüler führen Experimente durch

Der Fokus liegt auf einer kreativen Herangehensweise an die unter-schiedlichen, vorgestellten Probleme und Fragestellungen. Wie würden die Schüler untersuchen, wie morgen das Wetter wird? Was, glauben sie, steckt hinter den viel diskutierten regenerativen Energien? Warum stockt das sonntägliche Frühstücksei, wenn man es erhitzt? Und wie kann man testen, welche Auswirkungen Farbstoffe auf die Geschmackswahrnehmung haben? All diesen Fragen sind die Teilnehmer des Projekts Kolumbus-Kids mit spannenden Forschungsarbeiten und aufschlussreichen Experimenten nachgegangen. Und es gibt noch so viel mehr zu entdecken …

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Neues vom Österreichischen Zentrum für Begabtenförderung und Begabungsforschung (ÖZBF)

ÖZBF-Kongress 2013 „begabt • lernen • exzellent • lehren“ 7.–9. November 2013 in Salzburg

Das ÖZBF veranstaltet vom 7.–9. November 2013 den 8. internationalen ÖZBF-Kongress zu Fragen der Begabungs- und Exzellenzförderung. Im Fo-kus des Kongresses stehen das Lehren und Lernen.

Inhaltliche Schwerpunkte

1 Begabungsfördernde Lehr- und Lernformen, 2 Fachdidaktische Schwerpunkte,3 Begabungsfördernde Bildungsinstitutionen,4 Lehren lernen (für Vertreter/innen von Hochschulen),5 Systemische Begabungs- und Exzellenzförderung.

Die Tagung richtet sich an alle an der Begabungs- und Exzellenzförde-rung interessierten Personen, v.a. an Lehrer/innen aller Schularten, Schullei-ter/innen, Lehrende an Pädagogischen Hochschulen, Fachhochschulen und Universitäten, Vertreter/innen von Schulbehörden und Beratungszentren, Kindergartenpädagoginnen/-pädagogen und interessierte Eltern.

Weitere Informationen zum Programm und zum Anmeldeverfahren finden Sie ab Januar 2013 unter www.oezbf.at/kongress2013 sowie in „news&science. Begabtenförderung und Begabungsforschung“, Heft Nr. 33 (erscheint Jan./Feb. 2013).

Plattform ÖZBF-Impulse: Eine neue Plattform für Ideen, Impulse und Materialien zur Begabungs- und Exzellenzförderung

www.oezbf-impulse.at

Die Plattform ÖZBF-Impulse dient dem Austausch und der Weiterentwick-lung erprobter Modelle und Projekte der Begabungs- und Exzellenzförde-rung. Auf der Plattform finden sich Informationen zu Projekten in den Hand-lungsfeldern Kindergarten, Schule, Hochschule, Eltern, Arbeit & Wirtschaft, Gemeinde & Freizeit sowie Begabungsvereine, Initiativen & Gremien.

Zudem bietet ein speziell für Diskussionen reservierter Seitenbereich Platz zum Gedankenaustausch über aktuelle Themen der Begabungs- und

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Exzellenzförderung. Registrierte Autorinnen und Autoren können jederzeit Diskussionsbeiträge in Form von eigenen Artikeln oder Kommentaren als Antwort auf Beiträge anderer Nutzer/innen veröffentlichen.

Im Bereich „Infos und Termine“ finden sich Informationen über diverse Termine und Veranstaltungen. Jeder registrierte User hat hier die Möglich-keit, aktuelle Veranstaltungen zu empfehlen, Informationen schnell und ein-fach zu verbreiten und Kooperationen zu intensivieren.

Wir laden alle herzlich ein, diese Plattform mit Leben zu füllen und mit-einander über bestehende Projekte und neue Ideen im Bereich der Bega-bungs- und Exzellenzförderung zu diskutieren, innovative Perspektiven zu entwickeln und neue Kontakte zu knüpfen.

Broschüre: „Psychologische Testverfahren zur Messung intellektueller Begabung“

Kipman, U., Kohlböck, G. & Weilguny, W. (2012). Psychologische Testver-fahren zur Messung intellektueller Begabung. ÖZBF: Eigenverlag.

Intelligenz, als Teilaspekt von Begabung, steht oft im Mittelpunkt einer indi-viduellen Förderdiagnostik. Angesichts der großen Vielfalt an verfügbaren Verfahren zur Testung von Intelligenz stellen sich dabei immer wieder fol-gende Fragen:

– Wie gut eignen sich verschiedene Testverfahren für spezifische Fra-gestellungen im Bereich der Intelligenzabklärung?

– Welche Tests eignen sich zur Diagnostik von Hochintelligenz? – Wie verlässlich und valide sind die am Markt gängigen Testverfahren

und auf welchen Intelligenzkonzepten basieren sie?

Auf diese Fragen soll mit der Broschüre „Psychologische Testverfah-ren zur Messung intellektueller Begabung“ eingegangen werden. Das Kernstück dieser Broschüre widmet sich den derzeit gängigen Intelligenz-testverfahren und deren Stärken und Schwächen in bestimmten Bereichen. Es werden verschiedene Intelligenztheorien und -modelle vorgestellt sowie allgemeine Informationen zu Testgütekriterien und Normierung angegeben. Drei Mustergutachten im Anhang beschreiben exemplarische Fälle der Be-gabungsdiagnostik.

Die Broschüre liefert damit wertvolle Informationen, die den Verantwort-lichen helfen können, die geeigneten Testverfahren für ihre Fragestellung zu wählen und die Testergebnisse auch in Bezug auf das zugrundeliegende

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Intelligenzmodell richtig beurteilen zu können. Ein besonderes Augenmerk dieser Broschüre liegt auf der Frage, welche Verfahren sich am besten für die Diagnose von hoher Intelligenz bzw. Begabung eignen.

Die Broschüre kann kostenlos von der Website des ÖZBF heruntergela-den werden: www.oezbf.at > Publikationen > Veröffentlichungen ÖZBF.

Eine gedruckte Version ist zu einem Unkostenbeitrag von € 10 (Bestel-lungen unter [email protected]) erhältlich.

Broschüren des International Panel of Experts for Gifted Education (iPEGE)

– „Professionelle Begabtenförderung. Eine Dokumentation von Lehr- und Studiengängen“

– „Professionelle Begabtenförderung. Erprobte Studienmodule“

iPEGE ist ein Zusammenschluss von Expertinnen und Experten, die lang-jährige Erfahrung in der Begabtenförderung und der Begabungsforschung verbindet. Die Mitglieder der internationalen Arbeitsgruppe sind Vertreter/innen von Universitäten und Pädagogischen Hochschulen aus Deutschland, Schweiz und Österreich sowie Vertreter/innen des ÖZBF. Das ÖZBF hat die Geschäftsführung des Panels inne und koordiniert die gemeinsame Arbeit.

iPEGE hat sich u.a. zum Ziel gesetzt, Standards für die Ausbildung und Qualifizierung pädagogischen Personals zu entwickeln und Anregungen für wirksame und nachhaltige Maßnahmen zur Qualifizierung in der Begabungs- und Begabtenförderung zu geben.

Zu diesem Zweck wurde 2012 die dritte iPEGE-Broschüre „Professionelle Begabtenförderung. Erprobte Studienmodule“ veröffentlicht. In dieser Pub-likation werden konkrete Module ausgewählter Lehr- und Studiengänge (siehe die zweite iPEGE-Publikation „Professionelle Begabtenförderung. Eine Dokumentation von Lehr- und Studiengängen“) beschrieben. Die Be-schreibungen zeigen zukünftigen Anbietern von Lehrgängen im Bereich der Begabungs- und Exzellenzförderung exemplarisch Möglichkeiten auf, wie Module zu den einzelnen iPEGE-Kompetenzbereichen aussehen könnten.

Heft III von iPEGE richtet sich daher an Verantwortliche in Hochschulen und Bildungsverwaltungen, Initiatorinnen/Initiatoren und Träger/innen von Masterprogrammen sowie Personen, die beabsichtigen, sich im Bereich Be-gabungs- und Begabtenförderung weiterzubilden.

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Die Broschüre kann kostenlos von der Website des ÖZBF herunterge-laden werden: www.oezbf.at > Publikationen > Veröffentlichungen ÖZBF.

Imagefilm zur Begabungs- und Exzellenzförderung

„Talente fördern heißt Möglichkeiten schaffen“

Anlässlich des Tags der Talente am 22. März 2012 hat das ÖZBF einen Kurzfilm in Auftrag gegeben, der die Bedeutung der Begabungs- und Ex-zellenzförderung bewusst machen soll. Der Film betont insbesondere die Botschaft, dass oft kleine oder ungewöhnliche Talente und Interessen eine große Bedeutung für die Entwicklung individueller Leistungsexzellenz haben können. Interviews von Bundesministerin Claudia Schmied (BMUKK) und Bundesminister Karlheinz Töchterle (BMWF) sowie von Wissenschaftlern und Vertreterinnen/Vertretern des ÖZBF ergänzen die Filmszenen.

Der Kurzfilm kann unter www.oezbf.at oder www.youtube.com abgerufen werden.

Das ÖZBF jetzt auch auf Facebook!

Besuchen Sie uns auf www.facebook.com/oezbf und diskutieren Sie mit uns über Begabungs- und Exzellenzförderung! Sie finden dort u.a. auch In-formationen zu Publikationen und Tagungen sowie spannende Forschungs-ergebnisse.

Kontaktinformation

Österreichisches Zentrum für Begabtenförderung und Begabungsforschung – ÖZBF Schillerstraße 30/Techno 12A-5020 Salzburg

Tel.: +43 (0)662/439581 Fax: +43 (0)662/439581-310E-Mail: [email protected] www.oezbf.at

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Forschungsstudien

Drei Jahre Besuch der Förderklasse für Hochbegabte

Persönlichkeitsentwicklung von drei Jahrgangsstufen

Helga Joswig

1 Anliegen des Beitrages

Im Schulgesetz des Landes Mecklenburg-Vorpommern ist als besondere Form der Förderung hochbegabter Kinder und Jugendlicher der Besuch von Förderklassen verankert. Solche Förderklassen gibt es an staatlichen Schu-len in Schwerin am dortigen Gymnasium Fridericianum, am Europagymnasi-um in Rostock-Reutershagen, am Einstein-Gymnasium in Neubrandenburg und am Gymnasium in Greifswald. Der Übergang zum Gymnasium erfolgt in Mecklenburg-Vorpommern seit dem Schuljahr 2008/09 obligatorisch ab der 7. Klasse (zuvor war der Übergang ab Klasse 5.). Für Hochbegabte und besonders Begabte in Musik und Sport erfolgt die Aufnahme in das Gym-nasium ab Klasse 5. Für diese gibt es Gymnasien mit spezifischem Profil (Musik und Sport) für die Förderung sportlicher Talente in Schwerin, Neu-brandenburg und an der CJD-Jugenddorf-Christophorusschule in Rostock, für musikalische Begabungen das Goethe-Gymnasium in Schwerin und das Gymnasium in Demmin. Es handelt sich bei diesen Klassen um recht homo-gen zusammengesetzte Lerngemeinschaften.

Der Zugang zu den Hochbegabtenklassen erfolgt nach einer vom schul-psychologischen Dienst des jeweiligen Schulbezirkes, für den Schulbezirk Rostock mit Unterstützung des Institutes für Pädagogische Psychologie der Universität Rostock, durchgeführten testpsychologischen Diagnostik, bei der eindeutig definierte Kriterien für die Aufnahme in die Förderklassen zugrunde gelegt werden. Außerdem existiert am CJD in Rostock (private Trägerschaft) auch eine Hochbegabtenförderklasse, seit 2010 auch ab der 5. Klassenstufe des Gymnasiums (davor ab 9. Klassenstufe).

Für den Grundschulbereich wurde im Zeitraum von 2004 bis 2009 an der 5. Grundschule in Neubrandenburg ein Schulversuch zur Förderung hochbegabter Grundschulkinder in heterogen zusammengesetzten Klassen (Grouping: mehrere Hochbegabte in einer Klasse) durchgeführt. Eine Ver-stetigung sowie weiterführende Zusammenarbeit mit dem Einstein-Gymna-sium in Neubrandenburg sind in Abhängigkeit vom Bedarf gegenwärtig in der Umsetzung.

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Die Förderklassen an den Gymnasien in Schwerin, Rostock-Reutersha-gen, Neubrandenburg und an der Grundschule in Neubrandenburg wurden/werden vom Institut für Pädagogische Psychologie der Universitär Rostock wissenschaftlich begleitet, die Förderergebnisse wurden/werden längs-schnittlich evaluiert und mit den Lehrerinnen und Lehrern sowie den Eltern ausgewertet.

Dieser Beitrag stellt Evaluationsergebnisse zu den Förderklassen am Schweriner Gymnasium Fridericianum aus einer querschnittlichen Betrach-tungsweise zum Ende der 7. Klassenstufe vor. Zunächst wird ein Quasi-längsschnitt des ersten Jahrgangs der Hochbegabtenklasse am dortigen Gymnasium von Klasse 5 bis 7 als Basis für den Vergleich mit den darauffol-genden drei Jahrgängen vorgestellt. Dann erfolgt der Vergleich mit den fol-genden Jahrgängen, bei denen jeweils zwei Förderklassen pro Klassenstufe existieren und betrachtet werden.

Es geht dabei um die Fragen, ob sich ähnliche und annähernd gleiche Fördereffekte bei vier Jahrgängen zum Ende der 7. Klasse am Gymnasium Fridericianum nachweisen lassen, welche Unterschiede festgestellt werden können und wie sich zum Ende der 7. Klasse, nach drei Jahren Besuch der Hochbegabtenklasse, der kognitive, motivationale und soziale Entwick-lungsstand der Persönlichkeit bei den geförderten Schülern/innen konkret darstellt.

2 Zur Evaluation des ersten Jahrganges

Seit dem Schuljahr 2005/2006 wird am Gymnasium Fridericianum in Schwe-rin eine Förderklasse für hochbegabte Schüler/innen geführt. Zielstellung der Schule ist „die ganzheitliche Ausbildung der Persönlichkeit, die Entfal-tung der Kreativität, die Herausbildung des Begabungs- und Leistungsprofils und die Erziehung zur sozialen Verantwortung“ (Förderkonzeption des Fri-dericianum Schwerin, 2008).

Das Lernen in der Förderklasse soll an die Bedürfnisse und somit auch an die Fähigkeiten der hochbegabten Schüler/innen angepasst werden. Durch interessenorientiertes sowie selbstbestimmtes Lernen soll eine indi-viduelle Förderung ermöglicht werden. Möglichkeiten innerer und äußerer Differenzierung des Unterrichts werden von den Lehrerinnen und Lehrern zur Förderung der Lernenden genutzt.

Die Untersuchungspopulation für den Quasilängsschnitt von Klasse

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5 bis 7 (Schuljahre 2005/06 bis 2007/08) setzt sich wie folgt zusammen (Tabelle 1):

Tab. 1: Untersuchungspopulation der Förderklasse am Gymnasium Fridericianum Schwerin, differenziert nach Klassenstufe und Geschlecht (vgl. Kalweit, 2008. S. 47)

Geschlecht Förderklasse

Schuljahr(2005/06) 5. Klassenstufe

Schuljahr(2007/08) 7. Klassenstufe

Probanden % Probanden %

Mädchen 9 56,25 10 47,62

Jungen 7 43,75 11 52,38

Gesamt 16 100 21 100

Mit Beginn der 5. Klasse wurden 16 Schüler/innen in die Förderklasse für Hochbegabte aufgenommen, davon waren 9 Mädchen und 7 Jungen, also wider Erwarten die Mädchen in der Überzahl. In der 7. Klasse waren 5 Schü-ler/innen dazugekommen. Die Zusammensetzung der Klasse ergab sich aus 10 Mädchen und 11 Jungen. Das Geschlechterverhältnis erscheint somit recht ausgeglichen. Das Alter der Schüler/innen lag bei der ersten Testung zwischen neun und elf Jahren und bei der zweiten Testung zwischen elf und dreizehn Jahren. Ein Mädchen, welches in der 7. Klasse in die Förderklasse aufgenommen wurde, hatte zuvor schon zwei Klassenstufen übersprungen und war erst elf Jahre alt. Sie kam aus dem Landkreis Schwerin. Ihre kog-nitiven Fähigkeiten waren weit überdurchschnittlich und außerdem war sie Deutsche Meisterin im Mittelstreckenlauf ihrer Altersklasse.

Die testpsychologischen Untersuchungen wurden zu beiden Messzeit-punkten vom Institut für Pädagogische Psychologie der Universität Rostock durchgeführt. Es kamen Untersuchungsmethoden wie in Tabelle 2 dargelegt zum Einsatz.

Der Vergleich beider Messzeitpunkte erbrachte folgende Ergebnisse (Ab-bildung 1):

Für die Entwicklung der kognitiven Fähigkeiten konnten in den drei Sub-tests (verbale, quantitative, nonverbale Fähigkeiten) sowie für die Gesamt-leistung Zuwächse verzeichnet werden. Der Mittelwert hat sich im verbalen Bereich um 3,47 T-Wert-Punkte erhöht, was nicht signifikant ist (p=.053), dennoch eine eindeutige Tendenz ausweist.

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Tab. 2: Untersuchungsmethoden (Kalweit, 2008, S. 52)

Persönlichkeits-bereiche

Untersuchungsmethoden Indikatoren/Subtests

kognitive Fähigkeiten

Kognitiver Fähigkeitstest(KFT-HB4-12hMHBT-Version) von Heller& Perleth, 2007

V1 WortschatzV2 SatzergänzungQ1 MengenvergleichQ2 Gleichungen bildenN1 Figurenklassifikationen

nichtkognitive Persönlichkeits-bedingungen- Leistungs- motivation

Fragebogen zur Leistungs-Motivation für Jugendliche(LH-S, MHBT-Version)von Heller & Perleth, 2007

– Hoffnung auf Erfolg – Furcht vor Misserfolg – Leistungsstreben

primäre Motivation

Fragebogen zur Erfassung des Erkenntnisstrebens fürSekundarschüler (FES,MHBT-Version) von Heller & Perleth, 2007

– Erkenntnisstreben – Sachinteresse – Erkenntnisinteresse – Erlebnismotiv – intrinsische Motivation

soziale Kompetenz Fragebogen zur sozialenKompetenz für Sekundar-stufenschüler (SK-S,MHBT-Version)von Heller & Perleth

– Durchsetzungsfähigkeit – Kooperationsbereitschaft – Konfliktlösefähigkeit

60,263,67

63,33

70,53

62,5365,93

65,7470,27

0,00

20,00

40,00

60,00

80,00

Mitt

elw

ert

KFTV KFTQ KFTN KFT Gesamt

KFT-Skalen

Mittelwerte der 5. und 7. Klasse

5. Klasse7. Klasse

Abb. 1: Mittelwerte des T-Tests für gepaarte Stichproben für die KFT-Skalen, Vergleich 5. und 7. Klassenstufe (vgl. Kalweit, 2008, S. 81)

Abb. 1: Mittelwerte des T-Tests für gepaarte Stichproben für die KFT-Skalen, Ver-gleich 5. und 7. Klassenstufe (vgl. Kalweit, 2008, S. 81)

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Im quantitativen Bereich ist eine Steigerung um 7,2 T-Wert-Punkte zu verzeichnen, was sehr signifikant ist (p=.003,**). Das ist eine Verbesserung um ungefähr eine Standardabweichung.

Im nonverbalen Bereich haben sich die Leistungen um 3,4 T-Wert-Punkte erhöht, was eine signifikante Erhöhung (p=.044,*) bedeutet.

Für die Gesamtleistung konnte eine Erhöhung um 4,80 T-Wert-Punkte erzielt werden, was höchstsignifikante Steigerung (p=.001,***) bedeutet.

Interessant bezüglich dieser Entwicklung ist folgender geschlechtsspezi-fischer Vergleich (Abbildung 2):

Die Mittelwertdarstellung bei den Mädchen und Jungen (vgl. Abbildung 2) zeigt einen Anstieg bei beiden Geschlechtern in allen KFT-Bereichen. Die Darstellung der Mittelwerte der Mädchen in Abbildung 2 veranschaulicht den Zuwachs an kognitiven Leistungen. Die statistischen Berechnungen ergaben bei den Mädchen in allen Bereichen eine signifikante Steigerung der Leistungen. Im verbalen Bereich ist der Zuwachs statistisch signifikant (p=.012*). Ebenso gab es im quantitativen (p=.025,*) und nonverbalen Be-reich (p=.024,*) eine signifikante Steigerung der Leistung. Hinsichtlich der Gesamtleistung der kognitiven Fähigkeiten ist bei den Mädchen der Förder-klasse ein sehr signifikantes Ergebnis (p=.007,**) zu verzeichnen.

Die Mittelwerte für die Jungen (vgl. Abbildung 2) sind von der 5. bis zur 7. Klassenstufe gestiegen. Allerdings ist der Zuwachs nicht in allen Bereichen si-

0,83

5,22

9,17

5,89

1,83

4,443,38

5,44

0,00

2,00

4,00

6,00

8,00

10,00

Mitt

elw

ert

KFTV KFTQ KFTN KFT Gesamt

KFT-Skalen

Geschlechtsspezifischer Zuwachs an kognitiven Fähigkeiten

männlichweiblich

Abb. 2: Geschlechtsspezifischer Zuwachs an kognitiven Fähigkeiten von Klasse 5 zu 7, Jahrgang 2005/06 (vgl. Kalweit, 2008, S. 89)

Abb. 2: Geschlechtsspezifischer Zuwachs an kognitiven Fähigkeiten von Klasse 5 zu 7, Jahrgang 2005/06 (vgl. Kalweit, 2008, S. 89)

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gnifikant, verbaler Bereich (p=.805,ns) und nonverbaler Bereich (p=.579,ns). Lediglich bei den quantitativen Fähigkeiten (p=.062,ns) und der kognitiven Gesamtleistung (p=.091,ns) ist eine bzw. leichte Tendenz hinsichtlich des Zuwachses der Leistungen in den genannten Bereichen feststellbar.

Die Mädchen haben bezüglich der kognitiven Fähigkeiten mehr von den Fördermaßnahmen profitiert als die Jungen. Insgesamt konnte aber für die Förderklasse eine Leistungssteigerung bei den kognitiven Fähigkeiten aus-gemacht werden, die im Mittel um 3,47 T-Wert-Punkte (siehe Abbildung 1) und im Mittelwert 70,27 für die Gesamtpopulation im weit überdurchschnittli-chen Bereich (Hochbegabung) liegt.

Für die Entwicklung der nichtkognitiven Persönlichkeitsbedingungen „Er-kenntnisstreben“, „Leistungsmotivation“ und „Soziale Kompetenz“ lassen sich im Vergleich der beiden Messzeitpunkte folgende Veränderungen fest-stellen (Abbildung 3):

Wie aus Abbildung 3 ersichtlich, konnten 73,3% der Schüler/innen ihre Leistungen im Bereich sozialer Kompetenz (SK-S) stabilisieren. 13,3% der Schüler/innen konnten ihre Leistungen um eine Kategorie verbessern und bei ebenfalls 13,3% der Schüler/innen gab es in diesem Bereich eine Ver-schlechterung um eine Fähigkeitskategorie.

Differenziert nach Mädchen und Jungen ergab sich, dass 77,8 % der Mädchen und 66,7 % der Jungen ihre soziale Kompetenzen stabilisieren konnten. 16,7 % der Jungen und 11,1 % der Mädchen wiesen niedrigere Werte aus, verbessern konnten sich ebenfalls 16,7 % der Jungen und 11,1

Abb. 3:Veränderungen der nichtkognitiven Fähigkeiten von der 5. zur 7. Klasse, Jahrgang 2005/06 (vgl. Kalweit, 2008, S. 83)

57,1%

57,1%

13,3%

35,7%

42,9%

73,3%

7,1% 0,0%13,3%

0,0%

20,0%

40,0%

60,0%

80,0%

Pro

zen

t

verschlechtert gleich verbessertVeränderung

Entwicklung der nichtkognitiven Fähigkeiten

FESLM-SSK-S

Abb. 3: Veränderungen der nichtkognitiven Fähigkeiten der 5. zur 7. Klasse, Jahrgang 2005/06 (vgl. Kalweit, 2008, S. 83)

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ABB-InformAtIon 2012 – – – 33

% der Mädchen. Es kann also eingeschätzt werden, dass hinsichtlich der sozialen Kompetenz keine wesentlichen Veränderungen von der 5. zur 7. Klasse erfolgten. Die sozialen Fähigkeiten haben sich vielmehr im durch-schnittlichen Bereich stabilisiert.

Bezüglich der Leistungsmotivation wird aus Abbildung 3 ersichtlich, dass 42,9 % der Schüler/innen ihre Leistungsmotiviertheit bestätigen und seit der 5. Klasse aufrecht erhalten haben. 57 % sind nicht mehr so leistungsmotiviert wie zum ersten Untersuchungszeitraum. (Bei 50 % ist dieser Rückgang um eine Kategorie und bei 7,1 % um zwei Kategorien erfolgt.) Die Minderung in der Leistungsmotivation fiel stärker bei den Mädchen als bei den Jungen auf: Bei 66,7 % der Mädchen und bei 40 % der Jungen war eine Minderung in der Leistungsmotivation zu verzeichnen, und das obwohl die Mädchen eine eindeutige Steigerung in den kognitiven Fähigkeiten gegenüber den Jungen auswiesen. Offensichtlich ist für die intellektuell hochbegabten Mädchen, wie auch für hochbegabte Jungen, die primäre Motivation der stärkere Antrieb zum Lernen und Arbeiten. Die Leistungsmotivation ist eine unterstützende regulative Bedingung.

Aber wie aus der Abbildung 3 zu entnehmen ist, zeigen sich auch für das Erkenntnisstreben nur für 7,1 % der Schüler/innen Verbesserungen, 35 % erzielen gleiche Testwerte zu beiden Messzeitpunkten und 57,1 % streben Ende der 7. Klasse nicht mehr so sehr nach Erkenntnis wie zu Beginn der 5. Klasse. Im Geschlechtervergleich wurde deutlich, dass diese Abnahme des Erkenntnisstrebens für 80 % der Jungen zutraf, für die Mädchen zu 44,4 %.

Das Erkenntnisstreben gilt als kognitives Erkundungsverhalten. Bei ei-ner Steigerung der kognitiven Fähigkeiten, wie in der dargestellten Untersu-chung gezeigt, war auch eine Intensivierung des Erkenntnisstrebens erwar-tet worden. Dass diese nicht so erfolgt ist, war zunächst enttäuschend für die Untersucher wie auch für die Lehrer/innen, die den Förderunterricht erteilt haben, gab aber auch Anlass zu weiteren Überlegungen:

– Stimmt die allgemeine entwicklungspsychologische Aussage, dass um das 13. Lebensjahr herum die Zeit des größten Erkenntnisstre-bens ist und dieses Phänomen mit dem Übergang vom empirischen zum theoretischen Denken, nach Piaget vom konkret-operationalen zum formal-operationalen Denken, im Zusammenhang steht, nicht bzw. tritt diese Entwicklungserscheinung bei Hochbegabten früher auf? Darauf gibt es derzeit noch keine hinreichend wissenschaftlich begründete Antwort.

– Zum anderen ergibt sich die Frage, ob das Förderkonzept und dessen Umsetzung auf die Persönlichkeitsentwicklung insgesamt ausgerich-

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34 – – – ABB-InformAtIon 2012

tet ist, oder eben nur auf die Entwicklung kognitiver Fähigkeiten zielt? Um die Validität der Aussagen zum Jahrgang 2005/06 zu überprüfen, wurden dann die nächsten Jahrgänge (2006/07, 2007/08, 2008/09) ebenfalls überprüft und alle drei Jahrgänge hinsichtlich ihrer Förderef-fekte zum Ende der 7. Jahrgangsstufe querschnittlich verglichen.

3 Empirische Untersuchungsergebnisse zum Querschnittvergleich

Folgende Populationen wurden in die Untersuchungen einbezogen (Tabelle 3):

Tab. 3: Untersuchungspopulation (vgl. Meyer, 2010; Loh, 2010; Köppen, 2011)

Jahr-gänge 2006/07 2007/08 2008/09

Förder-klassen 7a 7b 7a 7b 7a 7b

n % n % n % n % n % n %

Mädchen 11 61 10 50 8 38,10 7 33,33 10 41,66 5 21,74

Jungen 7 39 10 50 13 61,90 14 66,67 14 58,34 18 78,26

Gesamt 18 100 20 100 21 100 21 100 24 100 23 100

Wie bereits dargestellt, umfasste der erste Jahrgang (2005/06) insge-samt 21 Förderschüler/innen. Das Geschlechterverhältnis war recht ausge-glichen (10 Mädchen und 11 Jungen). Für den Jahrgang 2006/07 wurden zwei Förderklassen ab Klassenstufe 5 eingerichtet. In der Klasse 7a lernten zum Untersuchungszeitraum 11 Mädchen und 7 Jungen, in der Klasse 7b 10 Mädchen und 10 Jungen. Für den Jahrgang 2007/08 gilt folgende Zusam-mensetzung der Klassen: In der 7a lernten 21 Schüler/innen (8 Mädchen und 13 Jungen) und in der 7b ebenfalls 21 Schüler/innen (7 Mädchen und 14 Jungen), also deutlich mehr Jungen. Auch für das Einschulungsjahr am Gymnasium Fridericianum 2008/09 wurden zwei Förderklassen eröffnet für insgesamt 47 Schüler/innen. (in der 7a 24 (10 Mädchen, 14 Jungen) und in der 7b 23 Schüler/innen (5 Mädchen, 18 Jungen), eine Dominanz der Jun-gen insbesondere in der 7b der Jahrgangsstufe 2008/09.

3.1 Zum Entwicklungsstand der kognitiven Fähigkeiten

In der querschnittlichen Betrachtung lassen sich für die kognitiven Fähigkei-ten folgender Entwicklungsstand konstatieren (Abbildung 4).

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ABB-InformAtIon 2012 – – – 35

76,2

60,666,4

64

66,1

54,3

62,3

66,1

58,7

73,2

66,5

61

0,00

20,00

40,00

60,00

80,00M

ittel

wer

te d

er T

estw

erte

KFTV KFTQ KFTN KFT GesamtKFT-Skalen

Entwicklung der kognitiven Fähigkeiten

Jahrgang 06/07Jahrgang 07/08Jahrgang 08/09

Abb. 4: Entwicklung der kognitiven Fähigkeiten der Förderklassen im Querschnittsvergleich von drei Jahrgängen zum MZP Ende der 7. Klassenstufe

Abb. 4: Entwicklung der kognitiven Fähigkeiten der Förderklassen im Querschnitts-vergleich von drei Jahrgängen zum MZP Ende der 7. Klassenstufe (vgl. Meyer,

2010; Loh, 2010; Köppen, 2011)

Auf den ersten Blick lässt sich anhand des Diagramms feststellen, dass lediglich der Jahrgang 2006/07 die „Hochbegabtenmarke“ ab einem T-Wert von 70 für die Gesamtleistung im KFT sowie für den verbalen Bereich über-schreitet. Bei den beiden nachfolgenden Jahrgängen sind alle T-Werte unter der 70-Marke-Grenze. Für den Jahrgang 2007/08 weisen die T-Werte für den quantitativen und nonverbalen Bereich für die Gesamtleistung deutlich erkennbare Tendenzen im 5%-Bereich aus. Für den Jahrgang 2008/09 sind diese nur im verbalen Bereich sichtbar. Im quantitativen und nonverbalen Bereich liegen die Leistungen nur im oberen durchschnittlichen und für die Gesamtleistung im unteren überdurchschnittlichen Bereich. Streng genom-men hat damit nur der Jahrgang 2006/07 die Eingangsdiagnose „Hochbega-bung“ bestätigt und bestätigt somit auch die Ergebnisse der Ausgangs- und Vergleichspopulation des Jahrgangs 2005/06.

Fragen, die sich aus diesen Ergebnissen ableiten lassen, betreffen zu-nächst das pädagogische Förderkonzept und dessen Umsetzung, aber auch die psychologische Diagnostik sowie entwicklungs- und persönlichkeitspsy-chologische Fragestellungen. Aus entwicklungspsychologischer Sicht wären die für frühere Schuljahre (Grundschulzeit) häufig debattierte Akzeleration in der Hochbegabungsentwicklung für eine kritische Überprüfung heranzuzie-hen sowie auch die intraindividuellen Entwicklungen der einzelnen Persön-lichkeitsbereiche im mittleren Schulalter (kognitiver, motivationaler, sozialer Bereich) und auch die Selbstkonzeptentwicklung. Aus diesen eher phäno-

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36 – – – ABB-InformAtIon 2012

menologisch fundierten Erkenntnissen ließen sich eventuelle Erklärungen für die gewonnenen Ergebnisse herleiten.

Der Geschlechtervergleich des ersten Jahrgangs hatte ergeben, dass Mädchen gegenüber Jungen hochsignifikante Steigerungen bei den Test-Werten zu den einzelnen kognitiven Fähigkeiten erzielten und außer im quantitativen Bereich deutlich höher entwickelte kognitive Fähigkeiten aus-weisen. Für die Jahrgänge 2006/07, 2007/08 und 2008/09 können im Ge-schlechtervergleich folgende Differenzen ausgewiesen werden (Abbildung 5):

Wie aus der Abbildung 4 bereits ersichtlich, zeigt sich auch in Abbildung 5, dass für die Jahrgänge 2007/08 und 2008/09 die kognitiven Fähigkeiten unter der 70-T-Wert-Grenze liegen. Auffällig sind bei diesem Vergleich die im Durchschnitt liegenden T-Werte für beide Geschlechter bei den quantitativen und nonverbalen kognitiven Fähigkeiten des Jahrgangs 2008/09. Da diese beiden Fähigkeitsbereiche sowohl stark bildungsabhängig (quantitativer Be-reich) als auch dispositionell (nonverbaler Bereich) bedingt sind, ergeben sich Fragen an das Bildungskonzept und dessen Umsetzung in den Förder-klassen als auch Fragen zur Eingangsdiagnostik. Da die Werte für Jungen und Mädchen annähernd gleich sind, kann, obwohl von 47 Schüler/innen die Jungen mit 32 den höheren Anteil aufweisen (Mädchen 15), von einer

Entwicklung der kognitiven Fähigkeiten

74

64 64

73

60,6

7

67,7

8

63,3

67,0

7

67,2

8

55,0

3

58,5

9

61,8

4

76

65

63

73

60,6

7

63,2

64,3

3

65,5

3

64,4

7

52,7

3

59,2

60,3

30

20

40

60

80

KFTV

KFTQ

KFTN

KFT

Ges

amt

KFTV

KFTQ

KFTN

KFT

Ges

amt

KFTV

KFTQ

KFTN

KFT

Ges

amt

Jahrgang 2006/07 Jahrgang 2007/08 Jahrgang 2008/09

JungenMädchen

Abb. 5: Querschnittsvergleich zu den kognitiven Fähigkeiten der

Jahrgänge 06/07, 07/08 und 08/09 zum Ende der 7. Klasse (vgl.

Meyer, 2010; Loh, 2010; Köppen, 2011)

Abb. 5: Querschnittsvergleich zu den kognitiven Fähigkeiten der Jahrgänge 06/07, 07/08 und 08/09 zum Ende der 7. Klasse (vgl. Meyer, 2010; Loh, 2010; Köppen,

2011)

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ABB-InformAtIon 2012 – – – 37

koedukativen Bildung ausgegangen werden und von gleichen intellektuellen Voraussetzungen.

Die Reserven für weitere Förderung ergeben sich somit aus der Umset-zung von Fördermöglichkeiten, die auf eine Entwicklung der Gesamtpersön-lichkeit der Schüler/innen ausgerichtet ist.

3.2 Zur Entwicklung nichtkognitiver Fähigkeiten

Wie in der Förderkonzeption des Gymnasiums Fridericianum ausgewiesen, wird eine „ganzheitliche Ausbildung der Persönlichkeit“ angezielt. Neben den kognitiven Fähigkeiten stehen auch nichtkognitive, motivationale und soziale Fähigkeiten im Focus der Bildungs- und Förderkonzeption. Wie schon für die Ausgangspopulation ausgewiesen, wurde der Stand der motivationalen Entwicklung, erfasst mit dem FES und dem LM-S, ermittelt sowie die Ent-wicklung der sozialen Fähigkeiten (mit Hilfe des SK-S).

Für den motivationalen Bereich lässt sich ein querschnittlicher Vergleich nach T-Werten für die Einschulungsjahrgänge 2006/07 und 2008/09 vorneh-men (Abbildung 6).

Für den Jahrgang 2006/07 kann eine recht ausgeglichene Ausprägung der motivationalen Komponenten festgestellt werden. Bei einer differenzier-ten Betrachtung nach Klassen und Geschlecht ließen sich für die Mädchen der Klasse 7a im Vergleich zu ihren Klassenkameraden eine deutlich höhe-re Ausprägung (T-Werte: 55,63 für die Mädchen, 48,14 für die Jungen) für

Abb. 6:Vergleich der Entwicklung motivationaler Komponenten der Jahrgänge 2006/07 und 2008/09 (vgl. Meyer, 2010; Strasen, 2011)

51,1

47,949,9

53,351 51,1

49,952,9

0

10

20

30

40

50

60

Mitt

elw

erte

der

T-W

erte

Jahrgang 2006/07 Jahrgang 2008/09

Entwicklung motivationaler Komponenten

Hoffnung aufErfolg

Furcht vorMisserfolg

Leistungsstreben

Erkenntnisstreben

Abb. 6: Vergleich der Entwicklung motivationaler Komponenten der Jahrgänge 2006/07 und 2008/09 (vgl. Meyer, 2010; Strasen, 2011)

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„Hoffnung auf Erfolg“ ausmachen. Für die Klasse 7b war es umgekehrt: Hier haben die Jungen zwar nicht ganz so hoch, dennoch signifikant höhere T-Werte für „Hoffnung auf Erfolg“. Auffällig ist für die Jungen beider Klassen, dass sie im Vergleich zu den Mädchen deutlich mehr „Furcht vor Misserfolg“ haben. In der Klasse 7a bestand ein beträchtlicher Unterschied in den T-Werten: für die Mädchen 40,90 und für die Jungen 55,28 (höchstsignifikant). Auch für den Jahrgang 2008/09 ergaben sich ausgeglichene Parameter für „Hoffnung auf Erfolg“ und „Furcht vor Misserfolg“, wobei die Jungen deut-lich höhere Werte für „Hoffnung auf Erfolg“ und die Mädchen für „Furcht vor Misserfolg“ auswiesen.

Die T-Werte für das „Leistungsstreben“ beim Jahrgang 2006/07 streuen zwischen 48,54 und 51,57, so dass von annähernd gleichem leistungsbezo-genen Antrieb ausgegangen werden kann. Annähernd gleiche Werte wurden auch für den Jahrgang 2008/09 konstatiert.

Bezüglich des „Erkenntnisstrebens“ wiesen beim Jahrgang 2006/07 so-wohl die Mädchen als auch die Jungen der Klasse 7a im Vergleich zur Klas-se 7b deutlich höhere T-Werte (56:50,70) aus. Nach Geschlecht betrachtet liegen die T-Werte der Jungen deutlich höher als die der Mädchen (56,64 : 50,78). Für den Jahrgang 2008/09 ergaben sich höhere Werte bei den Jun-gen (54,2), für die Mädchen 50,3 und im Vergleich der Klassen höhere Werte für die 7b.

Insgesamt kann somit für den Jahrgang 2006/07 hinsichtlich der Ausprä-gung motivationaler Komponenten festgestellt werden, dass es kaum Un-terschiede zwischen den beiden Klassen (7a, 7b) und den Geschlechtern in Bezug auf die Bereiche „Hoffnung auf Erfolg“ und „Leistungsstreben“ gibt. Bezüglich „Furcht vor Misserfolg“ und „Erkenntnisstreben“ haben die Jungen deutlich höhere Werte als die Mädchen.

Für den Jahrgang 2008/09 ergeben sich Unterschiede bezüglich der Ausprägung des Erkenntnisstrebens zugunsten der 7b und zugunsten der Jungen. Somit lassen sich für beide Jahrgänge durchaus unterschiedliche Entwicklungen konstatieren.

Nach Zusammenhängen zwischen kognitiven Fähigkeiten und den ein-zelnen motivationalen Komponenten für den Jahrgang 2006/07 gefragt, konnte lediglich eine Korrelation zwischen dem „Erkenntnisstreben“ und dem quantitativen Teil des KFT mit einem Wert von 0,42 und einem Sig-nifikanzniveau von 0,01 festgestellt werden. Diesbezüglich besteht somit ein Zusammenhang. Für den Jahrgang 2008/09 ergaben sich signifikante Zusammenhänge zwischen dem Erkenntnisstreben und der „Hoffnung auf

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Erfolg“ (höchstsignifikant), aber auch höchstsignifikante Zusammenhänge zwischen „Leistungsstreben“ und „Erkenntnisstreben“. Es zeigen sich somit im Querschnitt recht unterschiedliche Entwicklungen.

Zur Entwicklung sozialer Kompetenz konnten folgende Ergebnisse in den Untersuchungen ermittelt werden (Abbildung 7):

55,2

55,4

55,3

49,5

51,1

50,5

49,2

47,8 48

,7

454647484950515253545556

Mitt

elw

erte

der

T-W

erte

Jahrgang2006/07

Jahrgang2007/07

Jahrgang2008/09

Vergleich sozialer Kompetenz

JungenMädchenGesamt

Abb. 7: Querschnittlicher Vergleich der sozialen Kompetenz (vgl. Meyer, 2010; Loh, 2010; Gebauer, 2011)

Abb. 7: Querschnittlicher Vergleich der sozialen Kompetenz (vgl. Meyer, 2010; Loh, 2010; Gebauer, 2011)

Mit dem Fragebogen zur Sozialkompetenz für die Sekundarstufe (SK-S) werden soziale Kognitionen und das Verhalten in sozialen Kontexten erfasst. Diese beziehen sich auf den assertiven Selbstausdruck, die Fähigkeit, in so-zialen Konflikten ohne Angst mit angemessenem Verhalten zu reagieren, die Kooperation (Fähigkeit zur Zusammenarbeit) und die Konfliktlösefähigkeit (Fähigkeit, eigene Interessen unter Berücksichtigung der Interessen anderer zu verwirklichen). Wie wiederholt in der Literatur ausgewiesen (vgl. Stapf, 2004) verfügen Mädchen über eine höhere soziale Kompetenz als Jungen. Sie besitzen höhere Empathie und zeigen vor allem in der zwischenmensch-lichen Kommunikation höhere Kooperationsbereitschaft, und sie sind um-gänglicher.

In der Ausgangs- und Vergleichspopulation wurde festgestellt, dass das Gros der Schüler/innen von der 5. zur 7. Klasse ihre soziale Kompetenz im durchschnittlichen Ausprägungsbereich stabilisierten, was auch für die nachfolgenden Jahrgänge zutrifft, und es kaum Unterschiede zwischen den Geschlechtern gab. Letzteres konnte durch die nachfolgenden Jahrgänge

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bestätigt werden. In Abbildung 7 wird ersichtlich, dass Mädchen und Jun-gen über annähernd gleiche soziale Kompetenzen verfügen. Die Mädchen zeigen einen marginalen, jedoch statistisch nicht signifikanten Vorteil zu den Jungen hinsichtlich der sozialen Kompetenz.

Im Jahresvergleich konnte aber festgestellt werden, dass der Jahrgang 2006/07 mit etwa 5-T-Werten höher liegt als der Jahrgang 2007/08. Für den Jahrgang 2008/09 ist die Differenz noch etwas größer. Die Beziehungen in-nerhalb der Klassen sind offensichtlich spezifisch und weisen im Alter von 13 Jahren Besonderheiten auf. Um hier Unterstützung zu geben, wurde durch das Institut für Pädagogische Psychologie der Universität Rostock ein sozi-ales Trainingsprogramm entwickelt, welches zum jetzigen Zeitpunkt bereits mit vier Jahrgängen durchgeführt wurde, und eine sehr gute Resonanz sei-tens der Schüler/innen, der Lehrer/innen und auch der Eltern erhielt.

Somit zeigten sich auch hier im Querschnitt unterschiedliche Entwicklun-gen. Zusammenhänge zwischen der kognitiven und sozialen Entwicklung konnten nicht festgestellt werden. Aber zwischen sozialer und motivationaler Entwicklung bestehen Zusammenhänge. Schüler/innen mit „Hoffnung auf Erfolg“ haben hochsignifikant eine ausgeprägtere soziale Kompetenz in der Klasse, während Schüler/innen mit „Furcht vor Misserfolg“ eine hochsignifi-kante niedere soziale Kompetenz aufweisen, was den Erwartungen an eine Hochbegabtenklasse entspricht.

4 Zusammenfassung

Das Förderkonzept des Gymnasiums Fridericianum hat über vier Jahre und mit vier Jahrgängen mit Hochbegabtenklassen positive Effekte erbracht.

Diese wurden besonders deutlich für die Entwicklung der kognitiven Fä-higkeiten für die Mädchen der Förderklasse 2005/06, die in allen Bereichen ihre Leistungen im KFT verbessern konnten, und ebenso für den Jahrgang 2006/07, in welchem die Schüler/innen im Gesamtergebnis des KFT weit überdurchschnittliche Werte erzielten. Besonders hohe T-Werte wurden im verbalen Bereich erbracht, was unbedingt im Zusammenhang mit einem sehr fördernden und anregenden Deutschunterricht zu sehen ist.

Für die Jahrgänge 2007/08 und 2008/09 lässt sich festhalten, dass die im KFT erbrachten Werte im überdurchschnittlichen Bereich (beim Jahrgang 2008/09 für den KFT Q und KFT N im durchschnittlichen Bereich) liegen. Wenn davon ausgegangen wird, dass durch die Eingangsdiagnostik des psychologischen Dienstes des Schulamtes Schwerin ein IQ von 130 als ent-

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scheidendes Kriterium für den Besuch der Hochbegabtenförderklasse fest-gestellt wurde, muss konstatiert werden, dass dieses Niveau nicht gehalten wurde.

Fragen, die sich aus diesen Feststellungen ableiten lassen, beziehen sich auf die Eingangsdiagnostik für die Aufnahme in eine Förderklasse, die Umsetzung des Förderkonzeptes der Schule, auf die Gestaltung der sozia-len Beziehungen in den Klassen einschließlich der Zusammensetzung nach Geschlecht und die Anzahl der Schüler/innen sowie auf das individuelle Ein-gehen auf die Schüler/innen.

Es ist nicht davon auszugehen, dass mit dem Besuch der so konstituier-ten Hochbegabtenklassen die Förderung für jeden Lernenden garantiert ist. Auch in recht homogen zusammengesetzten Lerngemeinschaften entwic-keln sich Heterogenität und Diversität, die im pädagogischen Prozess zu meistern sind. Insofern hat die Analyse der Entwicklungseffekte in den Hoch-begabtenklassen, der querschnittliche Vergleich dieser Klassen, Ergebnisse und Erkenntnisse gebracht, die für die Gestaltung solcher Förderabsichten in speziellen Klassen an Schulen künftighin zu bedenken sind.

5 Literatur

– Gebauer, E. (2011). Empirische Untersuchungen zu den Sozialkompe-tenzen von hochbegabten Schülerinnen und Schülern der 7. Klassenstu-fe. Unveröff. Hausarbeit im Rahmen der Ersten Staatsprüfung. Rostock: Universität Rostock/ Philosophische Fakultät.

– Fridericianum Schwerin (2010). Beschulung hochbegabter Schülerinnen und Schüler am Gymnasium Fridericianum Schwerin. Zugriff am 17. Au-gust 2010 unter: http://. Fridericianum.de/cms/index.php?id=277

– Heller, K.A.& Perleth, C. (Hrsg.).(2007). Münchener Hochbegabungstest-batterie für die Sekundarstufe (MHBT-S). Göttingen: Hogrefe.

– Kalweit, St. (2008). Geschlechtsspezifische Unterschiede bei Hochbe-gabten – Untersuchungen in einer Förderklasse für hochbegabte Schüle-rinnen und Schüler. Unveröff. Hausarbeit im Rahmen des Ersten Staats-examens. Rostock: Universität Rostock/ Philosophische Fakultät.

– Köppen, M. (2011). Kognitive Entwicklung von Schülerinnen und Schü-lern der 7. Jahrgangsstufe der Förderklasse für Hochbegabte. Unveröff. Hausarbeit im Rahmen der Ersten Staatsprüfung. Rostock: Universität Rostock/Philosophische Fakultät.

– Loh, A. (2010). Evaluation der Entwicklung der Förderklasse für Hoch-begabte im mittleren Schulalter – empirische Untersuchungen am Gym-

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nasium mit Hochbegabtenförderung. Unveröff. Hausarbeit im Rahmen der Ersten Staatsprüfung. Rostock: Universität Rostock/Philosophische Fakultät.

– Meyer, A.-K. (2010). Kognitive, soziale und motivationale Entwicklung der Schüler der 8. Klassen des Gymnasiums Fridericianum. Unveröff. Hausarbeit im Rahmen der Ersten Staatsprüfung. Rostock: Universität Rostock/Philosophische Fakultät.

– Piaget, J.& Inhelder, B. (1980). Von der Logik des Kindes zur Logik des Heranwachsenden. Essay über die Ausformung der formalen operativen Strukturen. Stuttgart: Klett-Cotta.

– Stapf, A. (2002). Geschlechtsunterschiede. Begabungsentwicklung bei Mädchen und Jungen am Beispiel intellektueller Hochbegabung. In Wag-ner, H. (Hrsg.), Hochbegabte Mädchen und Frauen. Bad Honnef: Verlag Karl Heinrich Bock, S. 11–28.

– Strasen, E. (2011). Erkenntnisstreben und Leistungsmotivation bei hoch-begabten Schülerinnen und Schülern im mittleren Schulalter. Unveröff. Hausarbeit im Rahmen der Ersten Staatsprüfung. Rostock: Universität Rostock/ Philosophische Fakultät.

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Epistemologische Überzeugungen im naturwissenschaftlichen UnterrichtClaas Wegner, Mareike Krooß, Sara Cordes & Norbert Grotjohann

1 Einleitung

Die vorliegende Arbeit orientiert sich an einer im Jahr 2004 von Conley et al. durchgeführten Studie. In beiden Studien wurde die Veränderungen der epis temologischen Überzeugungen bei Fünftklässlern1 als Folge einer rela-tiv kurzen, handlungsorientiert gestalteten Unterrichtseinheit untersucht.

Epistemologische Überzeugungen bestehen aus den subjektiven Ansich-ten über die Natur des menschlichen Wissens und der Wissenserzeugung (vgl. u.a. Trautwein et al., 2004, S. 188). Sowohl im Alltag als auch im Un-terricht wird ein Schüler immer wieder mit konkurrierenden Informationen zu verschiedenen Themen2 aus unterschiedlichen Quellen konfrontiert. Die Art und Weise, wie der Schüler mit diesen umgeht, wird durch seine episte-mologischen Überzeugungen beeinflusst. Folglich haben die epistemologi-schen Überzeugungen Einfluss auf die Lernprozesse und somit auch auf die Lernergebnisse: „Sophisticated epistemological beliefs are often related to better learning outcomes than ‘naïve’ epistemological beliefs“ (Richter und Schmidt, 2009, S. 48).

Die im Folgenden untersuchte Stichprobe bestand aus zwei Kursen mit je 17 naturwissenschaftlich begabten Fünftklässlern. Diese nahmen an einem handlungsorientiert gestalteten Biologieunterricht zum Thema „Anpassun-gen von Lebewesen an ihre Umwelt“ teil. Die biologiespezifischen episte-mologischen Überzeugungen der Schüler wurden sowohl vor als auch nach der handlungsorientiert gestalteten Intervention erhoben. Auf dieser Basis wurde geprüft, ob und auf welche Weise sich durch die Intervention die biologiespezifischen epistemologischen Überzeugungen änderten. In zwei Dimensionen konnte ein Fortschritt der epistemologischen Überzeugungen nachgewiesen werden.

1 Die männliche Form steht stets stellvertretend für die weibliche und männliche Form.

2 z.B. Wie hoch ist die Gefahr des Klimawandels wirklich? Sind Chips krebserre-gend? Sind Handystrahlen schädlich? Wie gefährlich sind Bewegungsmangel und Übergewicht? Sind Milchschnitten gesund? Kommen Spendengelder da an, wo sie ankommen sollten?

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2 Theorie

Auf der Basis des aktuellen Wissenschaftsstandes wird davon ausgegan-gen, dass Personen sowohl domänenspezifische als auch domänenüber-greifende epistemologischen Überzeugungen besitzen (vgl. Muis, 2006, S. 4 und S. 14). Eine Domäne bezeichnet dabei unterschiedliche Fachbereiche1. Folglich kann eine Person bezüglich einer Domäne (z.B. Pädagogik) eher fortgeschrittene epistemologische Überzeugungen aufweisen, während die-selbe Person bezüglich einer anderen Domäne (z.B. Biologie) eher naive epistemologische Überzeugungen besitzt. Diese beiden domänenspezifi-schen Überzeugungen stehen in Wechselwirkung miteinander und mit den allgemeinen epistemologischen Überzeugungen, die eine Person gegen-über dem Wissen und der Wissenserzeugung aufweist (vgl. Trautwein et al., 2004, S. 195).

In Anlehnung an Conley et al. (2004) wird in der vorliegenden Arbeit von vier Dimensionen der epistemologischen Überzeugungen bei Fünftkläss-lern ausgegangen (vgl. Abbildung 1): Quelle (source), Sicherheit (certainty), Entwicklung (development) und Rechtfertigung (justification) (vgl. Conley et al., 2004, S. 190). In allen vier Dimensionen sind die epistemologischen Überzeugungen einer Person jeweils innerhalb eines Kontinuums zwischen naiven und fortgeschrittenen Überzeugungen lokalisiert. Die epistemolo-gischen Überzeugungen in den einzelnen Dimensionen sind unabhängig voneinander. Folglich kann eine Person in unterschiedlichen Dimensionen unterschiedlich weit fortgeschrittene Überzeugungen besitzen (vgl. an Muis, 2006, S. 30). Dies bedeutet beispielsweise, dass dieselbe Person in der Dimension Quelle eher naive und in der Dimension Sicherheit eher fortge-schrittene epistemologische Überzeugungen aufweisen kann.

Des Weiteren sind epistemologische Überzeugungen keine stabilen Per-sönlichkeitsmerkmale (vgl. Richter, 2007, S.115). Vielmehr verändern sie sich im Laufe des Lebens. Diese Veränderungen sind u.a. durch Umweltein-flüsse bedingt (vgl. Muis, 2006, S. 30).

Conley et al. (2004) teilten die vier Dimensionen zwei zentralen Berei-chen zu: Natur des Wissens und Natur der Wissenserzeugung (vgl. Abbil-dung 1). Die Dimensionen Quelle und Rechtfertigung gehören zu dem Be-reich der Natur der Wissenserzeugung. Bei eher naiven Überzeugungen in der Dimension der Quelle wird angenommen, Wissen habe seinen Ursprung in Autoritäten und werde von ihnen auf andere Personen übertragen. Eine

1 Es gibt unterschiedliche Auffassungen über die Größe einzelner Domänen. So können entweder einzelne Schulfächer oder auch unterschiedlich weit gefasste Gruppierungen von Schulfächern als Domäne bezeichnet werden.

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fortgeschrittenere Ansicht zeugt davon, dass die Aneignung von Wissen als Prozess verstanden wird, den jede Person für sich in Auseinandersetzung mit dem Wissen durchlaufen muss. Die Dimension Rechtfertigung beinhaltet die Art, auf welche Befunde und Anforderungen in der Wissenschaft be- bzw. gewertet werden (vgl. Abbildung 1).

Die beiden Dimensionen Sicherheit und Entwicklung sind dem Bereich Natur des Wissens zuzuordnen (vgl. Abbildung 1). Eher naive Überzeugun-gen in der Dimension Sicherheit zeichnen sich durch den Glauben an eine richtige Antwort aus. Personen, die fortgeschrittenere Überzeugungen in

Abb. 1: Darstellung der zwei Bereiche der epistemologischen Überzeugungen nach Conley et al. (2004). Diese gliedern sich in die vier Dimensionen Sicherheit, Ent-

wicklung, Quelle und Rechtfertigung. Aufgeführt sind die naive und die fortgeschrit-tene Ansicht in Bezug auf die jeweiligen Dimensionen. Zwischen diesen Ansichten

existiert ein Kontinuum.

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dieser Dimension aufweisen, erkennen die Möglichkeit einer vielfältigen Ant-wort bezüglich eines komplexeren Problems. Die Dimension der Entwick-lung beinhaltet die Annahmen innerhalb des Kontinuums von: Wissen sei statisch und „für immer richtig“ bis zur fortgeschritteneren Annahme, Wissen sei ein sich entwickelnder Bereich. Bei fortgeschritteneren Ansichten in die-ser Dimension wird akzeptiert, dass Ideen und Theorien sich ändern kön-nen, wenn es durch Experimente bestätigte Erkenntnisse gibt (vgl. Conley et al., 2004, S. 190).

Wie oben bereits erwähnt sind die Überzeugungen in den einzelnen Di-mensionen unabhängig voneinander. Folglich können sie sich unterschied-lich schnell sowie in unterschiedliche Richtungen entwickeln. Dies bedeutet, dass bei einer Person gleichzeitig in einer Dimension ein Fortschritt der epi-stemologischen Überzeugungen stattfinden kann, während in einer anderen Dimension ein Rückschritt erfolgt.

Conley et al. (2004) untersuchte die Veränderungen der epistemologi-schen Überzeugungen von Fünftklässlern in allen vier Dimensionen. Sie erhoben die epistemologischen Überzeugungen der Schüler in Bezug auf die Domäne Naturwissenschaften vor und nach einer neunwöchigen, hand-lungsorientierten, naturwissenschaftlichen Unterrichtseinheit (vgl. Conley et al., 2004, S. 189).

Die epistemologischen Überzeugungen der Schüler entwickelten sich während der Intervention von durchschnittlich eher naiven zu durchschnitt-lich eher fortgeschrittenen Vorstellungen. Es waren jedoch nur die Entwick-lungen bezüglich der Dimensionen Quelle und Sicherheit von Wissen statis-tisch signifikant (vgl. Conley et al., 2004, S. 197). Die Schüler entwickelten durch die Intervention somit in erster Linie fortgeschrittenere epistemologi-sche Überzeugungen bezüglich des Ursprungs von Wissen sowie bezüglich der Wandelbarkeit von Wissen.

Des Weiteren konnten Conley et al. (2004) eine positive Korrelation zwi-schen guten Schulleistungen und fortgeschrittenen epistemologischen Über-zeugungen nachweisen (vgl. Conley et al., 2004, S. 197).

Die vorliegende Studie unterscheidet sich in einigen Punkten von der von Conley et al. (2004) durchgeführten Untersuchung. So lag bei der vorliegen-den Studie ein kürzerer Interventionszeitraum zu Grunde und es wurde die epistemologischen Überzeugungen nur in Bezug auf die kleinere Domäne „Biologie“ erhoben. Darüber hinaus bestand die untersuchte Stichprobe aus naturwissenschaftlich begabten Schülern. Der konkrete Ablauf der Studie wird im Folgenden erläutert.

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3 Ablauf der Studie

Die Studie wurde in zwei parallelen Fünftklässlerkursen im Begabtenför-derungsprojekt Kolumbus-Kids der Universität Bielefeld durchgeführt. Na-turwissenschaftlich begabte Schüler bekommen hier die Möglichkeit bio-logische Sachverhalte unter Anleitung von Studierenden selbstständig zu erarbeiten. Die Teilnahme an dem Projekt erfolgt freiwillig und ist erst nach Bestehen eines Leistungstests möglich. Die Kursgröße betrug je 17 Schüler. Da nicht alle Schüler sowohl am Pre- als auch Posttest teilnahmen, betrug die Samplegröße je 13 Schüler. In beiden Kursen wurden verschiedene As-pekte des Themas „Anpassungen von Lebewesen an ihre Umwelt“ unter-sucht (vgl. Abbildung 2). Dies ist ein sehr weit gefasster Themenbereich, welcher Bestandteile verschiedener Unterdisziplinen der Biologie umfasst (z.B. Ökologie, Zellbiologie, Humanbiologie). Er bietet darüber hinaus ver-schiedene Anknüpfungspunkte an die Lebenswelt der Schüler. So wurden

Abb. 2: Überblick über Themen der Kurse 1 und 2. Themen in Ellipse sind dem Bereich „Anpassungen von Tieren“ zuzuordnen, Themen im Rechteck gehören zu „Anpassungen von Pflanzen“. Die Themen „Dichteunterschiede“ und „negativen Phototaxis des Regenwurms“ (Unterthema des Themas „Der Regenwurm – ein

Bodenlebewesen“) wurden in beiden Kursen thematisiert.

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beispielsweise Tiere und Pflanzen, die den Schülern aus ihrem Alltag be-kannt waren, näher untersucht. Auch die spezifischen Eigenarten der Sinne des Menschen stellen Anpassungen an die Umwelt dar. Dies wurde von den Schülern in verschiedenen Selbstversuchen erarbeitet.

Während der Intervention sollten vor allem die wissenschaftlichen Fä-higkeiten der Schüler gefördert werden. So führten sie selbstständig Expe-rimente durch, sammelten Daten, machten Beobachtungen, interpretierten Ergebnisse, zogen Schlussfolgerungen und rechtfertigten ihre Ergebnisse auf der Basis der von ihnen gewonnenen Daten. Diese Vorgehensweise diente dazu, einen Fortschritt der epistemologischen Überzeugungen der Schüler hervorzurufen. Durch das Sammeln von Erkenntnissen mit Hilfe von selbstständig durchgeführten Experimenten sollten die Schüler lernen, dass Wissen nicht von Autoritäten übermittelt, sondern selbstständig konstruiert wird. Des Weiteren sollten sie die Bedeutung von Experimenten für die Er-kenntnisgewinnung kennen lernen. Die nicht immer eindeutigen Ergebnisse der durchgeführten Experimente sollten zeigen, dass nicht alle Fragen zwei-felsfrei beantwortet werden können. Da die Schüler die von ihnen aufgestell-ten „Theorien“ anhand von Experimenten überprüften, sollten sie außerdem zu der Erkenntnis gelangen, dass Theorien sich im Laufe der Zeit ändern können. Auf der Basis dieser Vorüberlegungen wurde die folgende Hypothe-se getestet:

Hypothese: Bei naturwissenschaftlich begabten Fünftklässlern kann durch eine fünfwöchige, handlungsorientiert gestaltete Unterrichtsreihe eine signifikante Veränderung der domänenspezifischen epistemologischen Überzeugungen in den Dimensionen Quelle, Sicherheit, Entwicklung und Rechtfertigung von eher naiven Überzeugungen zu eher fortgeschrittenen Überzeugungen hervorgerufen werden.

Um diese zu überprüfen, wurden die epistemologischen Überzeugungen der Schüler sowohl vor als auch nach der fünfwöchigen, handlungsorientier-ten Unterrichtseinheit erhoben (vgl. Abbildung 3). Anschließend wurden die Erhebungsergebnisse mittels T-Test auf Signifikanz überprüft.

Darüber hinaus wurde der Wissensstand der Schüler erhoben. Dies er-folgte direkt vor und nach der Intervention sowie sechs Wochen nach Been-digung der Intervention. Zu diesem Zweck diente je ein auf die in dem Kurs behandelten Themen abgestimmter Wissenstest.

Die epistemologischen Überzeugungen der Schüler wurden mit dem 2004 von Cooley et al. entwickelten Testinstrument erhoben. Die Items des Testinstruments wurden ins Deutsche übersetzt und so umformuliert, dass

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sie sich speziell auf die Domäne Biologie bezogen. Das Testinstrument um-fasst die vier Dimensionen epistemologischer Überzeugungen: Quelle, Si-cherheit, Entwicklung und Rechtfertigung. Es ist speziell darauf ausgerichtet, die epistemologischen Überzeugungen von jüngeren Schülern im naturwis-senschaftlichen Bereich zu erfassen (vgl. Conley et al., 2004, S. 189 ff.). Einige Items beziehen sich beispielsweise direkt auf naturwissenschaftliche Arbeitsweisen wie das Experimentieren. Ein weiterer Vorteil des Messins-truments liegt darin, dass Conley et al. (2004) die Veränderung der episte-mologischen Überzeugungen durch eine relativ kurze, handlungsorientierte Unterrichtseinheit untersucht wurden können. Das Erhebungsinstrument ist folglich in der Lage bereits in einer geringen Zeitspanne hervorgerufene Än-derungen in den epistemologischen Überzeugungen zu detektieren.

Auf der Basis der oben genannten Eigenschaften des von Conley et al. (2004) entwickelten Testinstruments, erscheint dieses für die vorliegende Studie zur Erhebung der epistemologischen Überzeugungen der Fünftkläss-ler geeignet. Das gesamte Testinstrument besteht aus 26 Items. Die Erhe-bungsdauer beträgt etwa 20 Minuten. Alle Items sind in Aussageform for-muliert. Die Schüler geben mit Hilfe einer Vierer-Likert-Skala den Grad ihrer Zustimmung zu den einzelnen Items an.

4 Ergebnisse

Die durchgeführte Untersuchung, in der die epistemologischen Überzeugun-gen der Schüler bezüglich der einzelnen vier Dimensionen erhoben wurden,

Abb. 3: Übersicht über den Ablauf der vorliegenden Studie: Die epistemologischen Überzeugungen der Schüler sowie ihr Wissensstand wurden sowohl vor als auch nach einer fünfwöchigen handlungsorientierten Unterrichtseinheit erhoben. Die zu den beiden Zeitpunkten erhobenen Daten wurden anschließend statistisch ausge-

wertet.

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erbrachte die im Folgenden dargestellten Ergebnisse. Bei der Erhebung konnte ein maximaler Wert von vier Punkten erreicht werden. Dieser maxi-male Wert symbolisierte die fortgeschrittensten Überzeugungen, während kleinere Werte eher für naive Überzeugungen stehen.

In beiden Schülergruppen waren die epistemologischen Überzeugungen mit durchschnittlich 2,03 bzw. 3,06 Punkten in der Schülergruppe 1 (SG 1) und mit 2,2 bzw. 2,64 Punkten in der Schülergruppe 2 (SG 2) in der Dimen-sion Quelle vor und nach der Intervention am naivsten (vgl. Abbildung 4). Die zweitnaivsten Überzeugungen ließen sich zu beiden Testzeitpunkten in der Dimension Sicherheit feststellen. Als eher fortgeschritten konnten die Überzeugungen bezüglich der Dimension Entwicklung eingestuft werden. Die jeweils fortgeschrittensten Überzeugungen wurden in der Dimension Rechtfertigung detektiert (vgl. Abbildung 4).

Die stärksten Entwicklungen von eher naiven zu eher fortgeschrittenen Überzeugungen fanden in beiden Schülergruppen in den Dimensionen Quelle und Sicherheit statt.

Zur Überprüfung der aufgestellten Forschungsfragen bezüglich der Ent-wicklung der epistemologischen Überzeugungen von eher naiven hin zu eher fortgeschrittenen Überzeugungen wurden für die einzelnen Dimensi-onen jeweils T-Tests für paarige Stichproben durchgeführt. Diese ergaben, dass die Veränderungen der epistemologischen Überzeugungen bezüglich

Abb. 4: Mittelwerte und Standardabweichungen der epistemologischen Überzeu-gungen im Pre- und Posttest der Schülergruppe 1 (SG 1, obere beiden Abbildun-

gen) und der Schülergruppe 2 (SG 2, untere beiden Abbildungen).

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der Dimensionen Entwicklung und Rechtfertigung in beiden Schülergruppen nicht signifikant waren1.

In Schülergruppe 1 konnte mit Hilfe des T-Tests eine hoch signifikante Veränderung der epistemologischen Überzeugungen bezüglich der Dimen-sion Quelle von eher naiv zu eher fortgeschritten nachgewiesen werden2. Der T-Test erbrachte bezüglich der Dimension Sicherheit die Irrtumswahr-scheinlichkeit α= 16,3 %, so dass keine signifikante Veränderung vorlag.

In Schülergruppe 2 fand ein marginal signifikanter Fortschritt der epis-temologischen Überzeugungen in den Dimensionen Quelle und Sicherheit statt3.

Um die Entwicklung der Überzeugungen der einzelnen Schüler nach-vollziehen zu können, werden beispielhaft die einzelnen Schülerantworten bezüglich der Dimensionen Quelle und Sicherheit vor und nach der Interven-tion betrachtet. Von Schülergruppe 1 werden die Antworten der Schüler be-züglich der Dimension Quelle dargelegt, während bezüglich der Dimension Sicherheit die Antworten der Schülergruppe 2 dargestellt sind4.

In der Dimension Quelle (vgl. Abbildung 5) hatten die Schüler 2 und 10 der Schülergruppe 1 im Pretest mit durchschnittlich 1,6 Punkten die naivsten epistemologischen Überzeugungen. Die Schüler 5 und 7 zeigten die fort-geschrittensten Überzeugungen mit einem Mittelwert von 2,6 Punkten. Im Posttest erreichte Schüler 8 den niedrigsten Mittelwert mit 2 Punkten. Die Schüler 3, 5, 9 und 13 wiesen die fortgeschrittensten Überzeugungen mit der maximal erreichbaren Anzahl von 4 Punkten auf. Bei keinem Schüler konnte eine Rückentwicklung der epistemologischen Überzeugungen von eher fortgeschritten zu eher naiven festgestellt werden (vgl. Abbildung 5). Schüler 3 und 13 durchliefen mit einem Anstieg von 2 auf 4 Punkte den größten Fortschritt.

In der Dimension Sicherheit fand im Verlauf der Intervention bei sieben Schülern der Schülergruppe 2 ein Fortschritt und bei sechs Schülern ein

1 SG 1: Irrtumswahrscheinlichkeit Entwicklung α= 51,4 %, Irrtumswahrscheinlich-keit Rechtfertigung α= 100 %; SG 2: Irrtumswahrscheinlichkeit Entwicklung α= 17,8 %, Irrtumswahrscheinlichkeit Rechtfertigung α= 63,9 %

2 Irrtumswahrscheinlichkeit α= 0,0 %3 Irrtumswahrscheinlichkeit Quelle α= 5,5 %, Irrtumswahrscheinlichkeit Sicherheit

α= 7,6 %4 Es werden jeweils nicht alle Dimensionen für beide Schülergruppen dargestellt,

da lediglich ein beispielhafter Einblick gegeben werden soll. Die Dimensionen Entwicklung und Rechtfertigung werden nicht berücksichtigt, da bei ihnen keine signifikanten Veränderungen festgestellt werden konnten.

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Rückschritt der epistemologischen Überzeugungen statt (vgl. Abbildung 6). Der größte Fortschritt der epistemologischen Überzeugungen betrug 1,21 Punkte und fand bei Schüler 12 statt. Die stärkste Rückentwicklung (0,95 Punkte) erfolgte bei Schüler 4. Im Pretest hatten Schüler 6 und 12 die nied-rigsten epistemologischen Überzeugungen (2,29 Punkte) und im Posttest Schüler 11 (2,17 Punkte). Im Posttest erreichten Schüler 3 und 13 maximal fortgeschrittene epistemologischen Überzeugungen (vgl. Abbildung 6).

Mit dem für die Untersuchung konzipierten Wissenstest konnte vom ers-ten zum zweiten Testzeitpunkt ein hoch signifikanter Wissenszuwachs fest-gestellt werden1. Eine Überprüfung des Wissensstandes der Schüler sechs Wochen nach der letzten Unterrichtsstunde ergab, dass die Schüler sich zu diesem Zeitpunkt noch so gut an das in der Unterrichtseinheit erlernte Wis-sen erinnerten wie am zweiten Testzeitpunkt.

1 Irrtumswahrscheinlichkeiten: SG 1: α= 0,0 %, SG 2: α= 0,0 %

Abb. 5: Auflistung der Mittelwerte und der Standardabweichungen der einzelnen Schülerantworten in der Dimension Quelle bezüglich des Pre- (oben) und Posttests

(unten) für die Schülergruppe 1 (SG 1).

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5 Diskussion

Die in der vorgestellten Untersuchung erhobenen Daten konnten lediglich die Annahmen bezüglich der Dimensionen Quelle und Sicherheit1 stützen. Diese Ergebnisse wurden unabhängig in zwei Schülergruppen mit zwei un-terschiedlichen Lehrpersonen und verschiedenen, Unterrichtsinhalten ge-wonnen. Es liegt die Vermutung nahe, dass durch handlungsorientierten Unterricht Änderungen in der epistemologischen Überzeugung nur in diesen beiden Dimensionen erzeugt werden können. Gegebenenfalls können die epistemologischen Überzeugungen bezüglich der anderen beiden Dimen-sionen Rechtfertigung und Entwicklung, in denen keine Änderungen festge-stellt werden konnten, nicht durch handlungsorientiert gestalteten Unterricht gefordert und gefördert werden. Dies könnte in weiteren Studien überprüft werden, indem die Änderungen der epistemologischen Überzeugungen bei unterschiedlichen Unterrichtsformen verglichen werden. In der vorliegenden Studie kann zudem nicht mit Sicherheit davon ausgegangen werden, dass die verwendete Unterrichtsform der Grund für die Entwicklung der epistemo-logischen Überzeugungen ist, da keine Kontrollgruppe als Vergleich unter-sucht wurde.

1 Bezüglich dieser Dimension konnte ein marginal signifikanter Unterschied in der Schülergruppe 2 festgestellt werden. Für Schülergruppe 1 war der deskriptiv erkennbare Unterschied nicht signifikant.

Abb. 6: Auflistung der Mittelwerte und der Standardabweichungen der einzelnen Schülerantworten in der Dimension Sicherheit bezüglich des Pre- (oben) und Post-

tests (unten) für die Schülergruppe 2 (SG 2).

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Vor Beginn sowie zum Ende der durchgeführten Unterrichtseinheit wie-sen die Schüler bezüglich Aussagen zu der Herkunft des Wissens die na-ivsten Überzeugungen auf (vgl. Abbildungen 4 und 5, Dimension Quelle). Demnach schätzten sie Biologen, Lehrer und Biologiebücher als zuverlässi-ge Quellen zur Informationsgewinnung ein. Dies ist möglicherweise dadurch erklärbar, dass die Schüler in der Schule häufig lernen, Angaben in ihrem Biologiebuch seien richtig. Sie arbeiten mit diesem und lesen Texte zur In-formationsgewinnung. Außerdem vertrauen sie auf die Auskünfte, die vom Lehrer vermittelt werden, und auf den Lehrer selbst, der ihnen bei Bedarf die richtigen Hinweise geben kann. Dies beeinflusst die Entwicklung epis-temologischer Überzeugungen. Die Fähigkeit zum kritischen Denken und Hinterfragen war folglich vor der Intervention vermutlich erst schwach entwi-ckelt. Innerhalb der durchgeführten Unterrichtseinheit wurde diese Fähigkeit mutmaßlich gefördert.

Beim Vergleich der in dieser Studie gewonnen Ergebnisse mit den Er-gebnissen, die Conley et al. (2004) in ihren Untersuchungen gewannen, wird deutlich, dass Conley et al. ebenfalls nur in den oben genannten Dimen-sionen Änderungen in die gewünschte Richtung nachweisen konnten. Sie vermuteten, dass das verwendete Testinstrument möglicherweise nicht sen-sibel genug sei, um Änderungen bezüglich der Dimensionen Entwicklung und Rechtfertigung zu detektieren. Darüber hinaus war die Reliabilität des Testinstruments bezüglich der beiden Dimensionen1 niedriger als in Bezug auf die Dimensionen Quelle (α = 0,81) und Sicherheit (α = 0,78). Aus diesem Grund besteht die Möglichkeit, dass der Test in den Dimensionen Entwick-lung und Rechtfertigung ungenau misst (vgl. Conley et al, 2004, S. 196 und S. 199). Die Entwicklung und Verwendung eines anderen Testinstruments scheint demnach eine weitere Möglichkeit für folgende Studien zu sein.

Die epistemologischen Überzeugungen zu Beginn der Intervention in den Dimensionen Quelle und Sicherheit in beiden Schülergruppen naiver als in den übrigen Dimensionen, so dass Entwicklungen hin zu den eher fortge-schrittenen Überzeugungen wesentlich einfacher zu erreichen waren. Darü-ber hinaus bestanden beide Schülergruppen aus lediglich 13 Schülern. Mit einer so kleinen Stichprobe sind nur sehr starke Veränderungen statistisch signifikant erfassbar. Da allerdings nur naturwissenschaftlich begabte Schü-ler aus Förderkursen untersucht wurden, konnte keine, größere Stichproben

1 Die Reliabilität wird mit einem Wert für Cronbachers α angegeben. Die folgen-den Werte gelten für das Originalinstrument von Conley et al. (2004) mit einer Stichprobe von 187 Fünftklässlern zum ersten Testzeitpunkt (vgl. Conley et al. S. 187 und S. 194): Dimension Rechtfertigung α= 0,65, Dimension Entwicklung α= 0,57.

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erzielt werden. Eine Wiederholung der Studie unter Einbezug einer Kontroll-gruppe erscheint lohnenswert.

Auf der Grundlage dieser Ergebnisse kann davon ausgegangen werden, dass die Überzeugungen bezüglich der Dimensionen Quelle und Sicherheit bei Fünftklässlern verhältnismäßig naiv sind. Das bedeutet, die Schüler se-hen Wissen als von Autoritäten übertragbar an und akzeptieren für jede Fra-ge lediglich eine Antwort als richtig. Beide Studien zeigten allerdings auch die Möglichkeit der Beeinflussbarkeit dieser Dimensionen in die intendierte Richtung.

Betrachtet man die Veränderungen der epistemologischen Überzeugun-gen bezüglich der einzelnen Dimensionen innerhalb der beiden Schülergrup-pen, so fällt auf, dass diese Entwicklungen unterschiedlich stark ausfallen. In Schülergruppe 1 wurde zu Beginn der Intervention ein Mittelwert von ca. 2 Punkten in der Dimensionen Quelle gemessen (vgl. Abbildung 4). Am Ende der Intervention lag dieser Mittelwert bei ca. 3 Punkten (vgl. Abbildung 4). Für die Dimension Rechtfertigung wurde zu beiden Testzeitpunkten ein Mit-telwert von 3,66 Punkten erhoben (vgl. Abbildung 4). Demnach kann die An-nahme der unabhängigen Dimensionen mit den gewonnenen Ergebnissen gestützt werden. Darüber hinaus fand in der Dimension Rechtfertigung in der Schülergruppe 2 ein leichter Rückschritt der epistemologischen Überzeu-gungen von 3,68 auf 3,61 Punkten statt (vgl. Abbildung 4). Die epistemolo-gischen Überzeugungen müssen sich dementsprechend nicht zwangsläufig von eher naiven zu eher fortgeschrittenen Überzeugungen entwickeln, son-dern eine Veränderung in die entgegengesetzte Richtung ist ebenfalls mög-lich. Besonders deutlich werden die verschieden starken Entwicklungen in die beiden unterschiedlichen Richtungen bei der Betrachtung der einzelnen Schülerantworten. So können 1,21 Punkte in die gewünschte Richtung bei Schüler 12 der Schülergruppe 2 in der Dimension Sicherheit, aber auch 0,96 Punkte Rückschritt bei Schüler 4 der gleichen Schülergruppe und Dimension erkannt werden (vgl. Abbildung 6). Diese Unterschiede in den Entwicklungen können beispielsweise durch den unterschiedlich starken Einfluss der durch-geführten Intervention auf die jeweiligen Schüler begründet sein. Die nicht gleichmäßigen Veränderungen der epistemologischen Überzeugungen wei-sen darauf hin, dass sich die Überzeugungen von Person zu Person unter-schiedlich entwickeln können. Dies bestätigt die Annahme aus der Theorie, dass epistemologische Überzeugungen keine stabilen Persönlichkeitsmerk-male sind, sondern sich stets bei jeder Person individuell entwickeln können (vgl. Richter, 2007, S. 115). Denkbare Faktoren, die diese Entwicklungen beeinflussen, sind außer- und auch innerschulische Faktoren. Dazu gehören unter anderem Erfahrungen, die die Schüler in ihrem spezifischen Umfeld

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machen, Begründungen für die Richtigkeit von Wissen, die sie in ihrer Um-welt „aufschnappen“, oder auch die Struktur des jeweiligen Faches. Diese Struktur kann beispielsweise eher Autoritäten oder eher aus Experimenten gewonnene Ergebnisse für die Quelle von Informationen akzeptieren. Diese Einflüsse sind im regulären Biologieunterricht, der freiwilligen Beschäftigung mit biologischen Inhalten, aber auch in anderen, nicht biologischen Situatio-nen vorhanden. Da die untersuchten Schüler aus unterschiedlichen Schulen kamen und in ihrer Freizeit aufgrund von spezifischen Umwelten verschie-dene Erfahrungen gemacht haben, sind unterschiedlich starke Veränderun-gen der epistemologischen Überzeugungen durchaus möglich. Temporäre Rückschritte können laut Muis durch einschneidende Erlebnisse wie einem Schulwechsel hervorgerufen werden (vgl. Muis, 2006, S. 40). Doch es be-steht ebenfalls die Möglichkeit, dass diese rückläufigen Entwicklungen le-diglich durch Zufall, die Tagesleistung oder temporäre Motivation und Kon-zentration des Schülers zu Stande kamen. All diese und weitere mögliche Einflussfaktoren wurden in der vorliegenden Studie weder erhoben noch in die Auswertung der Daten mit einbezogen. Aus diesem Grund kann die konkrete Ursache der Entwicklung der epistemologischen Überzeugungen nicht mit Sicherheit bestimmt werden. Ein ebenfalls nicht berücksichtigter Faktor war die Fehlzeit einzelner Schüler. Durch Klassenfahrten, Ausflüge oder auf Grund einer Erkrankung konnten nicht alle Schüler an allen Kurs-tagen teilnehmen. Diese vermuteten Einflussfaktoren müssen in weiteren Studien erhoben und ihr tatsächliches Einwirken auf die epistemologischen Überzeugungen untersucht werden. Darauf aufbauend können zuverlässi-gere Aussagen bezüglich der Einflussfaktoren auf die Entwicklung der vier Dimensionen der epistemologischen Überzeugungen gemacht werden.

Insgesamt lässt sich feststellen, dass sich die epistemologischen Über-zeugungen einer Person bezüglich der vier Dimensionen Quelle, Sicherheit, Entwicklung und Rechtfertigung unterschiedliche stark und in unterschiedli-che Richtungen ändern können. Signifikante Änderungen in die intendierte Richtung konnten während der handlungsorientiert gestalteten Intervention in den Dimensionen Quelle und Sicherheit nachgewiesen werden. Für die Di-mensionen Entwicklung und Rechtfertigung gelang dies den Autoren dieser Studie ebenso wie Conley et al. (2004) nicht. Allerdings kann die Ursachen des Fortschritts der epistemologischen Überzeugungen nicht mit Sicherheit der handlungsorientierten Gestaltung der Unterrichtseinheit zugeschrieben werden, wie die Verfasser der Arbeit auf der Basis der aktuellen Forschungs-lage vermuten.

In beiden Schülergruppen war vom ersten zum zweiten Testzeitpunkt ein signifikanter Wissenszuwachs (SG 1 um 28,23 %, SG 2 um 22%) zu

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verzeichnen. Dieser war auch sechs Wochen nach der Intervention noch nachweisbar bzw. genauso hoch wie zum zweiten Testzeitpunkt. Genau wie bei den epistemologischen Überzeugungen kann die Ursache des Lernfort-schritts nicht eindeutig der handlungsorientierten Gestaltung des Unterrichts zugewiesen werden. Dieses Problem könnte ebenfalls durch eine Kon-trollgruppe beseitigt werden. Darüber hinaus wäre es beispielsweise auf-schlussreich zu prüfen, wie viel des neu erworbenen Wissens die Schüler nach einer noch längeren Zeitspanne als die untersuchten sechs Wochen noch erinnern können.

Die „Erkenntnisgewinnung“ spielt, wie in der Einleitung bereits erwähnt, eine entscheidende Rolle im Schulalltag. In folgenden Untersuchungen wäre es demnach sinnvoll einen möglichen Zusammenhang zwischen epistemo-logischen Überzeugungen und dem Lernerfolg von Schülern zu untersu-chen. Würde dieser Zusammenhang bestätigt werden, gewönne die För-derung fortgeschrittener epistemologischen Überzeugungen entscheidend an Bedeutung. Können fortgeschrittenere epistemologische Überzeugungen tatsächlich durch handlungsorientierten Unterricht gefördert werden, sollte dieser im Schulalltag häufiger durchgeführt werden. Auch weitere Ursachen für die Entwicklung fortgeschrittener epistemologischer Überzeugungen soll-ten untersucht werden. So könnten möglicherweise die epistemologischen Überzeugungen des Lehrers einen Einfluss auf die epistemologischen Über-zeugungen der Schüler haben. Des Weiteren könnte untersucht werden, ob und auf welche Weise sich das Lernverhalten der Schüler mit fortgeschrit-tenen von dem der Schüler mit naiven epistemologischen Überzeugungen unterscheidet. Bieten sich Vorteile für Schüler mit fortgeschritteneren Über-zeugungen, wäre es wiederrum sinnvoll, diese in der Schule zu fördern.

Wie verdeutlich wurde, enthält der Forschungsbereich der epistemo-logischen Überzeugungen noch viele Aspekte, deren Untersuchung hohe Schulrelevanz aufweist. In diesem Bereich gewonnene Ergebnisse wirken sich auf den Schulalltag und die Unterrichtsgestaltung aus.

6 Literatur

– Conley, Anne Marie, Paul Pintrich, Ioanna Vekiri, Delena Harrison (2004): Changes in epistemological beliefs in elementary science students. In: Contemporary Educational Psychology 29, S.186–204.

– Muis, Krista R., Lisa D. Bendixen, Florian C. Haerle (2006): Domain-Gen-erality and Domain-Specificity in Personal Epistemology Research: Philo-sophical and Empirical Reflections in the Development of a Theoretical

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Framework. In: Springer Science+Business Media. – Richter, Tobias (2007). Epistemologische Einschätzungen beim Text-

verstehen, erschienen bei Pabst Science Publishers, Lengerich, S.109–117.

– Richter, Tobias, Sebastian Schmidt (2009): Epistemological be-liefs and epistemic strategies in self-regulated learning. In: Springer Science+Business Media. S. 47–65.

– Trautwein, Ulrich, Oliver Lüdtke, Beate Beyer (2004): Rauchen ist tödlich, Computerspiele machen aggressiv? Allgemeine und theorienspezifische epistemologische Überzeugungen bei Studierenden unterschiedlicher Fachrichtungen. In: Zeitschriften für Pädagogische Psychologie. S. 187–199.

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Das Experiment im Fokus der fachdidaktischen ForschungClaas Wegner, Sven Grügelsiepe & Andreas Dück

1 Einleitung

„Es wäre aus pädagogischer Perspektive eine Tragödie, falls das Aus-schöpfen der Lernpotentiale Begabter ausgerechnet an ihrer man-gelnden Feinmotorik scheitern sollte.“1

Die Begabtenförderung nimmt einen immer wichtiger werdenden Stellenwert in unserer Gesellschaft ein. Das Bildungsministerium für Bildung und For-schung (BMBF) richtete anlässlich dieser Situation einen eigenen Zweig für die Begabtenförderung ein2, Stiftungen unterstützen die Förderung finan-ziell (z.B. Konrad-Adenauer-Stiftung, Karg-Stiftung, Familie-Osthushenrich-Stiftung)3 und Vereine vernetzen die Einrichtungen, um den talentierten Nachwuchs zu fördern (z.B. ABB, MINT-EC)4. Das Hauptaugenmerk dieser Institutionen liegt auf der Förderung der Begabungsbereiche: Naturwissen-schaften, Musik, Sprachen etc. Dieser Wandel sorgte dafür, dass Begleiter-scheinungen der Begabung immer mehr aus dem Blick verschwanden. Das eingehende Zitat macht deutlich, dass als Begleiterscheinung beispielsweise die motorischen Fertigkeiten der Begabten nicht außer Acht gelassen wer-den dürfen. Die begabten Kinder erleben häufig eine Diskrepanz zwischen ihrem kognitiven Stand und ihrer Feinmotorik, da die Motorik „nur“ altersent-sprechend ist.5 Dies kann zu negativen Konsequenzen bei den Begabten führen, sodass Ziegler et. al. (2008) den Zusammenhang von motorischen Defiziten und Underachievement untersuchten. Die Begabung bildet somit einerseits ein hohes positives Potential, andererseits ein negatives Potenzi-al, wenn der Begabte nicht ganzheitlich betrachtet und gefördert wird.

An dieser Stelle setzt das Forschungsvorhaben der vorliegenden Studie an. Das Projekt Kolumbus-Kids fördert naturwissenschaftlich begabte Schü-lerinnen und Schüler, indem diese für den Zeitraum eines Jahres einmal in der Woche in die Universität Bielefeld kommen und mit ihnen handlungs-orientierter Unterricht (z.B. lebende Tiere, Experimente) durchgeführt wird.

1 Ziegler et al., 2008, S. 63–64.2 Bundesministerium für Bildung und Forschung, 2011.3 Konrad-Adenauer-Stiftung, 2012; Karg-Stiftung, 2012, Familie-Osthushenrich-

Stiftung, 2012.4 ABB, 2011; MINT-EC, 2012.5 Igel, 2008, S. 127; Wolter, 2009, S. 187; Ziegler et al., 2008.

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Diese Studie untersucht, ob durch naturwissenschaftliche Experimente, die in den Unterricht eingebunden sind, die motorischen Fertigkeiten der Begab-ten auf lange Sicht gefördert werden können, um der Diskrepanz zwischen der Kognition und der Feinmotorik bei den begabten Kindern entgegenzu-wirken.

2 Theorie

2.1 Motorische Fertigkeiten im handlungsorientierten Unterricht

Die Bedeutung der motorischen Fertigkeiten spielt in der Schule nicht nur im Hinblick auf das Schreiben eine Rolle. Ein handlungsorientierter Unterricht, wie er von Didaktikern1 und dem Schulministerium im Kernlehrplan verlangt wird2, erfordert neben der kognitiven Leistung die motorischen Fertigkeiten. Die Definition von Jank & Meyer (2009) beschreibt handlungsorientierten Unterricht als

„ein[en] ganzheitliche[n] und schüleraktive[n] Unterricht, in dem die zwischen dem Lehrer und den Schülern vereinbarten Handlungspro-dukte die Gestaltung des Unterrichtsprozesses leiten, sodass Kopf- und Handarbeit der Schüler in ein ausgewogenes Verhältnis zueinan-der gebracht werden können“3

Die Handlung enthält somit kognitive Elemente – wie das Abwägen, die Prozesssteuerung und die Ergebnisbewertung – und praktische Tätigkeiten – z.B. das Herstellen von Lösungen, das Aufbauen von Versuchsappara-turen und Kultivieren von Bakterienstämmen.4 Im Projekt „Kolumbus-Kids“ wird die Förderung von begabten Schülerinnen und Schülern auf die Hand-lungsorientierung ausgerichtet, indem viele Experimente durchgeführt und Erfahrungen mit lebenden Tieren und der Natur gemacht werden.5 Durch diese Maßnahmen soll die intrinsische Motivation der Begabten gestei-gert und das Interesse für die Naturwissenschaften geweckt werden. Das schnelle Erfassen von Fragestellungen und Phänomenen in der Natur, das kreative Finden von möglichen Antworten und die präzise Entwicklung von Wegen zur Verifizierung bzw. Falsifizierung der Antworten gehört aufgrund

1 Vgl. Jank, Meyer, 2009; Gudjons, 2008; Koch, 2007; Köhler, 2006a.2 Vgl. Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen,

2008.3 Jank, Meyer, 2009, S. 315.4 Vgl. Köhler, 2006a, S. 132.5 Vgl. Wegner, 2008, S. 29.

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ihrer hohen kognitiven Fähigkeiten sicher zu den Stärken der begabten Schülerinnen und Schüler. Doch stoßen sie bei der praktischen Umsetzung auf feinmotorische Schwierigkeiten, da sie eine Diskrepanz zwischen ihren geistigen Fähigkeiten und der „nur“ altersentsprechenden Motorik erleben.1 Eine Nichtbeachtung dieses Problems kann zu einem weiteren Ansteigen der Diskrepanz und zu Schwierigkeiten in der Begabtenförderung führen. Ziegler et. al. (2009) untersuchten den Zusammenhang von feinmotorischen Defiziten und Underachievement. Sie fanden heraus, dass Achiever, d.h. be-gabte Schülerinnen und Schüler mit erwartungskonformen Schulleistungen, bei feinmotorischen Aufgaben besser abschneiden als Underachiever, die trotz ihrer Begabung erwartungswidrige Schulleistungen aufweisen.2 Zudem neigen die Schülerinnen und Schüler mit Defiziten in der Feinmotorik dazu, weniger Vertrauen in ihre Fähigkeiten zu haben.3 Im naturwissenschaftlichen Unterricht könnten sich diese Kinder bei experimentellen Phasen zurückzie-hen, weil sie befürchten, etwas falsch zu machen. Daraus folgt die Notwen-digkeit, die feinmotorischen Defizite zu beseitigen, indem durch Förderpro-gramme die Feinmotorik trainiert wird.4 Die Lebensjahre von 10–13 gelten als „ein erster Höhepunkt in der motorischen Entwicklung […] und generell als eine Phase der besten motorischen Lernfähigkeit in der Kindheit“5. In diesem Alter haben die Kinder gut entwickelte konditionelle und besonders koordinative Fähigkeiten, Beobachtungsfähigkeiten und ein ausgeprägtes Interesse etwas zu können.6 Dies ermöglicht ihnen manche Bewegungsfor-men schnell und erfolgreich zu erlernen.

Da das Projekt Kolumbus-Kids besonders die Förderung von Schülerin-nen und Schülern der 4.–6. Klasse in den Blick genommen hat, findet auf-grund der hohen Relevanz der Motorik in diesem Alter die motorische Förde-rung ebenfalls ihre Bedeutung im handlungsorientierten Unterricht.

Da das motorische Lernen nahezu ausschließlich in der Sportwissen-schaft Beachtung findet, soll ein sportmotorischer Ansatz auf die Förderung der motorischen Fertigkeiten in den Naturwissenschaften im nächsten Kapi-tel skizziert und übertragen werden.

1 Vgl. Igel, 2008, S. 127.2 Vgl. Ziegler et al., 2008, S. 62.3 Vgl. ebd. S. 60 f.4 Vgl. ebd. S. 63.5 Winter, Hartmann, 2007, S. 300.6 Vgl. ebd. S. 303.

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2.2 Förderung von motorischen Fertigkeiten – ein sportmotorischer Ansatz

In der Sportmotorik wurde eine Vielzahl von Strategien und Trainings ent-wickelt, um die motorischen Fertigkeiten weiter zu entwickeln und zu för-dern – z.B. Stabilisierungstraining, Automatisierungstraining, Variations- und Anpassungstraining.1 Motorische Fertigkeiten werden folgendermaßen de-finiert:

„Spezifische, relativ gefestigte koordinative Leistungsvoraussetzung zur motorischen Realisierung einer Handlung oder Teilhandlung ohne bewusste Steuerung und Regelung, d.h. scheinbar automatisch. Sie muss in der Regel in einem längeren Lern- bzw. Übungsprozess er-worben werden.“2

Dieses Zitat verdeutlicht, dass die motorischen Fertigkeiten ausschlag-gebend für die motorischen Handlungen sind und über einen längeren Zeit-raum eingeübt werden müssen. Doch wie können motorische Fertigkeiten im naturwissenschaftlichen Bereich erlernt oder gefördert werden? Was ver-steht man unter dem Begriff des „motorischen Lernens“? Im Hinblick auf die ausgeprägte Zunahme der koordinativen Fähigkeiten im Schulkindalter3 wird im Folgenden erläutert, wie durch motorisches Lernen die motorische Fertigkeit der Koordination der Hände im Rahmen des naturwissenschaftli-chen Unterrichts gefördert werden kann.

Motorisches Lernen bedeutet in keiner Weise, dass dieses losgelöst von den geistigen Fähigkeiten der Schülerinnen und Schüler geschieht. Die geis-tigen Fähigkeiten stehen vielmehr in einer Wechselbeziehung zu den moto-rischen Fertigkeiten, insbesondere, wenn es um das Erfassen komplizierter Bewegungen geht und darum, sich selbst zu beobachten und zu korrigie-ren.4 Nach der Definition von Bös & Mechling (2003) nimmt die Informations-verarbeitung eine wichtige Rolle beim motorischen Lernen ein:

„In Anlehnung an allg. Lerndefinitionen kann mot. Lernen als jede bewegungsbezogene, umgebungsbezogene und überdauernde Ver-haltensänderung verstanden werden, die als Folge einer individuellen (systemeigenen) Informationsverarbeitung eintritt.“5

1 Vgl. Wollny, 2007, S. 181 ff.2 Schnabel et al., 2007, S. 150.3 Vgl. Wollny, 2007, S. 229.4 Vgl. Schnabel et al., 2007, S. 208.5 Bös, Mechling, 2003, S. 382.

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Der kognitive Schritt des motorischen Lernens wird den Begabten auf-grund ihrer hohen kognitiven Fähigkeiten nicht besonders schwer fallen. Sie begreifen die erforderlichen Bewegungen schnell – z.B. dass es bei dem Anfertigen eines Präparats für das Mikroskop entscheidend ist, keine Luft-bläschen unter dem Deckglas zu haben.

Das Dreistufenmodell von Fitts & Posner (1967) umfasst drei Phasen, die während des motorischen Lernens durchlaufen werden. Die Phasen lassen sich auf die motorische Fertigkeit der Koordination der Hände anwenden und somit auf den naturwissenschaftlichen Unterricht übertragen:

– Kognitive Phase (frühe Phase), – Assoziative Phase (mittlere Phase) und – Autonome Phase (finale Phase)1.

In der kognitiven Phase werden, wie bereits beschrieben, die Bewegun-gen erfasst und Strategien zur Ausführung gedanklich entwickelt. Um bei dem Beispiel des Präparats zu bleiben, wird an dieser Stelle seine Anferti-gung bei anderen Schülerinnen und Schülern oder bei der Lehrperson beob-achtet und Strategien erarbeitet – wie das schräge Anlegen des Deckglases an den Wassertropfen auf dem Objektträger und das vorsichtige Ablegen des Deckglases. In der assoziativen Phase wird die Konzentration auf die detaillierte Bewegungsausführung gelegt. Es werden einige Präparate her-gestellt und die Bewegung bei diesem Ablauf eingeübt. In der autonomen Phase laufen die Bewegungen automatisiert und ohne bewusste Aufmerk-samkeit ab. Die Person kann das Präparat herstellen und sich nebenbei noch mit den anderen Schülerinnen und Schülern unterhalten.

Die Stufenmodelle in der Sportmotorik, von denen noch weitere existie-ren, z.B. Pöhlmann (1986), Lehnertz (1991), Roth (1990), Cratty (1966), Mei-nel & Schnabel (1987), stehen in der Kritik, da sich die Stufen in der Praxis nicht klar voneinander trennen lassen.2 Das vorgestellte Stufenmodell bietet allerdings einen guten gedanklichen Ansatz, der Parallelen zum handlungs-orientierten Unterricht aufweist. Das kognitive Element des handlungsorien-tierten Unterrichts zeichnet sich in der kognitiven Phase des Modells ab und die praktische Tätigkeit im Unterricht bildet die Parallele zu der motorischen Phase (assoziative und autonome Phase) des Modells. Das Modell eignet sich darüber hinaus als praktische Anleitung, die deutlich macht, dass die kognitive Auseinandersetzung und die bewegungswiederholende Übung wichtig sind, um eine automatisierte Bewegung zu erreichen und somit die motorischen Fertigkeiten zu fördern.

1 Vgl. Birklbauer, 2006, S. 337.2 Vgl. ebd. S. 330-346.

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Ein wichtiger Aspekt im Lernen von motorischen Prozessen ist der, dass Lernergebnisse von der Persönlichkeit mitbestimmt werden. Ein ehrgeizi-ger Charakter wird demnach von sich aus motiviert sein, Bewegungsabläu-fe auch bei Misserfolg zu wiederholen, wohingegen eine Person mit wenig Selbstvertrauen nach häufigem Scheitern aufgeben würde. Deswegen ist darauf zu achten, nicht nur die motorischen Fertigkeiten, sondern die weite-ren Seiten der Persönlichkeit in die pädagogische Führung einzubeziehen.1 In Anbetracht der Begabung der Schülerinnen und Schüler im Projekt Kolum-bus-Kids bedeutet dies, dass die Übungen einen entsprechenden kognitiven Anspruch haben sollten. Dieser sollte sich nicht auf die kognitive Phase des motorischen Lernens beschränken, sondern den gesamten kognitiven Kon-text umfassen. Bei dem Herstellen eines Präparats soll es demnach nicht nur um die richtige Strategie für das Deckglas gehen, sondern hauptsächlich um das Objekt, das untersucht wird. „Was ist zu erkennen? Wie lässt sich unsere Fragestellung beantworten?“ Die motorische Übung erfolgt nebenbei und integriert in den fachlichen Unterricht.

Eine geeignete Methode, wie dies im naturwissenschaftlichen Unterricht geschehen sollte, ist das Experimentieren. Dies bedingt die Förderung der motorischen Fertigkeit durch die Koordination der Hände im fachlichen Kon-text.

2.3 Motorisches Lernen durch Experimente

Experimente spielen im naturwissenschaftlichen Unterricht eine große Rolle – sowohl zur Veranschaulichung als auch in der Erkenntnisgewinnung.2 Im Sinne des handlungsorientierten Unterrichts sollten die Schülerinnen und Schüler Experimente selbstständig planen, durchführen und auswerten.3 Auf diese Weise wird die motorische Durchführung des Experiments von der kognitiven Planung und Auswertung umrahmt und stellt eine hervorragende Möglichkeit dar, in der Handlungsorientierung die motorischen Fertigkeiten zu fördern.

Berck & Graf (2010) weisen darauf hin, dass durch Experimente die technischen Fähigkeiten der Schülerinnen und Schüler verbessert werden. „Längeres Training im Experimentieren, der Überblick über verschiedene technische Möglichkeiten und Kenntnis spezifischer Apparate“4 erhöhen die Fähigkeiten, die für das Experimentieren notwendig sind. In Anlehnung an

1 Vgl. Schnabel et al., 2007, S. 211.2 Vgl. Köhler, 2006b, S. 152.3 Vgl. ebd. S. 154.4 Berck, Graf, 2010, S. 172.

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das Dreistufenmodell des motorischen Lernens führt das längere Training in der assoziativen Phase zu verbesserten motorischen Fertigkeiten.

Für begabte Kinder ist das Experimentieren ein guter Weg, die Feinmo-torik zu fördern und somit Defizite in den motorischen Fertigkeiten aufzuar-beiten.1 Im Projekt Kolumbus-Kids kommen die Schülerinnen und Schüler schuljahresbegleitend jede Woche in die Universität Bielefeld und können somit kontinuierlich in ihrer Begabung und ihren motorischen Fertigkeiten gefördert werden. Das Projekt umfasst Kurse mit Schülerinnen und Schü-lern der 4., 5., 6. Klasse und der Einführungsphase des Abiturs. Die Teil-nehmer des Projektes haben die Möglichkeit, in die weiteren Kurse erneut einzusteigen, wodurch die Fertigkeiten aufgrund der zunehmenden Kom-plexität optimiert werden können. Beispielsweise könnten die Kurse der Se-kundarstufe I Präparate von Blattquerschnitten anfertigen, wohingegen die Oberstufen-Kurse zusätzlich verschiedene Färbemethoden einsetzen, um unterschiedliche Strukturen hervorzuheben. Das im Folgenden beschriebe-ne Studienkonzept untersucht, inwieweit sich die Experimente auf die moto-rischen Fertigkeiten und kognitiven Fähigkeiten der Schülerinnen und Schü-ler ausgewirkt haben.

3 Vorstellung des Forschungsvorhabens

3.1 Einleitung

Die Entwicklung der motorischen Fertigkeiten wird innerhalb des Projektes Kolumbus-Kids mithilfe von fünf Experimenten (Experimentierkits), die je-weils zu Beginn und zum Schluss eines Kurshalbjahres mit den einzelnen Kursen durchgeführt werden, überprüft. Die Ergebnisse der Experimente2 werden gesammelt, Selbsteinschätzungen von unterschiedlichen Schritten der Experimente erfasst und Deutungen der Experimente von den Schüle-rinnen und Schülern erhoben. Da das Projekt Kolumbus-Kids vier verschie-dene Jahrgangsstufen umfasst, wurden zwei verschiedene Experimentier-kits mit jeweils fünf Experimenten entwickelt, um dem unterschiedlichen Entwicklungsstand gerecht werden zu können.3

1 Vgl. Wolter, 2009, S. 187.2 z.B.: Nachmessen der pH-Werte nach Erstellung einer Verdünnungsreihe mit

pH-Wert ändernden Substanzen, Fotografien der angefertigten Schnittpräpara-te, Sammlung hergestellter Objekte (z.B. Reagenzgläser, Wasserkarussell).

3 Experimentierkits Primarstufe, Sekundarstufe I: 4., 5. und 6. Jahrgangsstufe; Experimentierkits Sekundarstufe II: 10. Jahrgangsstufe.

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3.2 Die Datenerhebung

Alle Experimente werden in Einzelarbeit durchgeführt und benötigen insge-samt 60–70 Minuten Bearbeitungszeit. Die einzelnen Experimente werden vor Beginn der Stunde in Form von Stationen aufgebaut, an denen je nach Experiment 2–6 Schülerinnen und Schüler in Einzelarbeit experimentieren können (Abbildung 1).

Dazu erhalten sie zu Beginn der Stunde für jedes Experiment eine Versuchs-anleitung und einen Auswertungsbogen. Der Auswertungsbogen beinhaltet verschiedene Aufgaben und Fragen, die eine genaue Beobachtung und Deu-tung der Vorgänge, eine Abfrage des Ablaufs während des Experimentes, eine Selbsteinschätzung über das Gelingen der eigenen Handlungen und ihre fachlichen Fähigkeiten erfordern. Zum besseren Verständnis werden im darauf folgenden Kapitel zwei beispielhafte Experimente vorgestellt und im Anschluss die Messverfahren zur Datenerhebung präsentiert.

3.3 Beispielexperimente der Experimentierkits

3.3.1 Beispielexperiment der Experimentierkits Primarstufe und Sekundarstufe I – Der schwebende Tintenfleck

Der vorgestellte Versuch wurde für Schülerinnen und Schüler der 4., 5. und 6. Jahrgangsstufe im Rahmen des Projektes Kolumbus-Kids entwickelt. Es ist einer von fünf Experimenten, die zur Überprüfung der motorischen Fähig-keiten und kognitiven Fertigkeiten innerhalb des Projektes Kolumbus-Kids eingesetzt werden. Im Mittelpunkt dieses Versuches steht das Verhalten ei-

Abb. 1: Darstellung der unterschiedlichen Stationen innerhalb der entwickelten Ex-perimentierkits. Die Bearbeitung der Stationen erfolgt in beliebiger Reihenfolge.

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ner gefärbten Flüssigkeit (Tinte) in unterschiedlichen Flüssigkeiten (Wasser, Öl). Dabei bestimmt das Maß der Hydrophilie/Hydrophobie der gefärbten Flüssigkeit ihr Verhalten maßgeblich. Die Schülerinnen und Schüler sollen das „Verhalten“ der Tinte in zwei verschiedenen Szenarien untersuchen und ihre Beobachtungen notieren. Reagenzglas 1 wird bis zur obersten Markie-rung mit Wasser gefüllt, wohingegen Reagenzglas 2 zu 2/3 mit Wasser und zu 1/3 mit Öl gefüllt wird. Im Folgenden soll ein Tropfen Tinte auf die Was-seroberfläche in Reagenzglas 1 getropft werden. Abweichungen von der Versuchsbeschreibung, wie eine niedrigere Tropfhöhe1 (Abbildung 2.b), das Verfehlen des Mittelpunktes der Wasseroberfläche (Abbildung 2.c) oder eine geringe Variationen der Anzahl der Tropfen (Abbildung 2.d) führen im Re-gelfall zu ähnlichen Ergebnissen – der Tintentropfen zerstreut sich in Form dünner Schichten während dieser herabsinkt (Abbildung 2).

Die Vorgänge in Reagenzglas 2 werden sich bei unterschiedlicher Durch-führung allerdings durchaus unterscheiden. So entscheidet die Höhe, von der der Tintentropfen auf die Öloberfläche trifft, darüber, ob der Tropfen inner-halb der Ölschicht nach unten sinkt oder an der Oberfläche bleibt (Abbildung

1 Dieser Fall tritt ab einem Abstand zur Wasseroberfläche > 1,5 cm ein.

Abb. 2: Mögliche Abweichungen von der Versuchsdurchführung für Reagenzglas 1 (Wasser) ändern die zu beobachtenden Vorgänge nicht maßgeblich. (Aufnahme der

Fotos 10 Sekunden nach pipettieren des Tintentropfens)

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3.b). Je weiter entfernt der Tintentropfen vom Mittelpunkt der Öloberfläche entfernt ist, desto wahrscheinlicher wird dieser mit der inneren Reagenz-glaswand in Verbindung kommen (Abbildung 3.c). Werden mehrere anstatt eines Tropfens pipettiert, so werden sich in der Ölschicht in der Regel auch mehrere Tropfen bilden (Abbildung 3.d) oder sich zu einem vergrößerten Tintentropfen verbinden (Abbildung 3.e). Wenn der Versuch nach Anleitung durchgeführt wird, so wird der Tintentropfen in der Ölschicht eingeschlossen, sinkt auf den Boden der Ölschicht und scheint dort zu schweben (Abbil-dung 3.a). Um diesen Versuchsausgang zu erzielen, ist es erforderlich, die Einwegpipette ab einer Höhe von 1,5 cm über die Mitte der Öloberfläche zu halten und genau so viel Druck auf den Druckbehälter auszuüben, dass sich ein Tropfen löst.

3.3.2 Beispielexperiment der Experimentierkits Sekundarstufe II – Pufferherstellung

Im Folgenden wird eines von fünf Experimenten vorgestellt, welche die Ent-wicklung der motorischen Fähigkeiten im Rahmen des Projektes Kolumbus-Youth bei Schülerinnen und Schülern der Einführungsphase des Abiturs überprüfen sollen.

Abb. 3: Unterschiedliche Versuchsausgänge, bei Abweichungen von der Versuchs-durchführung in Reagenzglas 2 (Wasser, Öl). (Aufnahme der Fotos 10 Sekunden

nach pipettieren des Tintentropfens)

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In Anlehnung an die Herstellung von Puffern im Bereich der Biologie und Chemie sollen die Schülerinnen und Schüler mithilfe einer basischen (Natriumhydroxid-Lösung) und einer sauren (Salzsäure-Lösung) Lösung nacheinander zwei unterschiedliche pH-Werte einstellen. Dazu haben sie zwei Einwegpipetten und ein pH-Meter (All-Chem-Misst II) zur Verfügung. Mithilfe des pH-Meters können die pH-Wert Änderungen kontinuierlich auf-gezeichnet werden (Abbildung 4). Die Schülerinnen und Schüler müssen da-bei berücksichtigen, welche Menge der beiden Lösungen den pH-Wert wie stark verändert. Da zum Pipettieren lediglich Einwegpipetten zur Verfügung stehen, entscheidet der Druck, den sie auf den Druckbehälter der Pipette ausüben, über die Menge an pipettierter Lösung. Durch die kontinuierlichen Aufzeichnungen der pH-Wert Änderungen kann im Nachhinein die Fähigkeit beurteilt werden, abschätzen zu können, wie hoch die benötigte Menge an Lauge/Säure ist und inwieweit ein entsprechender Druck auf die Pipette aus-geübt werden kann.

3.4 Darstellung des Messinventars

Sowohl die Experimente aus dem Primar- und Sekundarstufen I Bereich, als auch die des Sekundarstufen II Bereiches setzen sich aus motorischen und im Zusammenhang mit fachlichen Erkenntnissen stehenden kognitiven Auf-gaben und Fragen zusammen. Es soll sich bei den Experimentierkits nicht um eine vom experimentellen Kontext losgelöste Überprüfung motorischer Fertigkeiten handeln, um möglichst „realistische Experimentiersituationen“ schaffen zu können. Wie in Kapitel 2.2. dargestellt, handelt es sich bei der motorischen Durchführung von Experimenten um eine Wechselbeziehung zwischen geistigen Fähigkeiten und motorischen Fertigkeiten. Dies ist in der Erfassung der erforderlichen motorischen Schritte und der Möglichkeit,

Abb. 4: Versuchsaufbau – Station C: Pufferherstellung

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seine eigenen motorischen Handlungen zu reflektieren und gegebenenfalls anzupassen, begründet.1 Folglich handelt es sich bei der motorischen Da-tenerhebung um Daten, die in Verbindung mit den geistigen Fähigkeiten zu sehen sind. Inwieweit die geistigen Fähigkeiten, die in Kombination mit den motorischen Fertigkeiten wirken, entwickelt sind, lässt sich aus der Reflekti-on und Beurteilung der eigenen Handlungen ableiten.

Im Bereich der „motorischen Datenerhebung“ haben die Schülerinnen und Schüler die Aufgabe, ihre Fertigkeiten in Bezug auf die durchzufüh-renden Handlungsschritte zu reflektieren und zu beurteilen (Abbildung 5). Zusätzlich werden jegliche messbare Ergebnisse festgehalten und vom Versuchsleiter mit den Aussagen der Schülerinnen und Schüler verglichen2 (Vier-Augenprinzip3).

Die „kognitive Datenerhebung“ erfordert von den Schülerinnen und Schü-lern das Erschließen fachlicher Erkenntnisse im Zusammenhang mit den Experimenten (Abbildung 6) und die Reflexion und Beurteilung dieser. An dieser Stelle greift ebenfalls das Vier-Augenprinzip. Zusätzlich haben die

1 Vgl. Schnabel et al., 2007, S. 208.2 z.B.: Nachmessen der pH-Werte nach Erstellung einer Verdünnungsreihe mit

pH-Wert ändernden Substanzen, Fotografien der angefertigten Schnittpräparate oder hergestellter Objekte (z.B. Reagenzgläser mit Wasser, Öl und Tinte, Was-serkarussell aus Plastikbechern, Knete und Strohhalmen)

3 Objektive Kontrolle der Aussagen der Schülerinnen und Schüler anhand mess-barer Daten oder fachlicher Aussagen.

Abb. 5: Ausschnitt aus dem Frage- und Aufgabenteil von Station A: Der schweben-de Tintenfleck für die Primar- und Sekundarstufe I. Frage 4 erfordert eine Beurtei-lung des Anforderungsgrades der durchgeführten Handlung. Bei Frage 5 ist eine

Reflexion der eigenen Handlung erforderlich.

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Versuchsteilnehmer die Aufgabe, an geeigneten Stellen1 ihre Vorgehens-weise zu reflektieren.

Abb. 6: Ausschnitt aus dem Frage- und Aufgabenteil von Station A: Der schwe-bende Tintenfleck für die Primar- und Sekundarstufe I. Frage 2 und 3 stehen im

Zusammenhang mit dem Erlangen und/oder Begründen fachlicher Erkenntnisse in Bezug auf das durchzuführende Experiment.

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Hilfe, NRW hat das achtjährige Gymnasium!

Welche Chancen und Risiken hat dies zur Folge?

Claas Wegner, Andreas Dück & Christoph Perleth

Abstract

Die Umstellung des Gymnasiums auf acht Jahrgänge ist eine gra-vierende Veränderung im deutschen Schulsystem. Die vorliegende Studie untersucht, welche Auswirkungen diese Umstellung auf die kognitiven Fähigkeiten und die emotionalen Merkmale (Interesse, Motivation) der Schüler in zwei Gymnasien in Nordrhein-Westfalen hat. Im Design lehnt sich die Untersuchung an Hellers (2002) Längs-schnittstudie an, in der die Förderung von begabten Schülern1 durch G8 in Baden-Württemberg untersucht wurde. Die ersten Ergebnisse der Studie zeigen, dass die Umstellung auf das achtjährige Gymnasi-um keine negativen Folgen auf die kognitiven Fähigkeiten der Schüler hat. Doch ließ sich eine Beeinträchtigung in dem Interesse und der intrinsischen Motivation der Schüler feststellen.

1 Einleitung

„Die Umstellung auf das achtjährige Gymnasium und damit die Ab-schaffung des 13. Schuljahrs, die derzeit in vielen Bundesländern erfolgt, gehört neben der Reform der gymnasialen Oberstufe zu den wichtigsten Veränderungen am Gymnasium der vergangenen Jahrzehnte.“2

In dieser Veränderung werden weitreichende Konsequenzen sowohl posi-tiver als auch negativer Art gesehen. Deswegen gilt es die Umstellung von dem neunjährigen auf den achtjährigen Bildungsgang zu evaluieren.

In der Presse ist oft thematisiert worden, dass die Schüler durch die Um-stellung weniger Zeit für die Familie und außerschulische Aktivitäten haben.3 Die gymnasiale Schulbildung wurde um ein Jahr gekürzt, doch ist die Ge-samt-Wochenstundenzahl bis zum Abitur beibehalten worden. Somit besteht

1 Zur leichteren Lesbarkeit werden Personenbezeichnungen in der maskulinen Form verwendet. Sie beziehen sich auf Personen beiderlei Geschlechts.

2 Trautwein, Neumann, 2008, S. 483.3 Eine Auswahl von Artikeln aus Zeitungen und Zeitschriften sind: Die Zeit (Schol-

ter, 2008; Sußebach, 2011), Neue Westfälische (Reker, 2009), Der Spiegel (Friedmann, Noack, Verbeet, 2011), Spiegel Online (Wiesigel, 2008) und Focus Online (Tutmann, 2011).

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die Gefahr, dass einige Schüler Schwierigkeiten mit der Verdichtung und Beschleunigung des Unterrichts haben und ihre kognitiven Fähigkeiten nicht optimal gefördert werden. Andererseits bietet der akzelerierte Unterricht für starke Schüler eine Chance, die Inhalte schneller zu erschließen und somit motivierter für neue Themen zu sein. Diese Chancen und Risiken von G8 und die hieraus resultierenden Konsequenzen der Umstellung auf die kogni-tive Entwicklung und das emotionale Erleben der Schüler im Unterricht soll mit der folgenden Studie näher beleuchtet werden.

Aus politischer Sicht war die Umstellung auf G8 nötig, da die Ausbil-dungszeit in Deutschland verkürzt werden musste. Die Kritik an dem alten Bildungsgang bestand darin, dass die Absolventen erst in einem „hohen“ Alter in den Beruf einsteigen konnten1 und die Ausbildungszeit im internati-onalen Vergleich in Deutschland sehr lang war.2 Aus diesem Grund wurden Wege gesucht die Absolventen früher in den Beruf zu entlassen. Da das Gymnasium als ‚Zulieferer‘ für das Universitätsstudium gilt,3 sah man in der Umstellung des Abiturs von 13 auf 12 Jahre und in der Umstellung der ‚al-ten‘ Studiengänge auf Bachelor- und Masterstudiengänge einen wichtigen Schritt, die Ausbildungszeit zu verkürzen.4 Zunächst kann bestätigt werden, dass dieses Ziel erreicht wurde. Für die Schüler bedeutet dies einen frühe-ren Einstieg in den Beruf, doch birgt diese Verkürzung die Gefahr in sich, dass eine ausführliche Förderung der kognitiven Fähigkeiten zu kurz kommt und dass das emotional-motivationale Erleben der Schüler im Unterricht da-runter leidet. Die vorliegende Studie möchte mit ihren Ergebnissen einen Beitrag zu diesen Annahmen leisten.

2 Konsequenzen von G8

Die größte Befürchtung hinsichtlich der Umstellung von G9 auf G8 liegt in der höheren zeitlichen Belastung der Kinder bzw. Jugendlichen. Denn „die Einführung des achtjährigen Gymnasiums bedeutet eine geraffte Schulzeit, einen volleren Wochenstundenplan und komprimiertere und damit erhöhte Lernanforderungen“.5 In einer Umfrage von 2007 lehnten 57% der Befragten die Verkürzung ab; differenziert gesehen lehnten Befragte mit Kindern die Verkürzung häufiger ab als Befragte ohne Kinder, da sie eine Überbelastung

1 Vgl. Altner, 2007, S. 493.2 Vgl. Trautwein, Neumann, 2008, S. 483.3 Vgl. Moegling, 2000, S. 17.4 Vgl. Trautwein, Neumann, 2008, S. 483.5 Bosse, 2005 (Internetquelle).

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ihrer Kinder befürchteten.1 Zudem zeigte eine Studie, die 2008 im Auftrag der Landeselternvertretung im Saarland mit 1.720 Schülern durchgeführt wurde, dass die G8-Schüler mit den Leistungsanforderungen schlechter zu-rechtkommen, mehr Zeit für das Lernen und Nachhilfe benötigen als die Schüler des neunjährigen Gymnasiums.2 Demzufolge haben G8-Schüler weniger Zeit für Extra-Engagements, wie beispielsweise für das Tanzen in Vereinen3 oder für die Teilnahme an Wettbewerben wie „Jugend forscht“.4 Auch das Familienleben leidet unter dem höheren Zeitaufwand in der Schule und den Hausaufgaben, da kaum noch Zeit für das Zusammensein mit El-tern und Geschwistern bleibt.5

Diesen Defiziten sollte in Nordrhein-Westfalen mit einigen Maßnahmen (Fördermaßnahmen, „Über-Mittag-Betreuung“, Ergänzungsstunden) entge-gengewirkt werden. Entgegen der Befürchtung, dass durch den zeitlichen Druck im achtjährigen Gymnasium die Motivation der Schüler sinkt, könnten diese Maßnahmen zur Förderung der kognitiven Fähigkeiten und dem Erhalt bzw. der Steigerung der Motivation und des Interesses beitragen. Dies soll in der Studie in der Weise geprüft werden, dass der G8-Bildungsgang mit dem G9-Bildungsgang hinsichtlich dieser Aspekte verglichen wird.

Im Vergleich beider Bildungsgänge wird deutlich, dass die Schüler des achtjährigen Gymnasiums ein höheres Stundenaufkommen in der Woche haben, was dazu führen kann, dass weniger Zeit für Familie und Freizeit bleibt, ein höherer Leistungsdruck entsteht und eine Beschleunigung des Unterrichts stattfindet. Dadurch könnte die intrinsische Motivation schwin-den und das Interesse im Unterricht nachlassen. Andererseits kann in der Akzeleration des Unterrichts auch ein Vorteil für die Schüler liegen, indem sich der Unterricht auf die wesentlichen Inhalte konzentriert und vor allem starke Schüler besser gefördert werden. Schwächere Schüler könnten durch die Fördermaßnahmen und Ergänzungsstunden, die den Schulen im G8-System vorgeschrieben wurden, aufgefangen werden. Diese Konsequenzen der Umstellung auf das achtjährige Gymnasium gilt es zu untersuchen, wozu diese Studie einen Beitrag leisten will.

1 Vgl. CLB, 2008, S. M1.2 Vgl. Müller-Ney, Schliesing, 2008 (Internetquelle).3 Vgl. ka-news.de, 2011 (Internetquelle).4 Vgl. Altner, 2007, S. 494.5 Vgl. Vom Lehn, 2010, S. 150.

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3 Methode

3.1 Fragestellung und Hypothesen

In der Umstellung auf G8 wurde das Problem gesehen, dass Schüler unter dem erhöhten Druck aufgrund des höheren Wochenstundenaufkommens leiden und ihre Kompetenzen schlechter weiter entwickelt werden. Ihre ko-gnitiven Fähigkeiten und Lernstrategien würden nicht mehr ideal gefördert werden und das Interesse und die Motivation für den Schulunterricht gingen verloren. Doch kann sich die Akzeleration des Unterrichts auch in der Weise auf die Schüler auswirken, dass sie besser gefördert werden. Um diesen Sachverhalt zu untersuchen, müssen G8-Schüler mit Schülern verglichen werden, die das neunjährige Gymnasium besuchen.

Im Folgenden werden Hypothesen formuliert, die sich zunächst mit dem Stand der kognitiven Fähigkeiten bei den G8- und G9-Schülern beschäfti-gen.

Hypothese zu den kognitiven Fähigkeiten

H1: Die G8-Schüler weisen einen Unterschied in ihren kognitiven Fähig-keiten zu den G9-Schülern auf.

Neben der kognitiven Fähigkeiten und den Lernstrategien spielen Emoti-onen im Unterricht eine große Rolle. Im Folgenden finden sich die Hypothe-sen zu den emotionalen Merkmalen, die anhand des Fragebogens überprüft wurden.

Hypothesen zu den emotionalen Merkmalen

H2: Die G8-Schüler berichten ein in der Stärke von den G9-Schülern ab-weichendes Interesse am Unterricht.

H3: Die G8-Schüler berichten eine in der Stärke von den G9-Schülern ab-weichende intrinsische Motivation am Unterricht.

3.2 Konzeption der Studie

Die Studie wurde an die zehnjährige Längsschnittstudie von Heller (2002) angelehnt, in der er G9-Schüler mit speziell entwickelten G8-Klassen ver-glich. Die begabten Schüler, aus denen die G8-Klassen ausschließlich be-standen, zeigten im Verlauf der Studie einen Anstieg der motivationalen und kognitiven Variablen.1 Da begabte Schüler den anderen Schülern kognitiv

1 Vgl. Ludwig-Maximilians-Universität München, 2011 (Internetquelle); Rinder-mann, 2002, S. 179.

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überlegen sind und im G9-System zusammen mit den anderen Schülern lernten, waren die begabten Schüler vermutlich unterfordert. Aus dieser Un-terforderung resultierten wahrscheinlich die verminderte Motivation und das verminderte Interesse am Unterricht. Deswegen war zu erwarten, dass die begabten Schüler durch die Akzeleration des Unterrichts im G8-System und das Bilden von homogenen Gruppen besser gefördert wurden und somit eine Steigerung der kognitiven Fähigkeiten und der Motivation eintrat. Im Gegensatz dazu wurde das G8-System in Nordrhein-Westfalen unabhängig von der Begabung der Schüler flächendeckend in allen Gymnasien einge-führt. Im Hinblick darauf ist eine Untersuchung in heterogenen Klassenstufen hinsichtlich der Unterschiede bei den kognitiven Fähigkeiten, den Lernstra-tegien und der Motivation wünschenswert. Deshalb sollen diese Aspekte in der Studie analysiert werden. Weiterhin wird untersucht, ob zu Heller (2002) ähnliche Ergebnisse zu finden sind.

Da sich die vorliegende Studie an der Studie von Heller (2002) orientiert, findet der KFT seinen Einsatz, um die kognitiven Fähigkeiten zu erheben. Zusätzlich wurde ein Teil des Fragebogens von Wegner (2008) eingesetzt, der Items zu den emotionalen Merkmalen (Interesse, intrinsische Motivation) entwickelt hat.

Die Studie umfasst drei Erhebungen, die während des Abiturs der G8- und G9-Jahrgänge durchgeführt werden. Die Ergebnisse dieser Veröffentli-chung umfassen lediglich die Werte aus der ersten Erhebung.

4 Ergebnisse

An der Studie nahmen insgesamt 82 Schüler teil, von denen 43 den G8-Bildungsgang und 39 den G9-Bildungsgang besuchten (siehe Abbildung 1). Die Verteilung des Geschlechts innerhalb der Stichprobe ist auffällig, da sie nicht ausgewogen ist. Im G9-Bildungsgang überwiegen die Mädchen, wohingegen im G8-Bildungsgang geringfügig mehr Jungen sind (siehe Ab-bildung 1). Diese Diskrepanz trat ebenfalls in der Studie von Heller (2002) auf, wofür er eine gemeinsame Beteiligung von endogenen und exogenen Faktoren vermutet.1

Nachfolgend werden die Ergebnisse präsentiert und die Hypothesen mithilfe eines t-Tests für unabhängige Stichproben überprüft. Die Schüler-gruppen (G8 und G9) stellen die Gruppenvariable und die jeweiligen un-tersuchten Konstrukte die Testvariable dar. Die Ergebnisse werden in der

1 Vgl. Heller, Reimann, Rindermann, 2002, S. 60.

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Weise dargestellt, dass zunächst in einem Diagramm die Mittelwerte (MW) mit den Standardabweichungen (SD) der Bildungsgänge abgebildet werden. Dabei orientiert sich die Skala der T-Werte bei dem KFT an den Normenta-bellen von Heller & Perleth (2000) und bildet demnach die Werte von 25 (67 von insgesamt 140 gelöste Aufgaben) bis 75 (133 richtig gelöste Aufgaben) ab.1 Bei den Konstrukten des Fragebogens geht die Skala von 1 (stimmt gar nicht) bis 4 (stimmt genau), so dass ein höherer Mittelwert eine höhere Zustimmung anzeigt. Anschließend zeigt eine Tabelle die Ergebnisse des t-Tests, in der die signifikanten Ergebnisse gekennzeichnet sind (** = p < .01; * = p < .05).

4.1. Ergebnisse der kognitiven Fähigkeiten

Der KFT misst die verbalen, quantitativen und figural-räumlichen Fähigkei-ten. Die folgende Darstellung beschränkt sich auf die Gesamtleistung über alle Fähigkeitsdimensionen, da sich die Ausprägungen der einzelnen Di-mensionen kaum voneinander unterscheiden. Die Einstufung der kognitiven Fähigkeiten anhand des KFTs liegt bei beiden Bildungsgängen im Bereich von 50; der Mittelwert der G8-Schüler liegt etwas über dem der G9-Schüler (siehe Abbildung 2).

1 Vgl. Heller, Perleth, 2000, S. 208.

Abb. 1: Stichprobenhäufigkeit des Geschlechts (y-Achse: Bildungsgang, x-Achse: Schüler)

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Der t-Test ergab, dass dieser Unterschied nicht signifikant ist (siehe Ta-belle 1). Somit kann die Hypothese H1 (Die G8-Schüler weisen einen Un-terschied in ihren kognitiven Fähigkeiten zu den G9-Schülern auf) nicht bestätigt werden. Doch ist ein Unterschied von 0,4 Standardabweichungen festzustellen.

Tab. 1: t-Test Vergleich zwischen den Mittelwerten der Bildungsgänge im KFT

G8 (N) G9 (N) T-Wert Signifikanz

KFT 43 39 1,692 .095

4.2 Ergebnisse der emotionalen Merkmale

Bei dem Interesse ist zu erkennen, dass sich beide Schülergruppen in der Mitte einstufen. Die G9-Schüler berichten ein höheres Interesse als die G8-Schüler (siehe Abbildung 3).

Der t-Test bestätigt die Beobachtung des höheren Interesses der G9-Schüler am Unterricht gegenüber den G8-Schülern (siehe Tabelle 2). Folg-lich kann die Hypothese H2 (Die G8-Schüler berichten ein in der Stärke von den G9-Schülern abweichendes Interesse am Unterricht) bestätigt werden.

Tab. 2: t-Test Vergleich zwischen den Mittelwerten der Bildungsgänge hinsichtlich des Interesses

G8 (N) G9 (N) T-Wert Signifikanz

Interesse 43 39 -2,027 .046*

Abb. 2: Mittelwerte der Bildungsgänge im KFT (y-Achse: Bildungsgang, x-Achse: Mittelwert der T-Werte)

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Ein ähnliches Bild zeigt sich bei der intrinsischen Motivation. Die Mittel-werte der Schülergruppen bewegen sich ebenfalls im mittleren Bereich; der Mittelwert der G9-Schüler liegt höher als der Mittelwert der G8-Schüler (sie-he Abbildung 4).

Eine genaue Analyse der Unterschiede mithilfe des t-Tests zeigt, dass der Unterschied bei der intrinsischen Motivation höchst signifikant ist (siehe Tabelle 3). Eine Bestätigung erfolgt somit im Falle der Hypothese H3 (Die G8-Schüler berichten eine in der Stärke von den G9-Schülern abweichende intrinsische Motivation am Unterricht).

Abb. 3: Mittelwerte der Bildungsgänge hinsichtlich des Interesses (y-Achse: Bildungsgang, x-Achse: Mittelwert der Zustimmung)

Abb. 4: Mittelwerte der Bildungsgänge hinsichtlich der intrinsischen Motivation (y-Achse: Bildungsgang, x-Achse: Mittelwert der Zustimmung)

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Tab. 3: t-Test Vergleich zwischen den Mittelwerten der Bildungsgänge hinsichtlich der Motivation

G8 (N) G9 (N) T-Wert Signifikanz

Intrinsische Motivation

43 39 -2,873 .005**

5 Diskussion

In der nun folgenden Diskussion sollen die Ergebnisse und die Hypothesen anhand der herausgearbeiteten Theorie reflektiert werden. Zudem werden die Ergebnisse mit Hellers (2002) Studie verglichen. Weiterhin sollen auf-grund der aus den Daten gewonnenen Erkenntnisse Anregungen für weitere Studien gegeben werden. Tabelle 4 gibt einen Überblick über die Hypothe-sen und das Resultat der jeweiligen Testung.

In erster Linie kann kein Unterschied zwischen den Bildungsgängen in der Förderung der kognitiven Fähigkeiten gezeigt werden. Doch weist der

Tab. 4: Überblick über die Hypothesen und das Testresultat

Hypothese Testergebnis Resultat

HYPOTHESE ZU DEN KOGNITIVEN FÄHIGKEITEN

H1: Die G8-Schüler weisen einen Unterschied in ihren kognitiven Fähigkeiten zu den G9-Schülern auf.

Signifikanz: .095 (siehe Tabelle 1)

Die Hypothese kann zwar nicht bestätigt werden, doch ist eine leichte Tendenz zugunsten der G8-Schüler erkennbar.

HYPOTHESEN ZU DEN EMOTIONALEN MERKMALEN

H2: Die G8-Schüler berichten ein in der Stärke von den G9-Schülern abweichendes Interesse am Unterricht.

Signifikanz: .046* (siehe Tabelle 2)

Die Ergebnisse bestä-tigen die Hypothese signifikant.

H3: Die G8-Schüler berichten eine in der Stärke von den G9-Schülern abweichende intrinsische Motivation am Unterricht.

Signifikanz: .005** (siehe Tabelle 3)

Die Ergebnisse bestä-tigen die Hypothese höchst signifikant.

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Unterschied von 0,4 Standardabweichungen darauf hin, dass die Schüler im achtjährigen Bildungsgang verstärkte kognitive Fähigkeiten aufweisen. Hel-ler (2002) konnte in der Längsschnittstudie in Baden-Württemberg zeigen, dass die kognitiven Fähigkeiten der begabten Schüler durch das verkürzte Gymnasium besser gefördert werden konnten.1 In der vorliegenden Studie zeigt sich dieser Effekt ebenfalls tendenziell. Diese Unterschiede könnten in ihrer Ausprägung jedoch geringer ausfallen, da in dieser Studie heterogene Schülergruppen bzgl. der Begabung untersucht wurden. Damit würde die Akzeleration des Unterrichts eine bessere Förderung der kognitiven Fähig-keiten zur Folge haben. Durch den vermehrten Unterricht sind die Schüler häufiger kognitiv gefordert, wodurch die Qualität der kognitiven Fähigkei-ten gesteigert wird. Zudem sind die Schüler aufgrund des erhöhten Drucks dazu aufgefordert mehr Eigeninitiative zu zeigen und selbst eine Förderung ihrer Kognition zu bewirken. Eine aufschlussreichere Antwort könnten die weiteren Erhebungen der Studie geben, da die Anforderungen zum Abitur weiterhin ansteigen und die kognitiven Fähigkeiten immer mehr gefordert sind. Ein Einflussfaktor, der in dieser Studie nicht berücksichtigt werden kann, sind die Schulabgänger bzw. der Unterschied der Gruppen zu Beginn des Gymnasiums. Schüler, die die Schulform wechseln oder das Abitur nicht antreten, werden durch diese Studie nicht erfasst. Zudem ist der Stand der kognitiven Fähigkeiten zu Beginn des Gymnasiums nicht bekannt. Eventuell durchlaufen weniger leistungsschwache Schüler das achtjährige Gymnasi-um, weil sie von vornherein oder im Laufe der Zeit die Befürchtung haben das Gymnasium nicht erfolgreich abzuschließen. Dies könnte ebenfalls eine Erklärung für den Unterschied in den kognitiven Fähigkeiten sein.

Die Betrachtung des Interesses und der intrinsischen Motivation zeigt, dass die G9-Schüler mehr Interesse und eine viel höhere intrinsische Mo-tivation aufweisen. Im neunjährigen Bildungsgang gibt es vermutlich mehr Freiräume für die Lehrer, den Unterricht interessenorientiert zu gestalten, indem sie mehr Zeit für das selbstständige Arbeiten haben. Im G8-Bildungs-gang scheint das Interesse an den Schulinhalten aufgrund der erhöhten Leistungsanforderungen zu schwinden. Ebenso leidet die intrinsische Mo-tivation unter dem erhöhten Druck des achtjährigen Gymnasiums. Bezo-gen auf den Schulunterricht scheinen die Schüler nicht intrinsisch motiviert zu sein. Dies bedingt negative Auswirkungen auf ihre Leistungen und ihr Verhältnis zum Lehrer. Demgegenüber stehen die Ergebnisse aus Hellers (2002) Studie. Die Interessenausprägungen der einzelnen Fächer zeigten keinen Unterschied zwischen der G8- und G9-Gruppe.2 Ein homogener Bil-

1 Vgl. Ludwig-Maximilians-Universität München, 2011 (Internetquelle).2 Vgl. Reimann, 2002, S. 130.

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dungsgang hinsichtlich der Begabung scheint somit keine Auswirkungen auf das Interesse zu haben. Werden allerdings heterogene Gruppen untersucht, scheinen das Interesse und die intrinsische Motivation der G9-Schüler hö-her zu sein. Heller (2002) gibt diesbezüglich einen Hinweis: „Schulinterne und schulexterne Unterrichtsvermehrung reduzieren jedoch die freie Zeit, können zu dem zu vermeidenden Dauerlernen führen und wären für leis-tungsstarke Schüler überflüssig“.1 Die lernschwachen Schüler werden durch das G8-System in das Dauerlernen geführt, woraufhin ihr Interesse und die intrinsische Motivation schwinden. Für leistungsstarke Schüler sind ver-pflichtende Ergänzungsstunden eventuell überflüssig, worunter das Interes-se und die intrinsische Motivation dieser Schüler ebenfalls leiden. In dieser Hinsicht wäre eine Studie erstrebenswert, in der neben der Begabung der Schüler die Motivation und das Interesse gemessen werden. Da der Anteil der begabten Schüler in einer heterogenen Klasse relativ gering ist, müsste hierzu die Stichprobe verhältnismäßig groß sein. Weiterhin ist der Aspekt des Zusammenhangs zwischen den kognitiven Fähigkeiten und dem Inter-esse bzw. der intrinsischen Motivation interessant. Entgegen der Annahme, dass das Interesse bzw. die intrinsische Motivation die Förderung der kogni-tiven Fähigkeiten positiv bedingt, scheinen die Ergebnisse der vorliegenden Studie zu zeigen, dass trotz des Schwindens von Interesse und Motivation die kognitiven Fähigkeiten steigen. Die Akzeleration des Unterrichts hätte somit einen stärkeren positiven Einfluss auf die Förderung der kognitiven Fähigkeiten als das Interesse bzw. die intrinsische Motivation der Schüler. In dieser Hinsicht wären Studien aufschlussreich, die die Stärke der schuli-schen Einflussfaktoren (Interesse, Motivation, Unterrichtstempo etc.) auf die Förderung der kognitiven Fähigkeiten untersuchen.

6 Fazit

Die kognitiven Fähigkeiten der Schüler des verkürzten gymnasialen Bil-dungsgangs sind tendenziell höher als die des alten Bildungsgangs. Unter Berücksichtigung von Hellers (2002) Ergebnissen, die eine kognitive Förde-rung von begabten Schülern zeigen, bewirkt die Akzeleration des Unterrichts vermutlich auch in der Stichprobe dieser Studie eine kognitive Förderung der (begabten) Schüler. Die Ergebnisse der ersten Erhebung weisen zumin-dest in diese Richtung, allerdings muss diese Annahme durch die weiteren Erhebungen bestätigt werden. Ein völlig gegensätzliches Bild zeigen das Interesse und die intrinsische Motivation der Schüler. Diese Merkmale fallen

1 Heller, 2002, S. 212.

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beide zugunsten der G9-Schüler aus. Folglich bewirkt die Umstellung auf den G8-Bildungsgang, dass die Schüler einerseits kognitiv gefördert wer-den, andererseits das Interesse am Schulunterricht verlieren. Sollten wei-tere Studien ähnliche Ergebnisse zeigen, liegt die Überlegung nahe, ob die Schulbildung den richtigen Weg geht. Soll die Konzentration der Schule auf der Förderung der Fähigkeiten und Kompetenzen liegen, ohne das Interesse und die intrinsische Motivation der Schüler zu berücksichtigen? Oder soll die Schulbildung neben den Fähigkeiten und Kompetenzen das Interesse für die Schulinhalte fördern und die Motivation für den Unterricht aufrechterhalten?

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Spitzenleistungen – ein Mix aus Leidenschaft, Lernen und spezifischer KognitionStefanie Lange, Wolfgang Lehmann, Melanie Baumgarten & Inge Jüling

Ausgangspunkt und Fragestellung

Als Beitrag zur Begabtenförderung in Sachsen-Anhalt werden am mathema-tisch-naturwissenschaftlich-technischen Gymnasium in Magdeburg (Werner von Siemens-Gymnasium) Schüler gefördert, die Interesse und Kompetenz insbesondere im mathematischen Bereich aufweisen. Dazu werden sie im Rahmen eines Aufnahmeverfahrens der Schule nach mathematischen Leis-tungen (informelle Mathematikklausur) und Intelligenz (gemessen mit dem KFT 4–12+ R von Heller und Perleth) unter Einbeziehung von Schulnoten ausgewählt. Zweifelsfrei handelt es sich um eine Schülergruppe mit über-durchschnittlichen kognitiven Merkmalen, denn in der Ausprägung ihrer allge-meinen Intelligenz liegen diese Schüler im Durchschnitt etwa 1,5 Standard-abweichungen über dem Mittelwert der entsprechenden Schülerpopulation (Lehmann & Jüling, 2011). Es stellt sich die Frage, wodurch sich Spitzenkräf-te aus dieser Stichprobe gegenüber ihren ebenfalls sehr leistungsfähigen Mitschülern auszeichnen. Es ist also die Suche nach Prädiktoren für ma-thematische Leistungsexzellenz in einer überdurchschnittlich kompetenten Schülerstichprobe. Als Spitzenkräfte bezeichnen wir hier diejenigen Schüler, die in der Landesolympiade Mathematik Preisträger wurden. Also: Wodurch kann erklärt werden, dass einige hochkompetente Schüler zu erfolgreichen Olympioniken werden und andere hochkompetente wiederum nicht?

Untersuchungsansatz

Die Stichprobe bestand aus 144 Schülern (112 Jungen, 32 Mädchen) der kompletten sechsten und siebten Klassen des Werner-von-Siemens-Gym-nasiums Magdeburg. Innerhalb dieser Schülergruppe existierte eine Sub-gruppe von 17 Schülern (13 Jungen, 4 Mädchen), die Preisträger in der Landesolympiade Sachsen-Anhalt Mathematik wurden (Olympioniken). Die Geschlechterverteilung in dieser Subgruppe entsprach der Verteilung in der Gesamtstichprobe.

Erfasst wurden bei allen Schülern der Stichprobe (Olympioniken und Nicht-Olympioniken) die allgemeine Intelligenz und darin enthaltene spezifische kognitive Fähigkeiten mit dem Berliner Intelligenzstrukturtest für Jugendli-che: Begabungs- und Hochbegabungsdiagnostik – BIS-HB (Jäger, Holling, Preckel, Schulze, Vock, Süß, & Beauducel, 2006). Zur computerunterstütz-

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ten Untersuchung der Kapazität des Arbeitsgedächtnisses (numerisch und figural) wurden die Software WMC (Version 1.0.0.0; Copyright by Thomas Becker, Osnabrück) verwendet. Dabei waren entweder Additions- oder Sub-traktionsaufgaben mit einstelligen Ziffern auszuführen und gleichzeitig deren Positionen in einer 3x3-Matrix zu bestimmen (numerische Arbeitsgedächt-niskapazität). Bezüglich der figuralen Arbeitsgedächtniskapazität mussten Positionen von Punkten in einer 10x10-Matrix gespeichert und vor deren Reproduktion auf Symmetrie geprüft werden. Sowohl die Ziffern als auch die Punkte erschienen jeweils für 1.000 ms. Mathematische Kompetenz wur-de mit 18 Aufgaben aus der Third International Mathematics and Science Study-TIMSS (Baumert & Lehmann, 1997) bestimmt. Es wurden jedoch nur Aufgaben der Kompetenzstufen drei bis fünf genutzt. Als Grundlage zur Er-hebung von Interessen der Schüler diente der entsprechende Fragebogen für Teilnehmer im Bundeswettbewerb Mathematik von Heilmann (1999).

Ergebnisse

1 Allgemeine Intelligenz

Es zeigte sich erwartungsgemäß, dass sich die beiden Schülergruppen (Olympioniken und Nicht-Olympioniken) in ihrer allgemeinen Intelligenz (AI aus BIS-HB) nicht unterschieden: Olympioniken: IQ = 115,7 und Nicht-Olym-pioniken: IQ = 114,2 (vgl. auch Tabelle). Die Testleistungen beider Gruppen liegen damit im Intelligenzstrukturtest etwa eine Standardabweichung über den Leistungen der Normstichprobe.

2 Spezifische kognitive Fähigkeiten

Zur Darstellung der Unterschiede zwischen den beiden Gruppen wurden die Rohwerte für die entsprechenden Merkmale z-transformiert (Mittelwert = 0, und Standardabweichung = 1). In der Tabelle sind die mittleren z-Werte für die Olympioniken enthalten. Würden sich die beiden Subgruppen nicht un-terscheiden, wäre der Mittelwert jeweils 0. Je weiter der jeweilige Wert von 0 entfernt ist umso größer ist der Unterschied zugunsten der Olympioniken. Ein Wert von .50 bedeutet beispielsweise, dass die Olympioniken im Mittel eine halbe Standardabweichung über der Gesamtstichprobe liegen. Dabei enthält die Tabelle nur die Merkmale, bei denen Unterschiede zwischen den beiden Gruppen (Olympioniken und Nicht-Olympioniken) festzustellen wa-ren.

Aus der Tabelle ist ersichtlich, dass in den einzelnen BIS-Facetten, die spezifische kognitive Fähigkeiten abbilden, Unterschiede zwischen den beiden Subgruppen zugunsten der Olympioniken auftreten. Olympioniken

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und Nicht-Olympioniken unterscheiden sich im Reasoning insgesamt (Ver-arbeitungskapazität K aus BIS-HB) und im figural-bildhaften Denken (F aus BIS-HB) kaum. Wesentlich größere Unterschiede zeigen sich auf inhaltlicher Ebene beim zahlengebundenen Denken (N aus BIS-HB) und insbesondere bei dessen Verarbeitungskapazität (KN aus BIS-HB). Resümierend ist fest-zuhalten, dass sich bei der Intelligenztestung auch im Rahmen der Hochbe-gabungsdiagnostik die besondere mathematische Leistungsfähigkeit unse-rer Spitzenkräfte nur in einzelnen Fähigkeitskonstrukten widerspiegelt. So kann man auch aus unseren Ergebnissen ableiten, dass die Prognosekraft der Intelligenz im Allgemeinen mit steigender Leistungsfähigkeit abnimmt (Ziegler, 2008). Man nähert sich dem Besonderen der Leistungsexzellenz unserer Spitzenschüler am ehesten, wenn man spezifische Fähigkeiten betrachtet. So wurden wir in unseren Untersuchungen insbesondere bei der Arbeitsgedächtniskapazität fündig. Das Arbeitsgedächtnis ermöglicht das gleichzeitige kurzfristige Speichern und Verarbeiten von Informationen (Baddeley, 2003). Es spielt eine wichtige Rolle für viele höhere Kognitionen wie Sprachverständnis, Lernfähigkeit oder Problemlösen (Conway, Kane & Engle, 2003). Die mathematischen Spitzenkräfte erweisen sich gegenüber ihren Mitschülern in der Arbeitsgedächtniskapazität, sowohl figural als auch numerisch deutlich überlegen. Sie liegen hier im Durchschnitt etwa 0.5 bzw. 0.4 Standardabweichungen über der Vergleichsgruppe der Nicht-Olympio-niken. Bestätigt wird der Zusammenhang zwischen der besonders hohen Leistungsfähigkeit des numerischen und figuralen Arbeitsgedächtnisses und mathematischer Leistungsexzellenz durch die Resultate bei den ausgewähl-ten TIMMS-Aufgaben. Die Leistungen der Olympioniken bei den TIMMS-

Tab. 1:

Variable Mittel-wert

Allgemeine Intelligenz (AI aus BIS-HB) .18Reasoning (Verarbeitungskapazität K aus BIS-HB) .21Figural-bildhaftes Denken (F aus BIS-HB) .23Zahlengebundenes Denken (N aus BIS-HB) .36Verarbeitungskapazität (numerisch) (KN aus BIS-HB) .34Arbeitsgedächtniskapazität (numerisch) .39Arbeitsgedächtniskapazität (figural) .50Mathematische Kompetenz (TIMMS) .54

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Aufgaben können als Beleg für besonders gute mathematische Problem-lösefähigkeit betrachtet werden und korrespondieren mit dem Abschneiden der Schüler in der Landesolympiade.

3 Interessen

Es ist davon auszugehen, dass zum Erreichen von Leistungsexzellenz nicht allein kognitive Faktoren ausschlaggebend sind, sondern ebenso nicht-kog-nitive Merkmale. Wir haben aus diesem Bereich Interessen erfasst. In ihren Interessengebieten zeigten sich die Olympioniken im Vergleich zu den Nicht-Olympioniken weder eingeengt noch stark fokussiert, sondern aufgeschlos-sen und facettenreich. So nannten die Olympioniken im Durchschnitt 7.5 Interessengebiete von 14 möglichen und die Nichtolympioniken 6.1. Weiter-hin gaben Olympioniken eine längere Beschäftigungsdauer in Stunden pro Woche an sowie eine stärkere Intensität bei der jeweiligen Beschäftigung. Die besonders interessierenden Themengebiete bezogen sich auf Sport, künstlerische Aktivitäten, Musizieren, handwerkliche Tätigkeiten, Naturwis-senschaften, Mathematik, belletristische und wissenschaftliche Literatur so-wie Aktivitäten mit Freunden. Diese Ergebnisse unterstützen die Erkenntnis von Benbow und Arjmand (1990), nach der unter anderem die Interessen-vielfalt eine entscheidende Rolle bei mathematisch-naturwissenschaftlicher Hochleistung spielt. Im Vergleich zu den Nicht-Olympioniken spielte dabei das Interesse für Mathematik bei den Olympioniken eine besondere Rol-le. So gaben etwa drei Viertel der Olympioniken ein besonderes Interesse für Mathematik an, aber nur etwa ein Drittel der Nicht-Olympioniken. Das Besondere des Interesses für Mathematik bezieht sich bei den Olympioni-ken auf die Schönheit und Ästhetik mathematischer Gedankengänge, die als faszinierend empfunden werden. Neurologisch ist dieser Aspekt inso-fern interessant, als die Beteiligung positiver Emotionen sich äußerst günstig auf die Qualität kognitiver Prozesse auswirkt (Spitzer, 2002). Am Rande sei vermerkt, dass die Olympioniken auch in den Unterrichtsfächern Deutsch, Englisch, Sport und Musik einen besseren Notendurchschnitt aufwiesen als die Nicht-Olympioniken, jedoch ist die Differenz in Mathematik und Physik zugunsten der Olympioniken am größten.

Diskussion

Auf der Suche nach Prädiktoren für Spitzenleistungen in der Mathematik innerhalb unserer hochfähigen Schülergruppen hat die allgemeine Intelli-genz eine geringe Prognosekraft. Das Vorwissen und bzw. voran gegan-gene Leistungen sind bessere Prädiktoren für die bereichsspezifischen Mathematikleistungen. Zudem spielt das Arbeitsgedächtnis als eine spezi-

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fische kognitive Komponente eine wesentliche Rolle bei mathematischen Problemlöseprozessen. Allerdings erwies sich bei unseren Untersuchungen nicht das Arbeitsgedächtnis bzw. die Verarbeitungskapazität im Allgemeinen als entscheidend, sondern die numerische und figurale Arbeitsgedächtnis-kapazität. Entscheidend für hervorragende Leistungen ist offensichtlich das Zusammenwirken von kognitiven und nicht-kognitiven Merkmalen. Zur Er-klärung von Leistungsunterschieden gewinnen nichtkognitive Faktoren mit zunehmendem Alter der Schüler immer mehr an Bedeutung (Stumpf, 2012). Es ist anzunehmen, dass Interessen ein Individuum dazu veranlassen, Fä-higkeiten und Zeit in den Aufbau von Wissen zu investieren, weshalb nicht allein kognitive Faktoren, sondern Interesse und über das Interesse entwic-keltes Wissen die herausragenden Leistungen der Olympioniken erklären können. Offensichtlich fühlen sich die Olympioniken von der Schönheit und Ästhetik der Mathematik stärker angezogen als die Nicht-Olympioniken, was als höhere intrinsische Motivation interpretiert werden kann. Im Allgemeinen stützen erlebte Erfolge, wie vordere Plätze bei der Mathematikolympiade, die Motivation. Ob sich zukünftig bei unseren Spitzenschülern weitere ex-zellente Leistungen entwickeln, hängt vermutlich von einem hohen Maß an Leidenschaft für das Mathematisieren ab, verbunden mit intensiven weite-ren Lernprozessen (deliberate practice), die auch die bereichsspezifischen kognitiven Fähigkeiten weiter befördern dürften. Aus Selbstbeobachtungen großer Mathematiker mit ihren herausragenden Denkleistungen ist bekannt, dass sie jenen Lösungsweg bevorzugt haben, den sie als schönsten oder ästhetischsten empfanden. Dieser Lösungsweg erwies sich dann oftmals als die einfachste aller Lösungsalternativen. Offensichtlich wurde die hart erarbeitete Einfachheit von komplizierten mathematischen Strukturen auch emotional bevorzugt. So können Emotionen bei schwierigen Problemlöse-prozessen aus intrinsischer Motivation hervorgehen und diese auch wieder verstärken (van der Meer, 1998).

Literatur

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Förderung mathematischer Kompetenz im VorschulalterInes Müller, Jeanne Rademacher & Wolfgang Lehmann

Eine im Rahmen des Projekts „Früh übt sich… – gewusst wie!“ des Instituts für Psychologie der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg im November 2010 durchgeführte Untersuchung an 112 Magdeburger Vorschulkindern er-gab, dass bereits in diesem Alter zwischen den Kindern enorme Unterschie-de hinsichtlich der mathematischen Kompetenz bestehen. Zur mathemati-schen Kompetenz zählen hierbei Zahlenverständnis, Mengenverständnis, Rechenfähigkeiten, räumliche Fähigkeiten, visuelle Differenzierungsfähig-keit, Symbolverständnis sowie abstrakt-logisches Denken. Die Leistungen der Kinder lagen in dieser Untersuchung zwischen 0,57 und 5,55 gewich-teten Punktwerten1. Im Vergleich der ungewichteten Gesamtsummenwerte werden die Unterschiede noch deutlicher: hierbei lag der niedrigste Wert eines Kindes bei 6,2 Punkten und der höchste Wert, der erreicht wurde, bei 62 Punkten (vgl. Abbildung 1).

In einer früheren Untersuchung, bei der ein Programm zur Förderung mathematischer Fähigkeiten im Vorschulalter entwickelt und erfolgreich evaluiert wurde, zeigten sich ebenfalls deutliche Unterschiede in den ma-thematischen Fähigkeiten zwischen Vorschulkindern (Rademacher, Traute-wig, Günther, Lehmann & Quaiser-Pohl, 2005). Im Rahmen der Evaluation des Magdeburger Programms zur Förderung mathematischer Fähigkeiten wurden die Kinder einem Vortest unterzogen und anschließend in eine Ver-suchsgruppe (n=52) sowie eine Kontrollgruppe (n=45) eingeteilt. Bei der Einteilung der Gruppen wurde darauf geachtet, dass sich in beiden Grup-pen Kinder mit allen Fähigkeitsausprägungen in gleicher Weise finden ließen (Rademacher et al., 2005).

Die Versuchsgruppe erhielt über einen Zeitraum von acht Wochen je-weils zweimal wöchentlich ein mathematisches Förderprogramm, die Kont-rollgruppe durchlief den normalen Kindergartenalltag. Für jeden mathema-tischen Fähigkeitsbereich wurden jeweils zwei Fördereinheiten entwickelt. Eine Fördereinheit umfasste dabei eine Zeitdauer von 30 bis maximal 45 Minuten. Die Kinder wurden meist in Kleingruppen, selten in der Großgruppe im Zeitraum von Mai bis Juli 2004 von externen Übungsleiterinnen trainiert (Lehmann, Rademacher, Quaiser-Pohl, Günther & Trautewig, 2006). Die dem Programm zugrunde liegenden sieben mathematischen Fähigkeitsbe-reiche werden im Folgenden kurz erläutert.

1 Die Summenwerte der einzelnen Fähigkeitsbereiche wurden jeweils durch die Anzahl der Items geteilt, damit jeder Fähigkeitsbereich mit dem gleichen Anteil (gewichtet) in den Gesamtwert eingeht.

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Fähigkeitsbereiche der mathematischen Kompetenz im Vorschulalter

Zahlenverständnis

Um mit Zahlen operieren zu können, bedarf es der Fähigkeit, Zahlen erkennen und benennen sowie zählen zu können. Als Voraussetzung für das Zählen müssen Nachfolger und Vorgänger von Zahlen bekannt sein (Quaiser-Pohl, 2008). In der Auseinandersetzung mit Zahlen lassen sich fünf verschiedene Aspekte unterscheiden (Rademacher, Lehmann, Quaiser-Pohl, Günther, & Trautewig, 2009; Quaiser-Pohl, 2008). Der Kardinale Aspekt (Anzahlaspekt) bezieht sich darauf, wie viele Elemente zu einer Menge gehören (z.B. Zum Würfelspiel gehören sechs Figuren.). Der ordinale Aspekt (Ordnungsaspekt) zeigt an, welche Stelle beispielsweise eine Person in einer Rangreihe an-derer Personen einnimmt (z.B. Fred wird beim Wettlauf Dritter.). Werden für die Angabe von Größen Zahlen als Maßzahlen verwendet, handelt es sich um den Maßzahlaspekt (z.B. Der Turm ist 12 Meter hoch.). Demgegenüber bezieht sich der Operatoraspekt beispielsweise auf das Vielfache (z.B. Anne ist halb so schnell gelaufen wie Peter; Peter war also doppelt so schnell wie Anne.). In dem Beispiel – 10 - 3 = 7 – wird der Rechenaspekt der Zahl deutlich. Dieser ist dadurch gekennzeichnet, dass die Zahl das Produkt einer

Abb. 1: Verteilung der ungewichteten Gesamtpunktwerte für die mathematische Kompetenz.

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mathematischen Operation darstellt, die nach einer bestimmten Vorschrift durchgeführt wurde (Rademacher et al., 2009; Quaiser-Pohl, 2008).

Mengenverständnis

Das Mengenverständnis steht in engem Zusammenhang mit dem Zahlbe-griff. Dabei erfolgt die Beschäftigung mit Zahlen auf verschiedenen Ebenen, beispielsweise auf der Ebene der Realität oder der Begriffe. Auf der Ebene der Realität bilden Zahlen fassbare Mengen (z.B. von Gegenständen) ab. Auf der Ebene der Begriffe steht neben dem Zahlenwert der theoretische Begriff der Menge im Vordergrund (Rademacher et al., 2009). Die Mengen-auffassung lässt sich jedoch auch im Speziellen charakterisieren. So spielen im Wesentlichen der Vergleich von Mengen sowie die Bestimmung der Grö-ße einer Menge eine wichtige Rolle. Dies geschieht vornehmlich über die Verwendung verschiedener Relationen (z.B. „mehr als“, „genauso viel wie“, „kleiner als“), die beziehungsstiftend wirken (Rademacher et al., 2009). Von Bedeutung ist gleichermaßen der Aspekt der Mengenkonstanz, welcher sich darauf bezieht, dass Mengen unverändert bleiben, solange nichts hinzuge-fügt oder entfernt wird.

Rechenfähigkeiten

Rechenoperationen (im Vorschulalter v.a. Addition und Subtraktion) ver-knüpfen Zahlen anhand verschiedener Vorschriften miteinander. Notwendi-ge Bedingungen hierfür stellen das Verständnis von Zahlen und Mengen dar (Rademacher et al., 2009; Quaiser-Pohl, 2008). In Bezug auf den Zahlbegriff ist das gekonnte Agieren mit der Zahlwortreihe von besonderer Wichtigkeit. Nur wenn diese bei jeder wahllosen Zahl unterbrochen werden kann und das Zählen auch bei jeder Zahl neu beginnen kann, ist eine Person in der Lage, Rechenoperationen auszuführen (Rademacher et al., 2009; Quaiser-Pohl, 2008) und verfügt somit über Rechenfähigkeiten. Wenn Kinder bereits im Vorschulalter über eine ausgeprägte Rechenfähigkeit verfügen, kann dies durchaus ein Hinweis für eine besondere mathematische Begabung sein (Schaarschmidt, 1994).

Räumliche Fähigkeiten

Insbesondere räumliche Fähigkeiten sind als wesentliche Faktoren zur ma-thematischen Kompetenz hinzuzuzählen, beispielsweise, wenn die Posi-tion einer Zahl auf dem mentalen Zahlenstrahl bestimmt werden soll (vgl. SNARK-Effekt, Dehaene, 1999). Jedoch handelt es sich bei den räumlichen Fähigkeiten nicht um eindimensionales Konzept. Drei Bereiche werden als wesentlich angesehen: die räumliche Wahrnehmung, die mentale Rotation und die räumliche Orientierung. Bei der räumlichen Wahrnehmung geht es

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um die Position des eigenen Körpers sowie die eigene Orientierung im Raum (Linn & Petersen, 1985). Die mentale Rotation bezieht sich demgegenüber auf das gedankliche Drehen von zwei- und dreidimensionalen Objekten. Die räumliche Visualisierung bedarf umfassender Manipulationen von räumli-chen Informationen, wenn sich beispielsweise das Faltmuster einer darge-botenen gefalteten Figur vorgestellt werden soll (Linn & Petersen, 2001).

Fähigkeit zum Visualisieren

Zur Fähigkeit zum Visualisieren gehören einerseits das Erkennen von Strukturen in dargebotenen Elementen sowie die Beziehungen zwischen den Elementen. Weiterhin umfasst es die Fähigkeit, geringe Unterschiede in bildhaften oder auch symbolischen Darstellungen erkennen zu können (Rademacher et al., 2009). Besonders bei der Unterscheidung von sehr ähnlichen Symbolen, wie beispielsweise den Ziffern 6 und 9, ist eine gut ausgeprägte visuelle Differenzierungsfähigkeit wichtig, um Verwechslungen und daraus resultierende Rechenfehler zu vermeiden. Auch um Elemente anhand bestimmter Merkmale einer Menge zuordnen und gleichzeitig von anderen Mengen abgrenzen zu können (Klassifikation) oder um Elemente nach bestimmten Merkmalen ordnen zu können (Seriation) stellt die visuelle Differenzierungsfähigkeit eine notwendige Voraussetzung dar.

Symbolverständis

Sollen mathematische Informationen weitergegeben werden, wird in der Re-gel als Symbol die Zahl verwendet (Rademacher et al., 2009). Die Ebene der Symbolik stellt insbesondere für das Vorschulkind eine enge Verbindung zwischen Zahlen und Symbolen her (Rademacher et al., 2009). Die Bedeut-samkeit von Symbolen für die mathematische Kompetenz zeigt sich in der Beschreibung des Aufbaus mathematischer Operationen von Aebli (1991). Des Weiteren führt Aebli (1991) für die Codierung von Zahlen vier verschie-dene Varianten auf. Zum einen kann die Zahl als Zahlwort gesprochen wer-den. Weiterhin kann das Zahlwort oder die Ziffer geschrieben werden und es ist auch möglich einen Buchstaben anstelle einer Zahl als Variable zu ver-wenden (Aebli, 1991). Jedoch können nicht nur die Zahlen selbst als Symbo-le betrachtet werden, sondern auch die Zeichen für die Rechenoperationen sind nichts anderes als Symbole.

Abstrakt-logisches Denken

Um logisches Denken handelt es sich, wenn eine Person in der Lage ist, aus einer Aufgabenstellung die korrekten Schlussfolgerungen für das Vor-gehen bei der Aufgabenbearbeitung abzuleiten (Rademacher et al., 2009). Demgegenüber erlaubt das abstrakte Denken zum einen, das Essentielle

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einer Aufgabe oder eines Problems zu erkennen. Andererseits bedeutet Ab-straktion die Loslösung von konkretem Material. Somit handelt es sich beim korrekten Umgang mit mathematischen Formeln (im Sinne des abstrakt-logischen Denkens) um nichts anderes als eine mathematische Fähigkeit (Rademacher et al., 2009).

Magdeburger Förderprogramm

Zur Illustration der Umsetzung von mathematischen Fähigkeitsbereichen in praktische Übungen werden zwei Beispiele (Abbildung 2 und Abbildung 3) aus dem Magdeburger Programm (Rademacher et al., 2009) vorgestellt.

Die Nachtestung der Kinder im Anschluss an die Förderung ergab, dass die Versuchsgruppe ihre Leistungen hinsichtlich der mathematischen Kom-petenz steigern konnte. Sowohl eher leistungsschwache als auch leistungs-starke Kinder der Versuchsgruppe zeigten Leistungssteigerungen (Radema-cher et al., 2005). Im Vergleich zur Kontrollgruppe konnte für die Kinder der Versuchsgruppe ein signifikant höherer Gesamtwert der mathematischen Kompetenz gefunden werden (Kwiatkowski, 2007). In den Bereichen Men-genverständnis, Rechenfähigkeiten und räumliche Fähigkeiten wurden si-gnifikante Verbesserungen der Kinder der Versuchsgruppe nachgewiesen. In den Bereichen Zahlenverständnis, Umgang mit Symbolen, visuelle Diffe-renzierungsfähigkeit sowie abstrakt-logisches Denken fanden sich ebenfalls höhere Werte für die Versuchsgruppe, jedoch war der Unterschied nicht si-gnifikant (Rademacher et al., 2005). Eine exploratorische Faktorenanalyse ergab, dass die mathematische Kompetenz über die benannten sieben Fä-higkeitsbereiche hinweg durch einen Faktor abgebildet wird (Rademacher & Lehmann, under review). Eine im Rahmen des Projekts „Früh übt sich … – gewusst wie!“ durchgeführte konfirmatorische Faktorenanalyse bestätigt das Ergebnis. Demzufolge kann von einem übergeordneten Faktor ausge-gangen werden, der als mathematische Kompetenz bezeichnet wird.

In anderen Untersuchungen bzw. Programmen zur Förderung mathe-matischer Fähigkeiten im Kindergartenalter (z.B. „Zahlenland“, Preiß, 2004; „Mengen, zählen, Zahlen“, Krajewski, Nieding & Schneider, 2008) wird ein eher enges Verständnis dessen zugrunde gelegt, was mathematische Kom-petenz auszeichnet. Diese Programme zielen meist auf die Förderung des Zahl- und Mengenverständnisses sowie der Rechenfähigkeiten ab. Die für das Magdeburger Förderprogramm gefundenen positiven Fördereffekte für die erweiterten Fähigkeitsbereiche entsprechen Ergebnissen von Studien aus den USA, in denen räumliche Fähigkeiten bzw. abstrakt-logische Denk-fähigkeiten (z.B. Klein & Starkey, 2004) in die Förderung einbezogen wur-

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den. In diesen wurde eine Verbesserung der mathematischen Fähigkeiten der geförderten Vorschulkinder berichtet.

Dass eine frühe Förderung wichtig ist, unterstreichen die Ergebnisse der Längsschnittstudie von Krajewski (2006) sowie der LOGIK- und SCHO-LASTIK-Studien (Weinert & Helmke, 1997), die einen engen Zusammen-hang zwischen frühen mathematischen Fähigkeiten und der Leistung in der Grundschule sowie auch in weiterführenden Klassenstufen belegen. Je bes-ser mathematische Strukturen verstanden werden und je mehr in elementa-rer Form mathematisches Problemlösen geübt wird, desto leichter können auch höhere mathematische Zusammenhänge erfasst werden. Kinder, die über viel Vorwissen verfügen – und dies sind meist intelligente Kinder – er-werben ihr Vorwissen gerade im Vorschulalter auch über angemessene An-regung seitens der Umwelt (Stern, 2003). Deshalb erscheint eine frühzeitige, auf spielerische Art und Weise vermittelte Förderung unerlässlich, um die Kinder an ein freudvolles Lernen heranzuführen, von dem sie ihr Leben lang profitieren können.

Für die Förderung besonders befähigter Kinder fehlen bislang jedoch spezielle Programme. Eine Erweiterung des Magdeburger Förderpro-

Abb. 3: Räumliche Fähigkeiten: Die Kinder sollen aus den rechts abgebildeten Bildern diejenigen heraussuchen, die dem linken

Ausgangsbild entsprechen.

Abb. 2: Symbolverständnis: Das stehende Kind malt ein Symbol vom

Arbeitsblatt auf den Rücken des sitzenden Kindes. Dieses wieder-um soll mit Hilfe des Arbeitsblattes erkennen, um welches Symbol es

sich handelt.

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gramms durch eine spezifische Auswahl von Förderelementen mit höherem Schwierigkeitsgrad, eine unterschiedliche Kombination von Fördereinheiten oder die Entwicklung zusätzlicher Fördereinheiten (Müller, Rademacher, & Lehmann, in Vorbereitung) böte jedoch die Möglichkeit einer Anpassung für besonders begabte Kinder (Lehmann, Rademacher, Quaiser-Pohl, Günther & Trautewig, 2006).

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100 – – – ABB-InformAtIon 2012

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Familien mit hochbegabten Kindern – systemische Perspektiven der ElternbegleitungJeanne Rademacher, Wolfgang Lehmann & Ines Müller

Ausgangspunkt einer Hochbegabungsdiagnostik sind nicht selten (Verhal-tens-) Auffälligkeiten der betroffenen Kinder in unterschiedlichen Entwick-lungskontexten wie Familie, Kindergarten oder Schule. Die Besonderheiten dieser Kinder vor allem im sozialen Umgang ergeben sich nicht nur daraus, dass z.B. ihre intellektuellen Bedürfnisse über lange Zeit nicht ausreichend beachtet wurden bzw. sie ihr Potential nicht entfalten konnten. Die Hochbe-gabung des Kindes an sich bewirkt innerfamiliäre (wie auch außerfamiliäre) Beziehungsdynamiken, die manchmal aufgrund der erlebten Überforde-rungssituation seitens der Eltern (oder der Kinder) als krisenhaft erlebt wer-den. Im Rahmen professioneller Kooperation mit Eltern stehen zumeist das Kind und seine Entwicklungsmöglichkeiten sowie die Eltern in ihrer Funktion als Arrangeure von Entwicklungsgelegenheiten (Parke & Buriel, 1997) im Fokus, beispielsweise in dem von Grassinger entwickelten systemischen Beratungsmodell für Hochbegabte (Grassinger, 2009), welches auf Zieglers systemischem Hochbegabungsansatz (Aktiotop-Modell, Ziegler, 2005) auf-baut.

Anliegen dieses Beitrages ist die Betonung der Funktion von Eltern als In-teraktionspartner und Erzieher ihrer Kinder (Parke & Buriel, 1997), da Eltern in mehrerlei Hinsicht als relevante Bezugspersonen für ihre Kinder agieren und auf deren Entwicklung und Sozialisation maßgeblich wirken. Elterliche Funktionen und kindliche Entwicklung sowie Sozialisation wiederum stehen nach dem Verständnis der systemischen Familientheorie in zirkulär kausaler Wechselbeziehung (vgl. Schneewind, 1999). Demnach erscheint die Stär-kung von Eltern in ihren Rollen als Interaktionspartner und Erzieher ihrer hochbegabten Kinder als ebenso bedeutsames Ziel professioneller Eltern-begleitung.

Die am Institut für Psychologie der Universität Magdeburg angesiedelte Familienberatung des Diagnostik-, Interventions- und Evaluationszentrums (DIEZ) bietet Familien mit hochbegabten Kindern Beratung mit genau diesem Fokus an. Das DIEZ fungiert u.a. als Ansprechpartner für Hochbegabungs-diagnostik und ermöglicht zudem eine weitere Begleitung für die Familien in Form von Beratungsgesprächen, insofern Beratungsbedarf signalisiert wird. Im Rahmen der Familienberatung wird hierbei nach den Grundsätzen und Methoden der systemischen Therapie und Beratung (vgl. Schlippe & Schweitzer, 1996) gearbeitet.

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Für einen Teil der betroffenen Eltern geht die „Diagnose“ Hochbegabung mit einem Gefühl der Verunsicherung einher, wobei gleichzeitig durchaus auch eine gewisse Erleichterung einsetzen kann, nun endlich zu wissen, was es mit all den wahrgenommenen Auffälligkeiten im Verhalten des Kin-des auf sich hat. Neben Eltern, die der Hochbegabung des eigenen Kindes eher zurückhaltend oder gar kritisch gegenüber stehen und am liebsten „ein ganz normales Kind“ hätten, gibt es auch Eltern, die sehr bestrebt erschei-nen, ihr (hoch)begabtes Kind bestmöglich zu fördern. In ihrem Bedürfnis, dem Kind optimale Entwicklungsbedingungen bieten zu wollen, verlieren sie oftmals aus dem Blick, dass auch leicht eine Überforderungssituation entste-hen kann, wenn ein Zuviel an Leistungserwartung dominiert. Auch dies kann Ausgangspunkt einer Kooperation mit Eltern sein, deren Kind angesichts seiner Hochbegabung Verhaltensauffälligkeiten zeigt.

Was die Kinder selbst anbelangt, so wird von hochbegabten Kindern häu-fig erwartet oder ihnen wird unterstellt, dass sie sich z.B. durch herausragen-de Leistungen auszeichnen müssten bzw. allumfassend kompetent wären. Medial präsent sind demgegenüber immer wieder regelrechte Leidensge-schichten einiger Hochbegabter: Kinder und Jugendliche, die nicht in der Lage zu sein scheinen, ihr Leben kompetent zu meistern. Ebenso kursieren nach wie vor implizite Alltagstheorien, wie Hochbegabte seien Schulversa-ger oder aber prädestiniert für schwerwiegende psychische Störungen. Dies erklärt, weshalb mit dem Phänomen Hochbegabung nicht selten eher Be-fürchtungen assoziiert werden, was auf den ersten Blick verwundern mag, handelt es sich bei überdurchschnittlicher Intelligenz doch eigentlich um ei-nen Resilienzfaktor (Scheithauer & Petermann, 2000). Auf den zweiten Blick wird klarer, dass mit diesem Phänomen verbundene Assoziationen zumeist auch mit einer als eingeschränkt erlebten Handlungsfähigkeit der Eltern (und anderer wichtiger Bezugspersonen des Kindes, z.B. LehrerInnen) einherge-hen.

Von den Eltern hochbegabter Kinder wird gehäuft von endlosen Diskus-sionen mit ihren Kindern, Gefühlen der Überforderung mit deren emotionaler Sensitivität (Piechowski, 1991) oder wahrgenommener Inkompetenz dem ei-genen Kind gegenüber berichtet. Daraus resultiert eine gewisse „Angst“ vor dem Kind, ein Gefühl elterlicher Hilflosigkeit (Pleyer, 2003, 2004, zit. nach Schlippe, 2005). Ein vermehrtes oder kontinuierliches Erleben von Hilflosig-keit wiederum kann zu einer inneren Zurücknahme führen, so dass die so genannte elterliche Präsenz (Omer & Schlippe, 2002, 2004) in nicht mehr ausreichendem Maße gewährleistet ist: Eltern also nicht mehr adäquat als Interaktionspartner und Erzieher ihrer Kinder fungieren. Dies wirkt sich nach systemischem Verständnis auf die beteiligten Kinder aus und kommt einer

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Doppelbelastung des Kindes gleich: in besonderem Maße bedürftig und von Eltern umgeben, die sich zunehmend aus dem Beziehungsprozess verab-schieden. Um nicht nur als Individuum, sondern auch als Elternteil präsent zu sein und die Elternrolle auszufüllen, muss man sich fähig fühlen

– wirksam zu handeln, – seinen (moralischen und persönlichen) Überzeugungen trauen und – das Gefühl haben, dass die eigenen Anstrengungen von anderen

eher unterstützt als vereitelt werden.

Dem Konzept der elterlichen Präsenz wird derzeit auch innerhalb des systemischen Elterncoachings hohe Bedeutung beigemessen (Schlip-pe, 2006). Es nimmt vornehmlich (hoch belastete) Familien in den Blick, in denen die so genannte elterliche Präsenz bereits verloren gegangen zu sein scheint. Diese Art der Elternbegleitung ist insofern als eine Alternative zur klassischen Eltern- bzw. Erziehungsberatung zu sehen als sie weniger Regeln und Prinzipien vermittelt, sondern in ganz besonderer Weise auf Aufmerksamkeit und Beziehungsgestaltung fokussiert. Im Hinblick auf die zunehmende Verunsicherung von Eltern im Erziehungsprozess insgesamt (Fuhrer, 2009) stellen Eltern gehäuft die Frage nach der „richtigen“ Erzie-hung1 und zeigen sich durchaus geneigt, nach Regeln und Prinzipien zu su-chen, die einen gewissen Halt bzw. Sicherheit „garantieren“. Dennoch liegt auf der Hand, dass normative Verhaltensregeln heutzutage weniger pass-fähig erscheinen (vgl. Fuhrer, 2009). Zudem bergen Prinzipien auch immer die Gefahr, die Beziehung zwischen Eltern und Kind zu blockieren, quasi zwischen sie zu treten (Schlippe, 2006). Vielmehr geht es um Aufmerksam-keit gegenüber dem Kind; der „Job“ der Eltern ist Struktur vorzugeben, eine positive Atmosphäre zu schaffen und in diesem Rahmen sowohl Raum zu geben für die Initiativen des Kindes als auch selbst Initiative zu übernehmen und zu leiten (Schlippe, ebenda). Aufmerksamkeit dem Kind gegenüber be-deutet hierbei auch, das Kind nicht zum Zielpunkt eigener ehrgeiziger und planvoller Bemühungen werden zu lassen – vielfach gleicht Erziehung heute auch einer Art wissenschaftlichem Projekt (vgl. Fuhrer, 2009) –, sondern es so zu nehmen und zu achten wie es ist.

1 Sie unterstellt ohnehin die Idee, es könne für alle Kinder jeweils passende, „richtige“ erzieherische Interventionen geben. Jedes Kind reagiert auf seine Weise und verarbeitet in seiner spezifischen Art die erzieherischen Interventio-nen der Erwachsenen. Somit sollte Erziehung von vornherein als Anregung zur Selbstsozialisation des Kindes verstanden und vermittelt werden: als gelingende Kooperation zwischen gleichwürdigen Partnern. Die erzieherische Haltung der Eltern sollte von Respekt vor dem Kind und Anerkennung seiner Autonomie, d.h. Ernstnehmen seiner Reaktionen und Entscheidungen, getragen sein, ohne dass dabei die Elternrolle und Elternfunktion aufgegeben wird (Rotthaus, 2006).

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Unabhängig vom konkreten Anliegen der Familie, welches im Vorder-grund unserer Kooperation zwischen Beratern und Familie steht, ist Ziel der Beratung eine Erweiterung der Wahrnehmungs- und Handlungsmöglichkei-ten des/der Einzelnen und des Gesamtfamiliensystems. Im Rahmen einer ressourcen- und lösungsorientierten Gesprächsführung wird versucht, bis-herige (Beziehungs)Muster und Vorannahmen zu hinterfragen und zusätzli-che Sichtweisen anzuregen, um neue Interpretationsvarianten (von Verhal-ten) und Interaktionsregeln vor allem auch für das familiäre Zusammenleben zu ermöglichen. Es wird ein neugieriger und respektvoller Dialog mit den Eltern oder der Familie geführt, um alle Beteiligten darin zu unterstützen, neue Perspektiven und möglicherweise befriedigendere Muster des Zu-sammenlebens zu etablieren. Das Aktivieren von Kompetenzerleben steht in unserem beraterischen Prozess im Vordergrund. Beispielhaft seien drei Grundhaltungen in unserer Arbeit mit Familien, Paaren bzw. einzelnen Fa-milienmitgliedern genannt:

– Ressourcenorientierung: der Blick auf die Stärken und Kompetenzen aller Beteiligten (die diesen oftmals sehr wenig bewusst sind, wenn Beratung aufgesucht wird) führt zur Reaktivierung des eigenen Kom-petenzerlebens und somit dem Erleben eigener Handlungsfähigkeit. Hierzu gehört auch, den Blick auf hilfreiche Erfahrungen in der Her-kunftsfamilie sowie im aktuellen (familiären) Beziehungsgefüge zu richten, um die besonderen Stärken der einzelnen Familienmitglieder sowie des gesamten Familiensystems aufzuzeigen.

– Kontextbezogenheit von Verhalten: Jedes Verhalten gewinnt Bedeu-tung, Sinn und Wirkung erst in seinem Situationszusammenhang, sei-nem (ökosystemischen) Kontext. Ob also etwas als Kompetenz, als verstehbarer und womöglich wertschätzbarer Lösungsversuch oder sogar als adäquate Lösung für bestimmte Ziele unter bestimmten Situationsbedingungen verstanden werden kann oder ob genau das gleiche Phänomen eher als Inkompetenz, Krankheit oder Versagen gesehen wird, hängt ausschließlich vom Kontextrahmen ab, in den man es stellt bzw. in dem man es sieht.

– Lösungsorientierung: Der konsequente Blick auf die Lösung bzw. die Beschreibung einer Lösung ist die Prophezeiung, dass es eine (oder auch mehrere) Lösung(en) gibt. Die Familie wird bereits im ersten Kontakt zu Fragen, wie „Was soll in gewünschter Weise besser wer-den und woran konkret würden Sie, Ihr(e) PartnerIn, Ihr(e) Kind(er) etc. es merken?“, eingeladen (vgl. auch Schmidt, 2008).

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Ziel unserer Kooperation insbesondere mit Eltern ist dafür zu sorgen, dass sich alle Akteure des familiären Bezugssystems fähig(er) erleben, das Kind angemessen zu begleiten, und sich in all ihren Rollen bzw. Funktionen dem Kind gegenüber sicher(er) fühlen. Genau diese Sicherheit bildet die Grundlage für einen adäquaten und für alle Seiten befriedigenden Umgang mit dem Kind, was dessen zukünftige (persönliche, schulische, berufliche etc.) Entwicklung anbelangt, sowie für die Gewährleistung bzw. den Aus-bau eines zufriedenstellenden familiären Zusammenlebens. Ein besonderes Anliegen der professionellen Elternbegleitung am DIEZ besteht, wie bereits weiter oben erwähnt, darin, die Potenziale der Einzelnen sowie des gesam-ten Systems Familie so auszuschöpfen, dass die Vielzahl der Handlungs-möglichkeiten bewusst und erfahrbar gemacht wird. Angesichts der vielfälti-gen Herausforderungen, vor denen Familien heutzutage stehen, führt erlebte Handlungsfähigkeit zum Erleben von Selbstwirksamkeit und das wiederum hat positive Auswirkungen auf die Lebenszufriedenheit und das Wohlbefin-den von Eltern und Kindern.

Bei einer Reihe an ganzheitlichen, systemisch orientierten Ansätzen zum Verständnis und zur Entwicklung von Hochbegabung sowie zur Beratung betroffener Eltern liegt der Fokus vornehmlich auf dem Verständnis von Hochbegabung als Interaktion zwischen Individuum und Umwelt und bezieht sich auf die Kinder und ihre Förderung (durch die Eltern). Darauf aufbauend erscheint es eine viel versprechende Ergänzung zu sein, in der professio-nellen Elternbegleitung die zusätzlichen Funktionen der Eltern in den Blick zu rücken. Wenn Eltern sich als Experten ihrer Familie und als kompetent im Management des familiären Zusammenlebens fühlen und in diesem Sin-ne physisch, emotional und geistig als Zentrum und Mittelpunkt der Familie präsent sind, geben sie sich und ihren Kindern gleichermaßen Orientierung und Stabilität und können (ihren) Kindern mit besonderen Entwicklungsbe-dürfnissen auch in einem höheren Maße gerecht werden.

Literatur

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– Fuhrer, U. (2009). Lehrbuch Erziehungspsychologie (2., überarb. Aufl.). Hans Huber: Bern.

– Grassinger, R. (2009). Beratung hochbegabter Kinder und Jugendlicher. Bd. 4 der Reihe: Talentförderung – Expertiseentwicklung – Leistungsex-zellenz (Hrsg. K.A. Heller & A. Ziegler). Münster: LIT-Verlag.

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106 – – – ABB-InformAtIon 2012

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– Omer, H. & Schlippe, A. von (2002). Autorität ohne Gewalt. Elterliche Prä-senz als systemisches Konzept. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

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– Rotthaus, W. (2006). Erziehung – auf der Suche nach orientierenden Konzepten im Unplanbaren, In C. Tsirigotis, A. von Schlippe & J. Schweit-zer-Rothers (Hrsg.). Coaching für Eltern. Mütter, Väter und ihr „Job“. S. 36–43. Carl Auer: Heidelberg.

– Scheithauer, H. & Petermann, F. (2000). Aggression. In F. Petermann (Hrsg.), Lehrbuch der Klinischen Kinderpsychologie). S. 188–226. Göt-tingen: Hogrefe.

– Schmidt, G. (2008). Einführung in die hypnosystemische Therapie und Beratung. Carl Auer: Heidelberg.

– Schneewind, K. (1999). Familienpsychologie. Stuttgart: Kohlhammer. – Schlippe, A. von (2005). Von der Familientherapie zum systemischen El-

terncoaching – Einführung in ein Spannungsfeld, In C. Tsirigotis, A. von Schlippe & J.

– Schweitzer-Rothers (Hrsg.). Coaching für Eltern. Mütter, Väter und ihr „Job“. S. 9–24. Carl Auer: Heidelberg.

– Schlippe, A. von & Schweitzer, J. (1996). Lehrbuch der systemischen Therapie und Beratung. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

– Ziegler, A. (2005). The Actiotope Model of Giftedness. In R. J. Sternberg & J. E.

– Davidson(Eds.), Conceptions of giftedness (411–436). New York: Cam-bridge University.

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Geschlechtsunterschiedlicher Einfluss von Soziotopen auf die SchulleistungMarold Reutlinger

Es besteht in der Forschung Konsens, dass Begabungen und Talente nicht mit einer einzelnen Persönlichkeitseigenschaft, wie zum Beispiel Intelligenz (Terman, 1925) gleichgesetzt werden können. Dies bedeutet, dass vielmehr eine multifaktorielle Betrachtung nötig ist. So wurden eine Vielzahl multifak-torieller Modelle entwickelt, in denen der monokausale Erklärungsansatz in vielerlei Hinsicht erweitert wird (vgl. Ziegler, 2008). Hierbei wird erstens mehr als nur ein Begabungsfaktor postuliert. Zweitens wird ausdrücklich konze-diert, dass Leistungsexzellenzen in verschiedenen Formen auftreten können (z.B. in der Musik, dem Sport, der Mathematik). Diese Formen beruhen auf unterschiedlichen Ursachenbündeln und müssen somit auch unterschiedlich erklärt werden. Drittens werden sogenannte boundary conditions der Bega-bungen in die Begabungsmodelle selbst mit aufgenommen. Insbesondere der Faktor Lernumwelt hat eine entscheidende Rolle. Bekannte Beispiele sind für multifaktorielle Modelle das triadische Interpendenz-Modell von Mönks (1992), das drei Ringe-Modell von Renzulli (2005), für Interaktions-modelle das Münchner Hochbegabungsmodell (Heller, Perleth & Lim, 2005) und für systemtheoretische Modelle das Aktiotop-Modell von Ziegler (2005).

Um eine gute Adaption zu systemischen Modellen zu gewährleisten, scheint es sinnvoll für die Lernumwelten ebenfalls einen systemtheoreti-schen Ansatz zu wählen. Ein mögliche und praktikable Unterteilung der Umwelt sind die sog. Soziotope. Dieser Begriff hat seinen Ursprung in den Sozialwissenschaften und setzt sich aus dem lateinischen sozio (die Ge-meinschaft betreffend) und topos (griechisch: Ort) zusammen. In den Sozi-alwissenschaften dienten Soziotope hauptsächlich dazu, einen Zusammen-hang zwischen den belebten Örtlichkeiten (z.B. Wohnung, Nachbarschaft) und der Gemeinschaft herzustellen.

Einen ersten Transfer aus den Sozialwissenschaften in die Psychologie findet man bei einer Studie von Bargel, Gloy, Heinke, Presch und Walter (1973). Sie fassen modale Umwelt-Typen zu Soziotopen zusammen, um soziale Umwelten von Kindern zu beschreiben. Somit sollte die Deskription spezifischer Umwelten, deren Relevanz für die kindliche Entfaltung und die Standortfrage von Bildungseinrichtungen untersucht werden. Die dort ver-wendeten Umwelt-Taxonomien werden von Trundewinde (1982) noch erwei-tert, um in einer empirischen Längsschnittstudie bei 9–11 jährigen Kindern das Ausmaß des intellektuellen und leistungsthematischen Anregungsgehal-tes, des elterlichen Leistungsdrucks und der kumulierten Erfolgs- und Miss-

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erfolgserfahrung auf die Motivationsförderung zu untersuchen. Sowohl bei Trundewinde, wie auch bei Bargel et al. sind die Einteilungen recht stabil und wirken gleichförmig. Andere Modelle setzten darauf, dass die Umwelt und das Individuum gleichberechtigt sind. Rothe (2006) gliedert die Soziotope orientiert an Bronfenbrenner’s Zwiebel-Modell (Bronfenbrenner, 1979) in vier unterschiedliche Niveaus:

– Regionale Faktoren: das Wohngebiet, Beziehungen zum erweiterten (Nachbarn, Verwandte etc.) und zum entfernten (Lehrern, Peers etc.) sozialen Umfeld, den Zugang zu gesellschaftlichen Einflussfaktoren und den Kommunikationsmedien;

– Sozioökonomisches Milieu: die Wohnsituation, die Schulsituation, die Arbeitssituation der Eltern, die finanzielle Situation;

– Familiendynamik: Eltern-Kind-Beziehung, Geschwisterbeziehung, Beziehung der Eltern ;

– Personen-System: Motivation, Fähigkeitspotenzial, Normentwicklung, Verhaltenspotential etc.

Diese Soziotop-Definitionen haben gemeinsam, dass sie in drei wichti-gen Punkten Nachteile aufweisen (Ziegler, Reutlinger & Hering, 2012):

1 Sie wirken nur indirekt auf Handlungen einer Person.2 Sie orientieren sich zu sehr an unspezifischen Kriterien, die häufig für

einen anderen Zweck entworfen wurden (z.B. Stadtteilgrenzen). 3 Sie sind nicht relational, also für eine Person bestimmt, genug.

Deshalb sollten Soziotope, wie von Ziegler (2008, 2009) beschrieben, als eine Rahmenbedingung des Handelns betrachtet werden und der sich in ih-nen aufhaltenden Person als Handlungsraum dienen. Sie sollten der Person in unterschiedlichen Situationen das Durchführen von objektiven und norma-tiven Handlungen bei positiver Auswirkung ermöglichen bzw. bei negativer Auswirkung erschweren oder gar verhindern. Zur Anwendung der Sozioto-pe zur Beschreibung von Leistungen in einer Domäne ist eine Ausrichtung auf Lern- bzw. Bildungsziele notwendig (Ziegler, Reutlinger & Hering, 2012). Eine effektive Klassifizierung verschiedener Umweltsituationen in Soziotope findet sich bei Ziegler (2008, vgl. auch Ziegler, Reutlinger & Hering, 2012):

– Infrastrukturelle Soziotope: Wenn dieses Soziotop vorhanden ist, er-möglicht bzw. begünstigt es die Durchführung und die Entwicklung einer Handlung. Ist dieses Soziotop nicht vorhanden (z.B. kein Berg zum Skifahren) ist es schwer bzw. sogar unmöglich, eine Leistungs-exzellenz zu erreichen.

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– Lernsoziotope: Sind schon allein von Ihrer Struktur auf Lernzuwächse ausgerichtet.

– Professionssoziotope: Hier wird eine gute Leistung positiv bewertet, jedoch kann im Allgemeinen kein Wissen hinzugewonnen werden (z.B. Konzertauftritt eines Musikers).

– Thematische Soziotope: Die Kommunikation einer Domäne wird po-sitiv sanktioniert. Das positive Ansehen einer Domäne erhöht dessen Wertschätzung. Somit lassen sich Normen und Ziele entwickeln.

– Antagonistische Soziotope: Hier wird der Lernzuwachs in einer Domä-ne negativ sanktioniert.

– Konkurrierenden Soziotope: Hier ist es unmöglich die Lernhandlung in der Domäne durchzuführen (z.B. Diskothek oder Kino beim Lernen für die Schule).

Hierbei werden die ersten drei Soziotope (Infrastruktur, Lernen & Profes-sion) als für den Lernprozess förderlich betrachtet, wohin gegen das thema-tische, das antagonistische und das konkurrierende Soziotop als den Lern-prozess erschwerend bzw. gar verhindernd angesehen werden.

Die Idee Zieglers war es, dass Begabte auf ihrem Weg zur Leistungsex-zellenz Zugang zu lerngünstigen Soziotopen haben und sich seltener in So-ziotopen aufhalten, die dem Lernen abträglich sind. Dieser Zusammenhang müsste sich auch bei schulischen Leistungen finden lassen.

Ziel der Untersuchung

In der durchgeführten Studie sollte ein Zusammenhang zwischen den schu-lischen Leistungen und der Beurteilung der verschiedenen Situationen, in denen sich Schülerinnen und Schüler befinden, festgestellt werden. Die ursprüngliche Annahme bestand darin, dass die Häufigkeit, Situationen als Lernsoziotope wahrzunehmen und zu nutzen, eine bessere schulische Leis-tung nach sich zieht. Hierzu sollten Schülerinnen und Schüler einen Frage-bogen ausfüllen. In diesem wurden sie gebeten, verschiedene Situationen hinsichtlich des Lernens zu beurteilen. Situationen waren beispielsweise:

– Am Wochenende mit meinen Eltern … – Bei gemeinsamen Mahlzeiten … – Auf dem Heimweg von der Schule … – Bei Gesprächen mit Freunden und Bekannten … – …

Jede dieser Situationen sollte unter folgenden fünf Aspekten beurteilt werden:

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– … ist schulisches oft ein Thema. – … ist es wichtig, dass ich in der Schule gut abgeschnitten habe. – … hätte ich ganz gute Möglichkeiten für die Schule zu lernen. – … bieten sich Möglichkeiten für die Schule zu lernen. – … beschäftige ich mich mit vielen Dingen lieber, als mit der Schule.

Mit diesen Vorgaben lassen sich thematische Soziotope, konkurrieren-de Soziotope und Lernsoziotope unterscheiden. Zur Feststellung der schu-lischen Leistung der Schülerinnen und Schüler wurden zudem noch die Noten in Deutsch, Mathematik und der ersten Fremdsprache erhoben. Das daraus gebildete arithmetische Mittel wurde als Schulleistung weiterverwen-det. Anhand dieser Notenschnitte wurden die Schülerinnen und Schüler in fünf Leistungsgruppen unterteilt und die unterschiedliche Wahrnehmung der einzelnen Gruppen hinsichtlich verschiedener Soziotope mit Hilfe des Chi² Test auf Unterschiede untersucht. Des Weiteren wurden die Leistungsunter-schiede in den einzelnen Soziotopen hinsichtlich des Geschlechts der Schü-lerinnen und Schüler untersucht. Dies erfolgt erneut mit dem Chi² Test.

Ergebnisse

Vergleicht man die fünf Schülerleistungsgruppen hinsichtlich ihrer Nutzung von Soziotopen, ist festzustellen, dass Schülerinnen und Schüler der unters-ten Leistungsgruppe signifikant häufiger unpassende Soziotope als Lernum-gebung ansehen. Dies ist zum Beispiel bei den Items „Bei den gemeinsamen Mahlzeiten zu Hause – hätte ich ganz gute Möglichkeiten für die Schule zu lernen.“ (Chi²(4)=15,162, p<0,01) oder „Auf meinen Weg zur Schule – hät-te ich ganz gute Möglichkeiten für die Schule zu lernen“ (Chi²(4)= 8,479, p<0,05) der Fall. Hier wird z.B. ein konkurrierendes Soziotop als Infrastruktu-relles Soziotop missinterpretiert. Es zeigt sich, dass die guten Schülerinnen und Schüler im Allgemeinen ungünstige Lerngelegenheiten auch als solche erkennen.

Wenn man die Durchschnittsnoten der Schülerinnen und Schüler getrennt nach Geschlecht betrachtet, ist festzustellen, dass die Mädchen mit einem Notendurchschnitt von 3,08 im Vergleich zu den Jungen mit 2,64 deutlich schlechter abschneiden (T(4,165)= 185,269, p<0,01). In den einzelnen Jahr-gängen schwankt die Schulleistung jedoch deutlich (F(3)=2,709 p<0,05). So erzielten Jungen im Alter von 13 Jahren eine deutlich bessere Durchschnitts-note (1,90) als Mädchen (3,01) in demselben Alter. Jedoch reduzierte sich dieser Unterschied über die einzelnen Jahrgangsstufen. So nahm die Schul-leistung von Jungen über die Altersstufen ab (14 Jahre: 2,52, 15 Jahre: 2,78,

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16 Jahre 2,87), während bei Mädchen eine Verbesserung der Schulleistung zu beobachten war (14 Jahre: 3,17, 15 Jahre: 3,16, 16 Jahre 2,78).

Betrachtet man nun die unterschiedliche Wahrnehmung der Situationen getrennt nach Geschlecht, kann man erkennen, dass bei Jungen Schu-lisches viel öfter ein Thema ist als bei Mädchen. Signifikant häufiger ge-schieht dies bei Gesprächen mit Freunden und Bekannten (Chi²(1)= 16,682, p<0,001), bei Aktivitäten mit den Eltern (Chi²(1)= 4,204, p<0,05), bei gemein-samen Mahlzeiten (Chi²(1)=7,293, p<0,01) und beim nach Hause kommen nach der Schule (Chi²(1)= 3,990, p<0,05). Im Gegensatz zu den Jungen, die von diesen Situationen profitieren und auch signifikant weniger meiden (z.B. Gespräche mit Bekannten – Beschäftigung mit anderen Dingen; Chi²(1)= 3,990, p<0,05), wirken auf Mädchen Gespräche mit Eltern und Bekannten eher hemmend. So ist bei Mädchen gutes Abschneiden in der Schule am Wochenende mit den Eltern (Chi²(1)= 9,594, p<0,01) signifikant, sowie beim Treffen von Bekannten (Chi²(1)= 3,241, p<0,1) marginal signifikant wichti-ger als bei Jungen. Zudem zeigen sich deutliche Unterschiede in der Wahr-nehmung von möglichen Lernsituationen. So nehmen Mädchen ungeeigne-te Situationen, wie zum Beispiel gemeinsame Mahlzeiten (Chi²(1)= 5,995, p<0,05), signifikant häufiger als Lerngelegenheiten wahr.

Fazit

Zusammenfassend kann man festhalten, dass der Unterschied der Schul-leistung zwischen den Geschlechtern, vor allem im Alter von 13 Jahren, überraschend ist. Allerdings zeigte sich, dass die Wahrnehmung verschie-dener repräsentativer Situationen des Alltags deutlich unterschiedlich ist, wobei sich bei Jungen eine günstigere Lernumwelt zeigt. So neigen Jungen nicht so sehr wie Mädchen dazu, ungeeignete Situationen als Lernsoziotope bzw. infrastrukturelle Soziotope anzusehen. Dies führt dazu, dass Mädchen in der dieser Studie zu Grunde liegenden Stichprobe, ihr mögliches Lern-potenzial nicht ganz ausschöpfen. Zudem scheint das soziale Umfeld der Kinder eine Auswirkung zu haben. So sind bei Mädchen die Noten bei den Eltern sehr wichtig, was bei dem schlechteren Notendurchschnitt wohl zu Leistungsdruck führen kann. Bei Jungen hingegen ist die Schule im Allge-meinen eher Gesprächsthema in verschiedenen Situationen. Dies könnte bedeuten, dass das Erlernen neuen Wissens positiv sanktioniert wird und die Jungen hierdurch zum Lernen motiviert werden. Dieser Zusammenhang müsste aber in weitergehenden Studien noch genauer untersucht werden.

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Literatur

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Messung überfachlicher Kompetenzen im Projekt „Kolumbus-Youth“ zur Förderung naturwissenschaftlich begabter Schülerinnen und Schüler in der OberstufeClaas Wegner & Sven Grügelsiepe

Abstract

Das Projekt „Kolumbus-Youth“ existiert seit 2009 in der Biologiedidak-tik der Universität Bielefeld. Ziel des Projektes ist die Förderung natur-wissenschaftlich begabter Schülerinnen und Schüler in der Sekundar-stufe II. Im ersten Halbjahr 2011 wurde das Konzept auf der Basis neu gewonnener Erkenntnisse aus der Praxis angepasst und verbessert. Dieser Artikel gibt einen Überblick über „Kolumbus-Youth“ und das damit zusammenhängende Evaluationsvorhaben zur Messung über-fachlicher Kompetenzen.

1 Projekthintergrund

1.1 Einleitung

Als vorrangiges Ziel setzt sich das Projekt „Kolumbus-Youth“ die Förderung naturwissenschaftlich begabter Schülerinnen und Schüler der 10. Jahr-gangsstufe (nach G8). Im fachlichen Fokus steht die Biologie. Überschnei-dungen mit anderen naturwissenschaftlichen1 oder der Biologie naheste-henden Fachbereichen2 sollen gefördert werden. Die Bewerbung für die Teilnahme erfolgt nach der Empfehlung der Fachlehrerinnen und Fachlehrer der entsprechenden Jahrgangsstufe, ein Aufnahmetest wird danach durch-geführt. Es können innerhalb eines Kurses insgesamt 12–15 Schülerinnen und Schüler aufgenommen werden, die dann je nach Betreuungsangebot3 in 4–5 Forschungsgruppen zu je 3–4 Schülerinnen und Schülern aufgeteilt werden. Die Aufteilung erfolgt nach ihrer getroffenen Wahl eines Fachberei-ches. Betreut werden die einzelnen Forschungsgruppen von dem Kursleiter und von Lehramtsstudentinnen und -studenten (Gymnasium/Gesamtschu-le) ab dem 4. Semester.4 Die Schülerinnen und Schüler können zu Beginn

1 z.B.: Chemie, Physik2 z.B.: Ernährungswissenschaften, Gesundheitswissenschaften.3 Abhängig von der Anzahl der Studierenden die an diesem Projekt (in Form

eines Praxisseminars) teilnehmen.4 Neben der entsprechenden absolvierten Semesterzahl ist die Teilnahme an

einem vorbereitenden Theorieseminar Voraussetzung für die Betreuung einer Forschungsgruppe.

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des Projektes zwischen fünf Fachbereichen1 der Biologie wählen. Innerhalb dieser Fachbereiche sollen Ideen und Interessen der Gruppenmitglieder in Zusammenarbeit mit der Gruppenbetreuerin oder dem Gruppenbetreuer herausgearbeitet und in Form eines Forschungsvorhabens umgesetzt wer-den.2 Die Dauer eines Kurses ist an die eines Schulhalbjahres angepasst. In dieser Zeit können je nach Umfang und Vorankommen der entwickelten Forschungsvorhaben auch mehrere Vorhaben durchgeführt werden.

Um das Projekt und den Nutzen weiterhin einschätzen zu können, wur-de ein Evaluationsvorhaben entwickelt, welches sich unter anderem auf die Messung überfachlicher Kompetenzen der teilnehmenden Schülerinnen und Schüler stützt.

Dieses Forschungsvorhaben wird im zweiten Teil („Messung überfachli-cher Kompetenzen“) vorgestellt. Im Folgenden wird ein Überblick über den Projektablauf und die Projektstruktur gegeben.

1.2 Projektablauf

Die Projektphase erstreckt sich insgesamt über 14 Wochen mit jeweils 90 Minuten Arbeitszeit pro Unterrichtstag (Abbildung 1). Einmal wöchentlich be-suchen die Schülerinnen und Schüler die Universität, um ihre Forschungs-vorhaben auszuarbeiten und an ihnen zu forschen.

Der Projektablauf setzt sich aus drei Teilen zusammen – Einführung, Experimentierphase und Präsentation. Der erste Tag beginnt mit einer Ein-führung, in der ein Überblick zum Projektablauf gegeben wird und grund-sätzliche Regeln zum sicheren Arbeiten im Labor besprochen werden. Im Anschluss folgt die Gruppeneinteilung, eine Führung durch die Räumlichkei-ten des Projektes sowie ein „spielerisches“ Kennenlernen3.

Den Kern des Projektes bildet die Experimentierphase, in der die Schüle-rinnen und Schüler in ihren Forschungsgruppen4 arbeiten.

Beendet wird das Projekt „Kolumbus-Youth“ mit einer 10–15 minütigen

1 Neuro- und Verhaltensbiologie, Ökologie, Genetik, Mikrobiologie und Biochemie 2 Die Gruppenbetreuer oder -betreuerinnen stehen in ständigem Kontakt mit dem

Kursleiter.3 z.B.: Nacheinander sollen sich die Teilnehmer, Teilnehmerinnen und Gruppen-

betreuer mit Adjektiven, die mit den Anfangsbuchstaben ihrer Initialen beginnen, beschreiben.

4 Diese sind räumlich voneinander getrennt, da das Projekt über eine Meerwas-seranlage, Laborräume sowie einem Projektraum mit verschiedenen Tieren verfügt.

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Präsentation1, in der die einzelnen Forschungsgruppen ihr/e Forschungs-vorhaben vorstellen. Die Gruppenbetreuer und -betreuerinnen geben folgen-de inhaltlichen Vorgaben an ihre Schülerinnen und Schüler weiter (Abbil-dung 2):

Abb. 2: Inhaltliche Vorgaben bzgl. der Präsentation

1.3 Projektstruktur

Im folgenden Abschnitt soll die Strukturierung der Experimentierphase ge-nauer beleuchtet werden. Sie umschließt den Prozess von der Ideenfindung und gemeinsamen Entwicklung eines Forschungsvorhabens bis hin zur Aus-wertung und Darstellung des Vorhabens.

Das Grundkonzept der Experimentierphase ist an das „forschend-entwi-

1 visuell unterstützt durch Microsoft PowerPoint.

Abb. 1: Schematische Darstellung des Projektablaufs in Abhängigkeit zum Verlauf des Kurshalbjahres. Einteilung des Projektablaufs in drei Kategorien (Einführung,

Experimentierphase, Präsentation) möglich.

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ckelnde Unterrichtsverfahren“ von Schmidkunz und Lindemann (2003) an-gelehnt. Dieses Verfahren wurde entsprechend der Möglichkeiten von „Ko-lumbus-Youth“ (z.B. Kleingruppenarbeit, Schülerinteresse entscheidet direkt über Themenwahl, keine Bindung an Lehrplan) und unter Berücksichtigung der grundlegenden Prinzipien1, auf die Schmidkunz und Lindemann ihr Un-terrichtsverfahren aufbauen, angepasst. Das veränderte Konzept wurde in einem weiteren Schritt mithilfe von bewährten Methoden des Projektma-nagements2 kombiniert, um die Strukturierung, Organisation und Steuerung in den Experimentiergruppen selbst und des gesamten Projektes zu verein-fachen. Die Vergleichbarkeit der einzelnen Experimentiergruppen kann so durch klar definierte Handlungsvorgaben gesteigert werden. Diese sind in Form von vier Forschungsphasen, die jeweils durch einzelne Forschungs-schritte definiert sind, umgesetzt (Abbildung 3).

Die Projektwahl bildet die erste Forschungsphase. Innerhalb des For-schungsschrittes 1.1 („Interessensgebiete“) führt der Gruppenbetreuer oder die Gruppenbetreuerin ein ungefähr 40-minütiges Einführungsexperiment durch. Es gibt den Gruppenmitgliedern die Möglichkeit sich einzugewöhnen und macht es dem Betreuer einfacher ihr experimentelles Können3 einzu-schätzen.

Diese Einschätzung ist erforderlich, damit die betreuende Person beur-teilen kann, welche Prozesse4 während eines Experimentes weiter eingeübt werden müssen, damit die Schülerinnen und Schüler weitestgehend selbst-ständig arbeiten können. Innerhalb des Forschungsschrittes 1.1 gilt es für die Gruppenbetreuerin oder den Gruppenbetreuer außerdem herauszufin-den, wo genau die Interessen der Gruppenmitglieder liegen. Die Erstellung einer Mindmap und anschließende Kategorisierung der Interessensgebiete ermöglicht es, Themenbereiche zu benennen, für die die Gruppenmitglieder

1 Prinzip des Lernens aus Interesse, Prinzip der hohen eigenen Aktivität und des selbstständigen Wissenserwerbs, Prinzip des Erfolgserlebnisses, Prinzip des Lernens aus Problemsituationen, Prinzip der Einbeziehung aller Fähigkeitsberei-che (kognitiver, psychomotorischer und affektiver Bereich), Prinzip der Struk-turierung, Prinzip des genetischen Lernens (Schmidkunz & Lindemann 2003, S. 13).

2 z.B.: Unterstützung der Sammlung des für das Forschungsvorhaben benötigten Wissens mithilfe eines Projektstrukturplans (vgl. Hölze 2007, S. 84–89, Reichert 2009, S. 79–82, Endler 2010, S. 32–36), der für „Kolumbus-Youth“ abgewandelt wurde (hier als Forschungsplan bezeichnet).

3 z.B.: Arbeitsweisen (richtiges Pipettieren), Hypothesenerstellung, geeignete Dokumentation, Rollenaufteilung usw.

4 Vor dem Hintergrund der bereits gemachten Erfahrungen zeigt sich beispiels-weise gerade die Hypothesenbildung als förderungsbedürftig.

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besonderes Interesse haben. Aus diesen Interessensgebieten entwickelt der Gruppenbetreuer 4–5 Forschungsideen, welche in Forschungsschritt 1.2 („Forschungsideenwahl“) durch die Gruppenmitglieder diskutiert und verän-dert werden können. Es erwies sich als empfehlenswert, eine Auswahl an Ideen anzubieten und die grobe Entwicklung durch die Gruppenbetreuer und -betreuerinnen vornehmen zu lassen.

So kann den Schülerinnen und Schülern ein breiteres Spektrum an He-rangehensweisen (Methoden) geboten und eine Überforderung verhindert werden.

Die zweite Forschungsphase wird durch die „Informationssammlung“ ge-bildet. Unterstützt wird diese Phase durch einen Forschungsplan (Abbildung 4). Ziel des Forschungsplans ist die kontinuierliche Entwicklung eines Netz-plans, der eine möglichst umfassende Sammlung von einzelnen Fragen, die zur erfolgreichen Bearbeitung des Experimentes beantwortet werden müs-sen, beinhaltet.

Einzelfragen werden Überkategorien zugordnet, um größere Sachzu-sammenhänge aufzuzeigen.

Abb. 3: Darstellung der vier Forschungsphasen mit den dazugehörigen Forschungs-schritten.

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Abb. 4: Erarbeitung eines Forschungsplans („Kolumbus-Youth“ – 2011/2012: Grup-pe – Neuro- und Verhaltensbiologie).

Der Forschungsplan bietet die Möglichkeit, einen Überblick über das be-nötigte Wissen zu entwickeln, ohne dabei umfassende Vorkenntnisse be-züglich des Themas zu fordern. Die Lehrperson muss vor der gemeinsamen Sammlung eine eigene Liste mit einem umfassenden Fragenkatalog entwi-ckelt haben, um den Prozess der Fragenentwicklung seitens der Gruppen-mitglieder besser überprüfen und ggf. steuern zu können. Die Gruppenmit-glieder erstellen nach Sammlung relevanter Fragen Überkategorien, denen sie die erstellten Fragen zuordnen. Der Fragenkatalog kann während der „Informationssammlung“ ständig erweitert werden. Relevanten Fragen soll-ten eine höhere Priorität zugeteilt bekommen. Die Lehrperson hat bei der Sammlung der Fragen darauf zu achten, dass die Fragen möglichst einfach und offen formuliert sind und nur einen unbekannten Aspekt beinhalten.1 Ein-zelne Fragenpakete können dann von den Gruppenmitgliedern ausgewählt und bearbeitet werden (Abbildung 5). Der Wechsel zwischen Recherche- und Austauschphasen hält die Gruppenmitglieder auf einem Stand. Nach er-folgreicher Erarbeitung der relevanten fachlichen Inhalte (2.1) gilt es, geeig-nete Untersuchungsmethoden (2.2) zu wählen. Zentral ist dabei die Frage, was eine Untersuchungsmethode leisten müsste, um geeignet zu sein. Die Voraussetzungen einer geeigneten Untersuchungsmethode können eben-falls ohne ein umfassendes Wissen vorhandener Untersuchungsmethoden benannt werden. Zusätzlich unterstützt wird diese Phase durch die Bereit-stellung geeigneter Literatur. Nach Auswahl einer Untersuchungsmethode

1 Bsp.: „Wie ist die Zellwand von Bakterien aufgebaut?“ Im weiteren Zeitverlauf des Projektes wird diese Frage weiter spezifiziert: „Wie ist die Zellwand von Gram-positiven und Gram-negativen Bakterien aufgebaut?“ („Kolumbus-Youth“ – 2012: Gruppe – Mikrobiologie)

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wenden die Gruppenmitglieder diese unter Anleitung des Gruppenbetreuers probeweise an, um den Experimentierverlauf ihres Projektes weitestgehend ohne Eingreifen des Gruppenbetreuers vollziehen zu können. Forschungs-schritt 2.3 „Hypothesenbildung“ schließt die „Informationssammlung“ in ge-eignetem Maße ab, da für die richtige Formulierung von Hypothesen unter anderem ein umfassendes theoretisches Wissen bzgl. des Forschungsthe-mas vorhanden sein muss, damit diese einen begründbaren Teil an wahr-scheinlicher Lösung enthalten.

Die 3. Forschungsphase („Planung und Durchführung“) umschließt die konkrete Planung des Forschungsvorhabens, seine Umsetzung, Dokumen-tation und Auswertung.

Als Unterstützung des Planungsprozesses (3.1) wird eine entsprechen-de Tabelle (Abbildung 6), die die zur Planung nötigen Faktoren beinhaltet, an die Gruppen verteilt und von ihnen diskutiert und ausgefüllt. Die betreu-ende Person kann so kontrollieren, ob die nötigen Schritte berücksichtigt wurden und an entsprechenden Stellen genauer nachfragen. Außerdem hilft die zuvor überlegte Aufgabenzuteilung die nötigen Arbeitsschritte besser zu koordinieren. Nach erfolgreichem Abschluss des Planungsprozesses sollte es den Gruppenmitgliedern möglich sein, weitestgehend selbstständig zu experimentieren (Abbildung 7). Problematiken während der Versuchsdurch-führung (3.2) sind meist auf die fehlerhafte Durchführung vorheriger Schritte zurückzuführen und leicht durch eine entsprechende Wiederholung dieser

Abb. 5: Informationssammlung aus bereitgestellten Büchern, fachwissenschaft-lichen Zeitschriften und Internetseiten. Jedes Gruppenmitglied bearbeitet seine ausgewählten Fragen („Kolumbus-Youth“ – 2011/2012: Gruppe – Neuro- und

Verhaltensbiologie).

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Schritte zu beheben.1 Somit zeigen aufkommende Probleme meist das zu schnelle Beenden vorheriger Schritte und/oder eine fehlerhafte Einschätzung seitens der betreuenden Person. Nach Abschluss der „Praktischen Durch-führung“ (3.2) gilt es, die Ergebnisse zu sammeln und in geeigneter Form (z.B.: Diagramm, Tabelle) darzustellen. Innerhalb des Forschungsschrittes 3.3 „Ergebnisse und Diskussion“ gilt es abschließend die aufgestellten Hy-pothesen zu verifizieren bzw. falsifizieren, gegebenenfalls die Hypothese anzupassen und eine Fehlerdiskussion durchzuführen.

In dem vierten und abschließenden Forschungsschritt der „Darstellung“ soll der durchlaufene Forschungsprozess reflektiert (4.1 „Reflexion des Pro-

1 Bsp.: Ungenaue Planung in Schritt 3.1 führt i.d.R. dazu, dass während des Ex-perimentierens häufiger Fragen bzgl. der durchzuführenden Schritte seitens der Gruppenmitglieder an die betreuende Person gestellt werden.

Abb. 7: Praktische Durchführung eines Forschungsvorhabens zur Klärung der Effektivität unterschiedlicher Antibiotika in Abhängigkeit zur Gram-Färbung („Kolum-

bus-Youth“ – 2012: Gruppe – Mikrobiologie)

Abb. 6: Ausschnitte zweier Tabellen, die die genaue Planung der durchzuführenden Arbeitsschritte und die Rollenverteilung während des Experimentes unterstützen

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zesses“) und in geeigneter Weise dargestellt werden. Die Reflexion des Pro-zesses bezieht sich sowohl auf fachliche als auch soziale Inhalte. Im letz-ten Forschungsschritt wird die anfangs erwähnte Präsentation vollendet. Es empfiehlt sich, die Präsentation parallel zum gesamten Forschungsprozess ablaufen zu lassen, um lange und eintönige Arbeit an der Präsentation am Ende des Prozesses zu verhindern. Je nach verbleibender Zeit und Interes-se der Gruppenmitglieder können Folgeexperimente oder neue Forschungs-vorhaben angeschlossen werden.

2 Messung überfachlicher Kompetenzen

Welchen Beitrag kann „Kolumbus-Youth“ zur Förderung ausgewählter über-fachlicher Kompetenzen leisten? Diese Fragestellung soll mithilfe des im Folgenden beschriebenen Forschungsvorhabens geklärt werden.

2.1 Kompetenzbegriff

Die dieser Studie zugrunde liegende Definition von Kompetenz stammt von Weinert.

„Unter Kompetenzen [versteht man] die bei Individuen verfügbaren oder durch sie erlernbaren kognitiven Fähigkeiten und Fertigkeiten, um bestimmte Probleme zu lösen, sowie die damit verbundene mo-tivationale, volitionale und soziale Bereitschaft und Fähigkeit, um die Problemlösungen in variablen Situationen erfolgreich und verantwor-tungsvoll nutzen zu können.“ (Weinert 2002, S. 27, 28)

Kompetenz zeigt sich als sehr schwer zu fassendes Konstrukt aufgrund des Zusammenhangs mit motivationalen, volitionalen und sozialen „Fakto-ren“ sowie der „verantwortungsvollen Anwendung“ in unterschiedlichen Si-tuationen. In diesem Zusammenhang greifen Buschor und Forrer die Unter-scheidung zwischen Kompetenz und Performanz auf (vgl. Buschor, Forrer 2005, S. 14).1 Kompetenz wird dabei als Potenzial verstanden, welches bei einem Individuum vorhanden ist, allerdings nicht in jeder Situation in vollem Maße nutzbar sein muss. Es handelt sich bei Kompetenz nicht um einen Garant erfolgreichen und verantwortungsvollen Handelns (vgl. ebd.). Die Nutzung des Potenzials in konkreten Situationen drückt sich in Form von Performanz aus (vgl. ebd.). Diese ist beobachtbar und registrierbar. Sie lässt Rückschlüsse auf das Potenzial der Kompetenz zu.

1 Als erster unterscheidet der Sprachwissenschaftler Noam Chomsky 1965 Kom-petenz und Performanz (vgl. Anderson 2006, S. 416).

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Abb. 8: Aufteilung von Kompetenz in drei Kategorien – fachliche (z.B. Grundkon-zepte der Biologie), überfachliche (z.B. Problemlösen) und Handlungskompetenzen

(z.B. Konzentrationsfähigkeit) (in Anlehnung an Weinert 2002, S. 28)

Kompetenz kann außerdem in verschiedene Bereiche aufgeteilt wer-den. In Anlehnung an Weinert (2002, S. 28) wird bei dieser Studie zwischen fachlichen und überfachlichen Kompetenzen sowie Handlungskompetenzen unterschieden (Abbildung 8). In dem hier vorgestellten Forschungsvorha-ben sollen überfachliche Kompetenzen im Zusammenhang mit Naturwissen-schaften erfasst werden. Die Relevanz der Kompetenzentwicklung begrün-det Gnahs mit den simultan zu erreichenden Zielen – persönliche Entfaltung, gesellschaftliche Teilhabe, Beschäftigungsfähigkeit (vgl. Gnahs 2010, S. 12). Er schreibt weiterhin, dass die „Kompetenzentwicklung […] damit als zentrale Komponente zur Sicherung der globalen Wettbewerbsfähigkeit und zum Überleben unserer Gesellschaft angesehen [wird]: Sie gerät zu einem Schlüsselelement der Zukunftsgestaltung.“ (Gnahs 2010, S. 12)

2.2 Geplanter Ablauf der Studie

Im Folgenden soll der geplante Ablauf der Studie vorgestellt werden. Ei-nen Überblick über die durchzuführenden Schritte liefert Abbildung 9. Am Anfang steht die Bestimmung der überfachlichen Kompetenzen, die laut der Kernlehrpläne für die Fächer Biologie, Physik und Chemie gefördert werden sollen. Dafür ist die Analyse der entsprechenden Kernlehrpläne für den na-turwissenschaftlichen Bereich erforderlich. Es folgt die Kategorisierung der Zielformulierungen und eine Zuordnung zu psychologischen Modellen. Die-se Aufteilung anhand kognitiver Anforderungen (z.B. Erinnern – Verstehen – Kreieren) wird der Kompetenzmessung in vielen Studien zugrunde gelegt.1 Hintergrund ist die Annahme, dass Kompetenz über reines Wissen hinaus-

1 Schülerebene z.B.: PISA (2000, 2003, 2006, 2009 [1]), Lehrerbildungsforschung z.B.: COACTIV 2003/2004 [2]

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geht und Voraussetzungen für kompetentes Handeln in bestimmten Situatio-nen komplexere kognitive Prozesse sind (vgl. Anderson 2001, S. 367).

Mit der Operationalisierung der bestimmten Kompetenzen endet der ers-te Arbeitsschritt zur Entwicklung von Testfragen zur Messung überfachlicher Kompetenzen, welche in Form eines Situational Judgement Tests gestellt werden (vgl. Weekly & Ployhart 2006, S. 1).

Anders als vergleichbare Studien1 sollen überfachliche Kompetenzen ohne Selbsteinschätzung erfasst werden, daher fällt die Wahl auf Kompeten-zen, die der Fremdeinschätzung zugänglich sind.

Nach Entwicklung von 5–10 Testfragen zu einer Kompetenz müssen die-se validiert und auf ihre Reliabilität geprüft werden. Die Validierung erfolgt mithilfe von Experteninterviews, die zum einen fachliche Inhalte der Testfra-gen auf ihre Richtigkeit prüfen (Fachwissenschaftler aus Biologie, Chemie, Physik). Zum anderen soll eine methodische Überprüfung der Testfragen durch erfahrene Wissenschaftler im Zusammenhang mit der Anwendung ei-nes Situational Judgement Tests erfolgen. Eine Reliabilitätsprüfung erfolgt durch Messung der internen Konsistenz.

Das Testverfahren nutzt ein Wartelistendesign, um eine Kontrollgruppe mit möglichst ähnlichen Voraussetzungen generieren zu können. Abbildung 10 verdeutlicht die Funktionsweise des Designs. Aus der gesamten Bewer-berzahl werden 30 Schülerinnen und Schüler ausgewählt und gleichmäßig auf eine Treatment- und eine Kontrollgruppe aufgeteilt.

1 z.B.: Überfachliche Kompetenzmessung bei Eidgenössischer Jugend- und Rek-rutenbefragungen „ch-x“ 2004/2005 [3])

Abb. 9: Der geplante Ablauf der Studie zur Messung überfachlicher Kompetenzen im naturwissenschaftlichen Bereich

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Die Treatmentgruppe nimmt im ersten Halbjahr an dem Projekt „Kolum-bus-Youth“ teil. Die Kontrollgruppe, welche im ersten Halbjahr als Kontrolle dient, nimmt im zweiten Kurshalbjahr an dem Projekt teil. Getestet werden beide Gruppen jeweils zu Beginn (t1) und zum Abschluss (t2) eines Kurses.

Literatur

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terrichtsverfahren. Problemlösen im naturwissenschaftlichen Unterricht. Westarp Wissenschaften: Hohenwarsleben.

Abb. 10: Anwendung eines Wartelistendesigns, um eine möglichst vergleichbare Kontrollgruppe modellieren zu können

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[2] COACTIV-Studie: http://www.mpib-berlin.mpg.de/coactiv/studie/index.html (Zugriff: 01.05.2012)

[3] Eidgenössische Jugendbefragungen: http://www.chx.ch/s9_Befragungen.html (Zugriff: 01.05.2012)

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Magazin

Laudatio für Prof. Dr. Kurt Heller1

Ernst Hany

„Dear Professor Tan, lieber Herr Heller, meine sehr verehrten Damen und Herren,

es ist mir eine ganz besondere Ehre, Ihnen in wenigen Worten den mit diesem Symposium Geehrten vorstellen zu dürfen. Kurt Heller ist nicht nur diejenige Persönlichkeit, die die Begabungsforschung in den letzten 25 Jahren in Deutschland maßgeblich aufgebaut und international sichtbar ge-macht hat, er ist auch mein Doktorvater und langjähriger Mentor – und in dieser oder ähnlicher Funktion hat er viele der hier versammelten Profes-soren gefördert und geprägt. Deshalb komme ich sehr gerne der Aufgabe nach, Kurt Hellers Beitrag für die Begabtenförderung in knapper Form zu

skizzieren.

Kurt Heller begann seine wissenschaftlichen Arbeiten zu einer Zeit, zu der seine späteren Schüler gerade erst geboren waren. Vor 45 Jahren schrieb er in einem bemerkenswerten Aufsatz zur Erschließung der Be-gabungsreserven vom dy-namischen Charakter der Begabung. Damit meinte er das Wechselspiel zwischen Begabung und weiterer Per-sönlichkeit und zwischen Person und Milieu (Heller, 1966). Sein kritischer Blick galt der Umwelt, vor allem solchen Elternhäusern und Schulen, die junge Men-

1 Verfasst für das Symposium zu Ehren von Prof. Dr. Kurt Hellers 80. Geburtstag im Rahmen der Tagung des Arbeitskreises Begabungsforschung und Bega-bungsförderung (ABB) in Erfurt.

Abb. 1: Prof. Dr. Kurt Heller

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schen nicht ausreichend förderten. Diesen nicht genutzten Begabungspo-tenzialen und den Gründen dafür galten die Studien des gelernten Lehrers und Psychologen. Mehr als 40 Jahre später bricht seine Leidenschaft für begabte junge Menschen immer noch durch, wenn er schreibt: „Deshalb sollte, vor allem auch im Hinblick auf die Reduzierung ärgerlicher Soziali-sationsdefizite, eine möglichst frühe Talentförderung einsetzen, die in nicht wenigen Fällen auch die Förderung der elterlichen Erziehungskompetenz einbeziehen muss“ (Heller, 2007, S. 437). Beachten Sie das Wort „ärgerlich“, das der stets eloquente Autor sicher bewusst gewählt hat, auch um seine Enttäuschung darüber zum Ausdruck zu bringen, wie wenig Bildungs- und Sozialpolitik hier in den letzten Jahrzehnten erreicht haben.

Ähnlich wie Alfred Binet, der den ersten Intelligenztest entwickelte und genau vor 100 Jahren starb, galt Kurt Hellers Interesse in erster Linie der Frage, wie man Förderdefizite beheben und günstige Leistungsentwicklun-gen anstoßen könne. Bereits 1966 verortete Kurt Heller das Konzept „Bega-bung“ in einem Gesamtmodell der Persönlichkeit, und 40 Jahre später führt er in demselben Sinne aus: „Es scheint, dass für die Talentförderung ein wichtiger Schlüssel zum Erfolg im Motivations- und Selbstkonzeptbereich liegt (…)“ (Heller, 2007, S. 429).

Das sind also die großen Themen der wissenschaftlichen Arbeit von Kurt Heller: Er will in der Forschung, in der Schulpraxis und in der Öffentlichkeit ein Bewusstsein dafür schaffen, dass Menschen Potenziale haben, dass diese Potenziale die umfassende Entwicklung der Persönlichkeit voraus-setzen und dass diese Entwicklung im sozialen Rahmen von Familie und Schule geschehen muss. Das Münchner Hochbegabungsmodell, das vor 25 Jahren entwickelt wurde, spiegelt all diese Facetten wieder – und ist ein Plädoyer für eine differenzierte, aber auch integrierte Betrachtung der Bega-bung als menschliches und gesellschaftliches Phänomen. Und dieses Mo-dell zeigt detailliert auf, wo Unterricht, wo Förderung, wo Unterstützung an-setzen müssen. Es wendet sich ab von einer rein genetischen Definition von Begabung und bekennt sich dazu, dass Begabung nicht nur Entwicklungs-grundlage, sondern immer auch schon Entwicklungsprodukt ist. „Demnach bedeutet Begabung niemals reine Potentialität“, schrieb Kurt Heller bereits vor 45 Jahren (Heller, 1966, S. 328).

Exakt zeitgleich zum Münchner Hochbegabungsmodell entwickelte der Kanadier Francois Gagné sein Modell der Begabung – und beide Modelle sind auf verblüffende Weise gleich. Gagnés Modell ist international aner-kannt, was auch eine Bestätigung für das nicht weniger bekannte Modell von Heller und Mitarbeitern ist.

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Vor 25 Jahren konnte Kurt Heller beginnen, sich intensiv der Begabungs-forschung und Hochbegabtenförderung zu widmen. Forschungsgelder der Bundesregierung erlaubten die Durchführung der sogenannten Münchner Längsschnittstudie, weitere Forschungsaufträge kamen hinzu und bis vor kurzem flossen die Drittmittel stets reichlich in Kurt Hellers Institut an der Universität München. Zahlreiche Doktorandinnen und Doktoranden, auch aus fernen Ländern, arbeiteten bei ihm, einen internationalen Studiengang zur Exzellenzförderung hob er aus der Taufe und für die Praktiker entwickel-te er – zusammen mit Christoph Perleth – das Münchner Hochbegabungs-Testsystem in zwei Versionen. International bekannt wurde Kurt Heller durch die Herausgabe eines englischsprachigen Handbuchs zur Hochbegabungs-forschung in mehreren Auflagen. Hunderte von weiteren Publikationen er-schlossen der Fachwelt und dem interessierten Laien die Ergebnisse seiner Evaluationsforschungen und Analysen zur Förderung besonders Begabter. 2007 gab Kurt Heller zusammen mit Albert Ziegler einen eindrucksvollen Sammelband zur Begabungsforschung in Deutschland heraus – und kurz darauf folgten Sammelbände mit Kurt Hellers eigenen Beiträgen zu verschie-denen Themen aus seiner reichhaltigen Forschungsarbeit. Eigens erwähnen möchte ich seine Beschäftigung mit der Frage der Geschlechterdisparitäten im Bereich von Mathematik und Naturwissenschaften, ein Forschungsthe-ma, das dann sehr fruchtbar von Heidrun Stöger und Albert Ziegler weiter-geführt wurde.

Ganze Generationen von Forscherinnen und Forschern sowie von Schul-praktikerinnen und Schulpraktikern beziehen sich auf Hellers Arbeiten zur Begabtenförderung. Zahllose Schulpsychologinnen und Schulpsychologen arbeiten mit seinen Testverfahren in der Diagnostik. Und viele Bildungspoliti-ker hörten und hören auf die Befunde seiner Studien und seinen Ratschlag. Vielleicht ist es ein wenig vermessen zu sagen, dass Baden-Württemberg gerade deshalb so gut in internationalen Vergleichsstudien abschneidet, weil es sich bei Kurt Heller immer Rat geholt hat – aber ausschließen würde ich es nicht.

Erlauben Sie mir noch eine besondere Bemerkung angesichts der Tatsa-che, dass man in Thüringen wieder die ungegliederte Gemeinschaftsschule einführen möchte. Kurt Heller hat sich stets nachdrücklich für das geglie-derte Schulsystem ausgesprochen. Wenn ich ihn richtig verstanden habe, ging es ihm darum, ein klares Profil differenzierter Schularten zu erhalten. Gerade dort, wo Eltern Probleme haben, den Begabungen ihrer Kinder ge-recht zu werden, muss die Schule sehr massiv eingreifen – und das geht oft nur durch eine stabile, anspruchsvolle schulische Umwelt, wie sie eben das deutsche Gymnasium bietet – und Sie alle hier sind Zeugen und Ga-

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ranten der hervorragenden Bildungsarbeit, die an unseren Sekundarschulen geleistet wird. Schulstrukturen werden also nicht als Barrieren für die Be-gabungsentfaltung gesehen – sondern im Gegenteil als Hort differenzierter Förderung von Kindern, als stabiles Anspruchsniveau auch gegenüber fami-liärer Diskontinuität. Geeignete schulische Strukturen wie auch außerschuli-sche Maßnahmen können – das hat gerade die Dissertation von Christiane Grosch wieder gezeigt – jungen Menschen das Selbstvertrauen geben, die Anregung und die Unterstützung, die sie brauchen, um ihr Potenzial nach eigenen Vorstellungen zu entwickeln – notfalls auch in klarer Absetzung ge-genüber ihrem Herkunftsmilieu.

Nach 25 Jahren hat das Begabungsmodell von Kurt Heller nichts von seiner Bedeutung verloren. Es war damals – entsprechend der zeitgenös-sischen Ausrichtung der Pädagogischen Psychologie – strukturell angelegt, als Faktorenmodell gleichsam. Nach und nach wurde dieses Modell durch eine Prozessperspektive ergänzt, wie sie Perleth und Ziegler im Erweiterten Münchner Begabungsmodell vorgelegt haben. Noch stärker an der Dynamik des Lernens und Handelns orientiert ist das aktuelle Aktiotopmodell von Albert Ziegler, das an Kurt Lewins Handlungsraumkonzept anknüpft und Modellie-rungen der Arbeitswissenschaft und der Informatik erneut in die Psychologie trägt. Was nun noch fehlt, ist ein Modell der Persönlichkeitsentwicklung, das aber in den Arbeiten von Kurt Heller auch schon grundgelegt ist.

Seine Modellvorstellungen, seine Sichtweise des begabten Menschen, seine kluge Art, Modelle, Belege und Positionen abzuwägen, werden weiter-hin viele junge Forscherinnen und Forscher anregen und viele Praktikerinnen und Praktiker anleiten. Unser herzlicher Dank und unsere uneingeschränk-te Anerkennung gelten heute einem standhaften Forscher mit politischem Weitblick, einem Wissenschaftsorganisator mit internationaler Reputation und einem leutseligen Mentor mit Humor und Wärme. Lieber Herr Heller, es ist uns eine Ehre und ein Vergnügen, Sie heute zu feiern und – wie schon so lange und so ergiebig – mit Ihnen wissenschaftlich zu arbeiten.“

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Zum 80. Geburtstag von Prof. Dr. Franz J. MönksChristoph Perleth

Am 20. April 2012 fand an der Universität Leipzig, veranstaltet von Prof. Heinz-Werner Wollersheim und seinem Team, ein Symposium zu Ehren des 80. Geburtstages von Prof. Franz J. Mönks statt, der als einer der Väter der Hochbegabtenforschung und -förderung nicht nur deutschsprachigen und niederländischen Raum gilt, sondern der auch weltweit sich breite Anerken-nung erworben hat.

Franz Mönks wurde 1932 in Goch am Niederrhein geboren. Nach sei-nem Schulabschluss sammelte er Erfahrungen in praktisch-handwerklichen Tätigkeiten, bevor er Studien in Germanistik an der Universität Münster auf-nahm, die er 1958 mit dem BA abschloss. Letztlich entschied er sich aller-dings für das Fach Psychologie, in dem er noch an der Universität Münster 1960 das Vordiplom und 1961 bereits an der Universität Bonn das Diplom ablegte. 1966 promovierte er an derselben Universität bei Hans Thomae zum Dr. phil. im Fach Psychologie.

Bereits während seiner Promotionszeit war Franz Mönks von 1962 bis 1967 an der Kath. Universität Nijm-wegen als Research Assis-tent and Teaching Fellow tä-tig und wurde anschließend, also nach seiner Promotion, zum Associate Professor berufen. 1971 erfolgte dann bereits der Ruf auf den Lehr-stuhl für Entwicklungspsy-chologie an der Kath. Uni-versität Nijmwegen. 1988 wechselte Franz Mönks dann an derselben Universität auf den neu eingerichteten Lehr-stuhl „for the Development of the Gifted Child“, den er bis zu seiner Emeritierung im Jahr 1997 inne hatte. 1989 gründete er das Zentrum für Hochbegabungsforschung Abb. 1: Prof. Dr. Franz Mönks

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(Center for the Study of Giftedness) an der Universität Nijmwegen und leitet dieses seither.

Diese Sonderstellung an der Universität Nijmwegen hatte sich Franz Mönks auch damit erarbeitet, dass er nicht nur seit den früheren 1980er Jahren sich mehr und mehr in Forschung und Lehre auf die Entwicklung und Erziehung bzw. Förderung hochbegabter Kinder und Jugendlicher konzent-riert hatte, sondern es dürfte auch eine Rolle gespielt haben, dass er bereits 1963 einen Überblicksartikel zur Hochbegabungsforschung publiziert und damit das Thema zurück in den wissenschaftlichen Diskurs gebracht hatte, so dass er rückblickend als einer der Nestoren der Hochbegabtenforschung und -förderung zumindest in Europa gelten kann. Diese Rolle als Förderer der Hochbegabungsforschung kam er auch als Förderer einer großen Zahl von Nachwuchswissenschaftlern nach, von denen er an die 50 zur Promo-tion führte.

In seinen heute kaum mehr zählbaren Buch- und Zeitschriftenpublikati-onen thematisierte Franz Mönks neben den unterschiedlichsten Aspekten der Hochbegabung aber auch viele weitere entwicklungspsychologische Themen. Überhaupt gehörte der Jubilar, was vielen heute gar nicht mehr so bewusst ist, 1969 zu den Begründern der International Society for the Study of Behavioral Development (ISSBD), für die er mehrere Jahre im Executive Committee mitarbeitete (bis 1983) und das Journal der Gesellschaft heraus-gab.

Auch die weiteren internationalen Aktivitäten von Prof. Mönks sind mittler-weile legendär. So etablierte und leitet er eine Kooperation und ein Promo-tionsprogramm zwischen seiner Heimatuniversität, der Universität Jakarta, Bandung und Yogyakarte in Indonesien sowie der Katholischen Universität von Peru in Lima. Eine große Bekanntschaft erlangte ab Mitte der 90er Jahre das EU-Netzwerkprogramm ALFA (America Latina Formacion Academica) mit dem Themenschwerpunkt „Self-Concept and Competence“, das Franz Mönks bis 2002 hauptverantwortlich leitete. An diesem Netzwerk waren ne-ben Nijmwegen die Universitäten Leuven (Belgien), Middlesex (London) und München (LMU) sowie Universitäten in Kolumbien, Ecuador, Peru und Ve-nezuela beteiligt.

Daneben fungierte Franz Mönks in vielfachen Funktionen als Berater, unter anderem für das peruanischen Erziehungsministeriums und nach der Jahrtausendwende für das Österreichische Zentrums für Begabtenförde-rung und Begabungsforschung (ÖZBF) in Salzburg. Wie Prof. Kurt Heller in seiner Laudatio auf den Jubilar auf dem Symposium an der Universität Leipzig berichtete, trafen die beiden Grandseigneure der Hochbegabungs-

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forschung im deutschsprachigen Raum und späteren engen wissenschaftli-chen und privaten Freunde typischerweise erstmals 1972 auf dem Internati-onalen Kongress für Psychologie in Tokyo aufeinander, obwohl Nijmwegen und Bonn, die damalige Wirkungsstätte von Prof. Heller, gerade einmal 150 km Luftlinie entfernt sind. Das große internationale Engagement von Franz Mönks wurde unteranderem honoriert durch drei Ehrendoktorwürden von Universitäten in Lima (Peru; 1995), Havana (Cuba, 1998) und Padjadjaran (Indonesien; 2006).

Bekannt war Franz Mönks in der „Hochbegabungsszene“ vor allem durch sein triarchisches Modell der Hochbegabung geworden, dass eine Erweite-rung des Drei-Ringe-Modells von Joseph Renzulli darstellt. In diesem Modell werden die von Renzulli thematisierten Personenfaktoren gleichermaßen geerdet, in dem er – hier ist Mönks ganz Entwicklungspsychologe – auf die Rolle der familiären und der schulischen Lernumwelt sowie der Peers bzw. Gruppe der Gleichaltrigen für die Entwicklung von Begabung und Leistung hinweist.

Franz Mönks beließ es aber auch auf dem Gebiet der Hochbegabungs-forschung und -förderung nicht bei seiner wissenschaftlichen universitä-ren Arbeit, sondern er engagierte sich nachhaltig auch in entsprechenden Gesellschaften. So wurde er 1987 in das Executive Committee des World Council for Gifted and Talented Children (WCGTC) delegiert, als dessen Vi-zepräsident er von 1989 bis 1992 amtierte und für die er 1991 die 9. WCGTC-Weltkonferenz in Den Haag ausrichtete. Auch dem European Council for High Ability drückte der Jubilar seinen Stempel auf, nicht nur mit seinen Prä-sidentschaften von 1992 bis 2000 und 2004 bis 2008, sondern vor allem auch durch die Etablierung des ECHA-Weiterbildungslehrgangs „Specialist in Gifted Education“ an der Kath. Universität Nijmwegen, an dem seit 1992 gut 3000 Praktiker teilgenommen haben und der letztlich den Anstoß für die Entwicklung einer ganzen Reihe heutiger Lehrgänge im deutschsprachigen Raum gegeben hat. Natürlich hat Franz Mönks auch den ECHA-Kongress ausgerichtet und zwar die 4. Tagung 1994 in Nijmwegen, die 8. ECHA-Kon-ferenz auf Rodos (2002) leitete er ebenfalls.

Sicherlich einen Höhepunkt des Schaffens von Franz Mönks stellte die Herausgabe des „International Handbook of Giftedness and Talent“ (1993; zusammen mit Harry Passow und Kurt Heller). Für die zweite Auflage die-ses Werkes (2000; zusammen mit Kurt Heller, Robert Sternberg und Rena Subotnik) erhielt Franz Mönks mit seinen Mit-Herausgebern den US-Choice Award als besonders herausragende Publikation.

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Am Ende dieses Textes soll Franz Mönks selbst zu Wort kommen. 1992 hatte ich ihn anlässlich seiner Wahl zum ECHA-Präsidenten für den News-letter der 3. ECHA-Konferenz in München interviewt. Damals antwortete er auf die Frage nach den wichtigsten Aufgaben der Hochbegabtenförderung in einem sich ändernden Europa:

“Each child has the right to be nurtured individually. This legal right implies the provision of differentiated curricula. As developmental psy-chologists we know that the early years can be decisive for the further development of an individual. Therefore early identification and edu-cational training by parents and nursery school teachers is crucial.

Special attention has to be given to at-risk learners and educationally disadvantaged children: children from different cultural background, with physical handicaps and learning disability, children from low in-come families with low educational levels and dysfunctional family background (e.g. single parent families, abused children children of alcoholics) etc.

To meet the need of these gifted children at risk we need flexible use of definition, identification, and development of programs. Special characteristics create special special educational needs.”

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Wir brauchen den begabungsgerechten Unterricht Thesen zum Weiterdenken und Erwartungen an die Schule

Teil 1

Thomas Hofer

„Es darf nicht alles zur Routine werden“ – diese Forderung muss als eine umfassende Erwartung an jeden einzelnen Pädagogen im Hinblick auf die Arbeit mit klugen, begabten und hochbegabten Schülern verstanden wer-den.

Immer wieder geistig neu zu fordern, das Interessen bei den begabten Schülern zu wecken, sie zum Einsatz ihres Intelligenzpotenzials zu aktivie-ren, sie „bei der Sache zu halten“ durch anspruchsvolle Aufgabenstellungen und über diesen Weg durch hohes geistiges Forderungsniveau aufzuschlie-ßen – dahinter verbirgt sich ein wesentlicher Teil der Objekt-Subjekt-Dialektik in der Arbeit mit Begabten und Hochbegabten im Unterricht.

Dabei wissen Lehrer, dass didaktisch-methodische Grundmodelle im Prinzip „stehen“.

Aber gerade deshalb muss das eine oder andere im Unterricht so modi-fiziert werden, dass es den Zuschnitt für das Bedingungsgefüge eines be-gabten und hochbegabten Schülers erhält. Wenn hier nicht aufgepasst wird, kommt es sehr leicht zur stereotypen Unterrichtsführung, die bei den Begab-ten und Hochbegabten zu Desinteresse und Unlust am Aneignungs- oder Erkenntnisprozess führt.

Es ist in der Fachliteratur zur Begabung und Hochbegabung schon über die daraus resultierende Frustration und auch über das unter Umständen daraus entstehende brisante soziale Spannungsfeld geschrieben worden, so dass ich hier darauf nicht näher eingehen möchte. Ich verweise vielmehr in diesem Zusammenhang auf unsere Internet-Präsenz www.genius-hoch-begabung.de, Unterseite Hochbegabung, wo wir uns auch dazu äußern.

Deshalb muss der Lehrer ein ständig Suchender sein, das heißt eine höhere Zielorientierung, ein höheres Niveau der Problemstellungen, lebens-nähere Fakten und inhaltsreichere Beispiele für den begabten Schüler zu schaffen. Die Dynamik der globalen Prozesse unserer Gegenwart reflektiert sich nämlich für den Lehrer auf besonders fordernde Weise. Die Hauptforde-rung ist dabei die nach einem schülergerechten Unterricht, bezogen auf mei-ne Betrachtung der Begabten und Hochbegabten im Lernprozess, auf einen begabungsgerechten Unterricht für die davon betroffene „Schülerklientel“.

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Unsere sehr klugen Schüler, das belegen meine vielfältigen Beobachtun-gen, wollen stets einen hohen Grad persönlich-schöpferischer Gedanken in den Unterricht einbringen und haben von daher diese ganz besondere, eben adäquate Erwartungshaltung an den Lehrer.

Dem kann der Unterricht nur dann entsprechen, wenn der Lehrer durch eine zielgerichtete Aufbereitung des Lehrstoffes im Sinne des differenzierten Unterrichts, dieser Erwartungshaltung gerecht zu werden versucht.

Das heißt nicht etwa eine „Knüllerschau“ für die Fordernden, die Begab-ten zu veranstalten, sondern Knotenpunkte des Erkenntnisprozesses durch bewusste geistig-emotionale Stimulanzien aufzubereiten, also zweckorien-tiert auf folgende Hauptfrage hinzuarbeiten:

Was dient dem Erkenntnisprozess unserer begabten und hochbegabten Schüler am besten und an welcher Stelle des Unterrichts und mit welcher Tiefe aktiviere ich ihre Denkprozesse ?

Das Hauptkriterium muss sein: Was kommt für den begabten und hoch-begabten Schüler dabei heraus, für den Zuwachs in seinem Wissen und Können, für seine sozialpsychologische Entwicklung, schlicht, für die För-derung seiner Begabungen und damit für seine Persönlichkeitsbildung und Persönlichkeitsentwicklung?

> Ist das alles schwer zu realisieren? – Ja und nein!

Natürlich handelt es sich hierbei um eine sehr komplexe Angelegenheit, weil schließlich solche Fragen tangiert werden, wie:

– Was kann der Lehrer Kraft seiner Ausbildung überhaupt dafür tun? – Welchen Rückgriff hat er auf welches didaktisch-methodische und or-

ganisatorische Material? – Verfügt er überhaupt über entsprechende Wissenskriterien zur Erken-

nung von Begabung und Hochbegabung?

In einem Teil 2 möchte ich in absehbarer Zeit hierzu weitere Darlegungen machen.

Jetzt erst einmal freue ich mich auf Meinungen und Standpunkte, auf mögliche Widersprüche und ganz persönliche Erfahrungen. Der Dialog ist eröffnet. Danke, wenn Sie teilnehmen möchten.

www.genius-hochbegabung.dewww.ratgeber-hochbegabung.eu

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Mehrfachtestungen bei hochbegabten ProblemkindernAnne Eckerle

Mehrfachtests bei gut leistenden und gut gedeihenden Kindern können für die Forschung interessant sein, etwa unter der Frage, wie stabil die Mess-werte im Entwicklungsverlauf sind oder welche Faktoren die Gültigkeit der Messwerte beeinflussen. In der Praxis aber werden sich Diagnostiker einig sein, dass Tests, die keiner Problemlösung dienen, zu vermeiden sind. Das Testbusiness, das sich zum Nachweis eines Mindestwertes für die Teilnah-me an Hochbegabtenkursen oder Förderprojekten etabliert hat, lasse ich im Folgenden außer Betracht. In diesem Beitrag interessieren die Kinder, die im Risiko stehen, die trotz oder wegen einer hohen Begabung in ihrer Bil-dungslaufbahn auf Hindernisse stoßen oder womöglich in eine krisenhafte Persönlichkeitsentwicklung geraten. Was bedeuten Mehrfachtestungen für diese Zielgruppe?

Für die weiteren Überlegungen ist die Unterscheidung von genetisch an-gelegter und durch Förderung entwickelte Leistung von Bedeutung. Die flu-ide Intelligenz umfasst das physiologische Funktionieren der Kognition, auf der Basis von genetischen Bedingungen und epigenetischen und weiteren neurobiologischen Festlegungen. Die kristalline Intelligenz umfasst dagegen die Wirkungen, die aus individuellen Schwerpunkten, Übung und Förderung entstehen; sie gibt also überwiegend Information über die Leistung. Die Auf-merksamkeit der Hochbegabtenforschung ist zu einem wesentlichen Teil in diese Richtung gewandert. Damit wird aber das Thema Hochbegabung unklar, denn für den Aufbau von „Expertisierung“ (Hochleistung in einem Schwerpunkt) ist zwar eine gute Basis-Intelli genz wichtig, das Gelingen setzt aber neben konsequenter Förderung und An strengungsbereitschaft weitere nicht kognitive Begabungen und Persönlichkeitseigenschaften sowie eine unterstützende soziale Umgebung voraus, so dass die Annahme, das Leis-tungsniveau steige parallel zum Intelligenzniveau keine Grundlage hat. Karl Landscheidt, ein Schulpsychologe, zitiert einen amerikanischen Autor mit deutlichem Sarkasmus: „It is important to have enough of it (intelligence), but having lots and lots does not buy you that much. My regrets to Mensa, but that is the way things are” (Hunt 1995, p. 7, zitiert bei Landscheid, o.J., S. 2).

Die Testentwicklung hat neben dem Kaufman ABC, der beide Bereiche schon immer trennt, mit dem HAWIVA und dem HAWIK IV eine Hinwendung zur Erfassung der fluiden Intelligenz vollzogen.

Bei dem ersten Test eines Kindes geht es also im guten Fall um Diagnostik bei bestehender Problemlage – meist schwierige Erziehungs- und Leistungs-

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situationen. Die Intelligenz wird eingeschätzt, um gesicherte Grundlagen für pädagogisches Handeln in der Schule, der Familie oder im therapeutischen Kontext zu gewinnen. Die Einschätzung wird durch ausführliche Anamnese und ergänzende Persönlichkeitsdiagnostik unterstützt, damit die Ergebnisse der Intelligenzschätzung in einen Kontext gestellt werden können. Die Kin-der haben noch keine „Testbiografie“.

Bei jedem weiteren Test geht es von Seiten des Initiators um Kontrolle des ersten und von Seiten des Kindes um Verteidigung seines Status oder um dessen Verbesserung. Denn Tests bringen oft Berechtigungen, es geht um was. Vergessen wird oft, dass mit der Wiederholungstestung Rückwir-kungen auf das Denken und Empfinden der Kinder selbst und ihrer sozialen Umgebung angestoßen werden: sowohl in der Familie als auch in Kindergar-ten, Schule oder weiteren Einrichtungen, in denen sich das Kind bewegt. Bei den Eltern mag der dringende Wunsch nach guten Ergebnissen eine Rolle spielen, weil davon erwünschte Maßnahmen abhängig gemacht werden; bei dem Kind der Wunsch, die Eltern nicht zu enttäuschen, in der Schule mögen Zweifel entstanden sein, ob die zuvor dokumentierte Hochbegabung auch tatsächlich vorliegt, denn das Kind verhält sich doch unerwünscht; wäre es intelligent, dann würde es doch einsehen können … Eltern und Kind kennen diese Zweifel und sind von den Entscheidungen der Lehrkräfte abhängig. Deren Einstellung zu Hochbegabung ist in der Regel eben so wie die vieler Eltern mit nicht hochbegabten Kindern ambivalent, in Kollegien polarisiert, in Elterngremien fast immer aversiv. Mittelbar, in den Erwartungen der Eltern des Testkindes, spielen diese Risiken der sozialen Rückmeldung immer eine Rolle.

Sie wirken in verschiedenster Weise auf die neue Testsituation ein und verändern damit die Rahmenbedingungen der Testleistung. Die unbefange-ne Kooperationsbereitschaft des Kindes, seine Freude an der Anstrengung, werden in unbekannter Richtung beeinflusst, ohne dass dies im Testergeb-nis verrechnet werden kann.

Schulen, Schulämter, Schulpsychologische Dienste arbeiten überwiegend zugewandt und einzelfallbezogen und geben den Familien die Hilfe, die über Krisen und Unsicherheiten hinweg trägt. Es liegt sicher an der besonderen Per spektive, die sich mir bietet, dass ich von dieser positiven Statistik sehr viele negative Abweichungen sehe. Die Schule für verhaltensschwierige Kin-der und Jugendliche mit hoher Begabung, die ich in Offenbach mit aufgebaut habe, hat Kinder (aus der ganzen Bundesrepublik von den Jugendämtern zugewiesen), die zwischen zwei und fünf Wiederholungstests durchgemacht haben. In der Ombudsstelle für hochbegabte Problemkinder in Frankfurt er-

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lebe ich Fälle, in denen das Wohlwollen der amtlichen Stellen nicht (mehr) vorhanden ist, so dass Familien mit ihren opponierenden oder resignierten Kindern in Gegnerschaft zu den Behörden geraten. Die Fälle, in denen Hilfe-bedarf in Hilflosigkeit und Schädigung führt, sind vermutlich prozentual weni-ge, absolut gesehen aber viele, mindestens zu viele. In solchen Situationen sollten Wiederholungstests nicht in der Hand einer amtlichen Stelle liegen, die selbst Konfliktpartei ist. Der Test ist dann nicht valide; er entspricht nicht den Handbuchbestimmungen. Dazu ist es nicht erforderlich, die Redlichkeit des Testleiters in Frage zu stellen, es genügt, die seelische Situation des Kindes einzuschätzen. Defensivtests sind unzulässig, und das Kind ist in einer Defensivsituation (dazu weiter unten).

Mein Anliegen ist, Argumentationslinien zu zeigen, um den Betroffenen, den Eltern wie auch den Lehrerinnen und Lehrern und weiteren Zuständigen fundierte Argumente an die Hand zu geben, um unnötige, vor allem aber ungültige und damit schädliche Mehrfachtestungen zu vermeiden bzw. den Betroffenen das Geleit zu geben, das hinausführt.

Mit dem ersten Wiederholungstest entsteht eine Testbiografie. Sie kann sich etwa so lesen (Konstruiert nach Typik, nicht nach konkretem Fall):

In einer dritten Klasse will ein Kind, Arne, nicht mehr am Unterricht teilnehmen; die anderen Kinder ärgern ihn, er reagiert aggressiv. Auf Anraten der Lehrerin wird Arne einer niedergelassenen Psychiaterin vorgestellt, die mit Meßergebnis 135 eine Hochbegabung feststellt und ein halbes Jahr mit dem Jungen therapeutisch arbeitet. Der Schu-le von Arne empfiehlt sie, Unterforderung zu vermeiden, ihm weitere oder andere Aufgaben zu geben, zusätzliche Herausforderungen zu bieten. In der vierten Klasse geht es um die Schullaufbahnentschei-dung; Arne hat sein Verhalten nicht geändert, die Leistungen schwan-ken im mittleren Bereich, er soll der Realschule zugewiesen werden.

Die Mutter erhebt Einspruch. Arne wird von einer Schulpsychologin getestet mit Ergebnis 115. Er geht auf die Realschule. Der Kontakt zu der Psychiaterin wird abgebrochen. Offenbar hat sie falsch getestet. Einige Monate später in der Realschule ist er bald wieder Zielscheibe für die anderen Kinder, es kommt zu ersten Impulsdurchbrüchen; die familiäre Situation spitzt sich zu. Die Mutter verlangt entgegen der au-genfälligen Plausibilität die Umsetzung in ein Gymnasium. Arne wird erneut, dieses Mal von einer Mitarbeiterin in einer kommunalen Erzie-hungsberatungsstelle, getestet; Ergebnis 125. Das Ergebnis wird im Schulamt vorgelegt, die Schulentscheidung wird aber nicht revidiert; man erkenne das Ergebnis nicht an, denn es komme nicht von einem

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Schulpsychologen. Ein Jahr später, in der 6. Jgst., verweigert Arne den Schulbesuch und wird in einer psychiatrischen Klinik vorgestellt. Hier wird er routinemäßig ein weiteres Mal getestet, Ergebnis 105. Er wechselt in die Hauptschule. Ein Gutachten zur Feststellung des Sonderpädagogischen Förderbedarfs wird angeregt.

Man kann die Testbiografie bis zu diesem Zeitpunkt so lesen: 135, 115, 125, 105. Die Nachtestungen zeigen keine klare Linie.

Mit Arnes Augen kann man die Testbiografie so lesen: In der dritten Klas-se war meine Mutter unzufrieden mit mir, weil ich in der Schule nicht mehr so gut war. Sie hatte auch Mitleid mit mir, weil die Anderen mich immer ge-ärgert haben. Die Psychiaterin hat mich getestet und mir erklärt, weshalb ich Probleme in der Schule habe; ich wäre schneller als die Anderen und müsse versuchen, mehr Geduld zu haben. Meine Mutter war danach sehr lieb zu mir. Bei dem zweiten Test war meine Mutter enttäuscht, weil ich schlechter als beim ersten Mal war. Die Schulpsychologin hat ihr gesagt, dass die Er-klärung der Psychiaterin nicht richtig war. Meine Mutter hat mir aber gesagt, dass die Schulpsychologin nicht Recht hätte, wir könnten aber nichts da-gegen machen. Obwohl ich große Angst hatte, noch schlechter zu werden, habe ich bei dem dritten Test mitgemacht; ich war auch wieder besser, aber meine Mutter war dennoch wieder traurig danach. Als sie das Ergebnis der Schulpsychologin geschickt hat, hat die zu ihr gesagt, dass der Test nicht stimmen könnte, die Frau in der Erziehungsberatung hätte auch nicht richtig getestet. Meine Mutter hat sich sehr aufgeregt. Ich bin dann in der Schule sehr schlecht geworden und war richtig wütend auf die anderen Kinder, weil sie mich fertig machen, und auf meine Lehrer, weil sie uns nicht verstehen wollen. Meine Mutter hat dann nicht verhindert, dass ich in die Psychiat-rie musste und in die Hauptschule runtergestuft wurde. Sie schreit oft oder weint, weil ich so ein Versager bin.

Dieser Verlauf steht in Gegensatz zu der Erwartung, dass dieser Jun-ge von der Mehrfachtestung eigentlich hätte profitieren müssen (FEGER, 1988, 110). Albert Ziegler (2004), ein Hochbegabtenforscher aus der Schule von Kurt Heller, vergleicht die Testerfahrung mit der beim Einfädeln eines Fadens – am Anfang mühsam, dann geht es besser – und führt dann aus: „Wie dramatisch diese Übungseffekte sein können, zeigen beispielsweise die Ergebnisse von Längsschnittstudien, in denen der durchschnittliche In-telligenzquotient von der ersten zur letzten Testung nicht selten um mehr als 15 Punkte anstieg. Von der „normalen“ Intelligenz unterscheidet man des-halb auch eine so genannte „Testintelligenz“. – Kurzum: Die Stabilität einer mittels eines Intelligenztests gemessenen Hochbegabung wird in späteren

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Testungen künstlich überschätzt, weil sich durch jede Intelligenztestung die Testintelligenz erhöht. Durch die hinzukommende Testintelligenz wird man seinen IQ-Vorsprung oder seinen Leistungsvorsprung leichter verteidigen können (sic! Eckerle), oft genug kann man dadurch sogar noch besser ab-schneiden“ (siehe 7).

Ziegler beschreibt also eine Testbiografie, die vom Lernen im Fach Tes-ten bestimmt ist. - Arnes Testbiografie dagegen ist vom Lernen im Fach „Be-dingungen für die Zuneigung der Mutter“ bestimmt.

Die Wiederholungstests in unseren Akten steigen nicht im Ergebnis, son-dern fallen. Und zwar nicht nur um 15 Punkte, sondern um bis zu 45 Punkte, und das oft bei Testleitern, deren Erfahrung außer Zweifel steht.

Warum wird nachgetestet?

1. Hypothese: Testergebnisse sind nicht stabil. Wenn ein Test länger zu-rückliegt, sollte nachgetestet werden.

Vorweg muss klargestellt werden, dass es bei Fragen der Teststabilität nicht um das Stagnieren der individuellen Intelligenz geht, diese entwickelt sich vielmehr im Verlauf; statt dessen geht es um die Stabilität der relativen Posi-tion der Probanden in der Population, die dem verwendeten Tests zugrunde liegt. Wenn Messergebnisse stabil sind, heißt das also, dass die Rangplätze der individuellen Entwicklungen ähnlich bleiben.

Greift man in den Fundus von Ergebnissen, die aus der Wissenschaft berichtet werden, dann gerät man bei der Frage nach der Teststabilität in Verwirrung.

Für Ziegler ist Intelligenz die Disposition eines Kindes, später in einem Gebiet herausragende Leistungen zu erbringen. Diese sind nicht allein ab-hängig von kognitivem Funktionieren, sondern von einem Zusammenspiel fördernder Faktoren. Es geht also um das, was man mit einem Kind entwi-ckelt, nicht um das, was es genetisch hat: „Begabungen sind kein Schicksal, das uns in die Wiege gelegt wird in Form goldener Chromosomen. Begabun-gen können und müssen aufgebaut werden“ (2004, S. 8).

Aus dieser Sicht müssen Testungen etwas Anderes messen als nur die fluide Intelligenz, sie müssen die Leistung erfassen. Und diese nimmt im guten Fall zu, bei abbrechender Förderung ab; in dem Ergebnis drücken sich mittelbar die biografischen Bedingungen des Aufwachsens in ganzer Breite aus.

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Um solchen Grundproblemen aus dem Weg zu gehen, haben sich etwa der Hawiva (Vorschultest) und der HAWIK IV verstärkt auf die genetisch an-gelegte und von Förderung weniger abhängige sogenannte fluide Intelligenz konzen triert, der Kaufmann ABC erfasst beides, die kristalline und die fluide Intelligenz, getrennt. Mit der Konzentration auf die fluide Intelligenz nimmt die Vorhersage-Genauigkeit der Tests für den IQ im späteren Schulalter und der Adoleszenz zu.

In der Forschung gut gesicherte Ergebnisse weisen darauf hin, dass unter Bedingungen einer stabilen familiären Umgebung die Einflüsse von außen auf die genetisch gegebene Intelligenz relativ gering sind, deren Stabilität also in Abhängigkeit von der sozialen (nicht der Anregungs-) Situation relativ hoch ist, bei ernsten Deprivationen aber erhebliche Einflüsse auf die gemes-sene Intelligenz eintreten können, die Stabilität des Messergebnisses also relativ niedrig ist (z.B. Greenberg, Coie, Lengua und Pinderhughes (1999) in Janke S. 71). Im früheren HAWIK III drückte sich die fluide Intelligenz vor allem im Handlungsteil aus. Die Diskrepanz des (niedrigen)Handlungs-teils gegenüber dem (sehr hohen) Verbalteil, der besonders die kristalline Intelligenz gemessen hat, war geradezu ein Indikator für Kinder mit hoher

Abb. 1: Komponentenmodell der Talententwicklung von Wieczerkowski & Wagner, aus Kemmer, 2006, S. 24

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Intelligenz und Störungsentwicklung (oft fälsch lich mit Underachievement gleichgesetzt). Die fluide Intelligenz ist die aktuelle Leistung des kognitiven Handelns, nicht Wiedergabe von früher Gelerntem; daher ist sie von situati-ven Faktoren des Kindes besonders abhängig.

Die Testergebnisse der fluiden Intelligenz werden also durch Stress beein-flusst. Einen Literaturüberblick zu dem Zusammenhang von Bindungsquali-tät und kognitiver Entwicklung gibt Gärter, 2004, S. 39 ff. – Auf neurobiologi-scher Ebene wird über den Zusammenhang von Stress und (u.s.) kognitiver Entwicklung in Magdeburg, vor allem von Prof. Braun, geforscht. (vgl. dazu den Aufsatz „Neurobiologische Forschungsergebnisse über den Zusam-menhang zwischen Hochbegabung und psychischen Störungen (z.B. ADS) in der Adoleszenz“, unter www.igl-net.de/aktuelles).

Bedenkenswert ist die Beobachtung der Testautoren des HAWIK IV, wonach alle Hochbegabten im Vergleich zu ihren übrigen Ergebnissen in den Untertests Arbeitsgedächtnis und Verarbei tungsge schwindigkeit die schwächsten Leistungen aufweisen. Diese Beobachtung scheint erwar-tungswidrig. Die Hochbegabten sollten in diesen zentralen Fähigkeiten sehr gute Werte haben (R.G. Schmid u.a., 2008). Das Ergebnis zeigt, dass die Gruppe der Hochbegabten eine Schwäche teilt, die die Testergebnisse sta-tistisch mindert. Obwohl eine entsprechende Deutung zur Zeit noch voreilig wäre, weise ich darauf hin, dass diese Beobachtung plausibel wird, wenn die Forschungen von Shaw, National Institute of Mental Health, US, hinzugezo-gen werden (a.a.O.).

Ich gebe gleich einen Überblick über Beobachtungen zur Teststabilität. Zuvor der Hinweis, dass aufgrund der verschiedenen Intelligenz- bzw. Be-gabungskonzepte und aufgrund der Unkenntnis darüber, was eigentlich in mitgeteilten Nachtestungen getestet wurde, solche Überblicke eigentlich nur geeignet sind zu erkennen, dass das Forschungsfeld unaufgeräumt ist. Eine Meta-Analyse, die die berichteten Ergebnisse vor dem Hintergrund der Un-tersuchungsmethoden vergleichen würde, wäre sehr erwünscht. Die folgen-den Zahlen sind zwar nicht unmittelbar miteinander vergleichbar, sie geben aber doch eine Auskunft darüber, dass die Vorhersagefähigkeit von IQ-Tests ab dem Schulalter nennenswert ist und sich mit zunehmendem Alter stabili-siert. Wenn im Grundschulalter untersucht wird – später natürlich auch, aber vor allem hier – sollten daher immer zugleich eine gründliche Anamnese und begleitend eine Exploration der Persönlichkeits- und Bindungsentwicklung vorgenommen werden, um die Aussagefähigkeit eines Intelligenztests zu schätzen und für eine Beratung in der auslösenden Problemsituation ver-lässliche Grundlagen zu haben.

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Aussagen über die Teststabilität

Bei Testwiederholungen stabilisieren sich nach Humphreys & Davey, 1988, und nach Wilson, 1987, (zit. bei Eric Turkheimer and Irving I. Gottesman. 1991., S. 20) die Korrelationen zwischen den Tests; dies ist konsistent mit der Beobachtung, dass mit zunehmendem Alter die Teststabilität steigt.

In der Zusammenstellung (Tabelle 1) sehen wir die erwähnten Zahlen von Wilson, die die Wiederholungstests betreffen, neben der Angabe von Morten-sen et. al., die eine Spanne von 14 Jahren betrifft. Wenn wir annehmen, dass bei Mortensen et al. die Ersttestung mit 8 Jahren stattfand und die spätere mit 22 Jahren, dann kann eine Nähe zu den Angaben von Wilson erkannt werden. Bei der Zeitspanne von 69 Jahren sollten Bedenken bestehen, ob die Messinstrumente in dieser Distanz das Gleiche gemessen haben. Die Angaben von Linver et. al. liegen etwas optimistischer als von Wilson.

Ziegler zitiert eine frühe Untersuchung, die Honzik-Studie (Abbildung 1), und empfindet als Argument für geringe Teststabilität, dass danach die

Tab. 1: Übersicht – Langzeitstudien zur Intelligenzstabilität, Zusammenstellung von Janke, 2008, S. 32

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Messwerte von 58 % der Probanden zwischen 6 und 18 Jahren um 15 IQ-Punkte schwanken (2004, S. 7). Meines Erachtens liegt dieser Befund eher in einer ermutigenden Höhe, ins besondere wenn man sich in der gleichen Grafik die Angabe klar macht, dass bei etwa 85 % eine Verschiebung um nur 10 Punkte im gleichen Zeitraum stattfindet. Das hieße nichts Anderes, als dass eine Testung mit 6 Jahren um kaum mehr als im statistischen Feh-lerbereich ohnehin anzugeben, variierte. Wichtig ist auch, dass bei diesen Angaben ja nicht eine Richtung enthalten ist, sondern in den Einzelfällen der zuerst gefundene Wert mal über-, mal unterschritten wird.

2. Hypothese: Testwerte sind nicht aussagekräftig (objektiv/valide/reliabel)

Jetzt geht es nicht mehr um das Verhältnis von Testwerten zu verschiede-nen Zeitpunkten, sondern um die Aussagekraft eines einzelnen Testergeb-nisses.

Preusche (2006) stößt in ihrer Untersuchung zur Testfairness an Wiener Grundschulen unerwartet auf einen allgemeinen Effekt, den sie in ihrer Vor-gehensweise nicht berücksichtigt hat: das allgemeine Leistungsniveau der einzelnen Schule, in der ein Schüler arbeitet. Dieser Faktor wirke sich auf nahezu alle Fragen der Untersuchung aus. Sehr plausibel scheint ihre Über-legung, dass sich in diesem Faktor Effekte der sozialen Schicht ausdrücken könnten (Stadtteil, S. 157). Kurzberichte über verschiedene Untersuchun-gen zu diesem Thema gibt auch Janke, S. 71.

Die Einflüsse des Bildungsniveaus der Familie und von sprachlicher Benachteiligung aufgrund eines Migrationshintergrundes sind bekannt und hoch plausibel. Ich gehe hier nicht näher darauf ein (zum Thema Migrations-hintergrund vgl. z.B. Daseking et al., 2008).

Abb. 1: Honzik-Studie, berichtet von Ziegler, 2004, S. 7

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Stattdessen gehe ich auf die Bedingungen ein, die dem common sense etwas ferner liegen. Eine Vorverständigung hierzu in der Formulierung von Janke, S. 70, die mit äußerster Kürze die Logik des Misslingens benennt, die für hochbegabte Problemkinder – und natürlich für alle anderen auch – bestehen kann :

„Sie (Masten et al., 2006) gehen davon aus, dass bestimmte Ereignis-se im Leben eines Individuums die erfolgreiche Bewältigung der, für das Alter oder den jeweiligen Lebensabschnitt spezifischen, Entwick-lungsaufgaben beein trächtigen können. Hierzu zählen

1) die Person direkt betreffende Einflüsse wie Dysfunktionen des Or-ganismus, körperliche oder psychische Erkrankungen beziehungs-weise deren Symptome,

2) kritische Lebensereignisse und 3) soziale Beeinträchtigungen durch andere Personen.

Alle Einflussfaktoren, die die Handlungsmöglichkeiten im Umgang mit den Entwicklungsaufgaben einschränken, können vor allem dann zu Schwierigkeiten führen, wenn die Aufgaben das Erlernen von für die Zukunft entscheidenden Fähigkeiten, Wissen und Ressourcen wider-spiegeln.

Das Scheitern bei der Bewältigung der Entwicklungsaufgaben kann auf unterschiedliche Weise zu Psychopathologien beitragen. Es kann zunächst direkt zu Emotionen wie Trauer, Verzweiflung oder Wut füh-ren. Darüber hinaus kann es das Risiko erhöhen, negative Erfahrun-gen mit Peers, Lehrern oder Eltern zu machen. Dies könnte negative Anpassungen verstärken oder zu einem Kontextwechsel beitragen, der beispielsweise Stigmatisierungen zur Folge hat.“

Ein Beispiel dazu: Das Profil ein und desselben Kindes zu verschiedenen Zeiten (Edgar Friederichs und Arnfried Heine, 2000):

HAWIVA HAWIK-R(5 Jahre) (7 Jahre)

Verbal-IQ 127 111Handl.-IQ 96 87

Dieses Kind zeigt eine physiologische Einschränkung bei der visuellen Wahrnehmung. Es hat die langfristige und nicht überwindbare Diskrepanz zwischen Potenzial und Erbringung als frustrierend erlebt und resigniert. Unter diesen Bedingungen ist die Frage nach der Stabilität des IQ sinnlos, stattdessen die Suche nach Artefakten und Störfaktoren geboten. Zunächst

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misst der HAWIK-R noch stärker leistungsabhängig als der HAWIVA, daher sind bei Störungsentwicklungen Veränderungen nach unten zu erwarten. In dem zu beiden Zeitpunkten niedrigen Handlungs-IQ werden die physio-logische Einschränkung, die fehlende Aufgabenzuwendung und mit hoher Wahrscheinlichkeit eine geringe Motivation mit gemessen.

Testleiter halten in solchen Fällen im Beobachtungsprotokoll fest, wel-che Validitätseinschränkungen sie festgestellt haben. Gegebenenfalls spre-chen sie eine Empfehlung für die Schätzung des „wahren“ Wertes aus oder empfehlen, den Test als nicht aussagekräftig einzustufen. Dissertationen bei Kubinger, Holling und Mandl haben sich in den letzten Jahren mit Testfair-ness, Risiken der Stabilität von IQ-Werten und Persönlichkeitsmerkmalen von Hochbegabten befasst und ergänzen mit einer Vielzahl von Details die bereits langfristig bekannten Einflüsse.

z.B. Testprobanden mit psychischen Störungen

Edgar Friederichs und Arnfried Heine merken zu ihrem Probanden an, dass solche Konstellationen sich vielfach bei hochbegabten Problemkindern fänden. Beides wirke sich auf die Arbeitsgeschwindigkeit und das Arbeits-gedächtnis aus. – Die Autoren des HAWIK IV weisen darauf hin, dass bei ADHS, aber auch bei Depression die Arbeitsgeschwindigkeit und das Ar-beitsgedächtnis schwächer seien (R.G. Schmid u.a., 2008). Zu gleichen Er-gebnissen kommen Rost und Schermer: Wenn es nicht gelinge, Potenzial in Performanz umzusetzen, könne Leistungsängstlichkeit entstehen (2001, S. 411). Misserfolge werden auf persönliches Unvermögen zurückgeführt, wohingegen Erfolg dem Zufall zugeschrieben wird. Mit sinkendem Selbst-wertgefühl sinkt auch die Erfolgswahrscheinlichkeit, was wiederum zu nicht adäquater Leistung führt. Diese Ausführung spitzt sich zu in der Feststel-lung, dass „Hochängstliche in fast allen Schulfächern weniger leisten als emotional stabile Schüler“ (ebd., S. 410) – und natürlich auch im Text.

Calhoun und Mayes gehen davon aus, dass der Index Verarbeitungsge-schwindigkeit des HAWIK-IV durch die strukturellen Veränderungen deutlich sensitiver gegenüber Aufmerksamkeits störungen ist als der entsprechende In dex des HAWIK-III. Ähnliches wird für den Index Arbeits gedächtnis des HAWIK-IV im Vergleich zum Index Unablenkbarkeit des HAWIK-III an-genommen. Die Autoren des HAWIK IV führen näher aus: „Bei der Inter-pretation der Ergebnisse ist auch zu berücksichtigen, dass die Aufmerksam-keitsstörung an sich die Testdurchfüh rung und die Testleistung beeinflussen kann. So kann beispielsweise der impul sive Arbeitsstil zu einer höheren Fehlerzahl führen. Andererseits können sich aber auch eine unstrukturierte

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Testsitu ation oder Umgebung oder die fehlende Routine in der Testdurchfüh-rung negativ auf das Arbeitsverhalten des Kindes aus wirken. Daher stellen Verhaltensbeobach tung und Dokumentation der Testsituati on wichtige Mo-mente in der Interpretati on des Ergebnisses dar“ (R.G. Schmid u.a. 2008).

z.B. Defensive Einstellung des Testprobanden in der Testsituation

Oben (siehe S. 144) habe ich die Beobachtungen der Testautoren des HA-WIK IV berichtet, wonach hochbegabte Kinder statistisch in den Skalen Ar-beitsgeschwindigkeit und Arbeitsgedächtnis die – relativ zu ihren Stärken – schwächsten Ergebnisse erzielen. Diese Beobachtung schreibt der Ziel-gruppe also bereits ein Ausgangsrisiko zu, ohne dass eine besondere Ursa-che zugeordnet wird.

Bei jeder Testwiederholung entstehen Erwartungen der Kindeseltern und des Kindes, die den Test beeinflussen. Davon war in dem Eingangsbeispiel die Rede. Der erneute Test entscheidet vielleicht über die Schullaufbahn, im Erleben des Kindes über die Zufriedenheit der Mutter und über die Gültigkeit der Erklärung, weshalb ihm das Verhalten in der Schule oft nicht gelingt (Identität). Der Test entscheidet auch darüber, ob z.B. die Klassenlehrerin Recht hatte, als sie der Mutter sagte, dass sie keineswegs Anzeichen für Hochbegabung feststellen könne; im Gegenteil, das Kind zeige schlechte Leistungen. Oder ob der Schulpsychologe, der der Mutter vorgehalten hat, dass ihr Beharren auf Hochbegabung Schuld daran habe, dass es ihrem Kind in der Gruppe und bei den Lehrkräften so schlecht gehe. In der Erwar-tung der Mutter entsteht ein erheblicher Druck, der mittelbar auf das Kind einwirkt, das eben diesem Schulpsychologen im Test gegenüber sitzt.

Der Test wird alle diese Risiken als Resultante im Erleben des Kindes mit messen, ohne sie auszuweisen und ohne dass ein noch so redlicher Testlei-ter sie einschätzen könnte. Das ist der Grund dafür, dass Dörner Tests unter Defensivbedingungen für unzulässig erklärt (2004) und die Handbuchanwei-sungen der Tests sie sinngemäß ausschließen. Im Handbuch zum Beispiel des HAWIK IV heißt es in den Anweisungen zur Testdurchführung: „Es (das Kind) darf außerdem nicht den Eindruck gewinnen, dass es unter Druck ge-setzt wird.“ In der ein oder anderen Formulierung steht diese Anweisung in jedem Testhandbuch.

Diese im Handbuch gestellte Bedingung ist bei entwickelter Störung nicht mit einem Standardverfahren und den zugehörigen Verhaltensanweisungen, und nicht bei einer Vermengung von Gegnerschaft/Macht und Testdurchfüh-rung einzulösen; dies um so mehr, wenn man zwei weitere Forschungser-gebnisse hinzu denkt, die immer wieder berichtet werden und aus der Erfah-

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rung mit den Schülern unserer Schule für verhaltensgestörte Hochbegabte geradezu augenfällig sind (beide berichtet bei Kemmer, S. 15).

Terman & Oden fassen in einer Langzeitstudie zur Hochbegabung, bei der es u.a. auch um Versagen bei der Identifikation von Höchstbegabten ging, vier Merkmale für (von ihm so genannte) Underachiever zusammen:

– Fehlende Ausdauer, – Mangelnde Zielorientierung, – Unterlegenheitsempfinden, – Fehlendes Selbstvertrauen.

Mandel & Marcus finden in einer Reihe von Untersuchungen ebenfalls ein negatives Selbstkonzept (1988, S. 16–18). Darüber hinaus hätten die Kinder eine negative Einstellung zu Lehrern und seien innerhalb der Familie häufiger mit Konflikten belastet.

Testwerte für Kinder in dieser Situation sind daher nicht valide. Es wird nicht gemessen, was zu messen vorgegeben wird. In solchen Fällen sollte der erste Test geprüft werden. Ist er am Anfang der Störungsentwicklung und nach Beginn des Schulalters von einem erfahrenen Psychologen durchge-führt, stellt er die beste Schätzung dar, die erreichbar ist, auch wenn die oben angeführten Einschränkungen der Teststabilität hier zu berücksichtigen sind. Mindestens aber sollte ein Wiederholungstest außerhalb des Machtbereichs der Schulbehörden durchgeführt werden, um wenigstens den gravierends-ten Defensivfaktor heraus zu nehmen.

Mit einer anderen Logik ist auch die Regel zu erstellen, dass das höchste Testergebnis heranzuziehen sei. Da ja das Potential und nicht die Perfor-manz geschätzt werden soll, kann keine Überschätzung in einem ordnungs-gemäß durchgeführten Test erfolgen. Nachfolgende niedrigere Testergebnis-se sind daher als Artefakte der Testsituation aufzufassen. - Da in der Regel der erste Test auch der höchste ist und das Problem daraus entsteht, dass das Ergebnis nach Beginn der Störungsentwicklung bezweifelt wird, fallen beide Argumentationen in der Regel in der Entscheidung für den gleichen Test zusammen.

Testleitereffekte

Die Diplomarbeit von Ingrid Preusche (2009) wird auf der Homepage des Institut für Entwicklungspsychologie und Psychologische Diagnostik (Klaus Kubinger) zusammengefasst; in dem Text heißt es: Erst durch die beson-dere Beobachtungsmöglichkeit bzw. durch eine Dia gnostik der Interaktion der Testperson mit dem Testleiter können relevante Informationen erfasst

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werden. Allerdings birgt die intensive Interaktion von Tp und Tl die Gefahr systematischer Testleitereffekte. Und diese werden in der Fachliteratur nicht genauer erforscht, wohl aber kritisch reklamiert (o.J.).

Frau Preusche geht der Frage im Rahmen der übergreifenden Themen-stellung Testfairness genauer nach (Vergleich des AID mit dem HAWIK III). Allerdings führten in ihrer Studie eigens geschulte Testleiter die Tests durch, deren Ergebnisse sie dann untersuchte. Die Testleitereffekte ergeben sich aus Merkmalen und Verhaltensweisen wie Alter, Geschlecht, Sprachkultur, Dominanzstreben ... Bewusste Fälschungen schloss sie aus. In ihrer Aus-wertung erwies sich ins besondere das Merkmal Geschlecht als breit wirk-sam, ohne dass insgesamt eine klare Richtung anzugeben wäre. Bei den eher leistungsstarken Kindern fand sie, dass weibliche Tl bei ihren Tpn bes-sere Ergebnisse in den Untertests Rechnerisches Denken bzw. Angewand-tes Rechnen erzielten. Zusammenfassend kommt sie zu der Aussage: Es „zeigte sich, dass lediglich bei eher leistungsstärkeren Kindern Testleiteref-fekte auffielen. Ein Beobachterbias seitens der Testleiter gegenüber diesen Kindern scheint zumindest möglich. – Generell scheint es keine Untertests zu geben, die überdauernde Testleitereffekte aufweisen“ (170).

In den Studien zum HAWIK IV ist allerdings in ganz anderer Weise von Fehlern der Testleiter die Rede.

Lipsius kommt in ihrer Dissertation (bei Petermann) 2008 zu der Feststel-lung, dass bei umfangreichen Testbatterien wie dem HAWIK III und IV Fehler des Testleiters in der Durchführung und Auswertung des Tests bisweilen zu gravierenden Abweichungen zwischen Testergebnis und wahrem Wert führ-ten.

Um dem mangelhaften Umgang mit Testverfahren entgegenzuwirken, haben in der Vergangenheit einige Organisationen Testleitlinien und -stan-dards entwickelt. (Hacker, Leutner & Amelang, 1998; Moosbrugger & Hof-ling, 2006); die Standards für pädagogisches und psychologisches Testen, die von der AERA (American Educational Research Association), der APA (American Psychological Association) und der NCME (National Council on Measurement in Education) entwickelt wurden (Standards for educational and psychological testing, AERA, APA & NCME, 1999); die Richtlinien der International Test Commission (International guidelines for test use, ITC, 2000), in deutscher Übersetzung vom BDP (Berufsverband Deutscher Psy-chologinnen und Psychologen, 2001).

„Auch die Interpretationsobjektivität ist bei Intelligenztests nicht immer gegeben. Sie betrifft den Grad der Eindeutigkeit, mit der gleichen Werten

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(also in diesem Fall Testergebnissen) auch gleiche Merkmalsausprägungen (also hier kognitive Fähigkeiten) zugeordnet werden (Fisseni, 2004, zit. bei Lipsius, S. 52).

Eindeutige Kritik wird an der unguten Praxis geübt, dass kompetente Testleiter die Testungen an nicht kompetente delegieren: „Hall et al. (2005) stellen klar, dass ein qualifizierter Testleiter, der die Tests von unausgebil-deten Helfern durchführen lässt, damit die Testsicherheit gefährdet, und fordern, dass diese Testleiter die Testpersonen über diese Vorgehensweise informieren. Sie gehen davon aus, dass die Qualität der Informationen, die man von einem solchen Test bekommt, sehr gering ist“ (zit. bei Lipsius, Pe-termann und Daseking, 2008, S. 108). Gerade aber die Wechsler-Skalen scheinen besonders häufig von untrainierten Testleitern durchgeführt zu werden (ebda.).

Die Durchführungs-Checkliste des HAWIK umfasst mehrere Hundert Ver-haltensweisen oder Fähigkeiten, die benötigt werden, um den Test erfolg-reich durchführen und auswerten zu können (Sattler, 2001, zit. ebda). Die von Kubinger genannten Neben- oder Metabeobachtungen während des Tests sind von wenig routinierten und in der Sache nicht urteilsfähigen Test-leitern nicht zu erwarten. Neben den Anforderungen des Tests bleibt keine Aufmerksamkeit für die so wichtige zusätzliche Diagnostik.

Die Herausgeber des HAWIK IV haben durch redaktionelle Maßnahmen, z.B. verkürzte Anweisungen auf den je relevanten Protokollbögen, versucht, Hilfen zu geben. Insgesamt belegen weitere Forschungen aber eine sehr hohe Fehlerrate, wobei die sprachlichen Untertests besonders anfällig wa-ren. Bei mehr als der Hälfte der Bögen führte die Korrektur der Fehler zu einer Veränderung des Gesamt-IQ. Bei 17% führten die Korrekturen sogar zu Gesamt-IQ-Änderungen, die eine abweichende Einordnung in der Klas-sifikation der kognitiven Funktionen zur Folge hatten. In einer Studie von Slate et al. (1992), an der qualifizierte Testanwender teilnahmen, führten die Fehler zum Teil zu Änderungen im Gesamt-IQ, die Diagnose- und Platzie-rungsentscheidungen beeinflusst hätten.

Was heißt das alles in der Praxis?

Testleiter müssen zum Testen qualifiziert sein. Um in einen komplexen Test zu gehen, sind Erfahrung und fortlaufende Selbstkontrolle erforderlich. Die oft anzutreffende Gewohnheit, die Tests von unausgebildeten Helfern – Sprechstundenhilfen, Studenten, jungen PsychologInnen im Berufseinstieg – durchführen zu lassen, gefährdet die Testsicherheit.

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Die verwendeten Tests müssen den neuesten Testnormen entsprechen.

– Dem Test sollte eine mindestens halbstündige Begegnung von Testlei-ter und Testprobanden vorausgehen, die vom Testleiter dazu genutzt wird, um das Vertrauen des Kindes und der Mutter/der Eltern zu ge-winnen.

– Der Testleiter sollte in der Lage sein, sich - trotz der hohen Anforde-rung - freundlich und gelassen auf die Kommunikation mit dem Kind zu konzentrieren. Während des Tests sollte er über das Testgesche-hen hinaus das Verhalten des Kindes analysieren können, um weitere diagnostische Beobachtungen vorzunehmen.

– Wer an einer Konfliktsituation teilhat, die im Vorfeld des Tests ent-standen ist, sollte nicht testen. Entscheidungsbefugnis (vor allem über schulische Maßnahmen in Abhängigkeit vom Testergebnis) und Test-leitung sollten immer in einer Weise getrennt bleiben, die Defensiv-tests verhindert.

Nach unseren Akten und Erfahrungen in der Ombuds-Stelle und der Schule bestehen für verhaltensschwierige Kinder und Jugendliche mit hoher Begabung mehrere Risiken, von denen ich zwei herausgreifen will:

1 Die in Psychiatrien durchgeführten Tests haben häufig den Charakter von Defensivsituationen; die Kinder befinden sich in einer inferioren Position, in der sie ihre Möglichkeiten oft nicht nutzen können. Zu der Ausgangs-problematik, die sie in die Klinik geführt hat, tritt die Belastung der Test-situation hinzu. Es handelt sich dabei um Strukturen der Situation, die meist nicht dadurch kompensiert werden können, dass der Testleiter/die Testleiterin besonders sensibel reagiert. Wenn es zu einer Unterschät-zung des Potentials gekommen ist, wiegt das im Verlauf schwer, weil die noch immer weithin empfundene ärztliche Autorität sich gegenüber fach-lichen Zweifeln oft durchsetzen kann. Das gravierendste Fehlurteil mit anschließender Fehlleitung des Kindes, das ich in meiner Erfahrung er-lebt habe, wurde mit einem Wiederholungstest einer kinder- und jugend-psychiatrischen Klinik herbeigeführt, der um 40 IQ-Punkte von dem Test eines anderen Universitätsinstituts abwich und Grundlage für die weitere Versorgung des Kindes wurde. Beide Einrichtungen haben zweifellos das Testmaterial ordnungsgemäß geboten, aber sie haben die Effekte der Testsituation nicht angemessen berücksichtigt.

2 Die von Schulpsychologen durchgeführten Tests stehen tendenziell in ähnlichem Risiko, wenn es aus der Sicht des Kindes um erwünschte Ent-scheidungen geht, insbesondere wenn zwischen Schule und Eltern oder Kind und Schule ein konflikthaftes Verhältnis besteht. In unseren Akten

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sind die Differenzen bei schulpsychologischen Tests zwar nicht ganz so auffallend wie die aus psychiatrischer Umgebung, bei Kindern in Stö-rungsentwicklung liegen die Testergebnisse aber in der Regel niedriger als bei Testungen von niedergelassenen Therapeuten, Ärzten und Psy-chologen. SchulpsychologInnen sind Vertreter der Schulbehörde und bereiten

schulfachliches Handeln der Schulaufsichtsbehörde und der Schulen vor. In vielen Bundesländern, nicht in Hessen, wird auf die amtliche Zuständigkeit der SchulpsychologInnen verwiesen und im gleichen Schritt für ihre Test-durchführung eine erhöhte Validität und Objektivität in Anspruch genommen. Dieser Anspruch steht fachlich in Gegensatz zu der Forderung, Defensivtests zu vermeiden. – Darüber hinaus schreiben sich die schulpsychologischen Dienste selbst Interessenfreiheit zu, die vermeintlich zu gültigen Messergeb-nissen beitrage. Mit unserer Erfahrung ist statt dessen vereinbar, dass es unter den SchulpsychologInnen wie unter allen anderen Gruppen von Men-schen viele zugewandte und nach bestem Wissen arbeitende gibt, und dann die Anderen, die ihre Zuständigkeit ausgrenzend handhaben, anstatt zu Gunsten des Kindes in eine Helfer umgebung hinein zu gehen und mit freien Trägern und niedergelassenen Professionellen zusammen zu arbeiten.

Im Kontext von Mehrfachtestungen immer schädlich ist die Forderung, dass Tests von nicht verbeamteten PsychologInnen einer Nachprüfung be-dürften. Nicht nur ist ethisch nicht zu rechtfertigen, die amtliche Macht zur Diskriminierung von Kolleginnen und Kollegen zu missbrauchen; auch ganz konkret schadet diese Anmaßung eben denen, zu deren Gunsten sie schein-bar vorgetragen wird: den Schülerinnen und Schülern, deren Krise über-wunden werden soll. Oft kommt es zu Reaktion und Gegenreaktion in mehr-fachen Episoden, manchmal artet die Auseinandersetzung in regelrechte Kleinkriege aus. Eltern, die das Pech haben, mit Problemkindern in einem solchen Bezirk zu wohnen, können einsam werden.

Ein aktuelles Beispiel dazu: Vor wenigen Wochen wurde mir ein Fall in der Ombuds-Stelle vorgestellt, in dem innerhalb eines Jahres vier Nachtes-tungen durchgeführt wurden, drei davon innerhalb eines halben Jahres - im Wechsel von einer Pädagogischen Praxis, Schulbehörde, Sozialpädagogi-schem Beratungszentrum, Schulbehörde. Der Testproband beschwerte sich darüber, dass es immer die gleichen Tests gewesen seien.

In Fortbildungen der Begabungsdiagnostischen Beratungsstelle in Mar-burg wird SchulleiterInnen ausdrücklich zu Nachtestungen geraten, wenn nicht eine amtliche Stelle getestet hat. Das Hessische Kultusministerium da-gegen lehnt diese Praxis ab. In den meisten anderen Bundesländern werden Nachtestungen gefordert, wenn auch nicht immer durchgesetzt.

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Zusammenfassung

Die Risiken von Mehrfachtestungen liegen neben der Testkompetenz der Testleiter vor allem in der Testsituation, und zwar immer dann, wenn die in den Testhandbüchern geforderten Bedingungen für die Testperson nicht vor-liegen: Wohlbefinden, Vertrauen und Freisein von Druck. Die Risiken werden dann erheblich gesteigert, wenn in der Helferumgebung Frontlinien beste-hen, die die Helfer davon abhalten, das Wohl des Kindes über alle anderen (Neben-) Ziele zu stellen.

Liegen mehrere Testergebnisse vor, dann sollte der höchste Test ak-zeptiert werden. Diese Regel ergibt sich aus der Logik des Testens, dass das Potential, nicht die situationsabhängige Performanz gemessen werden soll. Demnach kann ein Kind, korrekte Testdarbietung vorausgesetzt, nicht zu hoch bewertet werden; es kann lediglich dazu kommen, dass es unter optimierten Bedingungen Leistungen erreicht, die es in seiner schulischen Umgebung nicht wiederholen kann. Gerade das aber ist meistens Anlass für einen Test, weil ja zu entscheiden ist, ob das Kind und die ihm gebotene Leistungsumgebung zueinander passen. Ein unerwartet hoher Wert lenkt dann die Aufmerksamkeit auf die Entwicklung der Lernbedingungen.

Die prognostische Validität der Testung im frühen Grundschulalter reicht aus, um die „Liga, in der ein Kind spielt“ für die Schullaufbahn vorherzusa-gen. In Abhängigkeit von der Biografie des Kindes kann es zu Problemkon-stellationen kommen, die eine erneute Testung rechtfertigen; geht es um eine Entscheidung über schulische Maßnahmen, muss eine Defensivsitu-ation ausgeschlossen werden; daher ist es empfehlenswert, dass nicht ein Mitglied der Schulbehörde den Wiederholungstest durchführt, sondern eine andere Einrichtung gewählt wird.

Eine Häufung von Wiederholungstests bei Kindern zeigt immer ein fach-liches Versagen der anfordernden Stellen an.

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Hochbegabung heißt nicht Einser-SchnittRichard Rasmussen, 10 Jahre

Als ich in die Schule kam, interessierte ich mich für Geschichte, Naturwis-senschaften und Technik, ich konnte auch schon ziemlich gut rechnen. Die Schulleiterin fand mich aber zu verspielt, deshalb kam ich erst in die Vor-schule. Dort war es wie im Kindergarten, aber ganz nett. In der ersten Klasse war es total langweilig, denn der Unterricht ging sehr langsam voran und die Lehrerinnen schrien nur rum. Ich habe aus Langeweile viel Quatsch ge-macht. Nach einem IQ Test, der ziemlich hoch ausfiel, sollte ich in die 2. Klasse springen. Das wollte die Schule aber nicht. Wir haben dann eine andere Schule gesucht und eine „Schmetterlingsschule“ gefunden, die gut für Begabte sein sollte.

Ich durfte dann von Klasse zwei in Klasse drei springen, obwohl mein Klassenlehrer dagegen war. Den Stoff schaffte ich schnell aufzuholen und in den Arbeiten habe ich gute Noten geschrieben. Problematisch war, dass ich bald in den meisten Fächern wieder einen Vorsprung hatte. Unser Klassen-lehrer konnte damit nicht umgehen, er wollte immer Recht haben, auch wenn ich ihm Quellen nannte. Alles was ich sagte, war falsch und unbedeutend für den Lehrer. Wieder gab es Schwierigkeiten wie auf der ersten Grundschule. Bei einem neuen IQ Test kam heraus, dass ich hochbegabt und total un-terfordert bin. Die Lehrer haben nicht verstanden, was hochbegabt ist, und einige wollten es auch nicht verstehen. Sie sagten, ich solle mich erst mal gut benehmen und dann würde ich mehr Stoff kriegen.

Meine Eltern und ich diskutierten mit den Lehrern und der Schulleiterin über einen weiteren Sprung, das wurde aber wegen meines Benehmens abgelehnt. Mit viel Glück haben wir dann einen Platz auf einem katholischen Gymnasium bekommen, obwohl meine Grundschule keinen zweiten Sprung empfohlen hat. Ich bin dann von der dritten in die fünfte Klasse am Gymna-sium gesprungen. Dort bin ich jetzt seit fast zwei Jahren. Der Anfang war schwierig, weil mich viele Kinder gefragt haben, ob und warum ich Klassen übersprungen habe. Ich fand es blöd, dass sie mich so bedrängt haben. Au-ßerdem sind alle Kinder viel älter. Besonders schwierig war, plötzlich lernen zu müssen – damit war ich früher nicht konfrontiert worden. Inzwischen läuft es trotz des vielen Lernens gut, denn endlich lerne ich in der Schule inter-essante Dinge und muss mich nicht mehr langweilen. Meine Lieblingsfächer sind Geschichte, Sport und Mathe. Ich lese gern, besonders „Artemis Fowl“, „Bartimäus“ und „Eragon“. Meine Lieblingszeitschrift ist der „Spiegel“, ich lese auch gern „Welt der Wunder“, „PM History“ und „Lustige Taschenbü-cher“. Ich spiele gern auf meinem Handy und auf dem Computer Strategie-

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spiele, in denen Diplomatie, Forschung, Wirtschaft und kriegerische Ausein-andersetzungen eine Rolle spielen. Ich gucke gern Fernsehen, am liebsten Serien wie „Merlin“ und „Robin Hood“, auch die „Herr der Ringe“ Trilogie und andere Fantasy und Science Fiction Verfilmungen.

Was viele nicht verstehen: Es ist toll, dass man viel versteht und sich viele Dinge sehr schnell erschließen kann. Doch es ist auch nicht immer ein Segen, hochbegabt zu sein. Denn Hochbegabung heißt nicht Einser-Schnitt. Hochbegabt zu sein, bringt auch viele Schwierigkeiten mit sich, vor allem in der Schule. Viele Hochbegabte, die ich kenne, haben massive Probleme dort, manche brechen die Schule auch ab. Es war nicht meine Entscheidung, hochbegabt zu sein, und ich weiß auch nicht, was ich sagen würde, wenn ich wählen dürfte. Hochbegabung hat nichts damit zu tun, ob jemand ein guter oder schlechter Mensch ist, es ist einfach eine Eigenschaft wie viele andere. Es bedeutet, schneller zu denken als die meisten Anderen und viel Wissen und Informationen zu benötigen. Ich brauche immer interessante Aufgaben, sonst langweile ich mich.

Ich glaube, an vielen Schulen kennen sich die Lehrer nicht mit Hochbega-bung aus. Sie haben wohl auch keine Zeit sich darum zu kümmern. Und die wenigen Lehrer, die freiwillig Extrakurse oder Förderung anbieten, erhalten dabei kaum Hilfe. Die „Schmetterlingsschulen“ in Hamburg, die angeblich Begabte fördern, tun in Wirklichkeit auch kaum etwas. So war es zumindest bei mir. In Hamburg gibt es noch eine Beratungsstelle für Begabungen, aber die hat mir auch nicht wirklich geholfen.

Dabei ist es eigentlich doch ganz einfach: Hochbegabte brauchen För-derung und fachlich gute Lehrer. Sie wollen gern neue Sachen lernen, nur dürfen diese nicht zu einfach, zu langweilig oder sich zu oft wiederholend sein. Mein Bruder, der auch hochbegabt ist, und ich sind jetzt beide auf pri-vaten katholischen Schulen, da klappt das besser. Aber es kann ja nicht sein, dass private Schulen das übernehmen müssen, was eigentlich Aufga-be des Staates ist. Außerdem können sich viele Familien private Schulen auch nicht leisten.

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Verwählt, aber nicht aufgelegt ...

oder die Schwierigkeit Hochbegabter mit dem Studienfachwechsel

Gardy Hemmerde

In den meisten Artikeln liegt der Fokus auf dem Thema hochbegabte Schüle-rinnen und Schüler. Deshalb möchte ich hier auf die Lage von Studierenden hinweisen, die aus welchen Gründen auch immer die falsche Studienwahl getroffen haben. In den letzten Jahren hatte ich immer wieder mit jungen hochbegabten Erwachsenen zu tun, die an einer Wegkreuzung oder einem Kreiselverkehr standen und sich schwer entscheiden konnten. Manche lan-deten im Kreisverkehr bis ihnen schwindelig wurde. Sie konnten ihren Weg immer weniger sehen. Und Andere hielten einfach an und parkten ausgiebig (manchmal auch im elterlichen Haus). Die Erziehungsaufgaben sind in die-ser Phase eigentlich zu Ende, aber Unterstützung und Austausch sind noch gewünscht und manchmal auch dringend notwendig.

Wenn wir uns bei einem Telefonat verwählen, entschuldigen wir uns, ge-stehen den Fehler ein und wenden uns anderen Dingen zu. Beim Studium sieht es natürlich anders aus. Leider ist die Wahl eines Studienfaches oder einer Ausbildung für viele Hochbegabte nicht so einfach. In den Workshops und Coachings zur Berufsorientierung hat sich gezeigt, dass ihnen zwei Din-ge im Weg stehen: Erstens, es soll die absolut richtige Entscheidung für die nächsten Jahrzehnte sein, und zweitens soll das Studium alle in eine glorreiche Zukunft verschobenen und aufgeschobenen Erwartungen erfül-len. Schließlich haben die hochbegabten Allrounder dann noch den Neben-schauplatz die Qual der Wahl eröffnet und kommen im schlimmsten Fall zu dem Punkt, keine Entscheidung treffen zu können. Die postmoderne Welt hält das Versprechen bereit, alles werden und machen zu können, ohne den Faktor Zeit genau zu bemessen. Eine Entscheidung für etwas heißt auch, eine Entscheidung gegen alle anderen Möglichkeiten zu treffen. Zu keiner Entscheidung zu gelangen, enthält die Entscheidung, aktuell keine Entschei-dung treffen zu können. Tritt dies ein, haben wir es mit einer Suchbewegung zu tun, an deren Ende doch meistens eine Wahl getroffen wird.

Nun schauen Eltern auf ihre studierenden Zöglinge und hoffen das Beste. Jahrelang war allen klar, dass nur ein Mathematikstudium infrage kommt, aber nun wollte Jessica unbedingt Biochemie studieren. Ihre Argumentation ist schlüssig, weil sie sich nicht als Versicherungsmathematikerin sah und keine attraktiven Berufsfelder als Mathematikerin für sich benennen konn-te. Nach 3 Semestern war sie nun von endlosen Versuchsreihen genervt und stellte fest, dass ihr theoretische Mathematik wahrscheinlich bei Weitem

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mehr Spaß gemacht hätte. Genauer befragt, war ihr dies schon nach dem 1. Semester klar, aber sie wollte sich keine Blöße geben und blieb tapfer bei Biochemie. Nebenbei besuchte sie mehr oder weniger heimlich schon Mathematikvorlesungen und fühlte sich dort richtig wohl.

Betrachten wir die Lebensläufe erwachsener Hochbegabter, zeigen sie ei-nen Aspekt auf, der zum Zeitpunkt der Studienwahl noch nicht gesehen wird. Viele aus der Elterngeneration verfügen über mehrere Studienabschlüsse, Weiterbildungen oder Ausbildungsgänge, die sich in ein sehr breites Spekt-rum auffächern können. Auf dem von Mensa Deutschland e.V. veranstalte-tem Tag der Intelligenz 2010 in Hamburg saßen in einer Plenumsdiskussion eine Theologin / Ärztin, eine Rechtsanwältin / Yogalehrerin und eine Ethno-login / Sozialpädagogin. Was bedeutet das nun für die Studentinnen und Studenten? Bei der Wahl des Studienfaches ist eher ein Zeitraum von 3 - 5 Jahren zu berücksichtigen, als einer über drei Jahrzehnte. Die Zukunft bringt Ideen und Chancen, die so früh noch nicht mitgedacht werden können. Es sind eher die ergebnisoffenen Wege, die eine Suchbewegung aktivieren und neue Optionen schaffen.

Coaching setzt hier an zwei Punkten an: Einerseits einen Ort zu bieten, an dem die getroffenen Entscheidungen reflektiert werden können und an-dererseits einen Rahmen zu schaffen, eine neue Wahl zu treffen. War es in der Schulzeit oft mühsam oder langweilig, wird gerne auf die positive Zu-kunft an der Universität verwiesen. Dies ist der Ort, an dem alles besser, herausfordernder und anregender sein soll. Endlich bekommt der Kopf den lang ersehnten intellektuellen Auslauf. Die Studierenden starten hoch moti-viert, und dann holt sie die Realität ein. Immer wieder sitzen zweifelgeplagte junge Menschen vor mir, deren Erwartungen enttäuscht wurden. Das kann unterschiedliche Ursachen haben. Einerseits könnte es sein, man hat sich verwählt, d.h. die Vorstellung des konkreten Studienfaches und die Realität an der Uni klaffen auseinander. Andererseits sind es die Rahmenbedingun-gen wie, die Stadt, die Wohnsituation oder die Ausstattung der Uni, die nicht mitgedacht worden sind. Vor allem die Generalisten unter den Studierenden kommen ins Schleudern. Es gäbe noch so viele andere Ideen und Möglich-keiten, die gerade verlockender erscheinen.

Der Entscheidung das Studium aufzugeben geht eine qualvolle Zeit von Selbstzweifeln und Versagensängsten voraus. Gut zu wissen: der Studie-nabbruch ist in den meisten Fällen ein Studienfachwechsel mit einer kürze-ren oder längeren Besinnungsphase. Dabei ist zu berücksichtigen: je früher eine neue Entscheidung getroffen wird desto besser. Denn ein Fachwechsel kostet meistens Zeit und Geld. In der Praxis konnte ich beobachten, dass viele der hochbegabten Studentinnen und Studenten aus Scham und Angst

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vor Gesichtsverlust viel zu lange in ihrem Fach verweilen. Sie hoffen von Semester zu Semester, dass es spannender werde und werden immer un-zufriedener. Andere besuchen, so wie Jessica, schon mal andere Fachbe-reiche und trauen sich nicht ihre Zweifel zu äußern. Der Umgang mit dem Scheitern, der Abschied von einer doch wohlüberlegten Entscheidung muss erst gedacht und durchdacht werden, bevor der Wechsel vollzogen werden kann. Systemisch betrachtet gilt es das Begriffspaar richtig oder falsch zu vernachlässigen und durch das Adjektiv passend zu ersetzen. David studier-te Geschichte und Anglistik auf Lehramt und kam erst im 4. Semester zu dem Punkt, dass er gar kein Lehrer sein wollte. Seine Fächerkombination war für ihn schon passend, aber der Wegfall des konkreten Berufsbildes hatte eine kleine Sinnkrise bei ihm ausgelöst. Er stellte sein Studium komplett infrage und brauchte Unterstützung neue Tätigkeits- und Berufsfelder zu finden, um sich weiterhin zu motivieren.

Etwas Positives zum Schluss: Der aktuelle demographische Wandel pro-gnostiziert, dass in Deutschland ein eklatanter Fachkräftemangel herrscht, und die derzeitigen Studentinnen und Studenten dringend in den unter-schiedlichen Berufsfeldern gebraucht werden.

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Weißbuch „Begabungs- und Exzellenzförderung“Im Auftrag und in Kooperation mit der Task Force „Begabungsforschung und Begabtenförderung“ wurde vom Österreichischen Zentrum für Begabtenför-derung und Begabungsforschung (ÖZBF) ein Weißbuch zur Begabungs- und Exzellenzförderung erstellt. Die Task Force ist eine interministerielle Steuer-gruppe, die aus Vertreterinnen und Vertretern von Unterrichtsministerium, Wissenschaftsministerium und ÖZBF besteht.

Ziel des Weißbuches ist es, eine gemeinsame Grundlage für die Weiter-entwicklung der Begabungs- und Exzellenzförderung in allen Einrichtungen zu schaffen, die zum lebenslangen Lernen beitragen. Das Weißbuch richtet sich dementsprechend an elementare Bildungseinrichtungen, Schulen und Hochschulen, aber auch an Gemeinden sowie an Wirtschafts- und Arbeits-welt.

Es enthält Informationen über den im überparteilichen Konsens erarbei-teten Begabungsbegriff, über Ziele und Aufgaben der Begabungs- und Ex-zellenzförderung sowie über deren rechtliche Grundlagen und Fördermög-lichkeiten in den verschiedenen Handlungsfeldern.

Die Broschüre kann kostenlos von den Websites des BMUKK, des BMWF und des ÖZBF heruntergeladen werden, z.B. www.begabtenzentrum.at > Publikationen > Veröffentlichungen ÖZBF

Die gedruckte Version wird auf Anfrage ([email protected]) zu-gesandt.

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Buchbesprechung

Olaf Steenbuck, Helmut Quitmann, Petra Esser (Hrsg.): Inklusive Begabtenförderung in der Grundschule. Konzepte und Praxisbeispiele zur Schulentwicklung. Weinheim und Basel 2011

Wilfried Manke

„Inklusion“ (Einschluss) gehört zu den derzeit am meisten beachteten bil-dungspolitischen und pädagogischen Begriffen. Ob es sich hierbei um einen grundlegenden Paradigmenwechsel handelt oder aber um ein neues Mode-wort, was neues Wasser in alte Schläuche leitet, bleibt abzuwarten. „Inklusi-on“ ist jedenfalls in aller Munde, auch bei denjenigen, die sich um die Bega-bungs- und Begabtenförderung kümmern. „Inklusive Begabtenförderung in der Grundschule. Konzepte und Praxisbeispiele zur Schulentwicklung“ heißt das neue Handbuch aus der im Beltz-Verlag erscheinenden „Reihe Hochbe-gabung und pädagogische Praxis“. Ein empfehlenswertes Buch, das nach Abschluss des von der Karg-Stiftung initiierten Projektes „Impulsschulen“ nunmehr vorliegt.

Jeder Versuch, Schnittstellen zwischen Inklusion und Begabtenförderung zu entdecken, wird einige Fragen beantworten müssen, zum Beispiel: be-fördert oder vernachlässigt Inklusion Begabtenförderung? Kommt Inklusion ohne Begabtenförderung aus? Kommt Begabtenförderung ohne Inklusion aus? Die Autoren und Autorinnen versuchen Antworten zu geben und kom-men letztlich zu einem vorläufigen Ergebnis: Inklusion und Begabtenför-derung können sich wechselseitig unterstützen, da beide Ansätze von der Unterschiedlichkeit der Schüler/innen und von der Individualisierung des Lernens ausgehen. Aber reicht das schon aus?

Zunächst: „Inklusion“ meint – in Abgrenzung zu „Integration“ - Einschlie-ßung von vornherein. Ein „inklusive Schule“ ist eine Schule für alle, d.h. eine für behinderte und nichtbehinderte, für lernschwache und lernstarke, für weniger und höher begabte Kinder und Jugendliche. Die Herausgeber Olaf Steenbuck, Helmut Quitmann und Petra Esser definieren diese Aufgabe wie folgt:

„Während Integration noch gedanklich eine Trennung von Gruppen voraussetzt, nämlich einer, die es zu integrieren gälte und einer, in die hinein integriert wird, geht Inklusion von vornherein von einer gemein-

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samen Gruppe aus. In diese Gruppe sind alle bereits eingeschlossen, und eine Separierung von Teilgruppen nach letztlich willkürlichen Kri-terien ist nicht möglich.“ (S. 20)

Plädieren also die Herausgeber für ein grundsätzlich anderes Gegenmo-dell zu exklusiven (Hoch)Begabtenklassen oder – schulen? Nicht ganz:

„Sofern diese Schulen aus pädagogisch-inhaltlichen und individuell fallbezogenen Erwägungen als Angebot angewählt werden, stellen sie einen derzeit notwendigen Baustein in einem vielfältigen System schulischer Begabtenförderung dar.“ (S. 21)

Inklusive Begabtenförderung ist nach dieser Lesart zwar regelhaft, aber nicht für alle besonders begabten Kinder und Jugendliche geeignet. Ein Rest von „Exklusion“ bleibt also bestehen, eine vom Rezensenten ausdrücklich geteilte Position.

Vor diesem Hintergrund werden im 2. Teil Grundlagen und Konzepte der begabungsfördernden Schule vorgestellt. Gabriele Weigands „Pädagogi-sche Perspektiven auf Hochbegabung und Begabtenförderung“ betonen auf der Grundlage einer „personalen Anthropologie und Bildungstheorie“, dass gelingende Begabtenförderung nicht nur einzelne fähigkeitsbezogene För-dermaßnahmen, sondern um eine umfassende Persönlichkeitsbildung zum Ziel hat:

„Damit ist eine Begabtenförderung, die nur auf die besondere Förde-rung einzelner (hoch) Begabter zielt, pädagogisch kaum vertretbar. Sie kann nur vor dem Hintergrund einer Förderung aller gerechtfertigt werden.“ (S. 34)

Eine solche „personale Pädagogik“ erweitert die Idee der „Individualisie-rung des Lernens“ zu einer „Personalisierung des Lernens“.

Diese „Perspektive auf das Individuum“ und auf „einen gleichberechtig-ten Umgang mit Vielfalt“ (S. 41) verfolgt auch Christina Schenz mit ihrem Thema „Inklusive Begabungsförderung und das Modell der inklusiven Schu-le“. Es geht ihr um pädagogische und organisatorische Maßnahmen für alle Schulen und Schulformen, Kinder und Jugendliche bei der Entwicklung ihrer „Selbstbestimmungsfähigkeit“ zu unterstützen, damit sie über ihre Bega-bungen verantwortungsvoll verfügen und ein für sie „sinnstiftendes Leben“ führen können. (S. 40) Schenz widmet sich ausführlich der Frage nach der Vereinbarkeit von Integration/Inklusion und Begabtenförderung. Mit Blick auf aktuelle Forschungsergebnisse kommt sie zu dem Schluss, dass eine ein-deutige Beantwortung der Frage, ob Segregation oder Integration die wirk-

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samere Fördermöglichkeit für besonders und hoch begabte Schüler/Innen sei, nicht möglich ist und nur für jeden individuellen Fall beantwortet werden kann.

In seinem Beitrag „Begabtenförderung als Impuls für Schulentwicklung“ plädiert Olaf-Axel Burow für einen Weg, der konsequent wegführt von der Selektion zur Inklusion. Damit rückt er die Kritik am gegliederten Schulsys-tem mit seiner angeblichen Begabungsgerechtigkeit in den Vordergrund. Begabtenförderung kann für ihn nur in einer Schule für alle, d.h. durch Wert-schätzung und Nutzung von Vielfalt gelingen:

„Nicht die Schüler haben sich an den jeweiligen Schultyp anzupassen, sondern die Schule muss so gestaltet sein, dass sie der Vielfalt der Begabungen gerecht wird.“ (S. 54)

Burow schlägt für die inklusive begabungsfördernde Schulentwicklung sechs Zugänge vor (S. 54 ff.):

1 „Stärkere Berücksichtigung multipler Intelligenzen“ (nach Howard Gardner)

2 „Schule als kreatives Feld“, in dem überragende „Leistungen das Er-gebnis der Zusammenarbeit von Personen mit unterschiedlichen Be-gabungen sind“.

3 „Wertschätzende Schulentwicklung“, in deren Verlauf alle Schulbetei-ligten ihre besonderen Stärken bilanzieren und ihre Zukunftsvorstel-lungen formulieren.

4 „Neue Lehr-/Lernkultur durch die Nutzung innerer Bilder“, d.h. sich öffnen für die biografischen Erfahrungen der Schüler/innen, um ihnen ein „persönlich bedeutsames Lernen“ zu ermöglichen.

5 „Die Weisheit der Vielen“ nutzen, z.B. durch Zukunftswerkstätten, in denen jeder Schulbeteiligte zum Experten für Schulentwicklung wer-den kann.

6 „Orientierung an Glück und Salutogenese“, d.h. Schule und Lernsitua-tionen müssen – anstelle des verbreiteten Desinteresses und Unwohl-seins bis hin zu Gesundheitsgefährdungen – als Orte des Wohlfühlens erlebt werden.

Dass Lern- und Entwicklungsprozesse nicht nur von Wissenschaftlern und berufspädagogischen Experten erforscht werden können, betonen Pet-ra Esser und Simone Welzien in ihrem Beitrag „Mit Eltern im Dialog“. Sie be-obachteten u.a. im Rahmen des Impulsschulprojektes der Karg-Stiftung die für gelingende Schulentwicklung unverzichtbare „Erziehungspartnerschaft“

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als Kooperation, Dialogbereitschaft und -fähigkeit zwischen Lehrkräften und Eltern.

Basierend auf einschlägige Forschungsergebnisse der Pädagogischen Psychologie und Ideen aus der Schulpädagogik präsentiert Olaf Steenbuck zentrale „Merkmale begabungsfördernden Unterrichts“. Bereits erprobte pä-dagogische Konzepte eines begabungsfördernden Unterrichts findet er zum Beispiel

– bei Schulte zu Berges (2001) zehn „Forderungen an Schule und Un-terricht“,

– in den vier Aspekten eines „begabungsgerechten und begabungsent-wickelnden Unterrichts“ des Kooperationsprojekts zwischen dem bay-erischen Staatsinstituts für Schulpädagogik und Bildungsforschung mit der BMW Group (2000),

– in den dreizehn „Gütekategorien begabungsfördernden Unterrichts“ bei Trautmann/Schmidt/Rönz (2009),

– bei Gerhard Förderers „begabungserkennenden und talentfördernden Unterricht“ (2000),

– sowie Merkmale, die aus der Sicht der Impulsschulen von besonderer Bedeutung waren.

Alle Konzepte verstehen sich nicht als pädagogisch-didaktische Ansätze eines besonderen Unterrichts für Hochbegabte, sondern benennen allge-meine Qualitätsmerkmale eines Unterrichts, der allen Schüler/innen zugu-tekommt. Als zentrale Merkmale eines begabungsfreundlichen Unterrichts benennt Steenbuck die Prinzipien „Freiräume sowie Anerkennung und Ver-trauen“ (S. 85), Voraussetzungen, die für die Entwicklung von Selbststeue-rung und Eigenverantwortlichkeit unabdingbar sind.

Den verbreiteten Begabtenförderaspekt durch jahrgangsgemischte Lern-gruppen untersucht Thomas Trautmann. Die Analyse des vorliegenden For-schungsstands ergibt für Trautmann keine eindeutige Aussage darüber, ob jahrgangsgemischte Gruppen gegenüber Jahrgangsklassen „ein prinzipiell verbessertes didaktisches Management oder gar bessere Ergebnisse von Schülerleistungen“ (S. 102) hervorbringen. Dennoch: wie Mikrostudien bele-gen, ermöglicht altersgemischtes Lernen – gerade auch für besonders Be-gabte – eine „prinzipielle Verbesserung ihres Lern- und Erfahrungskonstruk-tes“. Als „familienähnliche Konstellation der produktiven Verschiedenheit (S. 97) ermöglicht es in besonderem Maße wichtige soziale Erfahrungen und Kompetenzen, fordert eigenverantwortliches Lernen heraus und hilft, die Lehrerrolle zu überdenken, nämlich weniger Lehrperson sondern mehr un-terstützender Lernbegleiter zu sein. Trautmann warnt allerdings davor, sich

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allein von den institutionellen Rahmenbedingungen flexiblere und vielfältige-re Fördermöglichkeiten zu erhoffen. Wie bei allen pädagogisch-didaktischen Maßnahmen zeigen sich ihre Erfolge „an der pädagogischen Qualität, dem Bildungsanspruch der Institution und der Ausbildung der Lehrpersonen.“ (S. 103)

Mit ihren Überlegungen zu „Kompetenzen von Lehrerinnen und Lehrern in der schulischen Begabungsförderung“ melden sich noch einmal Christina Schenz und Petra Esser zu Wort. Sie thematisieren die Frage, welche Art der pädagogischen Professionalität im Umgang mit sehr begabten Kindern hilfreich sein kann. Ausgehend davon, dass der Anspruch auf Potenzialent-faltung für alle Schüler/innen gilt, „lassen sich grundsätzlich keine Lehrer-kompetenzen speziell für besonders oder hochbegabte Kinder identifizieren“ (S. 106), sehr wohl aber Notwendigkeiten für eine anforderungsspezifische Weiterbildung und Spezialisierung von Lehrkräften ableiten. Die Autorinnen benennen für die Ebenen der fachspezifischen, der persönlich-sozialen und der methodisch-didaktischen Fähigkeiten die folgenden Qualifikationen:

– ein fundiertes Fachwissen, das die Lehrkraft zum sicheren und flexi-blen Umgang gerade auch mit nicht geplanten Anforderungen befä-higt,

– unterstützende Angebote zu einer ganzheitlichen Persönlichkeitsent-wicklung des Kindes,

– Kenntnisse und Ideenreichtum zum begabungsförderlichen Unter-richts durch Bereitstellung einer kreativen Lernumgebung sowie zu Möglichkeiten pädagogischer Diagnostik.

Den verschiedenen Instrumenten diagnostischer Möglichkeiten und Be-ratungsansätze widmet sich ein weiterer Teil. Franzis Preckel stellt zunächst die „Intelligenzdiagnostik als Kernelement der psychologischen Hochbe-gabungsdiagnostik“ (S. 113 ff.) vor. Auch sie plädiert für eine ganzheitliche Herangehensweise, die nicht auf ein Gesamt-IQ oder einzelne IQ-Werte re-duziert werden darf, sondern aussagekräftige Begabungsprofile zum Zwe-cke gezielter Förderung umfassen muss. Preckel betont, dass bei einer ausgeprägten Differenz zwischen Leistung und vermuteter Hochbegabung (underachievement) eine Testdiagnostik unumgänglich wird, hingegen bei „günstigen Entwicklungsbedingungen“, wo besondere kognitive Leistungen auch auf eine hohe Intelligenz schließen lassen, eine testpsychologische Untersuchung nicht erforderlich ist.

Das vor allem im schulischen Handlungsfeld sinnvolle Verfahren der „Pädagogischen Diagnostik“ ist für Christina Schenz die ständige Aufgabe begabungsförderlicher Lehrkraftaktivitäten. Hierbei betont sie vor allem den

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dialogischen Charakter von Wahrnehmung und Beobachtung, d.h. die Inter-aktion und wechselseitige Interpretation von auch unterschiedlichen Sicht-weisen „zwischen der Lehrkraft, dem Schüler und seinem Umfeld (Eltern, Mitschüler, andere Lehrkräfte)“ (S. 122).

Auch Helmut Quitmann wendet sich dagegen, Diagnostik ausschließlich mit Testdiagnostik gleichzusetzen und begründet dies mit seinem Ansatz ei-ner den Beratungsprozess zu begleitenden „dialogischen Diagnostik“, der er das Menschenbild seiner „Humanistischen Psychologie“ (1996) zugrunde legt. „Dialogische Diagnostik“ will der Gefahr des „hilflosen Helfertums“ in traditionellen systemischen Beratungsprozessen konzeptionell dadurch ent-gehen, indem sie

„der Struktur des Beratungsprozesses und der Kooperation zwischen den Beteiligten eine mindestens gleichwertige, wenn nicht sogar füh-rende Bedeutung gegenüber den pädagogisch-psychologischen In-terventionen“ zuweist. (S. 126)

Als „Hilfe zur Selbsthilfe“ für gelingendes Handeln überträgt es das Hand-lungswissen des allwissenden „Experten“, sondern in die Verantwortung der unmittelbar Betroffenen, ein Konzept, das Quitmann sowohl als Gründungs-leiter in der Hamburger Beratungsstelle besondere Begabungen als auch als Begleiter der Impulsschulen erfolgreich umsetzen konnte.

Der abschließende Teil widmet sich ausschließlich der Entwicklung, Durchführung und Auswertung des von der Karg-Stiftung 2003 ins Leben ge-rufene Impulsschul-Projektes, an dem bundesweit 15 Grundschulen beteiligt waren. Ausführlich berichten die wegbegleitenden Autoren und Autorinnen über Konzept, Fortbildungsseminare und Supervision bis hin zu begabungs-fördernden Schulentwicklungen und Schulprofilbildungen mit umfangreichen Praxisbegleitungen in der „Transferphase“. Die Autoren erhoffen sich, dass das Impulsschul-Projekt weitere Schulen dazu anstiften wird, sich ebenfalls auf den Weg zu einer begabungsfördernden Schule zu machen und betonen den zukunftsweisenden Anstiftungscharakter ihres Projektes:

„Als Perspektive über das vorliegende Projekt hinaus, geht es einer-seits darum, das Erreichte zu sichern, die Qualität beispielsweise einer begabungserkennenden und begabungsfördernden Organisa-tionsentwicklung stetig weiter zu treiben und die Lehrkräfte darin zu unterstützen, ihre Kompetenzen in den Bereichen Diagnostik und Un-terricht….weiterzuentwickeln.“ (S. 234)

Einen spannenden Überblick über Verläufe und Entwicklungen der betei-ligten Grundschulen bietet der Beitrag von Helmut Quitmann. Anhand von

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vier Dimensionen der Schulentwicklung, nämlich Rahmenbedingungen, Un-terricht, Strukturen und Personalentwicklung, werden nicht nur Evaluations-ergebnisse des Impulsschulprojektes präsentiert, sondern auch Ansprüche an jede gelingende begabungsfördernde Schulentwicklung formuliert. Das alles stiftet zum Nachahmen an. Nicht zum Nachmachen, denn ausgehend von der Überzeugung, „dass die einzelne Schule ins Zentrum allgemeiner Reformbemühungen rücken muss“ (siehe 216) wird jede Schule ihren eige-nen Weg suchen.

Zusammenfassung

Die vorliegende Aufsatzsammlung bietet eine Fülle von Anregungen zu einer begabungsfördernden Schulentwicklung, auch über die Schulform Grund-schule hinaus. Jedoch: ob der Inklusionsgedanke bildungspolitisch und pä-dagogisch nachhaltige Wirkungen erzielen wird – bleibt ungewiss. Skepsis bleibt jedenfalls angesagt, wenn zum Beispiel die Hamburger Schulbehörde bei ihrem Ruf nach Inklusion die Begabungs- und Begabtenförderung weit-gehend ausklammert. Aber auch bei den Lehrkräften steht dieses Thema eher im Abseits. Die Angst um Ressourcenabbau bei zunehmender Aufga-benbelastung hat schon jede Reformstimmung erstarren lassen.

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Der ABB Arbeitskreis für Begabungsforschung und Begabungsförderung e.V.

Nach der Konferenz „Begabungen entwickeln, erkennen und för dern“, die im November 1990 in Hannover stattfand, empfand die Mehrheit der Ta-gungsteilnehmer es als notwendig, den Bereich Begabungsforschung und Begabungsförderung stärker zu unter stützen. Der Arbeitskreis Begabungs-forschung und Bega bungsförderung wurde ins Leben gerufen.

Um für alle Heranwachsenden günstige Lern-und Entwicklungs bedingungen zu schaffen, ist das Entwickeln, Erkennen und Fördern von Begabungen ein wesentliches Anliegen. Angemes sene Bedingungen für die Entwicklung von Begabung für alle Kin der sollten bereitgestellt und die Begabung schon möglichst früh und zu jedem Zeitpunkt der Persönlichkeitsentwicklung er-kannt werden. Dabei sind die verschiedensten Arten und Ausprägungen zu berücksichtigen, um jedes Kind in seiner Begabung fördern zu können.

Die Nachwuchsförderung von Wissenschaftlern, die sich mit dem Thema Begabung auseinandersetzen, steht im Vordergrund der Arbeit des ABB. Hierbei spielt die Vernetzung von Theorie und Praxis eine große Rolle. Bei-de Seiten können bei dem Aus tausch von Theoretikern, wie z.B. Forscher an Hochschulen, und Praktikern zum Beispiel von Psychologen und Ärzten profitieren und die Arbeit der Begabtenförderung und –forschung enorm vo­rantreiben.

Der ABB sieht seine Aufgabe darin, die wissenschaftliche Kommunikation und Kooperation zur Begabungsforschung und Begabungsförderung und die Konzipierung, Realisierung und wissenschaftliche Begleitung von Pro-jekten zur Begabungs förderung zu unterstützen. Der Arbeitskreis möch-te den Gedan ken, dass Begabungsförderung ein pädagogisches und psycholo gisches Grundanliegen ist, wissenschaftlich begründen und die sen Gedanken in der Lehrerschaft, in der Lehrerbildung und in der Öffentlich-keit verbreiten. Der Transfer von den Ergebnissen und Erkenntnissen aus der interdisziplinären Begabungsforschung soll gefördert werden und Eintritt in die psychologische und päda gogische Praxis und somit auch in die Bil-dungspolitik finden.

Rostock 2012

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Kontakt ABB e.V., Universität Rostock Institut für pädagogische Psychologie August-Bebel-Str. 28 18055 Rostock Web: www.abb-ev.org