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ABDULLAH ÖCALAN Wege zu einer Lösung der kurdischen Frage Auszüge aus der Eingabe an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) Kurdistan Informations-Zentrum e. V. 3

ABDULLAH ÖCALAN - birinsanbirkitap.files.wordpress.com · Zur Verteidigungsrede von Abdullah Öcalan Über Abdullah Öcalan, den wertvollen Spross und Vor-kämpfer des kurdischen

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ABDULLAH ÖCALAN

Wege zu einer Lösung der kurdischen Frage

Auszüge aus der Eingabe an den

Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR)

Kurd is tan In format ions-Zent rum e . V.

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Wir bedanken uns bei den zahlreichen Freundinnen und Freunden, dieuns ihre Zeit, ihre Aufmerksamkeit, ihre Fähigkeiten, ihre Arbeit, ihreGeduld und ihren Einsatz zur Verfügung gestellt haben, damit diesesBuch erscheinen konnte.

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ABDULLAH ÖCALAN

Wege zu einer Lösung der kurdischen Frage

Auszüge aus der Eingabe an den EGMR

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Die deutsche Bibliothek – CIP-EinheitstitelWege zur Lösung der kurdischen FrageAbdullah ÖcalanAuszüge aus der Eingabe an den EGMROriginal: Sümer Rahip Devletinden Halk CumhuriyetineKurdistan Informations-Zentrum e.V. (Hg.)Berlin, Eigenverlag, 1. Auflage 2002Preis: 5 EuroISBN 3-936541-00-0

Herausgegeben von:Kurdistan Informations-Zentrum e.V. Kaiser-Friedrich-Str. 63 Postfach 12 11 2210605 Berlin

Druck: Eigendruck

Bezug: Kurdistan Informations-ZentrumKaiser-Friedrich-Str. 63 10627 Berlin

© 2002 Kurdistan Informations-Zentrum e.V.ISBN 3-00-00-5739-0

1. Auflage, September 2000

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Die Ihnen vorliegende Veröffentlichung „Wege zu einerLösung der kurdischen Frage” wurde vom Vorsitzendender PKK, Abdullah Öcalan, für den Europäischen Gerichts-hof für Menschenrechte erarbeitet. Öcalan reichte demEGMR eine umfangreiche und analytische Eingabe vonetwa 1000 Seiten ein. Die folgenden Seiten stellen nureinen Auszug aus dem sechsten Kapitel der insgesamt 9Kapitel umfassenden Eingabe dar. Wegen der Aktualitätund Dringlichkeit haben wir uns entschlossen, diesenAbschnitt schon im Vorfeld der Herausgabe des gesamtenübersetzen Werkes in deutscher Sprache herauszubringen.Neben dem Auszug „Wege zu einer Lösung der kurdischenFrage” von Herrn Öcalan finden Sie im weiteren eine Ana-lyse der gesamten Eingabe sowie das zugehörige kom-plette Inhaltsverzeichnis. Zu einem besseren Verständnisdieses Kapitels erachten wir es für notwendig, sich mit dergesamten Eingabe zu befassen.

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Inhalt

Yasar KayaZur Verteidigungsrede von Abdullah Öcalan 10

Abdullah ÖcalanWege zu einer Lösung der kurdischen Frage 15Auszüge aus der Eingabe an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR)

Vom Sumerischen Priesterstaat zur Volksrepublik 87Erläuternde Bemerkungen zum Buch & Inhaltsangabe

Fußnoten 133

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Inhalt

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Yasar Kaya

Zur Verteidigungsrede von Abdullah Öcalan

Über Abdullah Öcalan, den wertvollen Spross und Vor-kämpfer des kurdischen Volkes wird noch viel gespro-

chen und geschrieben werden. Er ist der Hauptarchitekt derWiederauferstehungsgeschichte einer Nation, die schon amRande ihres eigenen Grabes zur Beerdigung bereit stand.Unserer Meinung nach ist Öcalan ein Mensch schwierigerZeiten. Er gründet eine Gruppe, es wird zum Ereignis, ergründet eine Partei, es wird zum Ereignis, er bricht in denMittleren Osten aus, es wird zum Ereignis, er gründet eineGuerillaorganisation und beginnt den bewaffneten Kampf,und es wird zum Ereignis. Er verkündet einseitig einen Waf-fenstillstand und bricht vom Mittleren Osten nach Europaaus, und es wird zum Ereignis. Seine Entführung und Ver-haftung führten weltweit zum Ereignis und bei den Kurdenzu ihrer größten historischen Einheit.

Diese Kette von Ereignissen, innerhalb von 25 Jahren ent-standen durch die Aneinanderreihung der einzelnen Glieder,führte schließlich über die Eingabe während des Prozessesin Imrali zu den Eingaben an den Europäischen Menschen-rechtsgerichtshof unter dem Titel „VOM SUMERISCHENPRIESTERSTAAT ZUR DEMOKRATISCHEN ZIVILISATION”.Was beinhalten diese Eingaben? Meiner Meinung nach han-delt es sich vor allem um eine juristische Methodologie, umdie Geschichte der sozialen Kämpfe des Mittleren Ostens,um eine neue und gründliche Bewertung des Ursprungs der

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Yasar Kaya

Zivilisation, um die Geschichte der kurdischen Befreiungund um das Manifest für eine Lösung der bisher ungelö-sten kurdischen Frage. Es besitzt als Manifest der demo-kratischen Zivilisation die Qualität einer Anleitung zur Demo-kratie für die Völker des Mittleren Ostens, der als Wiegeder Zivilisation auf eine 5000-jährige Geschichte zurück-blickt, einer Anleitung zum Leben für diese geheimnisvolleGegend, aus der die drei monotheistischen Religionen her-vorgegangen sind. Nachdem Abdullah Öcalan alles, wasseit den dunklen Tiefen der Geschichte bis heute geschehenist, alle Zivilisationen, die entstanden und wieder vergangensind, und alle Kriege einer genaueren Betrachtung unter-zieht, vernachlässigt er nicht die Quelle, die Gerechtigkeit,das Recht, das Menschenleben und die Frau. In der Einga-be Abdullah Öcalans werden die Werte des Zeitalters undder Region des Mittleren Ostens sowie neue und strategi-sche Blickwinkel für eine Lösung der Probleme dargestellt.Offenherzig kritisiert Abdullah Öcalan vor allem das eige-ne Tun, die Fehler der Partei. Damit gibt er dem neuen Men-schen und dem eigenen Kader eine ethische, soziologischeund historische Anleitung zur Diplomatie. Die demokratischeZivilisation stellt er als eine unverzichtbare Alternative fürdie Völker der Region und die Lösung der kurdischen Fra-ge dar. Was er sagt und schreibt, sind Voraussichten für vie-le Jahre und Tatsachen. Er fordert Veränderung und Über-windung und führt zu neuen Horizonten. Indem erdemokratische Lösungswege für alle vier Teile Kurdistansaufzeigt, erläutert er historisch, wie sich Türken, Perser undAraber Jahrhunderte lang der kurdischen Frage angenäherthaben. Er bringt neue historische Perspektiven hervor.

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Yasar Kaya

Er stellt neue Strategien dar, mit denen er versucht, dieKurden in den rasanten Verlauf des Zeitalters mit einzu-binden. Alles, was er von ihnen fordert, ist Veränderungund Wandel. Die oligarchische Republik analysierte derinhaftierte Vorsitzende eines vom Komplott betroffenenVolkes. Die Kemalisten in der Türkei und Kurdistan, die reli-giösen und die das Kurdentum vertretenden Menschenhaben neu angefangen zu denken. Das bedeutet die Zer-störung des geistigen Status Quo. Demokratie und kurdi-sche Frage kamen auf die Tagesordnung, nachdem dasKomplott [durch das der PKK-Vorsitzende in türkischeGefangenschaft geriet; A.d.Ü.] aufgedeckt wurde. Die Kur-den wurden nicht einfach so zur größten Stütze der Demo-kratie in der Türkei. Die PKK als ihre Partei hat zu jeder Zeitauf der Bühne der Geschichte ihre Existenz, Toleranz undElastizität gezeigt. Und die Veränderung geht weiter. Wes-sen Werk ist das wohl? Über all das denken wir nach.

So, wie die kurdisch-türkische Einheit für die demokra-tischen Republik in einer gemeinsamen Türkei, so ist einedemokratische Föderation im Mittleren Osten für dieLösung der kurdischen Frage von Bedeutung. Öcalan, derdiese historisch bedeutsamen Thesen entwickelt hat, istweit entfernt von einer persönlichen Verteidigung. Viel-mehr geht es ihm um die Verteidigung der Völker einersehr komplizierten Region.

Als jemand, der das Komplott von Beginn an verfolgthat, hat Herr Öcalan sein Dasein auf Imrali als einen „Spie-gel” charakterisiert, in dem sich „die Kurden selbst zeigenkönnen”. Wie er selbst ausgedrückt hat, sollten die Jah-

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Yasar Kaya

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Yasar Kaya

restage [seiner Gefangennahme; A.d.Ü.] nicht als Trauerta-ge begangen werden, sondern als Tage, aus denen eineLehre gezogen werden kann.

In diesem kleinen Buch sind Lektionen einer Geschichteenthalten, die groß bewertet werden.

Yasar Kaya

01.03.2002Brüssel

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ABDULLAH ÖCALANWEGE ZU EINER LÖSUNG DER KURDISCHEN FRAGE

Auszug aus dem sechsten Kapitel Probleme des kurdischen Phänomens im Mittleren Ostenund mögliche Lösungswegedes zweiten Bandes seines Werkes Vom Sumerischen Priesterstaat zur Volksrepublik,Istanbul 2001. (Leicht überarbeitet)

Übersetzt und annotiert von Oliver Kontny

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Eingabe an den EGMR

Wenn ein gesellschaftliches Phänomen zu einem Kon-flikt wird, dessen Wurzeln Jahrhunderte zurückliegen,

und wenn sich dafür überhaupt keine Lösung abzeichnet,die den Maßstäben unserer Zeit entspricht, ist es unreali-stisch, die Verantwortung dafür ausschließlich in den inne-ren und äußeren objektiven Bedingungen zu suchen. JedesProblem hat seine objektiven Bedingungen. Doch in derRegel behindern solche Umstände nicht endlos das Findeneiner Lösung. Andererseits können die objektiven Bedin-gungen allein, egal wie ausgereift und geeignet sie auchsein mögen, auch keine Lösung bringen. Doch selbst unterwidrigsten Umständen lässt sich immer noch irgendwo einemögliche Lösung ausmachen. Unrealistisch ist es auch,unzulängliche subjektive Faktoren im engen Sinne für einefehlende Lösung verantwortlich zu machen. Es ist auchkein gehaltvolles Argument zu meinen, es sei zu wenig Blutvergossen worden, oder das Wissensniveau innerhalb derOrganisation sei zu gering. Und es kann auch irreführendsein, alles einer fehlgelaufenen oder falschen militärischenund politischen Strategie und Taktik zuzuschreiben. Zutref-fend ist vielmehr, den Hauptgrund für das Ausbleiben einerLösung in der Frage nach Realisierbarkeit und Praktika-bilität des Lösungsansatzes selbst zu suchen, also in derArt, wie an eine Lösung herangegangen wird.

Die Sowjetunion war eine Großmacht. Sie wurde wedermilitärisch noch politisch besiegt. Weder gab es Angriffevon außen, noch gab es Aufstände innerhalb des Landes.Und doch hat sie sich aufgelöst, ist besiegt worden hin-sichtlich der Ziele, denen sie sich verpflichtet hatte. DerGrund dafür ist einfach: Der Grad der Freiheit des sozialis-

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tischen Individuums und der Grad der Demokratie inner-halb der Gesellschaft waren weit von einem dem Sozialis-mus angemessenen Gespür für Wirklichkeit entfernt. DasVersagen, eine Antwort auf die Frage zu finden, wie dieRealität des freien Menschen beschaffen sei, hat in eineausweglose Situation geführt. Ähnliche Gründe könnenauch für den Niedergang des Faschismus, der mit diesenProblemen konfrontiert war, angeführt werden. Problemezu lösen ist eine Kunst. Eine wissenschaftliche Methode istdafür eine notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung.Gleichzeitig muss die Kunst beherrscht werden, ein Pro-blem zu lösen. Ein Schlüssel öffnet nicht alle Türen. AlleSchlüssel mögen durchaus einander ähneln, doch reicht diebloße Ähnlichkeit eben nicht aus, um eine bestimmte Türzu öffnen. Erst muss der passende Schlüssel zum passen-den Schloss gefunden werden, um eine bestimmte ver-schlossene Tür öffnen zu können. Ohne diese Anstrengungist es nicht gerade realistisch zu behaupten, keine Tür seimit keinem Schlüssel zu öffnen.

Für die Lösung der kurdischen Frage wurde weder zuwenig Blut vergossen, noch wurden zu wenig Organisa-tionen gegründet. Man kann auch nicht sagen, dass zuwenig Krieg geführt und zu wenig Diplomatie betriebenwurde. Ungültig ist auch der Einwand, das Problem seiobjektiv noch nicht herangereift. Die Spaltung [der Kur-den und Kurdinnen auf mehrere Länder, A.d.Ü] muss nichtunbedingt nur von Nachteil sein, sondern kann durchausauch Vorteile schaffen. Wenn man sich aber den Stand desLösungsprozesses ansieht, wird man erkennen, dass nochnicht ein Fingerhut voll Fortschritt zu verzeichnen ist. Dabei

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Eingabe an den EGMR

können z.B. die Ereignisse der letzten zehn Jahre in Süd-kurdistan weder mit der Unzulänglichkeit der objektivenBedingungen, noch mit dem Fehlen von Unterstützungvon außen oder mit einem Mangel an Organisation undBewusstsein erklärt werden. Im Gegenteil, alle Bedingun-gen sind ausgereift und zweckmäßig. Der Hauptgrunddafür, dass trotzdem keine Lösung erreicht wurde, liegtdarin, dass die Realität missachtet wurde. Die bequemstenLösungswege wurden sogar bewusst blockiert. Gerade die-jenigen, die eigentlich eine Lösung hätten entwickeln müs-sen, versperrten beharrlich die Realisierung einer Lösungund den Weg dorthin. Für jedes ausgereifte Problem gibtes einen geeigneten Lösungsweg. Um diesen Weg zu erken-nen und zu gehen, braucht es in erster Linie ein tiefes Ver-ständnis der Realitäten. Beharrliche Willensstärke ist eben-so erforderlich wie die Geduld zur Anwendung einerMethode, die jede auch noch so begrenzte Lösungsmög-lichkeit ernsthaft in Erwägung zieht. Gerade dieser beson-dere Faktor fehlt, um zu einer Lösung der kurdischen Fra-ge zu kommen.

Natürlich liegen auch und gerade diesem Verhalten histo-rische, gesellschaftliche und politische Gründe zugrunde.Solche Gründe, aus denen bestimmte Verhaltensweisenresultieren, könnten lang und breit erläutert werden. Letzt-endlich hängt jedoch das Ergebnis davon ab, wie viel Ernst-haftigkeit und Beharrlichkeit für die unter den gegebenenUmständen geeigneteste Lösungsmöglichkeit aufgebrachtwird. Es mag sich hier allem Anschein nach um zwei sim-ple Begriffe handeln. Für Menschen ohne Ernsthaftigkeitund Beharrlichkeit wird jedoch selbst eine Lösung, die auf

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einem silbernen Tablett serviert wird, keine Bedeutunghaben. Realismus gegenüber der Lösung, Ernsthaftigkeitund Beharrlichkeit bestimmen das Ergebnis, gerade sie sindder Schlüssel, der das Schloss öffnet. Solange Ihr unbe-dingt eine Autonomie nach Herzenswunsch oder einenperfekten eigenen Staat nach allen Regeln des Selbstbe-stimmungsrechts der Völker erwartet, ignoriert Ihr geradedie real vorhandene, angemessene Lösung und verpasstsomit eine ganze Reihe von Chancen. Aber genau dieseLogik und dieser Irrtum treten bei der kurdischen Frageimmer wieder auf.

Prinzipien und Realpolitik werden durcheinandergebracht, geradezu, als ob man keine Realpolitik betrei-ben dürfte, ohne die eigenen Prinzipien zu verletzen; oderumgekehrt, als müsste man sich von seinen Prinzipien los-sagen, um reale Politik zu betreiben. Die politischen Strö-mungen, die dieser irrtümlichen Logik erliegen, könnendiese Widersprüchlichkeit nicht überwinden. Und genaudiese Zerrissenheit hat einen großen Anteil an der Sack-gasse, in die die Lösung der kurdischen Frage geraten ist.Vorstellungen, die Dogmatismus mit Prinzipien verwech-seln und von einer maßlosen Kapitulation sprechen, tra-gen die Verantwortung dafür, dass das Problem eine gerade-zu heillose Form angenommen hat. Im wirklichen Lebenallerdings herrscht Farbenvielfalt. Wer will, kann seine eige-ne Farbe erschaffen. Um die Farbe der Lösung bei gesell-schaftlichen Problemen zu finden, müssen zuerst einmaljene, die keine Sehkraft jenseits von schwarz-weiß haben,ihre Farbenblindheit überwinden. Wir nehmen uns von derKritik, die mit dieser Tatsache angesprochen ist, nicht aus.

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Auch wir haben dieselben Fehler gemacht. Wichtig ist zulernen, Fehler zu korrigieren. Gerade bei Versuchen, denLösungsprozess der kurdischen Frage zu verstehen, wassich in naher Zukunft deutlicher und intensiver darstellenwird, müssen diese methodischen Aspekte besondersberücksichtigt werden. Die Lösung wird weder durchAbkommen erreicht werden, wie viele glauben, noch durchSchritte, die der Staat sich erwartet. Die kurdische Wirk-lichkeit lässt für so etwas keinen Platz. Doch die Tatsache,dass solche Dinge eben nicht funktionieren, bedeutet nochlange nicht, dass unser Schicksal ausweglos ist. Ganz imGegenteil, es folgt daraus, dass andere Wege zur Lösunggesucht werden müssen.

Die Erfahrungen der letzten 200 Jahre zeigen, dass diekurdische Frage weder durch bürgerlich-nationalistischenoch durch feudal-autonomistische Ansätze gelöst wer-den konnte. Die Beschaffenheit der umliegenden Natio-nalstaaten lässt solchen Modellen keine Chance. Vielmehrbergen sie die Gefahr, von einer Mauer umschlossen undin Isolation erstickt zu werden. Die Ausweglosigkeit unddie unmenschlichen Konsequenzen des nationalistischenAnsatzes in Israel-Palästina machen das nur allzu deutlich.

Dieses nationalistische Modell, das aus dem 19. Jahr-hundert stammt und vom Realsozialismus verfeinert wur-de, ist mitverantwortlich für die enorme Verbreitung derSchwarz/Weiß-Logik. Eigentlich bietet das demokratischeSystem, das von der westlichen Zivilisation unter großenOpfern erreicht wurde, den Schlüssel zur Lösung aller gesell-schaftlichen Probleme. Der Westen hat zunächst einmaldie eigenen geschichtlichen Kontroversen gelöst, und jetzt

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lehrt er es den Rest der Welt. Man kann nicht sagen, dassdas demokratische System auch den Mittleren Osten ein-schließt, jedoch steht dieses System mehr denn je ante por-tas. Außer diesem demokratischen System ist kein andererWeg in Sicht, mit dem man die immensen nationalen undgesellschaftlichen Probleme lösen könnte. Außerdem hatdas demokratische System bereits seine praktische Über-legenheit bewiesen und zeigt zunehmend seinen Wert alsWeg, auf dem alle Beteiligten mit minimalen Verlusten dengrößten gemeinsamen Nutzen erzielen können. Unter Aner-kennung der gegebenen tatsächlichen politischen Grenzengewährleistet das demokratische System allen gesell-schaftlichen Strömungen, Gruppen und Kulturen, die Pro-bleme haben, ihre Rechte. Im Prozess einer evolutionärenEntwicklung hin zu Gleichberechtigung und Freiheitlichkeitgibt es jedem Phänomen die Chance, sich zu entfalten unddie ihm angemessenen Entwicklungen aus eigener Kraft zudurchlaufen. Es zwingt dazu, sich ununterbrochen weiter-zubilden, sich zu organisieren, zu wählen und gewählt zuwerden, und trägt diesen Prozess durch demokratische Poli-tik in den Staat und in die Gesetzgebung. Die westlichenGesellschaften verdanken ihre Überlegenheit nicht nur demwissenschaftlichen und technischen Fortschritt. Vielmehrführte das demokratische System zu dieser Überlegenheit.Wer noch immer die Demokratie fürchtet und sagt: „erstkommt die Wirtschaft, dann die Demokratie,“ versucht,den Wagen vor das Pferd zu spannen. Für den schnellenAufstieg einer unterentwickelten Wirtschaft ist die Demo-kratie vorrangig. Im Lichte dieser wissenschaftlich erwie-senen Tatsache, deren führende Köpfe mit Nobel-Preisen

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ausgezeichnet wurden, stellt die Suche nach Lösungen fürden Mittleren Osten im Allgemeinen und im Besonderenin der brennenden kurdischen Frage im Rahmen einesdemokratischen Systems nicht nur einen der möglichenWege dar, sondern ist, unter den gegebenen Umständen,gleichzeitig der Lösungsweg, der sich am besten eignet.Die Tatsache, dass die herrschenden Nationalstaaten weitvon jeglicher Demokratie entfernt sind, sollte dabei wederals Hindernis betrachtet werden noch zum Anlass genom-men werden, auf andere Wege auszuweichen.

Wie in den vorangegangenen Kapiteln erläutert, wirddie kurdische Frage selbst diese Staaten in Richtung einerDemokratisierung drängen, denn die tiefen Krisen undSackgassen, in denen diese Staaten sich befinden, lassenauch ihnen als einzige Alternative nur die Demokratie übrig.Daraus resultiert, dass die Begegnung der zeitgenössischendemokratischen Zivilisation mit den problembehaftetenStrukturen des Mittleren Ostens, insbesondere in der kur-dischen Frage, den Übergang zu einem demokratischenSystem nahezu unausweichlich macht. (Da dieses Themain dem entsprechenden Kapitel ausführlich behandelt wird,werde ich es hier nicht wieder aufgreifen.) Wie auch bei derhistorischen Geburt der Zivilisation am Beispiel der Sume-rer, so drängt auch jetzt wieder etwas mit neuem, eige-nem Inhalt auf die Geburt des Zeitalters der demokrati-schen Zivilisation im Mittleren Osten zu. Erneut hat dasSchicksal den Kurden und Kurdinnen die Schlüsselrolle inder Herausbildung einer Zivilisationsform zugedacht, undzwar der demokratischen Zivilisation, in der sinnlose Klas-senstrukturen überwunden werden. Die Kurden werden

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sich nicht damit begnügen, ihre eigenen, gravierenden Pro-bleme zu lösen, sondern sie werden auch den Nachbar-völkern eine Möglichkeit an die Hand geben, wie in einemdemokratischen System die Würde der Geschwisterlichkeitund einer wirklich freien Einheit geteilt werden kann. Siewerden den goldenen Schlüssel halten, auf den die Völkerder Region ihre gesamte Geschichte hindurch gehofft haben;der wirkliche Befreiung, Frieden und ein Leben in Wohl-stand bietet. Diesen Weg gilt es nicht als Illusion sondernals wirkliche Notwendigkeit zu beschreiten. Er ist notwen-dig, um das Zeitalter einzuholen, und bietet einen sicherenWeg zur Überwindung aller Rückständigkeit. Es ist not-wendig, die Pflichten, die sich daraus ergeben, mit Ver-antwortung, Ernsthaftigkeit und allen Hindernissen zumTrotz zu erfüllen. Es ist notwendig, sich der eigenen histo-rischen Aufgaben richtig anzunähern. Versuchen wir nun-mehr im Lichte dieses allgemeinen Lösungsrahmens für diekurdische Frage, die Eckpunkte für mögliche Lösungsmo-delle für alle Länder und Staaten, in denen Kurdinnen undKurden leben, in der Form von Thesen zu benennen.

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Die Kurdenfrage in der Türkei und die demokratische Lösung

Die klügste Methode ist es, die Gründe für die Eskalationder Kurdenfrage und den Lösungsweg in der Entstehungs-und Entwicklungslogik der türkisch-kurdischen Beziehun-gen zu suchen. Die Lösung selbst ist das Ergebnis. Wir kön-nen dann von der Anwendung einer wissenschaftlichenMethode sprechen, wenn die historischen Ursprünge undder Entwicklungsweg der Phänomene in ihren Grundzügenso herausgestellt werden, dass die Lösung erfolgreich wer-den kann. Hier werden nur einige Grundzüge in Erinne-rung gerufen, da in den jeweiligen Kapiteln ausführlich aufdie Thematik eingegangen wurde.

a. Die feudalen Fürstentümer und die Zeit des Sultanats

Diese Phase begann mit den großen seldschukischen Sul-tanen und dem Auftauchen der Oguz-Stämme1 im 11.Jahrhundert. Sie war weniger von Auseinandersetzungenals vielmehr von Kompromissen geprägt. Gegen das byzan-tinische Reich wurde ein traditionelles islamisches Bündniserrichtet. Die geltenden Rechtsbräuche der jeweils ande-ren wurden respektiert, und die kurdischen und türkischenFürstentümer erkannten gegenseitig ihre Existenz an. Dassbei vielen Schlachten und Kriegszügen, wie insbesonderein der Schlacht um Malazgirt2, auch militärische Bündnis-se geschlossen wurden, war ausschlaggebend für dasDurchsetzungsvermögen.

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Während die türkischen Fürstentümer und das Sultanatmilitärisch und politisch erstarkten, blieben die Kurden imwirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Bereich überlegen.Die kurdische Kultur hatte eine assimilierende Wirkung.Die vorherrschenden Konflikte waren Machtkämpfe umAusweitung des Einflussbereiches unter den Fürstentümernund Sultanaten, wie sie im Mittelalter überall verbreitetwaren. Diese Auseinandersetzungen weisen kaum einebewusste ethnische oder stammesbezogene Komponenteauf. Sie waren vielmehr Interessenkonflikte um (Land-)Besitz, politischen und militärischen Einfluss innerhalb derherrschenden Klassen. Daher ist es nicht gerade sinnvoll,nach ethnischen oder stammesbezogenen Konflikten inden türkisch-kurdischen Beziehungen in dieser Zeit zusuchen.

Im Regime des osmanischen Sultanats wurden die Bezie-hungen neu geordnet und erhielten einen festen Status.Dieser Status, der bis zum 19. Jahrhundert anhielt, legte fürdie kurdischen Fürstentümer vor allem Freiheit in den inne-ren Angelegenheiten fest und regelte das Prinzip der Über-tragung der Erbregentschaft vom Vater auf den Sohn. DerStatus der kurdischen Fürstentümer war vielleicht der mar-kanteste für eine herrschende Klasse innerhalb des Reiches.Aus einer Reihe von Erlassen [ferman] ist zu entnehmen,dass die jeweiligen Sultane die Beziehung zu den kurdi-schen Fürstentümern vor allem strategisch zu nutzen ver-standen. Die Beziehungen zu den Kurden, die von der Zen-tralregierung selbst aufgebaut worden waren und als dieProvinz Kurdistan mit Provinzregierungen und Fürsten-

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Eingabe an den EGMR

tümern einen offiziellen Stellenwert gewonnen hatten,genossen in gewisser Hinsicht eine Sonderstellung.

Hauptgrund hierfür dürfte die strategische Bedeutungder dicht von kurdischen Stämmen und Clans besiedeltengeographischen Region gewesen sein, die für die Macht-erhaltung im Mittleren Osten wichtig war. Es wäre unmög-lich gewesen, die iranischen und arabischen Feudalherr-scher3 zu besiegen, ohne ein Bündnis mit den kurdischenFürstentümern einzugehen. Die türkischen Sultane warensich durchaus im klaren über diese Tatsache. Die kurdi-schen Fürstentümer verstanden es ihrerseits, das strategi-sche Anliegen (der osmanischen Zentralmacht) zur Her-ausbildung einer der stärksten Autonomien innerhalb desReiches zu nutzen. Die kurdische Autonomieherrschaft istein typischer Status des feudalen Zeitalters und somit auchin gewisser Weise ein Lösungsansatz.

Erst als zu Beginn des 19. Jahrhunderts der europäischeKolonialismus im Mittleren Osten zunehmend an Einflussgewann, begann dieser Status Quo der türkisch-kurdischenBeziehungen zu wanken. Die führenden kapitalistischenKolonialstaaten, unter ihnen vor allem Großbritannien,schlugen in ihrer Politik hinsichtlich des Mittleren Ostenseine gefährliche Richtung ein. Einerseits wollten sie sichder christlichen Minderheiten annehmen, andererseits dasSultanat vor dem zaristischen Großmachtstreben schützen.Die Kurden wurden dabei isoliert, und man versuchte, sieals Trumpfkarte je nach Bedarf einzusetzen. Diese Politiksollte als Teil des britischen Konzepts „divide and rule“(teile und herrsche), das jeglicher ethischen Grundlage ent-behrt, eine gefährliche Rolle spielen. Der eigentliche Aus-

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löser der Massaker in jener Zeit war das Spiel mit allen vor-handenen lokalen Mächten, um den eigenen Einfluss zustärken. Dieses Spiel zerstörte den seit Jahrhunderten mehroder weniger intakten Osmanischen Frieden4. Es beginnteine Zeit, in der Stämme versuchen, sich gegenseitig aus-zurotten. Diese Zeit wird in die Geschichte als Phase deskapitalistischen Kolonialnationalismus eingehen. Manspringt sich gegenseitig an die Kehle, und es kommt zugroßen Zerwürfnissen. Diese Zeit muss als der eigentlicheUrsprung der Probleme in den türkisch-kurdischen Bezie-hungen verstanden werden.

b. Die Zeit des Nationalismus, der Aufstände und Repression

Diese Phase, die vom kapitalistischen Kolonialismus losge-treten wurde, ist die Zeit, in der die kurdische Frage imaktuellen Sinne geboren wird und heranwächst. Die demzugrunde liegende Logik stellte die Kurden als regelrechteMonster dar, um die christlichen Minderheiten an denWesten zu binden. Gleichzeitig sollten die kurdischen Auf-stände, die zweifellos von den Kolonialmächten mit ange-facht wurden, dazu genutzt werden, die türkischen, spä-ter die iranischen und arabischen Regierenden verstärktabhängig zu machen. Die Kurden sollten als Versuchs-kaninchen und Aufwiegler benutzt werden. Dabei ging esgewiss nicht um irgendeine selbst erkorene zivilisatorischeMissionierungsrolle, mit der man den Kurden begegnetwäre. Britannien war Vorreiter bei dieser Politik, währenddie übrigen kapitalistischen Kolonialmächte nicht hinten

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anstehen wollten und diese Politik begierig aufnahmen undfortführten. Diese bis heute fortgesetzte Kurdenpolitik desimperialistischen Kapitalismus hat für alle Völker des Mitt-leren Ostens, und für die Kurden besonders, zur destruk-tivsten Epoche ihrer bisherigen Geschichte geführt. Derbürgerliche Nationalismus, der ein untrennbarer Ausdruckdieser Politik ist, wirkte schon deshalb negativ, weil er seitseiner Entstehung den Zwecken der „divide and rule“-Poli-tik diente. Während er in Europa eine elementare Rolle beider Herausbildung einer nationalen Wirtschaft, Spracheund Kultur, kurz gesagt der Nationalstaaten spielte, dien-te er im Mittleren Osten eher dem gegenseitigen Ausrot-ten der Völker. Der bürgerliche Nationalismus war nichtnur wichtig bei der Auflösung des Osmanischen Reiches,sondern hat auch das (Völker-)Mosaik des Mittleren Ostensgestört. Die Völker wurden voneinander isoliert, z.B. dieAraber von den Kurden, und wurden, sozusagen als Bruch-stücke, zu einer leichten Beute.

Diese Zersplitterung weitete sich später infolge eineserstarkenden lokalen Nationalismus sowie eines mikro-ethnischen Nationalismus aus und wurde so funktional fürdie „divide and rule“-Politik. Der türkische Nationalismusformiert sich als erster in der Art, in der auf die Auflösungdes Osmanischen Reiches reagiert wurde. Zunächst zeigter sich als Nationalismus mit einem begrenzten progressi-ven Fundament. Unter der Führung von Namik Kemal undseinen Gefährten ist das Ziel zunächst eine konstitutionel-le Staatsreform (mesrutiyet)5, der Neo-Osmanismus. Danntaucht er gegen Ende des 19. Jahrhunderts einerseits alsPantürkismus im Komitee für Einheit und Fortschritt (Itti-

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hat ve Terraki)6 auf, andererseits aber auch als Panislamis-mus des Abdul-Hamid7. Die konstitutionelle Regierungrechnet sich diesen Nationalismus als eigenen Verdienstan. Doch ist er ohne jegliche demokratische Substanz. Dieanfängliche Betonung von Freiheit und Brüderlichkeit weichtspäter der Diktatur und dem Rassismus. Der erste Welt-krieg, an dem sich das Osmanische Reich mit dieser Poli-tik beteiligt, endet mit dessen Auflösung.

Der Nationalismus der republikanischen Ära von Atatürkist anders geartet. Er ist nicht rassistisch, sondern sieht alleanatolischen Zivilisationen als seine eigenen, zu respektie-renden Quellen an. Um das Selbstwertgefühl und Natio-nalbewusstsein des unter osmanischer Herrschaft stets ver-ächtlich behandelten türkischen Volkes zu stärken,propagierte man das Motto „Glücklich, wer sich ein Tür-ke nennen darf“. Dies hatte zunächst keine rassistischeDimension, sondern sollte die Bildung der türkischen Nati-on stärken. Das türkische Volk war seit dem Mittelalterdurch die Sultane stets verachtet und erniedrigt worden.Zwischen dem später entwickelten rassistischen türkischenNationalismus und dem Nationalismus Atatürks bestehtein bedeutender Unterschied.

Der rassistische türkische Nationalismus der Republikübernimmt zwar die Leitlinien des Komitees für Einheit undFortschritt, doch ist er weitaus rückständiger als dieses.Ende der 60er Jahre bildet sich angesichts der wachsen-den Wirtschaftskrisen, einer starken Landflucht und demAufstieg der Linken ein Nationalismus heraus, der seinenpolitischen Ausdruck in den Idealistenvereinen und der Par-tei der Nationalistischen Bewegung (MHP) findet. Er spal-

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tet sich in weitere Flügel auf und ist heute ein fester Teil derMachtstrukturen und der Regierung. Bei der Liquidierungder Linken spielte er eine wichtige Rolle. Seine Wider-sprüche gegenüber einer zeitgenössischen Interpretationvon Atatürks Gedanken, seine Unfähigkeit zur Demokra-tisierung und sein Beharren auf faschistischem Autoritaris-mus werden zusammen mit dem rassistischen Fundamentzum Hindernis.

Besonders in den Reihen der Republikanischen Volks-partei (CHP) lassen sich Versuche erkennen, den Nationa-lismus von Atatürk zu erneuern. Allerdings wurde der erwar-tete qualitative Sprung noch nicht getan. Das Schicksal desNationalismus von Atatürk hängt davon ab, ob dieserSprung in Richtung Demokratisierung getan wird.

Versuche, das traditionelle Osmanentum zu erneuern,zeigten sich in der türkischen Islamsynthese. Diese Strö-mung entstand aus dem politischen Aufstieg des Islam undformiert sich wesentlich als liberale Tendenz der sich neuentwickelnden anatolischen Bourgeoisie. Diese Tendenzbetont den Islam mehr als das Türkentum und versucht,Kraft aus den islamischen Strömungen des Iran und derarabischen Welt zu schöpfen. In jüngster Zeit zeigt sie sichbedacht und versucht, sich nach dem Modell der christ-demokratischen Parteien Europas zu entwickeln.

Der traditionelle Machtblock der türkischen Bourgeoisieerlebt nach seiner Trennung von der CHP, nach dem Schei-tern der Demokratischen Partei (DP), Gerechtigkeitspartei(AP) und Mutterlandspartei (ANAP), mit seinem Liberali-sierungsanspruch einen Zerfallsprozess. Dieser Block hatkein ernstzunehmendes Beispiel für Demokratisierung

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Eingabe an den EGMR

erbracht. Heutzutage konzentriert sich die Bourgeoisie dar-auf, einen Parteiblock der demokratischen Mitte zu schaf-fen. Sowohl Strömungen der rechten als auch der linkenMitte versuchen, das Vakuum unter Betonung von Demo-kratie und Menschenrechten zu füllen.

Die vielschichtige Krise, in der sich die Türkei im inter-nationalen Vergleich befindet, macht erneut deutlich, dassder Nationalismus, der das letzte Jahrhundert geprägt hat,unfähig ist, die Probleme zu lösen und in einer Sackgasselandet. So ausschlaggebend der Atatürk’sche Nationalis-mus bei der Gründung der Republik zweifelsohne war,basiert sein Scheitern auf der Unfähigkeit zu einer demo-kratischen Evolution. Das gleiche Unvermögen findet manim gesamten Mittleren Osten. Europa leitete das Zeitalterdes fortschrittlichen Nationalismus ein. Prägend für diezweite Hälfte des 20. Jahrhunderts war, dass es den rassis-tischen Nationalismus, der seinen Höhepunkt im Hitlerfa-schismus fand, schließlich überwand und die Fahne derDemokratie gehisst hat. Atatürk konnte, wenn auchbegrenzt, vom europäischen Nationalismus in seinem fort-schrittlichen Stadium profitieren. In diesem Sinne war erzeitgenössisch und modern. Doch als nach dem zweitenWeltkrieg die demokratische Zivilisation als „zeitgemäß“definiert wurde, versagten die türkischen Regierungen. Sieerkannten nicht die Essenz dieser Zivilisationsentwicklung;und falls sie sie doch erkannt haben, glaubten sie nicht dar-an, weil sie ihnen nicht in den Kram passte. Die Republikmit oligarchischer Macht zu verwalten, entsprach mehrihren Interessen. Eine fortschrittliche Demokratie stellte

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eine Gefahr für ihre Interessen dar. Dadurch entfernte sichdie Republik von der modernen Zivilisation.

Diese Tatsache ist auch der Grund für die Wirtschaftskri-se. Während alle zerstörten europäischen Staaten mit demo-kratischen Gesellschaftsmodellen ihr heutiges Niveau erreich-ten, hat sich die Türkei stets von der Demokratieferngehalten. Sie meinte, sich entwickeln zu können, indemsie sich hinter einer demokratischen Rhetorik und Dem-agogie versteckte. Während man noch glaubt, das Spiel mitder Moderne bauernschlau gewinnen zu können, und ver-sucht, jeden einzulullen, muss die Türkei gerade in letzterZeit eingestehen, dass die Republik auf ein großes Riff gelau-fen ist.

Offensichtlich hat die politische Elite der Türkei in derzweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht nur den Kerndes Modernisierungsanspruches für die Republik nicht ver-standen, sondern sie hat sich auch nicht gescheut, das vor-handene, freilich begrenzte Erbe zu missbrauchen.

Darauf reagierte die Armee mit der andauernden Kon-trolle der politischen Clique und führte vier Putsche durch,um einem Entgleisen der Republik entgegenzusteuern. Daallerdings kein Putsch über ein ernsthaftes Programm ver-fügte und sich eher auf den Schutz der Republik nach klas-sischen Regeln beschränkte, blieb nichts zurück außer denaktuellen Erschütterungen. Die Putsche trugen erheblichzu einer wachsenden Abschottung und Introvertiertheitder Republik bei. Der Konservatismus nahm zu. Was wir alsogegen Ende des 20. Jahrhunderts erlebten, war nicht nureine Wirtschaftskrise, sondern eine allumfassende wirt-schaftliche, kulturelle, soziale und politische Krise. Der

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nächste Schritt ist Chaos und Hyperinflation. Wenn dieRückständigkeit nicht aufhört, wird genau das eintreten.

Grund für die wachsende Entfernung der Türkei von derzeitgenössischen demokratischen Zivilisation sind vor allemder reaktionäre Nationalismus und die antidemokratischenMachenschaften der oligarchischen Regierungen. Heutemuss die Türkei die Konsequenzen dieser Widersprüche inForm der schwersten und durchdringendsten Krise ihrerGeschichte tragen. Während der autoritäre und (politischgesehen) protektionistische Charakter des Regimes die Ent-stehung einer Gegenbewegung von innen verhindert,erwartet man die Lösung, wie so oft in der Geschichte, voneiner Intervention von außen. IWF und EU versuchen jeweilsauf ihre Weise zu intervenieren. Doch die traditionellenÄngste des Staates und die Verschlossenheit gegenüberdemokratischen Erneuerungen seiner Struktur behindernden Erfolg eines Eingreifens von außen. Diese Behinderungvon inneren und äußeren Lösungsansätzen für die Krisebirgt die unmittelbare Gefahr einer gesellschaftlichen Implo-sion in sich. Während der türkische Nationalismus allge-mein tief in einer Sackgasse steckt, stößt auch der rassisti-sche türkische Nationalismus, der versucht, über denFaschismus einen Ausweg zu finden, an die harten Mau-ern der inneren und äußeren Bedingungen. Der Faschis-mus gewinnt an Aggressivität, weil er keine stabile Basis fürAufstieg und Machtübernahme finden kann. Er sieht sicheingeengt durch die Gefahr einer Schwächung. Alle inne-ren und äußeren Bedingungen stellen beide Formen vonNationalismus vor die Alternative, sich entweder zu trans-formieren oder sich zurückzuziehen. Die Armee weiß nur

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zu gut, dass mit einem traditionellen Putsch so gut wienichts zu holen ist. Selbst die Machtergreifung der Armeezum Zwecke der Durchsetzung eines breit gefächertenReformprogramms ist aufgrund der gegebenen interna-tionalen Allianzen und inneren Bedingungen unwahr-scheinlich. Erst wenn die Republik vor der Gefahr der Auf-lösung steht, könnte eine offene Intervention des Militärsauf die Tagesordnung kommen. Dazu kommt allerdings,dass die Armee mit Hilfe des wachsenden Einflusses desNationalen Sicherheitsrates sowieso eine intensivere Kon-trolle und Überwachung ausübt, als ihr zusteht.

Das sind also die Bedingungen, unter denen die TürkeiFragen der umfassendsten Änderungen und Transforma-tionen ihrer Geschichte diskutiert. Vermittelt durch dieMedien erreichen diese Diskussionen täglich die hinterstenEcken des Landes. Diese Diskussionen ähneln weder densteifen Diskursen der intellektuellen Bürokraten aus der Zeitvor der konstitutionellen Staatsreform, noch dem Aufbruchder Demokraten innerhalb der CHP nach dem zweitenWeltkrieg. Sie liegen auch jenseits des links/rechts- Dis-kurses der Türkei der 70er Jahre. Gründe hierfür sind deraugenblickliche Zustand der sozialökonomischen Ordnung,die Blockade des politischen Systems, das Ausmaß, das dieKurdenfrage angenommen hat, und internationale Kon-flikte. Niemand glaubt mehr, dass die Krise, wie in frühe-ren Zeiten, mit gewöhnlichen Maßnahmen aus der Welt zuschaffen sei. Alle einseitig getroffenen Maßnahmen ver-mögen nichts weiter, als die Krise und die Probleme zu ver-schärfen. Das macht deutlich, dass noch keine hinreichendgenaue Diagnose erstellt worden ist.

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Mit der nationalistischen Ideologie wurde es so weitgetrieben wie irgend möglich. Diese Ideologie kann keineProbleme lösen, sondern nur verschärfen. Die Wirklichkeitim gesamten Mittleren Osten bestätigt das. Dabei ist dieKrise der Türkei natürlich auch Ausdruck einer allgemei-nen Situation unter imperialistischen Bedingungen. Ähn-lichkeiten mit Argentinien, Brasilien oder Indonesien wei-sen darauf hin.

Eine nähere Betrachtung des Beispiels Türkei zeigt, dassdie kapitalistische Ökonomie sich unter dem gegebenenSystem nicht weiterentwickeln sondern ganz im Gegenteilnur zurückbilden kann. Die Zeit der Gründung der Repu-blik war die Zeit der Kapitalakkumulation durch die Handdes Staates. Es war die Zeit der Pflege und Aufzucht einerjungen Bourgeoisie, die aus den Reihen der Staatsbüro-kratie rekrutiert wurde. So wurden die ersten Grundsteinefür ein kapitalistisches System gelegt. In den 50er Jahrenentwickelte sich der Kapitalismus und breitete sich aus.Sowohl der ländliche Agrarkapitalismus als auch der städ-tische Industriekapitalismus erlebten in jener Zeit einen Auf-schwung. Neben dem bürokratischen Kapitalismus wurdeauch die Phase der privaten Akkumulation eingeleitet. Han-dels- und Industriekapitalismus übernahmen die Führung.Nach den 80er Jahren begann der Aufschwung des Finanz-kapitals. Ein weiterer Fortschritt wurde durch binnenländi-sche Substitution vormaliger Importprodukte und die Öff-nung der Industrie nach außen erzielt. Mit all diesenSchritten hat der türkische Kapitalismus eine Stufe erreicht,auf der er Bedingungen, die sich als unterentwickelte Drit-te-Welt-Ökonomie bezeichnen lassen, hinter sich gelassen

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hat und eine Position der Konkurrenzfähigkeit mit europäi-schen Ländern erlangt hat. Sein Fehler war es, nicht dasentsprechende politische System zu dieser Wirtschafts-struktur geschaffen zu haben, sondern zaghaft und zögerndzu verharren. Das eigentliche Hindernis hierbei war die kur-dische Frage.

Betrachten wir dies im Zusammenhang mit der jüngstenGeschichte, so finden wir auch bei der Gründung der Repu-blik eine ähnliche Situation vor. Bei der Systembildung hat-te die Republik die Kurden vergessen. Allerdings spürte dasSystem ununterbrochen Angst vor ihnen, was zu einer halb-herzigen Integration führte, die jedoch weit von einerLösung entfernt war.

Die Aufstände der Kurden waren nicht separatistisch,wie sie meist dargestellt werden. Die kurdischen Aufstän-de, die das 19. Jahrhundert durchzogen, hatten nicht dasZiel, sich vom System abzulösen, sondern begegneten gera-de der Ausgrenzung. Der wachsende Zentralismus räum-te den Kurden keinen Platz ein. Sie mussten feststellen,dass sie sowohl ihre Autonomie verloren als auch keinenPlatz im neuen zentralistischen System bekommen hatten.Die großen Staaten stachelten zwar von Zeit zu Zeit dieGeschehnisse an, um die Türkei in stärkere Abhängigkeitzu bringen, leisteten aber keine Unterstützung beim Zielder Loslösung. Mit der Gründung der Republik wiederholtesich das Gleiche auf fortgeschrittener Ebene. Die Kurdenverloren nicht nur ihre Autonomie, sondern wurden plötz-lich mit der völligen Verleugnung ihrer Existenz konfron-tiert. Zweifelsohne haben Staaten mit entsprechenden Inter-essen, allen voran Britannien, ihre Vorteile aus den

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Aufständen gezogen, die sich gegen die neue Situationrichteten, und konnten sich letztendlich mit den Kemali-sten aussöhnen. Die folgende Phase aber bedeutete fürdie Kurden das komplette Verbot und die Auslieferung. Esbedeutete Fäulnis und Vergessen. Die Antwort darauf, diesich in der PKK konkretisierte, war der allseits bekannteKrieg niederer Intensität im letzten Viertel des 20. Jahr-hunderts.

Die Republik, die sich schon bei ihrer Gründung unterdem Vorwand kurdischer Aufstände nicht demokratisierenkonnte, verstieg sich vor lauter Angst und Spaltungs-bedenken in die Illusion, das Problem durch bloße Unter-drückung der Kurden lösen zu können. Das geschah gera-de zu der Zeit, als ihr System sich auf der entscheidendenStufe des Modernisierungsprozesses befand und die Demo-kratisierung hätte vervollständigt werden müssen. Mitallumfassender Mobilmachung, mit dem gesamten Instru-mentarium des Spezialkrieges wurde die Liquidierung desProblems auf die Tagesordnung gesetzt. Verschiedene Quel-len geben Zahlen von 100 bis 400 Milliarden US-Dollar an,die zu diesem Zweck ausgegeben wurden. Die Bilanz: eineKrise der vorhandenen Wirtschaft, aus den Fugen gerate-ne Sozialverhältnisse, völliger Bankrott der politischen Struk-turen. Weniger als 10 Prozent der Bevölkerung unterstüt-zen die jetzige Regierung. Der komplette Zusammenbruchder Wirtschaft wird von aller Welt vorausahnend mitver-folgt, und ohne die Unterstützung des IWF könnte sie sichtatsächlich nicht einen einzigen weiteren Tag auf den Bei-nen halten. Im Gegensatz zu jener Rhetorik, der zufolge dieTürkei es mit dem Rest der Welt aufnimmt, ist sie zu einer

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Republik geworden, die sich ohne die USA, die EU undderen jeweilige Unterorganisationen nicht mehr auf denBeinen halten könnte. Das ist der Punkt, an den der türki-sche Nationalismus die Türkei gebracht hat. Ihre Kurdenhat sie weder vernichten noch vollständig assimilieren kön-nen. Ganz im Gegenteil erleben die Kurden unter derFührung der PKK eine große demokratische Wandlung.

Angesichts dieser objektiven Sachlage wird versucht,Schritte für die nahe Zukunft einzuleiten. Sowohl rechts alsauch links der Mitte bemüht man sich, neue Parteien zu bil-den. Die bestehenden Parteien, schon jetzt als verkalkt ver-schrieen, geben ihre Ansprüche nicht auf. Die Regierungspielt sprichwörtlich auf Verlängerung. Die Bevölkerungsehnt sich sehr nach einer grundlegenden Veränderung.Ihr Votum für eine demokratische Zivilisation steht außerFrage. Die Armee steht einem Putschversuch fern und sperrtsich nicht gegen Transformationen im demokratischen undlaizistischen Sinne der Republik, solange diese nicht dasKräftegleichgewicht überstrapazieren. Die PKK, in der Posi-tion der Selbstverteidigung, hat ihre Präferenz für einedemokratische Lösung deutlich ausgedrückt.

Angesichts dieses Panoramas wird deutlich, dass die Pro-bleme nicht mit einseitigen Maßnahmen gelöst werdenkönnen. Schon die Logik erfordert, dass eine Lösung umfas-send und vielschichtig sein und die Verflechtung der ver-schiedenen Problemebenen berücksichtigen muss. Wiebeim Hausbau wird die gesamte Konstruktion sinnlos, wennauch nur an einer Ecke das Fundament fehlt. Bei aktuel-len Verfassungs- und Gesetzesänderungen werden die Kur-den wieder einmal außen vor gelassen. Schon jetzt lässt

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man Boden brach liegen, auf dem neue Auseinanderset-zungen und Konflikte entstehen könnten. Der rassistischeNationalismus spielt weiterhin mit dem Schicksal der Tür-kei. Er versucht, die Zukunft der Türkei noch einmal überÄngste festzulegen. So also verschärft sich die Krise immerweiter. Die Abschottung von der Außenwelt und Bor-niertheit nach innen bringen die Massen an den Rand derImplosion.

Eigentlich durchläuft die Republik eine große Verände-rung. Ihre althergebrachten Grundlagen werden laufendüberholt. Erneuerung ist zu einer starken Überzeugungs-haltung geworden. Die größte Empörung ziehen jene aufsich, die sich gegen Veränderungen stellen. Es sieht fast soaus, als ob niemand mehr so recht gegen Aussöhnung undWandel sei. Aber die Türkei fürchtet sich. Sie fürchtet sichvor ihrer jüngsten Geschichte. Sie fürchtet sich vor den Ver-brechen, die an den Kurden begangen worden sind. Eben-so fürchtet sie sich vor den Verbrechen, die noch in jüng-ster Vergangenheit an den Kräften der Demokratiebegangen wurden. Sie fürchtet sich vor den Kriterien derDemokratie ebenso wie vor ihrer eigenen Unaufrichtigkeitihnen gegenüber.

Und alle diese Ängste verschärfen die Krise. Die Krise ist,wie gesagt, sicher nicht nur eindimensional, sie ist vorran-gig eine politische Krise. Die politische, psychologische,soziale, moralische und wirtschaftliche Dimension sind engmiteinander verzahnt. Die Krise ist an einen Punkt gelangt,der entweder nur eine umfassende Lösung oder eine umfas-sende Aussichtslosigkeit zulässt. Weil sich kein Problemmehr mit Putsch und Unterdrückung lösen lässt, und eine

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solche Situation auch nicht vor der Tür steht, muss die Pha-se, in der wir uns befinden, zwangsläufig einen anderenAusgang finden. Auch mit Nationalismus lässt sich nichtslösen. Es gibt weder eine Linke, die zerschlagen werdenmuss, noch gibt es eine kurdische Bewegung im bewaff-neten Kampf. Gegen was soll der Nationalismus da in denKrieg ziehen? Alle Nachbarstaaten wollen Freundschaft.Die Bevölkerung ist ganz sicher nicht für Gewalt, im Gegen-teil, sie ist ihrer überdrüssig geworden. Wenn sie noch wei-ter bedrängt und geschunden wird, droht sie mit einer rie-sigen sozialen Implosion.

Das heißt also, dass in der Geschichte der Türkei einePhase angebrochen ist, in der es keine materiellen Grund-lagen für Nationalismus, Aufstand, Repression und Nie-derschlagung mehr gibt. Diese haben heute ihre Rolle erfüllt.Die Zeit des Nationalismus, der Aufstände und Repressiongeht ihrem Ende zu. Auch wenn es manchen nicht so ganzpasst, auch wenn es noch Kräfte gibt, die den rassistischenNationalismus und Chauvinismus der unterdrückendenNation oder den Nationalismus der unterdrückten Bour-geoisie, die althergebrachte Linke oder den politischen Islamfür sich beanspruchen – es ist eine Phase angebrochen, inder diese alle keine Rolle mehr spielen und auch in Zukunftnicht mehr spielen werden. Trotz ihres erheblichen Man-kos an entsprechendem ideologischen und politischen Rüst-zeug bewegt sich die Türkei in eine neue Phase. Die Volks-massen haben jetzt zweifelsohne ernsthafte Erwartungen.Der Staat ist an einen Punkt gekommen, wo er sich ganzgewaltig umsehen müssen wird, wenn er sich nicht einerWandlung unterzieht.

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Sofern die Politik die neue Zeit nicht auf ideologischer,politischer und moralischer Ebene reproduzieren kann, wirdsie unausweichlich durchfallen und sitzen bleiben. Wenn sichdie soziale Implosion nicht als eine stetig wachsende Gefahraufblähen soll, muss man sich der neuen Zeit stellen. Vorder Herausforderung der unausweichlich eskalierenden Kri-se, der politischen, psychologischen und sozialen Depres-sion kann sich auch die Wirtschaft nicht retten, egal, wieviele Dollarspritzen sie noch bekommen sollte. Die Bedin-gungen der neuen Zeit sind herangewachsen, und die Neu-strukturierung muss vollzogen werden. Die neue Zeit isteine vertrackte Klemme, die überwunden werden muss. Esist eine Zeit, in der sowohl mental als auch strukturell Ver-änderung und Transformation anstehen. Es ist die Zeit, inder die Republik als wirklicher demokratischer und säkula-rer Rechtsstaat neu strukturiert wird. Es ist die Zeit, in derdie kurdische Frage nicht ausgegrenzt sondern auf Grund-lage demokratischer Einheit ihrer Lösung zugeführt wird.

c. Die Zeit der Neustrukturierung der Republik undeiner demokratischen Lösung der Kurdenfrage

Die Vorstellung, dass die Krise der Türkei im neuen Jahr-tausend durch Demokratisierung der staatlichen, gesell-schaftlichen und politischen Strukturen überwunden wer-den kann, hat sich allgemein als Konsens etabliert. Wederneue Spannungen noch die von nationalistischer Rhetorikpostulierte Einheit reflektieren die Erwartungen der Zeit.Die Bevölkerung fühlt sich weder durch nationalistischeSlogans noch durch demagogische Schlachtrufe ange-

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sprochen. Sie will eine demokratische Wirtschaftsordnung,die durch Rechtsstaatlichkeit von Korruption bereinigt ist,ohne Inflation, die das Problem der Arbeitslosigkeit lösenkann und gerecht umverteilt. Die Bevölkerung will ihrehistorischen Sehnsüchte nach Frieden, Freiheit und Gerech-tigkeit realisiert wissen. Der Charakter der neuen Zeit wirdsich über diese Werte herausbilden. Dazu bedarf es einerneuen Verfassung, die als Grundvoraussetzung ihrer Demo-kratietauglichkeit am bekundeten Willen des Volkes orien-tiert sein muss. Für eine demokratisch strukturierte Politikist ein demokratisches Parteien- und Wahlgesetz unbe-dingte Voraussetzung. Die Verfassung demokratisiert denStaat, das Parteien- und Wahlgesetz die Politik. Zivil-gesellschaftliche Organisationen, deren Existenz rechtlichabzusichern wäre, sind das fundamentalste Mittel für dieDemokratisierung der Gesellschaft. Wenn volle Meinungs-und Ausdrucksfreiheit in gedanklichen und kulturellen Be-reichen erst einmal garantiert ist, werden auch die grund-legenden Menschenrechte an Funktionalität gewonnenhaben. Jede politische Bewegung, die an die Macht will, wirdnur dann eine Erfolgschance haben, wenn sie sich demDemokratisierungsprojekt vollständig verpflichtet. Dies istdie allgemeine Tendenz, die sich Tag für Tag deutlicherabzeichnet. Doch die Umsetzung solcher struktureller Ent-wicklungen setzt eine Revolution des Bewusstseins voraus.In dem Maße, wie ein jeder und eine jede von sich sagenkann: „Auch ich habe mich verändert“, wird sich die men-tale Revolution vollziehen.

Realistischerweise lässt sich also der Prozess, vor dem dieTürkei sowohl als Staat als auch als Gesellschaft steht, mit

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dem Begriff der Demokratischen Türkei erfassen. Die erstePhase der Republik war die ihrer Gründung, mit den dabeivollzogenen Reformen, den Schutz- und Abwehrmaß-nahmen, es war die Phase der autoritären Republik (1920-1950). Die zweite Phase war die einer gemeinsamen Will-kürherrschaft eines kleinen Teils der oberen Schichten, eswar die oligarchische Republik (1950-2000). Die neue Pha-se, in die wir jetzt hineingehen, ist die Phase der demo-kratischen Republik. Sie ist gekennzeichnet durch die Refle-xion des Volkswillens in einem demokratischenFunktionsmechanismus. Sowohl was den Bereich desBewusstseins als auch den institutionellen Bereich angeht,formt sie sich unter intensiver gesellschaftlicher Beteiligung.

Eine demokratische Lösung der Kurdenfrage ist sowohlder Hauptgrund für diese Phase als auch das, was sie ver-vollständigt. Die ersten beiden Phasen der Republik führ-ten aufgrund von Nationalismus und Aufständen zu einerAusgrenzung der Kurden, obwohl diese bei der Gründungstrategische Partner gewesen waren. Dabei hatte der Füh-rer der nationalen Befreiungsbewegung M. Kemal bei derOrganisierung der Bewegung Kurden und Türken als zweistrategische Partner deklariert, die auf Gedeih und Verderbaufeinander angewiesen seien. Die Ausnutzung der vonfeudalen Führern geleiteten kurdischen Aufstände zur Ver-leugnung der Kurden ist die unglücklichste Tatsache in derGeschichte der Republik. Sie hat sie verkrüppelt und wider-spricht ihrer Gründungslogik. Die Verleugnung des Phä-nomens und des Problems hat deren Existenz nicht nurnicht aufgehoben, sondern ebenso wenig verhindern kön-nen, dass sie immer wieder erschwert und verschlimmert

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auftraten. Sie hat unentwegt Ängste produziert, die zurVerhärtung der Republik und somit zur Vereitelung ihrerDemokratisierung geführt haben. Der Auswuchs des Natio-nalismus zum Chauvinismus hat die Erkenntnis historischerWahrheiten verhindert.

Wie in den betreffenden Kapiteln ausgeführt, waren dieKurden der östliche Stützpfeiler des in Anatolien empor-rankenden Aufstiegs der Türken. Wenn dieser Stützpfeilerweggezogen wird, hat das Türkentum in Anatolien es sehrschwer, auf den Beinen zu bleiben. In allen kritischen Pha-sen der Geschichte hat sich diese Tatsache gezeigt. DieGeschichte hat gezeigt, dass der Sieg bei Malazgirt 10718,der zum Einzug der Türken in Anatolien führte, ohne dieKurden nicht möglich gewesen wäre. Das Erstarken desOsmanischen Reiches zu einer Kraft im Mittleren Ostenhängt eng mit dem Sieg in der Schlacht von Chaldiran15149 zusammen, der wiederum der Teilnahme kurdischerFürstentümer zu verdanken ist. Eine Reihe von Demarchenund Befehlen M. Kemals zeigen, dass der Befreiungskriegohne die Kurden nicht hätte gewonnen werden können.Eine Vielzahl von Ereignissen und Entwicklungen habensich gerade durch die Mitwirkung der Kurden vorteilhaft fürdie Türken ausgewirkt. Angesichts dieser Tatsachen bedeu-tet das Ignorieren der Kurden, den Ast abzusägen, auf demman sitzt. Hierin zeigt sich der Einfluss von blindem Chau-vinismus. Die Kurden zunächst als Verbündete zu sehen, aufdie man auf Gedeih und Verderb angewiesen ist, um siedann, wenn dieser Bedarf nicht mehr besteht, zu ignorie-ren, ist die verhängnisvollste Politik der Republik. Sie warwie ein Schlag ins eigene Gesicht. Das Kalkül der Assimi-

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lation hat sich als falsch herausgestellt. Es hat sich gezeigt,dass derlei Methoden auf dem heutigen Stand von Tech-nologie und Kommunikation wirkungslos sind.

An dieser Stelle muss kurz auf einige Begriffe eingegan-gen werden, die zeigen, wie unsinnig es ist, vor dem kur-dischen Problem Angst zu haben.

Zunächst die „Besorgnis um die Einheit und Untrenn-barkeit des Landes und Staates“. Diese Sorge hat ihrenUrsprung in der Furcht vor der kurdischen Frage. Die Furchtführte zur Verleugnung, die wiederum verschiedene Auf-stände und andauernde Krisen hervorbrachte. Die Folgewaren Selbstbetrug und enorme materielle Verluste aufbeiden Seiten. Dabei ist es doch nur zu offensichtlich, dassdie Einheit des Landes viel stabiler zu gewährleisten ist,wenn die Kurden in ihren Heimatgebieten in geschwister-licher Weise ihre sprachliche und kulturelle Existenz lebenkönnen. Es wird befürchtet, dass Freiheiten, die man denKurden zugesteht, zur Trennung und der Konstituierungeiner eigenen Nation führen könnten. Doch kann die Sinn-losigkeit von Abspaltung in freien Diskussionen leicht bewie-sen werden. Der in jeder Hinsicht bereichernde Einflusseines gemeinsamen Lebens in Freiheit ist offensichtlich.Sezession ist eine Strömung, die durch beidseitigen Natio-nalismus angefacht wird. Beide Seiten tragen dafür Ver-antwortung. Gegengift gegen die Sezession ist die Optionder Freiheit und der demokratischen Einheit. Die Frage nachder Konstituierung einer eigenen Nation und die grundsätz-liche nationale Frage lassen sich in einer wissenschaftlichenDiskussion aus dem Weg räumen. Die Behauptung, dieKurden seien noch nicht auf dem Stand der Nationenbil-

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dung angelangt und bildeten, sollten sie doch eine Nationsein, nur eine Gefahr für die türkische Nation, kennzeich-net einen nationalistischen Fanatismus. Offensichtlich trägtes nicht dazu bei, die türkische Nation zu stärken, wenn mandie Kurden mit aller Gewalt als Türken behandeln will. Nichtzuletzt erstarken ja auch Türken nicht durch ihre bloßeAnzahl, sondern durch eine entwickelte Wirtschaft undDemokratie. Die Kurden als soziologisches Phänomen zubetrachten, nützte da der türkischen Nation schon mehr.Eine türkische Nation, die ihre Existenz anerkennt, ruft beiden Kurden mehr Achtung und den Wunsch zur Einheithervor. Umgekehrt bringen Verleugnung, Sprachverbotund das Vorenthalten des Rechts auf Erziehung und Bil-dung nur Zorn und Verachtung hervor. Nichts ist schädli-cher für beide Seiten als dieser Ansatz.

Diesbezüglich schlage ich als gemeinsamen Nenner einePraxis wie in vielen Ländern vor, die Nationalität in Formdes Ländernamens zu verstehen. Für die Türkei ist auchmöglich, was z.B. in der Schweiz, Belgien, Spanien, Russ-land, den USA und vielen anderen Ländern gang und gäbeist, nämlich bei aller Vielfalt an Sprachen und Kulturen eineeinzige schweizerische, belgische, spanische oder US- ame-rikanische Nationalität zu bewahren. So kann auch die Tür-kei als eine Nation begriffen werden und für sie entspre-chend der historischen und sozialen Gegebenheitenrealistischerweise anstelle des ethnisch verstandenen Adjek-tivs „türkisch“ „Türkei“ als Landesname verwendet wer-den. Wie die Äste eines Baumes kann jede Sprache undKultur als eigener Teil der gesamten Pflanze begriffen wer-den. Die von aller Welt als Reichtum begriffenen kulturel-

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len Existenzformen und sozialen Phänomene mit allerGewalt für null und nichtig zu erklären, ist weder umsetz-bar noch nützlich.

Andererseits kann die Wertschätzung der Kurden demnationalen Leben des einen und gleichen Landes, der Nati-on Türkei, wahre Dienste leisten. Dass die Kurden mit demGegenteil, mit dauernden Zweifeln, Konflikten und militäri-schen Feldzügen zu einer Quelle großen Schadens wer-den, ist hinreichend bewiesen. Soziale Phänomene dernatürlichen Assimilation zu überlassen, dabei aber der Ent-faltung von kulturellen Werten Raum zu geben, ist seitjeher eine grundlegende Tendenz in der Menschheits-geschichte. Nur die schlimmsten Fanatiker haben sich ander Liquidierung kultureller Werte versucht. Deren Platz inder Geschichte ist bekannt.

Wenn diese Begriffsverwirrung und chauvinistische Sicht-weise der Vergangenheit überlassen werden, gibt es kei-nen Grund, warum nicht die Kurden zu aufrechten undbewussten Mitbürgern der Republik werden sollten. DieLösung der kurdischen Frage beginnt an diesem Punkt, mitder freien Teilnahme, der Zugehörigkeit der Kurden mitihrer eigenen kulturellen Identität zur Republik. Die Lösungist weder ein eigener Staat, noch Verleugnung, noch militäri-sche Feldzüge – sie liegt in der bewussten, organisiertenEntscheidung der in jeder Hinsicht gleichberechtigten frei-en Bürger und Bürgerinnen für die Demokratische Repu-blik. Das hat nichts mit Sezession zu tun, viel aber mit wirk-lich geschwisterlicher Einheit und dem gemeinsamen Genussaller Rechte. Dieser Ansatz birgt keine Gefahr im Sinne derEinführung des Kurdischen als Amtssprache als Vorstufe

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zu einem Föderalmodell, wie sie immerzu in demagogi-scher Absicht von gewissen chauvinistisch-nationalistischenStimmen beschworen wird. Dieser Unsinn beruht auf demmangelnden Verständnis der Tatsache, dass eine wahreDemokratie wertvoller ist und mehr Rechte bereithält alsein eigener Staat oder eine Föderation. Die Kraft der Demo-kratie beruht auf ihrer einzigartigen Fähigkeit zur Pro-blemlösung und Kompromissbereitschaft für breiteste Koali-tionen. Nur wenn die Demokratie nicht als überlegenesModell vorhanden ist, kann von der Gefahr einer Abspal-tung oder Föderation gesprochen werden, was dann eineMinderheit für sich beanspruchen kann. Aber die voll ent-wickelte Demokratie hat ihre Überlegenheit gezeigt, alseinziges System verschiedene Völker, Gruppen und sogarKlassen zu ihrem maximalen Nutzen zusammenfügen zukönnen.

Es ist mittlerweile in jeder Hinsicht schwer, die Kurdendaran zu hindern, sich als freie Mitbürger und Mitbürger-innen mit ihrer kulturellen Identität an der DemokratischenRepublik zu beteiligen, sowohl historisch als auch aus Sichtder Demokratisierung. Demagogische und destruktive Ver-suche, sich dem warnend entgegenzustellen mit der Begrün-dung, die ungewollte freie Beteiligung [der Kurden undanderer; A.d.Ü] sei nur mit einem Verzicht auf Demokra-tie zu verhindern, sind ein Rückschritt, den unser Zeitalternicht mehr akzeptiert. Das lässt sich weder mit den Not-wendigkeiten der Modernisierung noch mit der Atatürk’-schen Ideologie erklären, sondern ist ein Merkmal desFaschismus, von dem man ablassen muss. Was bleibt, istdie wirkliche Sicherung der Einheit und Untrennbarkeit des

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Landes und des Staates, die mit Nachdruck in ihrer Formund ihrem Inhalt durch die freie Willensäußerung der Völ-ker bestimmt werden muss.

Dieser Ansatz entspricht nicht nur dem Geiste derGesamtgeschichte der türkisch-kurdischen Beziehungen,sondern befindet sich im Hinblick auf Demokratie und Men-schenrechte auch im Einklang mit dem Charakter unseresZeitalters. Bei dieser Lösung wird weder von einer Verän-derung der Grenzen, noch von Autonomie, noch von einerExtraliste an wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen und poli-tischen Rechten gesprochen. Alles, was dazu notwendigist, ist eine wirkliche Verbundenheit mit dem demokrati-schen System, ein Ablassen von chauvinistischen und fa-schistischen Ansprüchen und Freiheit für die eigene kultu-relle Identität und Bildung jeder Gruppe, ohne dass dasoffizielle System negiert wird. Das ist des Pudels Kern inder kurdischen Frage. Vielleicht werden sich einige natio-nalistische kurdische Kreise daran stören und von Verratan der hundertjährigen Sache der Kurden sprechen. Aberauch dieser Nationalismus hat, ebenso wie jener der unter-drückenden Nation, anstelle einer Lösung nur Feindschaft,Streben nach Loslösung, Leid und Blut, materielle und geisti-ge Verluste hervorgebracht. Sie drücken sich vor der demo-kratischen Lösung gerade deshalb, weil sie im Volk keineUnterstützung finden. Sie meiden die Demokratie, weileine Autonomie ihren Klasseninteressen mehr nutzt.

Sofern die demokratische Lösung unter solchen Minimal-bedingungen einmal beginnen kann, werden auch die kon-stitutionelle und rechtliche Dimension des Problems aufdem Wege verschiedener Koalitionen im Laufe der Zeit ihre

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Lösung finden. Einen Platz in der Verfassung und in Geset-zen zu finden, ist nur eine Frage der Zeit und des demo-kratischen Kampfes. Dessen Früchte werden früher oderspäter geerntet werden. Sozioökonomische Planungspro-jekte und Organisationen, die den Bedingungen der kur-dischen Gebiete entsprechen, können eingerichtet werden.Kulturelle und künstlerische Tätigkeiten, Publikationen undSender in der eigenen Sprache, muttersprachliche Erzie-hung und Bildung sind Punkte, die im Laufe der Zeit nachlangen Vorbereitungen eine Lösung finden werden. Ist ersteinmal die Demokratie zu einer Lebenskultur geworden,wird es undenkbar sein, diese Probleme nicht zu lösen.Ganz sicher wird die Lösung der kurdischen Frage inBescheidenheit der Untrennbarkeit des Staates ebensovielKraft geben, wie der Einheit des Landes. Sie wird der Tür-kei neben der Mitgliedschaft in der Europäischen Unionauch positive Ergebnisse und Achtung auf allen Bezie-hungsebenen mit anderen Ländern bringen, vom Mittle-ren Osten bis zum Kaukasus, von Zentralasien bis zum Bal-kan.

Es ist undenkbar, dass eine Türkei, die ihre gesamte Kraftder wirtschaftlichen Entwicklung zuwendet, die ihre Sicher-heitsprobleme überwunden und sich mit allen ihren Bürgernausgesöhnt hat, keinen raschen Entwicklungsschub ver-zeichnen sollte. Wenn die Kurden zu würdigen Staatsbür-gern werden und in ihren eigenen Dörfern und Städtenleben, wird dies zweifelsohne ein Beitrag zur Lösung desProblems der Ungleichheit in der Bevölkerung und desextremen Wachstums der Metropolen mit der damit ver-bundenen Überbelastung des Gesundheitswesens, Ver-

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kehrs und Bildungssystems sein. Allein schon die Erschlie-ßung der kurdischen Bevölkerung für Produktion und Marktist eine Quelle von Reichtum. Es sollte nicht vergessen wer-den, dass der freie Mensch eher produziert und verbraucht.Dies ist der wahre Entwicklungsweg der Wirtschaft. Ganzzu schweigen von der Überwindung der Krise und Depres-sion, kann die Türkei sogar eine Menge entwickelter Län-der überflügeln und zu einer wahren Führungskraft derRegion werden. Diese Fakten zeichnen sich am Horizontder skizzierten Lösung ab. Das Erbe des ungelösten Pro-blems ist nur allzu bekannt: Blut, Schmerzen, Verluste injeder Hinsicht und das ständige auf der Stelle treten. Wenndie Türkei denken sollte, sie könne sich unter Vernachläs-sigung der Kurden in naher Zukunft demokratisieren undihre Krise überwinden, dabei innere Einheit und starke inter-nationale Allianzen bewahren, so zeigen die Ereignisse derGegenwart deutlich, dass dies nichts als Selbsttäuschungist. Schon eine neue Offensive der PKK im Guerillakrieg, dieweiterhin einen Waffenstillstand einhält, reicht aus, um derTürkei das erste Viertel des 21. Jahrhunderts zu verlorenerZeit zu machen. Doch wird niemand damit etwas gewin-nen, außer dass vielleicht die Kurden ihre Existenz nochaffirmativer erleben werden und das Problem sich nichtzuletzt dadurch verschärfen wird. Dennoch wird der Tagkommen, an dem sich wieder der gleiche Lösungsweg auf-drängen wird.

Ist es nicht bitter, dass sich diese demokratische Lösung,die schon am Anfang der Republik hätte stehen müssen,so sehr verzögert hat und so schmerzvoll geworden ist?Wie viele Verluste dies für ein Land und ein Volk bedeu-

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tet! Dabei ist die Lösung doch nicht nur nicht unmöglich,sondern verspricht sogar Gewinne für beide Seiten, für alleBeteiligten. Warum sollte man vor dieser Lösung weglau-fen? Wer wegläuft, gehört – wie sich an den Kriegsprofi-teuren und Rentiers unserer Zeit deutlich sehen lässt – zudenjenigen, die ihr Auskommen den Krisen und Kriegenverdanken. Sie sind so weit von produktiver Arbeit ent-fernt wie irgend möglich, sie wurden grausam durch dieGier, sich ohne Arbeit zu bereichern. Doch zeigen uns dieTatsachen, dass auch deren Ende gekommen ist. Die Völ-ker sind aufgewacht. Das Spiel ist aus. Deshalb sagen wir,dass in der bevorstehenden Phase die Republik demokra-tisch neu strukturiert wird und in diesem Zusammenhangdie Lösung der kurdischen Frage in freier Einheit möglichist. Dies ist der allgemeine Lauf der Geschichte. Zwar mögeneinige Hindernisse auf dem Weg dorthin noch auftauchen,doch das Ziel wird zweifelsohne erreicht werden.

Die legitime Position der PKK zur bewaffneten Selbst-verteidigung mag problematisch sein. Doch wird die Über-windung dieses Problems sicher nicht von unerfüllbarenForderungen verhindert. Eine zu verkündende General-amnestie und tolerantes Verhalten können auch dieses Pro-blem leicht aus der Welt schaffen. Doch man muss sichklar darüber sein: Solange Demokratie nicht vollständiggarantiert ist, solange dem kurdischen Volk seine Existenznicht zugestanden worden ist und das Recht, sich frei aus-zudrücken, seine kulturelle Identität und Muttersprache zupraktizieren und zu pflegen, ist an ein Ende und die Auf-lösung der PKK oder ähnlicher Organisationen nicht zudenken. Solange Berge von Problemen bestehen, werden

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diese jederzeit wieder Organisationen hervorbringen, diealle möglichen Methoden anwenden können.

Letztendlich liegt es in der Verantwortung des Staates,im Geiste der Toleranz mit der Reife eines demokratischenStaates zwischen der Überwindung des Problems und sei-ner eigenen Haltung zu unterscheiden und dementspre-chende Schritte zu tun. Der Staat muss sich darüber im Kla-ren sein, dass es von historischer Bedeutung ist, das Zeitalterzu beenden, in dem man sich aus nationalistischen Grün-den an die Kehle ging, die Aufstände und Repression zubeenden und einen Prozess einzuleiten, in dem alle Pro-bleme mit demokratischen Kompromissen gelöst werdenkönnen. Es liegt in seiner eigenen Verantwortung, das Nöti-ge zu tun.

Es gibt in der Geschichte zahlreiche Beispiele dafür, dassMenschen, Parteien oder Staaten, die ihre Probleme nichtrechtzeitig gelöst haben, große Schmerzen und Verlusteverursacht haben. Die Türkei hat in ihrer Geschichte mehrBeispiele hierfür aufzuweisen als die meisten anderen Län-der. Wenn das Osmanische Reich sich rechtzeitig inbestimmten, begrenzten Bereichen am britischen Libera-lismus orientiert hätte, wäre der Verlauf der Geschichte einanderer gewesen. Wenn die Republik in ihrer Gründungs-phase jene Fähigkeit zur Entwicklung in Richtung Demo-kratie an den Tag gelegt hätte, an der nicht zuletzt auchAtatürk gelegen war, könnte sie heute vielleicht eine Posi-tion wie Japan haben. Doch die konservative Haltung derTürkei gegenüber ihren Problemen bringt sie in die Gefahr,noch hinter die Länder des erst gestern zerbrochenen sozia-listischen Blocks zurückzufallen. Die Unfähigkeit zu einem

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positiven Umgang mit ihren Problemen ist nur ein andererAusdruck für selbstzugefügte Schmerzen, Verluste und Nie-derlagen.

In der Meerenge der Geschichte, dem ersten Jahrzehntdes dritten Jahrtausends, steht die Türkei auf einer Prü-fungsstufe, wo sie niemandem so recht erklären kann, war-um sie nur deshalb verlieren sollte, weil sie sich in ihre Feh-ler verliebt und ihren Ängsten hingegeben hat. Wir müsseneinsehen, dass es kein Hindernis vor dem Erfolg gibt undentsprechend unseren Weg in Verbundenheit mit dem Geistder Zeit und deren Grundprinzipien fortsetzen. Die zu schrei-bende Geschichte selbst sollte den Zorn über zurücklie-gende Schmerzen und Verluste in Kraft verwandeln undmit dieser Kraft die Zukunft erobern, oder so sollte es zumin-dest sein.

Die Geschichte ist reich an Beispielen, dass gerade in sol-chen Zeiten wirklicher Patriotismus und wahre Geschwister-lichkeit Menschen und Völker zu wahren Legenden beflü-gelt. Abschließend möchte ich unsere Entschlossenheit undunseren Glauben daran zum Ausdruck bringen, dass diewirklich verantwortungsvollen Kräfte in der Türkei und diewahren Freiheitskämpfer und -kämpferinnen des kurdi-schen Volkes gemeinsam in diesem Geiste und mit diesenPrinzipien den Erfolg der Demokratischen Republik sichernwerden und das Verdikt der Geschichte in ihrem Sinne aus-fallen wird.

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Die nationale Frage im Iran und die Demokratisch-Islamische Lösung

Die multinationale Bevölkerungsstruktur des Iran hat seitBeginn der Geschichte eine provinzorientierte bzw. födera-le Verwaltungsform herausgebildet. Das Land setzt sichzusammen aus den Heimatgebieten von insbesondere vierdort historisch verwurzelten ethnischen Stammesgruppensowie einer Reihe von Gebieten, in denen Minderheitenleben. Die Provinz/der Bundesstaat Persien befindet sich imSüden und Südwesten des Iran. Hier weisen die Perser alsgrößter Stamm über die Geschichte hinweg eine hoheBevölkerungskonzentration auf. Hier lagen die Zentrenihrer Hochkultur. Im Nordosten liegt das historische Landder Parthen, der heutige Bundesstaat Khorasan mit seinenmannigfaltigen kulturellen Identitäten. Im Südosten liegt dasHeimatgebiet der differenten, arischstämmigen Baluchis,das heutige Baluchistan. In einem Teil des Nordwestensliegt das historische Siedlungsgebiet eines Volkes mit wie-derum andersartigen ethnischen Eigenschaften, das heu-te einen Dialekt spricht, das dem modernen Türkisch nahekommt, Aserbeidschan. Der größere Teil des Nordwestensjedoch wird durch die Region eingenommen, aus der sichdie erste medische Konföderation formte, Wiege der zara-thustrischen Tradition10 und der Ahura Mazda-Religion(Mazdaismus)11, eine Region, in der die Kurden leben, einStamm, der den Persern am engsten verwandt war: dashistorische Land der Meder und der heutige offizielle Bun-desstaat Kurdistan. Diese Region wird seit der Zeit der

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Großen Seldschuken unter dem Namen Kurdistan als poli-tische und Verwaltungseinheit behandelt. Daneben bildensowohl Khuzistan, in dem eine arabische Minderheit lebt,als auch eine Reihe anderer Gebiete, deren religiöse und kul-turelle Eigenheiten sorgsam gehütet werden, je einen essen-tiellen Teil der kulturellen Geographie des Landes. In derhistorischen Tradition des Iran werden die Kulturen undihre eigenen Gebiete respektiert. Verleugnung und Versu-che, diese als etwas anderes auszuweisen, gewaltsameAssimilation und ähnliche Haltungen werden hingegennicht sehr geschätzt. Diese respektvolle und realistischeHaltung gegenüber den ethnischen und Stammesgruppenmit ihrer historischen und kulturellen Wirklichkeit hat überdie Geschichte des Iran hinweg eine reiche Regierungstra-dition gezeitigt. Aus jedem Stamm und jeder Kultur konn-ten hohe Beamte und Regierungsdynastien hervorgehen.Extreme Eigentümlichkeit der Stämme oder Nationalismuswerden im Allgemeinen gering geschätzt. Es besteht immerdie Möglichkeit, gemäß den eigenen Fähigkeiten und dereigenen kulturellen Überlegenheit eine Rolle im Staatswe-sen zu spielen. Vom Persischen Reich bis zur heutigen Isla-mischen Republik Iran sind diese Eigenheiten mehr oderweniger bewahrt worden. Wie beim Sturz von korrum-pierten Schahs wiederholt unter Beweis gestellt, wurdenjene, die ihre Legitimität [ahl]12 verloren haben, durch Auf-stände gestürzt, in denen die Bevölkerung eine tragendeRolle spielte. Dabei war es egal, aus welchem Herrscher-haus und von welcher Kultur sie stammten, auch wenn siedie stärksten Herrscher sein mochten.

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Mit seiner starken Verwurzelung in mazdaistischem Glau-ben und zarathustrischer Tradition war der Iran nicht nurdas historische Zentrum der Herausbildung der Wahl zwi-schen Ost und West. Er spielte auch eine historische Rollein der Aneignung und Transformation grundlegender Kul-turen, Glaubensformen und ethischer Werte – ob östlichenoder westlichen Ursprungs. Mazdaismus und zarathustri-sche Tradition bilden eines der prägnantesten Beispiele hier-für, da sie gegenüber der sumerischen Mythologie demmenschlichen Willen bedeutend mehr Entscheidungsraumeinräumten und Möglichkeit zur Entfaltung einer freienEthik boten. Ähnlich wurden auch verschiedene Glau-bensformen und Philosophien vom indischen Subkontinenttransformiert. Andererseits spielte auch die schi´itische Tra-dition als eine der wichtigsten Transformationsbewegun-gen auf Grundlage der iranischen Kultur eine wichtige Rol-le in der Religionsgeschichte des Islams13.

So kann die Fähigkeit, die genannten und viele weiterereligiöse, philosophische und stammeseigene Traditionen inihrer eigenen Modalität nicht zu verleugnen oder aus-zulöschen, aber auch nicht zu belassen wie sie sind, son-dern einer hoffnungsvollen Transformation zu unterziehen,als eine wichtige historische Fähigkeit des Iran und alsMerkmal seiner hohen Kultur gewertet werden. Heute ver-sucht man, einen entscheidenden Schritt in diese Richtungmit der Herausbildung eines demokratischen Islam zumachen. Der Versuch „demokratischer Islam“, auf den sichStaat und Gesellschaft des Iran eingelassen haben, verdientes, im Mittleren Osten und von allen islamischen Ländernsorgfältig ausgewertet zu werden. In der iranischen Gesell-

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schaft lassen sich häufig traditionelle demokratische Bewe-gungen ausmachen. Das ganze Mittelalter ist voll davon.Im Grunde genommen hat die Bevölkerung seit dem sume-rischen Sklaventum14 immer eine Antwort auf repressiveSysteme parat gehabt. Zarathustra, Manichäismus15, Maz-deken, Hurremiten16, Abu Muslim von Khorasan17, die Tra-dition der zwölf Imame18 und die Islamische Revolution alsjüngster Vorstoß der Schi´a, sie alle bilden Glieder dieserKette, die sich durch die Geschichte zieht. Aus diesem Grundkann ein Vorstoß zum „demokratischen Islam“ großeBedeutung haben.

Der Islam hat sich im Allgemeinen seit dem Tod des Pro-pheten Mohammed in einem absolutistischen Prozess fort-bewegt. Das begrenzte Gespür für Demokratie der erstenvier Kalifen [rashidun, die Rechtschaffenen]19 ist mit derHerrschaft der Ummayyadischen Dynastie20 einem abso-lutistischen Sultanat gewichen. Die Sultane sollten vor nie-mand anderem verantwortlich sein als vor Gott. Diese Ver-antwortung vor Gott allein ist eine aufgeweichte Form dessumerischen Gottkönigtums und zieht ihre Kraft aus des-sen Tradition. Aufgrund des an Autorität gewinnendenGottesbegriffes sind die Sultane des Mittelalters sogar nochmächtiger und autoritärer als die Könige der Antike. DerGottesbegriff der Antike ist noch schwach und vom Men-schen nicht sehr weit entfernt. Die Gottheiten der Jung-steinzeit sind mit den Menschen befreundet und eng ver-bunden. Der Gott des Mittelalters mit seinen 99phantastischen Prädikaten und seinem ausschließlich befeh-lenden Charakter aber ist im Grunde eine Widerspiegelungund Repräsentanz der entwickelteren, von intensiver Ver-

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änderung durchzogenen und Regeln und Autorität gegen-über bedürftigeren und anfälligeren feudalen Klassenge-sellschaft. Die Autorität des Sultans wird als irdischer Schat-ten Gottes gedeutet [Dhil-ullah], Absolutismus steckt iminneren Kern des Gottesbegriffes. Eine Analyse des Abso-lutismus kommt daher nicht ohne eine Analyse des Gottes-begriffes aus. Mithin bedeutet also eine Demokratisierungdes Islam, ihn von einer Religion der feudalen Herrscher-klasse in eine Religion des Volkes zu verwandeln. Dazubedarf es einer wissenschaftlich soziologischen Analyse desGottesbegriffes, der von seiner Besetzung als geistiges Sym-bol, hinter dem sich die feudale Autorität des Sultanats ver-schanzt, befreit werden und als ein dem Volk verständlichesgeistiges Symbol und philosophisches Verständnis erläu-tert werden muss.

Eine Erörterung der historischen, gesellschaftlichen, phi-losophischen und politischen Bedeutung der PhänomeneReligion und Gott wiederum setzt eine Revolution desBewusstseins voraus. Doch ohne eine wissenschaftlich-phi-losophische Diskussion des Gottesbegriffes kann die Demo-kratisierung des Islams nicht weiter gedeihen als bis zueinem Lippenbekenntnis. Unter den iranischen Intellektu-ellen und demokratischen Islamisten finden derartige Dis-kussionen, wenn auch in begrenztem Umfang, statt. Dochdie herrschende Mentalität, die seit den Sumerern die Reli-gion in dogmatischer Weise als die Ordnung absoluter Göt-ter auslegt und seither auch an der Macht ist, ist im Iranebenso dominant und einflussreich wie auf der ganzenWelt und eben in den anderen Ländern des MittlerenOstens. Der Unterschied des positivistischen Laizismus-

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verständnisses zur iranischen Theologie liegt einzig in sei-nem Atheismus, was ihn zu einer Art positivistischer Reli-gion macht. Deshalb ist Kampf gegen die Religion aufGrundlage des bestehenden positivistischen Laizismus(Säkularismus) im Kern verkehrt und leistet der Demokra-tisierung der Gesellschaft keine großen Dienste. Eine theo-logisch begründete Staatsautorität kann nur überwundenund demokratisiert werden einerseits mit einer korrektenAnalyse von Theologie und einer Entzifferung des herr-schenden und ausbeuterischen Charakters dieser Autorität,andererseits durch eine Institutionalisierung jener Formenvon geistiger und moralischer Autorität, die für das Volk unddie Gesellschaft notwendig sind, und zwar notwendig fürjede Gesellschaft seit Gründung von Gesellschaften über-haupt. Daher ist für die Diskussion über eine Demokrati-sierung des Islam – die auch für die Türkei an Aktualitätgewonnen hat – eine umfassende theologisch-philosophi-sche Debatte, eine neue Form von Mentalität auf wissen-schaftlicher Basis, für das Volk und mit dem Volk, sowiedie Institutionalisierung von Ethik erforderlich. Dies ist zwei-felsohne ein äußerst tief greifendes Thema, das zu seinerAbhandlung einen politischen und moralischen Wandelvoraussetzt. Sofern dieser nicht gelingt, kann man nichtüber den Horizont einer religiösen Demagogie hinaus gelan-gen.

Wenn der Iran diese bestehenden Diskussionen erwei-tert und entwickelt und somit zur Herausbildung einer frei-en und bewussten Wahl gegenüber der Religion und derTradition einer eigenen Ethik im Volke beizutragen ver-steht, so kann der Vorstoß im Namen des demokratischen

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Islam einen ernsthaften, bedeutenden Wert tragen undeine wichtige Rolle in der Renaissance des Mittleren Ostensspielen. Doch es sieht so aus, als ob der traditionelle feu-dale Islam dem nur äußerst widerwillig stattgeben würde.Dennoch sind Versuche ernst zu nehmen, dieses Experi-ment genauestens auszuwerten und als ein Modell fürdemokratische Lösung in Betracht zu ziehen. Es steht außerZweifel, dass die iranische Auslegung des Islam fort-schrittlicher und volksnäher ist als die arabische. Zu fragenist nur, inwieweit sie eine Antwort oder ein Beitrag zur zeit-genössischen Demokratie leisten kann. Ganz sicher ist esdazu aber nötig, sich auf einen Versuch einzulassen unddamit der Bevölkerung konkrete Gewinne zu ermöglichen.Denn in diesem Rahmen kann die Lösung der Stammes-und nationalen Fragen mit ihren historischen Wurzeln fle-xibler und einfacher ausfallen. Der Iran ist in dieser Hin-sicht weder starr dogmatisch noch setzt er auf Verleug-nung. Selbst die gegebene Situation stellt an sich schoneine wichtige Stufe auf dem Weg zur demokratischenLösung dar. Nötig ist eine Synthese einer moderneren Inter-pretation iranischer Demokratie mit den konkreten Umstän-den des Landes. Die kurdische Frage kann in dieser Hin-sicht eine Schlüsselrolle für eine zeitgenössischeInterpretation und eine authentisch iranische Synthese spie-len.

Die kurdische Bewegung im Iran trug einschließlich derVersuche der KDP21 einen feudal-stammestümlichen Cha-rakter, der ihr seit der Zeit der Meder aneignete. Das Sie-deln an den Ausläufern des Zagrosgebirges hat die Kurdenin ihrer Liebe zur Freiheit bestärkt, doch hat – wie schon in

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Bezug auf die anderen Teile Kurdistans festgestellt – auchhier die profitorientierte Politik des Imperialismus gegenü-ber den Kurden des Iran negative Auswirkungen gezeigt.In dieser Hinsicht sind die Bewegungen unter der Führungdes Scheich Ubaidullah22 Ende des 19. und des Ismail Sim-ko23 Anfang des 20. Jahrhunderts recht lehrreich. Das Expe-riment der Republik Mahabad unter Führung des QadhiMohammed24 ist ebenfalls diesen Machenschaften zumOpfer gefallen. Dadurch, dass die KDP (Iran) ihren primi-tiv-nationalistischen Charakter nicht überwinden konnteund sich die (oben beschriebene) iranische Tradition nichtzu eigen gemacht hatte, gleichzeitig die jüngsten Machen-schaften des Westens nicht durchschauen konnte, verlor sieauch noch ihren letzten Führer Abdul-Rahman Ghas-semlou25 durch einen gewaltsamen Tod.

Primitiv-nationalistische oder gewisse linke Gruppierun-gen haben ihre Unfähigkeit, die kurdische Frage zu lösen,dann auch während der iranischen Islamischen Revolutionzur Schau gestellt. Dabei waren doch eigentlich die Bedin-gungen recht günstig, weitere Terraingewinne zu erzielen.Einem Lösungsansatz, der den konkreten Umständen desIran gerecht geworden wäre und die Realität zeitgenössi-scher Demokratie ernst genommen hätte, wären durchausErfolgschancen beschieden gewesen. Wenn auch verspä-tet, kann die Chance einer derartigen Lösung der kurdi-schen Frage noch im Vorstoß des demokratischen Islamverwirklicht werden. Genauer gesagt, kann durch eine der-artige Selbsterneuerung (der Bewegung) mit einer demo-kratischen Lösung sowohl in der kurdischen Frage als auchin den nationalen Fragen im Iran im Allgemeinen Bahn-

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brechendes bewirkt werden. Ein Demokratischer Födera-ler Islamischer Iran kann als Perspektive, als Slogan anBedeutung gewinnen. Ein wichtiger Schritt hin zu einerLösung wäre es, den kulturellen, rechtlichen und verwal-tungspolitischen Eigenheiten des Iran Aufmerksamkeit zuschenken und den Diskurs darüber, wie die Normen zeit-genössischer Demokratie mit diesen realen Eigenheiten ver-quickt werden und eine Synthese hergestellt werden kön-nen, mit Sorgfalt und Mühe voranzutreiben. KulturelleAusdrucksfreiheit, muttersprachlicher Unterricht und Pres-sefreiheit [in der kurdischen Sprache] sind, wenn auch ein-geschränkt, vorhanden. Auch die Landesregierung Kurdis-tans ist eine Tatsache. Und weitere Fortschritte könnenerzielt werden, indem diese Begriffe und Institutionen miteinem Inhalt gefüllt werden, der der Bevölkerung selbsteigen ist, von ihr kommt, und dadurch einen fortschrittli-chen Charakter verliehen bekommen. Änderungen in Ver-fassung und Gesetzestexten, die solch einen Prozess reflek-tieren, können auf die Tagesordnung gesetzt werden.

Das ganze Problem hängt davon ab, ob die kurdischeBefreiungsbewegung im Iran es versteht, die Eigenheitendes Irans richtig zu lesen, die Kriterien zeitgenössischerDemokratie unumstößlich zu verinnerlichen und die beste-henden positiven Seiten zum Ausgangspunkt zu nehmen,um in bescheideneren Schritten vorwärts zu schreiten. DieFähigkeit, sich primitiv-nationalistischen, engstirnig auto-nomistischen Ansätzen und internationalen Machenschaf-ten zu verweigern, wird auch mehr Verständnis auf Seitender iranischen Regierung hervorrufen. Den bestehendenDialog zu verstärken, die enge kulturelle Verwandtschaft

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der Kurden [mit den anderen] spürbar zu machen und dieaktuelle Bedeutung der traditionellen Geschwisterlichkeit[der Völker dort] überzeugend wiederzugeben, wird vielzu einer Lösung beitragen. An die Stelle der Zeit der pri-mitiv-nationalistischen Autonomiebewegungen ist eineneue Zeit getreten, in der es um eine Demokratisierungdes Islam und seine Synthese mit zeitgemäßer Demokra-tie geht, und diese hat alle Chancen, erfolgreich zu wer-den. Die Befreiungsbewegung des iranischen Kurdistankann in dem Masse so einen Prozess initiieren, in dem siesich in diesem Sinne erneuert, sich als ansprechende undeinflussreiche Kraft organisiert und positioniert. Dabei kannsie Lehren aus den Erfahrungen der kurdischen Bewegun-gen in den anderen Teilen ziehen, insbesondere aus derErfahrung der PKK mit ihrer derzeitigen Position der Selbst-verteidigung. So kann sie zu einer ambitionierten Vertre-terin der neuen Phase werden. Sie kann den Vorstoß desdemokratischen Islam im Iran überhaupt durch die Ant-worten und Beiträge, die sie in ihrer konkreten Situationanbietet, verstärkend unterstützen.

Da der vorgefundene Boden voller Hindernisse und Fal-len ist, dürfen in der Arbeitsweise, der organisatorischenLinie und der Praxis äußerste Sensibilität und Realismus aufkeinen Fall vernachlässigt werden. Ansonsten drohen jeder-zeit Schläge durch Verschwörungen, wie dies in derGeschichte nur allzu häufig geschah. Insbesondere dieJugend- und Frauenbewegung richtig anzusprechen undzu formen wird wichtige Möglichkeiten für eine erfolgrei-che Arbeit mit sich bringen. Eine korrekte ideologische undpraktische Formierung der Frauenbewegung und der

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Jugendbewegung ist sehr bedeutsam. Daneben ist es auchwichtig, ein ausbalanciertes Verhältnis zu den Bewegun-gen der anderen Teile [Kurdistans] zu finden, das gegen-seitiger Weiterentwicklung Raum lässt, so dass man einer-seits nicht an sich selbst erstickt, andererseits aber auchnicht zur reinen Exilbewegung wird.

Im Grunde genommen steht hier eine islamische Versi-on der demokratischen Lösung nach dem Modell der Tür-kei aus. Wenn daher der Vergleich zwischen beidenLösungsansätzen sorgfältig gemacht wird, kann in derLösung der kurdischen nationalen Frage eine überlegeneSynthese der islamischen und der zeitgemäßen westlichenAuffassung [von Staatswesen und Gesellschaft] geschaffenwerden. Von solch einer starken Hoffnung beseelt und vonstabilen praktischen Schritten getragen, mit modernemzarathustrischem und abrahamitischem26 Glauben und Ethikkann die Befreiungsbewegung der modernen medischenKawas27 der demokratischen Zivilisation jenes innere Eige-ne verleihen, nach der sie sich sehnt. So kann sie einenkraftvollen Beitrag zur Synthese von Gerechtigkeit, Moralund Freiheit für die Menschheit leisten.

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Die Kurdenfrage bei den Arabern und die irakische Lösung

Weitere Nachbarn, mit denen die Kurden aufs engstezusammenleben, sind die Araber. Die Araber sind jene semi-tischen Stämme, die zuletzt aus der arabischen Wüste nachNorden vorgedrungen sind. Die erste Welle ereignete sichim 6. Jahrtausend vor Christus, als semitische Stämme nachÄgypten und ins untere Mesopotamien kamen, sich mitden dort entstehenden neuen Kulturen vermischten undeinen Beitrag zur Entstehung der ägyptischen und sume-rischen Kulturen leisteten. Die zweite semitische Einwan-derungswelle entstand im 3. Jahrtausend vor Christus. Siebestand aus billigen Arbeitskräften für die ägyptische undsumerische Zivilisation. Aus ihr gingen im 2. Jahrtausendv. Chr. auch mächtige Stammesführer hervor, die Einflussauf Dynastiewechsel in der sumerischen Zivilisation hattenund seit jener Zeit auch Stadtregierungen stellten. Dieseals Ammoriter bezeichneten Stämme errichteten zunächstdas babylonische, danach das assyrische Reich. Getriebenvom Bedarf nach Erzen und Holz stießen diese semitischenStämme und Dynastien bei ihrer Ausbreitung nach Nor-den auf die Hurriter, von denen die Kurden abstammen.Soweit die Geschichtsforschung weiß, bestehen spätestensseit dem 2. Jahrtausend v. Chr. kontinuierliche Beziehun-gen und Konflikte zwischen Stämmen dieser beiden Her-künfte. Ihre Nachkommen leben bis heute eng miteinan-der im mittleren Mesopotamien, wie z.B. in Harran28. Ausder Vermischung dieser Stämme gingen auch die Stam-mesgruppen hervor, die mit dem Patriarchen Abraham als

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Hebräer bezeichnet werden, und bei denen Verbindungensowohl zu semitischen als auch zu arischen Wurzeln29 auf-zuweisen sind. Sie stellen die erste kulturelle Synthese dar.Die abrahamitische Tradition30 hat diese Synthese entwickeltund stellt den bedeutenden Aufbruch in die monotheisti-schen Religionen dar.

Die sumerische Zivilisation befand sich insbesondere vonStämmen aus diesen beiden Wurzeln umgeben. DurchBündnisse mit beiden Gruppen konnten die Sumerer ihreHerrschaft über 2000 Jahre fortsetzen. Nach Ende des 2.Jahrtausends v.u.Z. zerfällt Sumer angesichts des Drucksdieser Stämme und Dynastien. Ihre Konflikte verschärfensich zur babylonischen und assyrischen Zeit. Die Hurriter,Guti und Kassiten gehen auf dieselben kulturellen Wurzelnzurück. Ihre wechselseitigen Beziehungen und Auseinan-dersetzungen sind auf babylonischen und assyrischen Tafelnausgiebig dokumentiert. Diese Auseinandersetzungen errei-chen mit den Mitannern, Urartern und Medern einen Höhe-punkt. Durch die Zerstörung der assyrischen Hauptstadt612 v.Chr. beenden die Meder eine Epoche, und es beginntdas Zeitalter der medisch-persischen Herrschaft31.

Die dritte große Welle der Ausdehnung beginnt, als derProphet Mohammed die letzten Wüstenstämme unter derIdeologie des Islams vereint. Mit der großen islamischenZivilisation steigen die Araber auf, obwohl sie in vor-isla-mischen Zeiten die rückständigsten Stämme des MittlerenOstens waren. In dieser Epoche vermengen sich die Ara-ber und Kurden noch einmal verstärkt. Die aufs innigstemiteinander verbundenen Bevölkerungsgruppen in dieserHinsicht sind aber wohl die Assyrer und die Kurden, deren

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Nachbarschaft wahrscheinlich historisch am weitestenzurück reicht. Die Assyrer stammen von den prä-arabi-schen, ammoritischen Stämmen ab, ihre Sprache ist vomArabischen verschieden, ihre Kultur weiter entwickelt. Diearabisch-kurdischen Beziehungen wachsen insbesonderein der ummayyadischen und abbassidischen32 Periode. Mitder Schleifung des Sassanidenreiches 640 n.Chr.33 wird diearabisch-islamische Zivilisation zum bestimmenden Ein-fluss. Die kurdische Oberschicht gerät in großem Maßeunter den Einfluss der arabischen Sprache und Kultur. Siegeben sich sogar als Araber aus, behaupten, sie stammtenvom Propheten ab, wenn sie sich dadurch Vorteile ver-sprechen. Die Unterschicht bleibt kurdisch, die Oberschichtwird arabisch. Wenngleich eine gemeinsame ethnischeAbstammung vorhanden ist, wird diese Aufteilung an Ver-breitung gewinnen. Die Bewegungen der kurdischenScheichs, Seyyids und Mollahs34, betreiben im Wesentli-chen die Ausbreitung und Propaganda der arabischen Spra-che und Kultur, die kurdische Sprache und Kultur werdenverachtet.

In der Zeit der osmanischen Herrschaft büßt der arabi-sche Einfluss seine frühere Dynamik ein. Beziehungen mitden Türken bieten den Kurden bessere Möglichkeiten zurEntwicklung ihrer eigenen Sprache und Kultur als jene mitden Arabern. Nicht nur die Dürftigkeit des Türkischen, son-dern vor allem das Gleichgewicht der Beziehungen sindhierbei ausschlaggebend.

Eine Wende in den kurdisch-arabischen Beziehungen trittein, als sich die Engländer im 19. Jahrhundert zur Kontrol-le des Handelsweges nach Indien und der mittelöstlichen

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Erdölvorkommen im Irak niederlassen. Die Briten spielenbeide Seiten gegeneinander aus und binden sie jeweils mitHilfe der „divide et impera“- (teile und herrsche-)Taktik ansich. Sie versuchten, ihre eigene Vorherrschaft dadurch zukonsolidieren, dass sie mal die eine, mal die andere Seiteunterstützen. Die Hegemonie der Araber über die Kurdenim Irak ist ein Ergebnis der nach Ende des ersten Weltkrie-ges im Irak etablierten englischen Regierung. So, wie inPalästina den jüdischen Einwanderern eine hegemonialeRolle zugemessen wird, erhalten die feudalen arabischenScheichs und Stammesfürsten eine Vormachtstellung überdie Kurden, Assyrer und Turkmenen im Irak. In diese Zeitfällt die Installierung einer Monarchie, die eine neue Pha-se des islamischen Sultanats einleiten soll35. Ihre Ablehnungdieser Situation drückten die Kurden seit Beginn des 19.Jahrhunderts durch Aufstände aus. Die Briten konnten die-se Aufstände eindämmen, indem sie teils die Osmanen,teils die iranischen Schahs benutzten. Insbesondere dieweitgediehene Bewegung unter Führung des Mahmut Bar-zani in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts sollte in die-ser Dreier-Zange zum Scheitern gebracht werden.

Nach dem zweiten Weltkrieg beginnt dann die Phaseder primitiv-nationalistischen Organisierung in der KDP. Dadiese Organisation auf eine Fusion der feudalen Stam-mesfürsten mit kleinbürgerlichen städtischen Intellektuel-len abzielte, konnte sie es nie über eine Rolle als Mario-nette der imperialistischen und regionalen Mächte hinausbringen.

Durch die Unterstützung, die der kleinbürgerliche Radi-kalismus durch die Sowjetunion erfährt, kann die irakische

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Monarchie gestürzt werden. Die neue Zeit ist die des Auf-stiegs des arabischen Nationalismus. Da die Sowjets diearabischen Nationalisten bevorzugen, kann sich die KDPunter Führung Barzanis nicht vor einer Niederlage retten.Es kommt zur Spaltung im Lager des bürgerlichen Natio-nalismus, 1975 entsteht die PUK unter Talabani. Mit demVerlust ihrer Einheit wird die kurdische Bewegung im Iraknoch mehr zum Werkzeug anderer, wobei jetzt insbeson-dere der Einfluss Israels und der USA wächst. Die Fixiert-heit auf engstirnige Interessen wird zu einer Krankheit, diedie kurdische Bewegung zernagt. Die folgende Phase istdegenerierter und kollaborativer als selbst die ehemaligenStammesfehden. So versagt die Bewegung auch noch unterden für sie günstigen Bedingungen zu Zeiten des iranisch-irakischen Krieges und der Golfkriege ab den 80er Jahren.

Anfang der 90er Jahre wird unter der Schutzherrschaftder USA und enger Unterstützung der Türkei eine födera-le Regierung eingerichtet. Die traditionelle geographischeAufteilung zwischen den Gebieten Behdinan und Soranführt zu zwei getrennten Regierungen. In dieser Zeit kön-nen sie erhebliche politische, militärische, diplomatischeund materielle Gewinne insbesondere durch kluges Ma-növrieren und Intrigieren gegenüber der PKK verbuchen.Zur Befriedigung derartiger Interessen spielen sie die Haupt-rolle bei der Bloßstellung und Isolierung der PKK. Dabei istman allerdings von einer Lösung der kurdischen Fragemeilenweit entfernt, obgleich die Bedingungen dazu äußerstgünstig gewesen wären. Die kurdischen Regierungenstecken bis zum Hals in persönlichen Interessen undDynastiekämpfen, es fehlt ihnen an innerer demokratischer

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Funktion. Nie kommt es zur Bildung einer gemeinsamenkurdischen Föderalregierung36. Wie ein Opfertier müssensie [KDP und PUK; A.d.Ü.] in willigem Warten für die gegenSaddam gerichtete Politik der USA und Britanniens bereit-stehen. Die Türkei ihrerseits ist bemüht, die Überwachungund Kontrolle mit Hilfe der Hammer Force zu straffen, umzu verhindern, dass die PKK in diesem Gebiet an Einflussgewinnt. Dennoch hat sich die PKK in den bergigen Gebie-ten positioniert und fährt fort, ein Einflussfaktor zu sein.Trotz der aktiven Unterstützung seitens KDP als auch PUKseit den 90er Jahren und mit Einschränkung auch schonseit 1986 war es der Türkei bisher nicht möglich, den Ein-fluss der PKK zu brechen. Offensichtlich übt auch der Iranvermittels eines Dialoges mit allen Beteiligten weiterhineinen Einfluss aus, auf den er auch nicht so leicht verzich-ten wird.

In seiner jetzigen Lage wird Südkurdistan langsam abersicher zu einem zweiten Libanon, die Auseinandersetzun-gen dort erinnern an den israelisch-palästinensischen Kon-flikt. In vielerlei Hinsicht sind Wege blockiert. Die Verwor-renheit der internationalen Kräfte mit regionalen und lokalenInteressen erzeugt eine Situation, die an Komplikation denisraelisch-palästinensischen Konflikt übersteigt. Weder inBezug auf den Irak im Allgemeinen noch in Bezug auf eineLösung für den Status der Kurden hat sich bisher etwaskonkretisiert. Während die USA und Britannien versuchen,Saddam zu stürzen, steht ein gewichtiger Teil der Welt nichthinter ihnen. Das Embargo der Vereinten Nationen hat sei-ne Funktion verloren. Damit bleibt die konfuse Situationweiter bestehen.

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Zweifelsohne wird sich eine Lösung für die Probleme desIrak an zwei Fronten entwickeln. Deren erste ist die Platt-form der Vereinten Nationen. Die USA werden auch wei-terhin unter Benutzung der UN das Regime bedrängen undim Inneren die Kurden und den so genannten IrakischenNationalkongress dafür instrumentalisieren. Hier könnteein zweites Yugoslavien entstehen. Die neue Bush-Admi-nistration hat sich auf diese Politik eingeschworen. AuchIsrael übt seit langem Einfluss aus. Die Türkei ergeht sichin langfristigen Kalkülen für alle Eventualitäten, in die siealle Beteiligten einzubinden versucht. Die Bewegung derTurkmenen versucht sie zu einem Interventionsinstrumentaufzubauen. Der Iran kann seinen Einfluss sowohl über dieirakischen Schiiten als auch über Kollaborateure in der kur-dischen Bewegung unvermindert fortsetzen. Europa, Russ-land, China und die übrigen arabischen Länder sind jeweilsin unterschiedlichem Maße in die Situation involviert. Allesind sich darüber einig, dass eine Lösung im Rahmen derEinheit des Iraks gefunden werden muss. Doch indem dieUSA Saddam entfernen wollen, verhindern sie eine solcheLösung oder auch nur eine Normalisierung der Situation.Vielmehr wird jede Perspektive weit hinter den Horizontverschoben.

Die zweite Front wäre die eines demokratischen Lösungs-weges, welchen die Kräfte im Lande unter sich ausmachenmüssten. Dadurch aber, dass alle diese Kräfte, allen vorandas Regime, weit von einer demokratischen Struktur ent-fernt sind, steht es sehr ungünstig um einen demokrati-schen Irak, der eigentlich der beste Lösungsweg wäre. Einsich demokratisierender Irak würde einen Wandel darstel-

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len, dessen historische und regionale Bedeutung nicht zuunterschätzen ist. Es wäre ein gewaltiger Schritt in Rich-tung auf die Demokratisierung des Mittleren Ostens, inRichtung einer Lösung aller nationaler, ethnischer, religiö-ser und kultureller Fragen mit friedlich-demokratischenMitteln. Eigentlich müssten die Kurden bei einer solchenLösung die Vorreiterrolle spielen. Sie könnten ihre nichtgeringzuschätzenden föderalen Verwaltungen zu einerDemokratischen Föderation Kurdistans vereinigen. In einerdemokratischen Föderation mit dem irakischen Regimeoder, falls dies zu schwierig erscheint, mit konstitutionel-len Garantien, könnten sie sich auf eine echte demokratisch-republikanische Regierungsform einigen. Eine Lösung aufGrundlage der Anerkennung aller sprachlicher und kultu-reller Gruppen und der Garantie von Grundrechten undFreiheiten in der Verfassung ist eine wichtige Möglichkeit.Ein demokratischer Irak, unter den Bedingungen des Irakverfassungsrechtlich abgesichert, bedeutete einen gewalti-gen Schritt aus dem Knäuel der Probleme heraus.

Bei einem solchen Schritt fällt den Kurden eine wichtigeRolle zu. Die halbfeudale, halbbürgerliche Führung scheutsich aufgrund ihrer Klasseninteressen vor Veränderungen.Egoistisch versteift sie sich darauf, die Frage im Rahmenihrer eigenen Klasseninteressen zu lösen und die Interes-sen der Bevölkerung dabei außen vor zu lassen. Ihr fehltder Geist für demokratische Kompromisse. Was sie will, istein Kompromiss zwischen traditionellem kurdischem Auto-nomiestreben und einer autoritären Republik Irak, ohneden Charakter des Regimes anzutasten und ohne in Kur-distan demokratische Prozesse zuzulassen. Sie sucht also

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nach einer Lösung ohne Demokratie, und darin liegt derHauptgrund für ihr Zerwürfnis mit der PKK in ganz Kurdi-stan. Sie denkt, dass demokratische Erneuerungen ihr eige-nes Ende einleiten würden. Daher ist sie auch bemüht,überall Anti-PKK-Fronten auf die Beine zu stellen, um ebeneinen solchen Prozess zu verhindern. Weder versucht sieselbst, die Frage zu lösen, noch will sie, dass Kräfte ausdem Volk die Initiative bei der Lösung übernehmen. Ihrekonkrete Position beschränkt sich darauf, ihre Interessen soweit wie möglich abzusichern, auch wenn sie das nicht sehrweit bringt. Ganz zu schweigen von einer eigenen Suchenach neuen Entwicklungen und Prozessen, sieht sie es alsihre grundlegende Pflicht an, eventuelle derartige Ent-wicklungen zu verhindern. Seit über 50 Jahren hat sie sichdarin verbohrt, die Problematik an sich zu ketten. Solangesie nur ihre eigenen Interessen schützen kann, ist dieseFührung für alles offen, sogar für Verrat an der eigenenSache.

Doch das Leben wird nicht vor solchen konservativenund reaktionären Haltungen Halt machen. Die Krise, diesich ereignet [Anm.: Dieser Text wurde vor dem 11. Sep-tember 2001 verfasst!], wird auch im irakischen Kurdistanebenso wie im Irak überhaupt immer wieder neue Lösungs-ansätze aktualisieren. Ein internationales Problem kannnicht einfach fortbestehen, ohne eine Lösung hervorzu-bringen. Mögliche Lösungschancen wird es oft geben. Des-halb ist es wichtig, für mögliche Entwicklungen mehrereAlternativen bereitzuhalten und auf alles vorbereitet zusein.

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Aus diesen Gründen wird die PKK stärker als bisher eineKatalysatorenfunktion einnehmen. Seit langem schon wirddiskutiert, die PKK als Partei Südkurdistans zu konkretisie-ren. Mit Tausenden von aktiven Mitgliedern und Gefalle-nen aus Südkurdistan ist die PKK sowieso schon zu einerPartei des dortigen Volkes geworden. Sie als fremde Kraftvon außen darzustellen, ist Ausdruck der Angst, mit derdie Kollaborateure diese Propaganda betreiben. Die PKKmuss sich selbst als authentische reale Kraft in dieser Regi-on sehen, wie die anderen Parteien es auch sind. Sie musssich politisch, militärisch, sozial und kulturell positionierenund eine vielseitige eigene Praxis entwickeln. Dabei musssie auf einer Demokratischen Kurdischen Föderations-regierung bestehen. Falls KDP und PUK sich beide daraufeinlassen, so ist dies die Option. Wenn eine Partei dieZusammenarbeit ablehnt, muss man mit der anderen arbei-ten. Wenn auch das nicht möglich ist, muss die PKK miteigener Anstrengung in allen ihren Einflussbereichen dieEntstehung einer demokratischen Formation vorantreiben.Während sie ihre Rolle bei der Bildung einer allgemeinendemokratischen Front mit allen ethnischen, religiösen undkulturellen Gruppen im Irak überhaupt spielt, kann unddarf sie die Forderung nach einer demokratischen Födera-tionsregierung der Kurden untereinander nicht vergessen.Für deren stetiges, wenn auch vielleicht zähes Wachstumin die Tiefe und in die Breite hat sie Sorge zu tragen. AllenGruppen, Parteien, Stämmen und Fronten, einschließlichdem Regime selber, muss die PKK nahe legen, dass eineNeustrukturierung des Iraks zu einer Demokratischen Repu-blik Irak und die Einbindung eines demokratischen kurdi-

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schen Föderationsgebildes darin die bestmögliche Lösungist. Sie muss auf einer demokratischen Lösung bestehen.

Sämtliche inneren und äußeren Bedingungen macheneine demokratische Transformation des Irak unausweich-lich notwendig, andernfalls droht eine Entwicklung nachdem Muster Yugoslaviens. Dagegen muss man sehen, dassdie gegebene Situation durch permanenten Wandel über-wunden werden muss und entsprechend vielseitige Vor-kehrungen für eine Lösung getroffen werden sollten.Militärische und politische Schritte müssen, den täglichenLagebewertungen entsprechend, in alle Richtungen tiefgreifend und umsichtig vorgenommen werden. Alternati-ve Maßnahmen für den schlimmsten Fall, dass nämlich ent-weder das aktuelle Regime oder ein darauf folgendes neu-es Regime sich mit den Kollaborateuren vereint und zumAngriff übergeht, müssen unbedingt getroffen werden.

Gleichzeitig müssen die Arbeitsweise, Lebensweise undKampfweise der neuen Phase so effektiv wie nur möglichauf allen Aufgabenfeldern umgesetzt werden. Das giltbesonders für die Ausbildung, die mit hohem Tempo undüberlegener Disziplin durchgeführt und verbreitert werdenmuss. Quantitatives und qualitatives Wachstum müssendie Abwehr jedes Angriffs und effektive Gegenoffensivenermöglichen. Unsere Verpflichtungen gegenüber demgeschundenen Volk, den Freunden in den Gefängnissenund den vielen Verwundeten und Gefallenen müssen durchverantwortliches und erfolgreiches Handeln erfüllt werden.Gerade weil es sich um den Bereich handelt, in dem wohldas meiste Blut geflossen und die tiefsten Schmerzen erlebtwurden, müssen die Hoffnungen auf eine Lösung eine

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erfolgreiche Antwort erhalten, ohne dass irgendwelcheAusflüchte ins Feld geführt werden. Wenn die Bewegungdes irakischen Kurdistan, und dazu zählt auch die PKK, ihrehistorische Mission im gesamten Kurdistan und im Mittle-ren Osten erfüllt, wenn sie sowohl den primitiven Natio-nalismus als auch den herrschenden bürgerlichen Natio-nalismus überwindet und sich über die Widrigkeiten derreaktionären Familien- und Stammesstruktur hinwegsetzt,kann sie eine ähnliche Rolle in der Morgendämmerung derdemokratischen Zivilisation im Mittleren Osten spielen, wiesie es schon in der Morgendämmerung der Zivilisation über-haupt getan hat.

Ihr höchster Wert wäre dann die Ehre, die treibende Kraftim Aufbruch einer neuen Phase, eines neuen Zeitalters zusein. Undenkbar, dass jene, die mit diesem Geschichtsver-ständnis und dieser Ehre leben, nicht in all ihren Aufgabenerfolgreich sein können. So eine bedeutsame historischeEntwicklung zu begrüßen und ihren Sieg zu erwarten, istunser einziger Lebensgrund.

Identitätsbildung der syrischen Kurden und diedemokratisch-partizipatorische Lösung

Ebenso wie Teile der Araber oder Assyrer unter den Kur-den leben, so leben auch Teile der Kurden unter den Ara-bern. Hier sind vor allem die syrischen Kurden zu nennen,die geographisch und kulturell einen solchen Teil ausma-chen. In jeder Phase der Geschichte gab es solche Vermi-schungen, und die ganze Welt, insbesondere Asien undEuropa, haben dieses Phänomen und auch daraus resul-tierende Probleme genügend kennen gelernt. Nationalisti-sche Diskurse haben die Lage solcher Minderheiten zuBegründungen für Gewalthandlungen gemacht, mit denenviele Kriege entfacht wurden. Mit der Entstehung des demo-kratischen Systems jedoch ist die Anerkennung solcherGruppen als Minderheiten mit kulturellen Rechten sowieder Gewährleistung ihrer demokratischen Partizipation alsgrundlegende Menschenrechte und konstitutionelle Garan-tien verbunden.

Die meisten der syrischen Kurden sind im Laufe derGeschichte infolge von Aufständen, Stammesfehden undUngerechtigkeiten aus verschiedensten Gebieten hierhergewandert. Die Geschichtswissenschaft zeigt, dass es seitdem Auszug des Patriarchen Abraham aus Urfa [Harran]37

bis zum zeitgeschichtlichen Aufbruch der PKK38 immer wie-der Fluchtbewegungen in die östliche Mittelmeergegend,hier insbesondere nach Syrien, gegeben hat. Andererseitsgibt es die Migration von Arabern und geschichtlich ehervon Assyrern nach Kurdistan und ins innere Anatolien, diemeist mit ähnlichen Ursachen, klimatischen oder wirt-

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schaftlichen Gründen verbunden ist. Es findet also im Lau-fe der Geschichte immer wieder Migration, Besiedlung undsomit gegenseitiger Kultur- und Handelsaustausch statt.Diese Faktoren tragen wesentlich zu interkulturellen Trans-formationsprozessen bei. Ab einem späteren Zeitpunkt sindauch Armenier und Turkmenen in solche Prozesse einge-bunden, die eine reiche Vielfalt an Sprachen, Religionenund Kulturen hervorbringen. Syrien ist im Wesentlichen einLand, das auf diesem Reichtum aufgebaut und geformtwurde. Die genannten historischen Faktoren bildeten einenNährboden für demokratische Kompromisse und Toleranz.Alle Gruppen in Syrien, einschließlich der Kurden, werdenim Rahmen dieser historischen Wirklichkeit ihre grundle-genden Probleme durch Verwirklichung der Rechte aufPflege und Entwicklung ihrer Kultur, muttersprachlichenUnterricht, Pressefreiheit und Partizipation am politischenLeben als gleiche und freie Bürger und Bürgerinnen lösenkönnen.

Wenngleich einige dieser Freiheiten bereits gewährlei-stet sind, harren doch die meisten Probleme noch einerLösung, insbesondere solche in Bezug auf Staatsbürger-schaft, muttersprachlichen Unterricht, Pressefreiheit undpolitische Rechte. Auch wenn keine starken Behinderun-gen vorhanden sind, erfordert der garantierte Gebrauchdieser Rechte doch einen rechtlichen Status. Ein Erfolg imrechtlichen Kampf wäre sowohl an sich ein bedeutenderdemokratischer Gewinn, als auch ein kräftigender Beitragzur allgemeinen Demokratisierung Syriens. Die PKK hat indiesem Bereich eine starke Basis von Sympathisanten. Derenerste Pflicht ist es, mit einem Programm im Rahmen der

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rechtlichen Möglichkeiten demokratisch-legale Organisie-rung und Kampf mit allgemeinen patriotischen und aufDemokratisierung zielenden Bestrebungen in Syrien zu ver-einigen. Gleichzeitig muss sie ihre solidarische Verbunden-heit mit dem Befreiungskampf in ihrer ursprünglichen Hei-mat zeigen und diesen unterstützen.

Die aus verschiedenen Gründen über die gesamte Weltverteilten Kurden haben bestimmte Pflichten und Verant-wortlichkeiten, die ihnen allen gemein sind. Besonders dieKurden in den Metropolen und anderen Einwanderungs-gebieten der Länder, in denen sie leben, haben wie die Kur-den in aller Welt das Recht und die Verpflichtung, ihre eige-ne kulturelle Identität zu schützen, Staatsbürgerschaft zuerlangen, muttersprachlichen Unterricht zu genießen, Pres-sefreiheit wahrzunehmen und sich am politischen Lebenauf Grundlage menschenrechtlicher und demokratischerKriterien aktiv zu beteiligen. Diese Rechte und Pflichtenmüssen sie erfolgreich erfüllen, und dazu gehört auch dieeigene Weiterbildung und Entwicklung in sozialer, sportli-cher, akademischer, technischer u.Ä. Hinsicht und das akti-ve Einbringen, die Pflege und Entwicklung der eigenen kul-turellen Identität im gesellschaftlichen Leben. Es geht darum,mit Würde den Kampf und das Leben auf freier und glei-cher Basis mit den anderen Völkern zu teilen. Andererseitsgehören zu diesen Rechten und Pflichten auch die Unter-stützung, Solidarität und Beteiligung am Freiheitskampf imeigentlichen kurdischen Heimatland.

Der letzte Punkt ist das Problem der Einheit unter den Kur-den. Früher wurde oft der Leitspruch von einem unab-hängigen, vereinten und sozialistischen Kurdistan gebraucht.

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Dieser Leitspruch zieht seinen Gehalt aus dem Nationalis-mus und ist weder aus ideologischer noch aus politisch-praktischer Sicht realistisch. Auch wenn er als Utopie fas-zinierend klingen mag, ist doch der korrektere patriotischeund internationalistische Leitspruch auf dieser Ebene rea-listischer: Für jedes Land und jeden Staat, unter dessenDächern Kurden leben, gilt die Losung „DemokratischesLand, freie Heimat“. Für den gesamten Mittleren Ostengilt: „Demokratischer Mittlerer Osten, vereinte Heimat“.Diese beiden grundsätzlichen Leitsprüche sind für alle Völ-ker des Mittleren Ostens gültig. Die Araber sind auf über20 Staaten aufgeteilt. Auch die Turkvölker sind stark zer-streut, ähnlich ist die Situation im Iran. Die Zersplitterungder Kurden ist von einer anderen Dimension und Eigenart.Wenn jeder Teil eines Volkes nur für sich einen Kampf umeine vereinte Nation und ein vereintes Vaterland führenwürde, wäre der Mittlere Osten bald schon ein einzigesSchlachtfeld. Man würde sich weiter in geographische,soziologische und religiöse Unterschiedlichkeiten spaltenund ein unüberwindliches Chaos anrichten. Überall wür-den Konflikte ausbrechen wie zwischen Israel und Palästi-na. Die Forderung nach einer vereinten Nation bzw. Vater-land stammt ursprünglich aus dem Nationalismus und hatviel zu den Kriegen der beiden blutigsten Jahrhunderte,des 19. und 20. Jahrhunderts, beigetragen. Im MittlerenOsten Auseinandersetzungen nationalistisch anzufachenheißt, auch das 21. Jahrhundert noch zu einem Jahrhun-dert der Kriege, Massaker und Völkermorde zu machen,ohne Anfang und ohne Ende. Daher verträgt sich dieser

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Anspruch weder mit Patriotismus, noch mit Internationa-lismus, noch mit Humanismus.

Worauf es ankommt, ist, die gegebenen Grenzziehun-gen des Mittleren Ostens als Fakten anzuerkennen undeinen Kampf um Demokratie und Grundrechte innerhalball dieser Länder und Staaten zu führen. Es geht darum,Gleichheit und Rechte sowie Einheit in Freiheit zu ver-wirklichen. Jedes Land, das sich demokratisiert, ist ein Schritthin zur Verwirklichung des Demokratischen MittlerenOstens. Ein Demokratischer Mittlerer Osten kann gleich-zeitig auch mit einer Institution in der Art der EuropäischenUnion der Sehnsucht aller Völker nach einer Einheit in Frei-heit eine Perspektive zeigen. Die Entwicklungen in den ara-bischen und den Turkstaaten verweisen auf eine solcheTendenz. Enver Pashas Pantürkismus und der Panarabismusvon Abd el Jamal Nasser haben bewiesen, dass sie aben-teuerliche und realitätsferne Ansätze waren.

Die einzigartige Rolle, die die Kurden in dieser Geschich-te übernehmen können, ist, in dem jeweiligen Land undStaat, in dem sie leben, durch eine demokratische Lösungzur demokratischen Zivilisation beitragen. Diese Rolle ent-spricht auch dem Weg hin zu einer Demokratischen Zivi-lisation des Mittleren Ostens [bzw. Zivilisation des Demo-kratischen Mittleren Ostens], der seiner historischenTradition, seinen geographischen, ökonomischen und sozia-len Gegebenheiten am meisten angemessen, realistischund klar ist.

Als Resümee lässt sich festhalten, dass die kurdischeFrage längst keine mehr ist, die mit den Ansätzen undMethoden des Nationalismus gelöst werden könnte. Der

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Nationalismus ist ein durch die Französische Revolutionemporgestiegener ideologischer Ansatz der bürgerlichenKlasse, mit dem diese dem Phänomen der Nation und dendamit verbundenen Problemen begegnen wollte. Er hatdamit eine entscheidende ideologische Rolle sowohl in derEntstehung der bourgeoisen Nationalstaaten als auch inder Unterdrückung des Klassenkampfes und der Demo-kratie, im gegenseitigen Niedermachen der Nationen, inethnischen Konflikten und auch in der Kolonialpolitikgespielt. Der chauvinistische Anteil des bürgerlichen Natio-nalismus trug mit dazu bei, dass das 19. und 20. Jahrhun-dert so blutig verlaufen sind. Seine Geburtsstätte Europahat unter den Lektionen dieser Kriege in der zweiten Hälf-te des 20. Jahrhunderts den Nationalismus in den Hinter-grund gestellt und im politischen System die Kriterien derDemokratie zur Grundlage genommen. Das demokrati-sche System hat seine Überlegenheit gegenüber allen ande-ren politischen Systemen, einschließlich des realsozialisti-schen, unter Beweis gestellt und ist mit demZusammenbruch des Realsozialismus gegen Ende des 20.Jahrhunderts zum einzigen akzeptablen System der Weltgeworden.

In der kurdischen Frage haben sowohl der Nationalis-mus der herrschenden Nation als auch der lokale primiti-ve Nationalismus (unter den Kurden, Anm.) nichts ande-res erreichen können, als die Unfähigkeit zu vertiefen, eineLösung zu finden. Die jeweiligen Länder sind in tiefe Sack-gassen geritten. Auf diesem Ansatz zu beharren, heißt, Kri-sen, Aufstand, Repression und Massaker zu verschärfen.Beide Formen des Nationalismus stehen im Widerspruch

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zum Entwicklungsstand der zeitgenössischen demokrati-schen Zivilisation und sind zu reaktionären Ideologien ausdem 19. Jahrhundert geworden. Diese Tatsache zeigt, dassfür die kurdische Frage die Kriterien der zeitgenössischendemokratischen Zivilisation zum Maßstab werden müssen.Die Kurden mit ihrer Brückenfunktion zwischen den dreigroßen Nationen des Mittleren Ostens sind aufgrund ihrergeographischen, geschichtlichen und gesellschaftlichenLage in dieser neuen Phase der Geschichte die Subjekteeiner grundlegenden demokratischen Kraft. Sie sind Sub-jekte eines Kampfes, der sowohl ihre eigene Befreiungbewirken als auch die Nachbarvölker in den Prozess einerdemokratischen Lösung einbinden kann. Der Kampf umDemokratie, den sie in jedem Teil gewinnen werden, ohnesich in blutige Grenzkämpfe zu verstricken, ist die funda-mentalste Absicherung für den Erfolg, eine wirkliche Ein-heit, Geschwisterlichkeit und Freiheit der Völker des Mitt-leren Ostens herzustellen.

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Vom sumerischen Priesterstaat zur Volksrepublik

Erläuternde Bemerkungen zum Buch

Einige Worte zur Herangehensweise an die Eingaben desVorsitzenden der PKK, Abdullah Öcalan, an den Europäi-schen Menschenrechtsgerichtshof

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Erläuternde Bemerkungen

Die Entwicklung der menschlichen Zivilisation durch dieGeschichte folgt keiner geraden Linie und geriet auf-

grund der rückständigen und engstirnig auf Profit aufge-bauten Herangehensweise der jeweils herrschenden aus-beuterischen Kräfte zu bestimmten Zeiten ins Stocken. Umdie Entwicklung zu stören, wurde auch erbarmungsloseGewalt angewendet. In diesen Phasen waren soziale Pro-bleme zur Ausweglosigkeit verdammt. Reiche und viel-versprechende Perioden waren dagegen Renaissance-Bewe-gungen, die prophetische Aufbrüche, und Revolutionen,die eine Neugeburt bedeuteten. Beginnend mit den sume-rischen Priestern, die die Klassengesellschaft und die Zivi-lisation einleiteten, bis zu den heutigen Tagen, in denendie demokratische Zivilisation begonnen hat, trifft das aufunsere Welt zu. Unsere Welt war Schauplatz für vielegewalttätige, politische und militärische Kämpfe, für Zer-störung und Siege, für versklavende mythologische undreligiöse Dogmen sowie für befreiende philosophische undwissenschaftliche Entwicklungen. Und der Strom der Zivi-lisation fließt weiter auf die universelle Freiheit zu.

Der gegenwärtige Prozess, den wir am Ende des 20. undzu Beginn des 21. Jahrhunderts durchleben, ähnelt starkder Periode, in der sich die Menschheit gegen Ende derrömischen Sklavenhalterära mit ihrem extremen Konser-vativismus und ihrer Rückständigkeit auf eine neue Zivili-sationsstufe vorbereitete. Ebenso ähnelt sie dem Ende desMittelalters, in dem der Feudalismus die Menschheit mitdespotischer Rückständigkeit unterdrückte und zu tieferFinsternis und Unwissenheit verdammte, und dem Beginnder europäischen Renaissance. Auch wenn die Zivilisation

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Erläuternde Bemerkungen

Europas in vielerlei Hinsicht Einfluss auf die Entwicklungder Menschheit ausgeübt hat, so zeigt sich doch bei derBetrachtung der Kriege, der schweren sozialen Problemeund der Umweltzerstörung des 20. Jahrhunderts – odermit anderen Worten: der Unfähigkeit, Maßnahmen gegendie negativen Erscheinungen der wissenschaftlich-techni-schen Entwicklung zu treffen – dass diese Zivilisation insStocken geraten ist und mit Ausweglosigkeit konfrontiertist. Als Beleg für diese Tatsache reicht allein die blutige Pra-xis des vor dem zweiten Weltkrieg entwickelten Faschismus.Die Zivilisation Europas ist veraltet und verbraucht. Sie erlebteine sich kontinuierlich vertiefende Krise. Aus den praktischenEntwicklungen der letzten zehn Jahre, insbesondere aus denjüngsten Selbstmordanschlägen [11. September 2001, A..d.Ü.], lässt sich ablesen, dass die Politik des wurzellosen undmaßlosen Kindes namens USA mit seinem lächerlichen Lei-tungsanspruch, der Welt eine Ordnung nach ihrem eige-nen Bilde zu verpassen, gescheitert ist - oder, falls das alsübertriebene Sichtweise erscheinen sollte, zumindest dochsolch eine Ordnung die Menschheit nicht gerade zu zivili-satorischem Fortschritt zu führen vermag. Dass der Real-sozialismus, der mit dem Anspruch, eine Alternative zumKapitalismus darzustellen, die Revolution auf der Welt ver-breiten wollte und in breiten Teilen der Welt an der Machtwar, ebenso keine Alternative bieten konnte, zeigte sich anseinem Zusammenbruch, der letztendlich durch den Auf-stand der Werktätigen verursacht wurde, die er eigentlichzu vertreten beanspruchte. Somit hat auch der Realsozia-lismus seine Chance verspielt. Momentan befinden wir unsin einer typischen Übergangsphase.

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Erläuternde Bemerkungen

„Es ist angemessen, diese Übergangsphase, in der sichdie Krise des alten Zivilisationssystems kontinuierlich ver-tieft und sich kein neuer zivilisatorischer Aufbruch abzeich-net, als ‚Zeitalter der demokratischen Zivilisation‘ zubezeichnen. Dass am Ende des 20. Jahrhunderts die demo-kratische Regierungsform als ‚Regime der Einigung‘ an dieHerrschaft gelangt ist, ist kein willkürlicher Zufall, son-dern Resultat der bestehenden Bedingungen. An der Ent-stehung dieser Situation haben die faschistische Alterna-tive des Kapitalismus sowie der Totalitarismus desRealsozialismus prägenden Anteil.“ (Abdullah Öcalan)

In dieser Übergangsperiode besteht in der Menschheit eingroßes Bedürfnis nach einem prophetischen Aufbruch undeiner neuen Renaissance. Die Eingaben von AbdullahÖcalan zeichnen einen solchen Aufbruch. Die Grundlagendafür basieren auf einer mentalen Revolution. Die Einga-ben besitzen in Inhalt und Herangehensweise die Qualitäteines Manifestes, mit dem das Programm eines neuen Zeit-alters hervorgebracht wird. Aus diesem Grund hat dieVI. Nationale Konferenz der PKK im Herbst 2001 den Ein-gaben ihres Vorsitzenden den Namen „Manifest der Demo-kratischen Zivilisation“ gegeben. Herr Öcalan hat damitseine Suche, die er im Alter von sieben Jahren begann, ineine mentale Revolution auf der Grundlage einer umfas-senden Zivilisations- und Geschichtsanalyse verwandelt,indem er die Haltung, nicht in der feudalen und kapitali-stischen Zivilisation dahinsiechen zu wollen, weiterent-wickelt und mit einem stärker wissenschaftlich geprägtenAnspruch versehen hat. Es ist keine Übertreibung, dieses

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Erläuternde Bemerkungen

Werk als Beginn einer Renaissance des Mittleren Ostenszu definieren, als Neubelebung der Zivilisation, die in Ver-dummung zu ersticken droht und sich mit Dogmen belegtdurch die Finsternis schleppt.

Die Frage nach der Herangehensweise an die Eingabenmuss unbedingt sorgfältig beantwortet werden. Die Ant-wort auf diese Frage ist von strategischer Bedeutung für dieZukunft. Diese Bedeutung steht in Zusammenhang mitdem inhaltlichen und historischen Wert der Eingaben. Ohnebegriffen zu haben, was damit dokumentiert, analysiertund gelöst wird, und welche Perspektiven sie bietet, kön-nen auch die Verantwortung und die Aufgaben, die damitübertragen werden, nicht erfüllt werden. In diesem Sinnemüssen die Eingaben vor allem als historische Mission undals Manifest der Demokratischen Zivilisation betrachtetwerden, damit die Herangehensweise daran ausgerichtetwerden kann.

Sicherlich sind die Eingaben nicht nur ein juristischesDokument für den Europäischen Menschenrechtsgerichts-hof (EGMR). Der juristische Aspekt wird lediglich in einembegrenzten Abschnitt behandelt. In erster Linie handelt essich um eine Analyse der Geschichte und Zivilisationen.Abdullah Öcalan bezeichnet sie als einen Entwurf. Der auf-sehenerregendste Aspekt liegt darin, dass „die Geschich-te der Geschichte neu geschrieben“ wird. Der menschli-che Horizont des Menschen wird durch einen historischenBlickwinkel und eine historische Methodik erweitert. JederMensch der Wissenschaft und des Denkens mit gutenAbsichten wird nicht zögern, sie als großen Beitrag zurGeschichtswissenschaft anzuerkennen.

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Erläuternde Bemerkungen

Bis zum heutigen Tage sind die Geschichte sowie die Dia-lektik Hegels die Erzählung ihrer eigenen Umkehrung. Sieist schon fast nicht mehr als Wissenschaft zu bezeichnen,sondern vielmehr zur Rechtfertigung für die enggefasstennationalen und klassenspezifischen Profite der Oligarchienund Monarchien geworden, zum Mittel der Verschleierungund Verdrehung selbst eindeutiger Tatsachen zum Zweckihrer Heiligsprechung. Diese große Ungerechtigkeit ist fürdie werktätige, die Zivilisation aufbauende Menschheit einezukunftslose Beleidigung. Die Eingaben verdeutlichen vorallem diesen Mangel an Ethik und den Egozentrismus undzeigen den Historikern den Weg zu mutigem und ethi-schem Handeln.

Um die Kurdenpolitik und die Herangehensweise Euro-pas an die Lösung der kurdischen Frage zu verstehen, musszunächst die europäische Zivilisation analysiert werden.Dies erfordert auch eine Analyse aller Entwicklungen inden menschlichen Zivilisationen. Denn die Zivilisation Euro-pas ist nicht einfach so vom Himmel gefallen. Das wirkli-che Europa ist das genaue Gegenteil von Egozentrismus.Und dennoch ist bis heute versucht worden, mit Verdre-hungen und Betrügereien die europäische Zivilisation alslediglich von den Europäern erschaffen darzustellen. Ohnedie Berichtigung dieser falschen Auffassung und ohne dieGrundsteine der Geschichte an ihrem wirklichen Ort lie-gen zu lassen, wird es nicht möglich sein, die europäischeZivilisation zu analysieren und eine Alternative dazu her-vorzubringen.

Herr Öcalan hat unter schwersten Bedingungen und imRahmen seiner Eingabe eine schwierige und wichtige Arbeit

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Erläuternde Bemerkungen

vollendet, und dies mit einem Talent, das verwundertesStaunen auslöst. Er selbst sagt dazu:

„Es war die Zivilisation Europas, die mein Schicksal fest-legte. Die Rolle, die bestimmte europäische Staaten derTürkei zugemessen haben, ist hinterhältig und lässt sich mitder Redewendung „Sag zum Hasen: Lauf weg, und zumWindhund: Fass!“ beschreiben. Es ist bekannt, dass sie dieKurden schon vor langer Zeit in die Lage des Hasengebracht haben. Die Hauptaussage meiner Eingaben betrifftdie große Ungerechtigkeit und Hinterhältigkeit Europaszum Thema Kurden und Kurdinnen. Meine Haltung dazuist nicht emotional. Um das zu beweisen, habe ich es fürnotwendig erachtet, eine schwierige Arbeit zu vollenden,die von einer wissenschaftlichen Definition der mensch-lichen Gesellschaft bis zur Analyse der Zivilisationsge-schichte reicht.“

Die Analyse der Zivilisation Europas ist von großer Bedeu-tung. Gleichzeitig ist sie mit Sicherheit nicht ausreichendfür einen neuen Aufbruch. Wer einen neuen Aufbruch will,muss notwendigerweise auch eine historische Abrechnungmit der eigenen Zivilisation vollziehen. Die Eingaben vonHerrn Öcalan enthalten deshalb auch eine fundierte Bilanzder Zivilisation des Mittleren Ostens. Er sagt:

„Nicht ich bin es, der angesichts der Zivilisation Euro-pas in einen Zustand der Würdelosigkeit geraten ist, es istdie Zivilisation des Mittleren Ostens. Ich habe versucht,mit einer Analyse der historischen und aktuellen Wirk-lichkeit des Mittleren Ostens, der sprichwörtlich in sei-

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Erläuternde Bemerkungen

nem Grabe liegt und umringt ist von nichts als lächerli-chen Zwergen, einen neuen Aufbruch in Gang zu setzen.“

Damit legt er Grund und Ziel dieser Bilanz fest, mit derein neuer Aufbruch angestrebt wird. In diesem Sinne ist eseine dringende Aufgabe, ein tiefgreifendes und richtigesVerständnis von Zivilisation zu erlangen, den in den Ein-gaben aufgezeigten Rahmen zu begreifen, mit zusätzli-chen Forschungen und Untersuchungen zu bereichern undfortzuführen, sowie diese Erkenntnisse der gesamtenMenschheit und insbesondere dem kurdischen Volk zukom-men zu lassen.

Wer sich selbst nicht analysıeren und begreifen kann,hat nicht das Recht, von anderen irgendetwas zu erwarten.Und trotzdem suchen heute die Menschen aus dem Mitt-leren Osten und allen anderen Gesellschaften der Welt,deren Wurzeln außerhalb Europas liegen, den Aufbruchoder die Zivilisierung, indem sie sich von ihren Wurzelnlösen und mit einer imitierten Mentalität in Europa ein-nisten oder auf einen blinden Dogmatismus versteifen, derschon in der sumerischen Mythologie zur Geltung kam.Während die ersten zu Knechten werden, können sich dienächsten nicht vor einer unzeitgemäßen Situation retten.Beide folgen einer Logik, die Bankrott ging. Aufbruch undEntwicklung sind weder in der Anbiederung noch in dertotalen Ablehnung der europäischen Zivilisation und demAngriff auf sie zu finden. Der Aufbruch liegt in der Anti-these Europas, über die mit der Entwicklung der Zivilisati-on eine neue Synthese geschaffen wird; in der Entwick-lung des entsprechenden Verständnisses und der Mentalität.

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Erläuternde Bemerkungen

Der Vorsitzende der PKK, Abdullah Öcalan, bringt seineHaltung dazu in den Eingaben folgendermaßen zur Spra-che:

„Es gibt weder eine politische noch eine ethische Vari-ante, die das akzeptieren könnte. Die Antwort, die ichselbst darauf gefunden habe, ist mein Freiheitsmarsch.“

Aufgrund der Gesetzmäßigkeit in der Zivilisationsent-wicklung und aus verschiedenen weiteren Gründen kanndie europäische Zivilisation nicht ihre eigene Antithese dar-stellen. Der Realsozialismus dagegen hat seine Chance ver-tan. Der Mittlere Osten ist durch verschiedene Faktorenzur Antithese geworden: Trotz der momentan bestehendenDemokratisierungsprobleme und der Tatsache, dass derMittlere Osten die Nachhut bildet in dieser Entwicklungs-phase, obwohl aus ihm einst die Zivilisation hervorgegan-gen ist, birgt er trotzdem eine Kampfdynamik in sich. ImMittleren Osten hat jetzt in Form der Eingaben eine Explo-sion des in den letzten 25 Jahren über den Vorsitzenden derPartei und die PKK angesammelten geistigen und prakti-schen Potentials stattgefunden. Die Entwicklungen ver-laufen in diese Richtung. Aus der Synthese, der Verbin-dung von These und Antithese, werden die Renaissancedes Mittleren Ostens und eine demokratische Zivilisationentstehen. Viele Elemente der demokratischen Zivilisationhaben die Chance, innerhalb der Zivilisation Europas gebo-ren und entwickelt zu werden. Jedoch wird es nur mit derRenaissance des Mittleren Ostens möglich sein, dass die-se Elemente die Überhand gewinnen.

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Erläuternde Bemerkungen

Die demokratische Zivilisation oder die Renaissance desMittleren Ostens werden sich nicht von selbst oder als einehistorische Notwendigkeit entwickeln. Die Existenz einerobjektiven Grundlage bedeutet nicht zwangsläufig, dasseine Entwicklung stattfinden wird. Dafür sind Bewegun-gen und Völker nötig, die die Vorhut bilden, die Entwick-lungsrichtung begriffen haben, den Kampf dafür in allenLebensbereichen führen und sich dafür verantwortlichfühlen. Wenn die Renaissance eine Wiedergeburt und Auf-klärungsbewegung darstellt, dann sind für ihren ErfolgBewusstsein und Organisiertheit unabdingbar. In derGeschichte kam es häufig vor, dass sich eine Renaissanceoder ein zivilisatorischer Aufbruch nicht entwickelt haben,weil trotz günstiger objektiver Grundlagen die führendenBewegungen und die organisierten Bemühungen nicht aus-reichten oder vernichtet wurden. Mani [Der Kurde Mani warim 3. Jhdt. u. Z. Begründer des Manichäismus, einer Reli-gion als Ergebnis einer Verbindung der Gedanken Zara-thustras mit denen von Jesus und Buddha] ist dafür einhervorstechendes Beispiel. Der Gedanke der Synthese, denMani im Mittleren Osten entwickelt hatte, stand dereuropäischen Renaissance in nichts nach; sie waren gleich-wertig. Wenn Mani nicht von den Kartirern gefangengenommen und vernichtet worden wäre, hätte sich dieRenaissance vielleicht nicht in Europa, sondern im Mittle-ren Osten entwickelt. Der Tod Manis und die Ausrottungdes Manichäismus waren eine Chance für Europa.

Dass der Mittlere Osten heute für einen Aufbruch in diedemokratische Zivilisation die vorteilhafteste Region dar-stellt, reicht allein nicht für ihre Umsetzung aus. Deshalb

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Erläuternde Bemerkungen

müssen sich die Völker des Mittleren Ostens und ihre poli-tischen Führungen eine dementsprechende Rolle aneig-nen. Sie müssen sich ins Gedächtnis rufen, dass darin diehistorische Mission besteht und im aktuellen sowie im lang-fristigen Kampf für eine demokratische Zivilisation die Vor-hut bilden. Wahrscheinlich gibt es keine schönere und wir-kungsvollere Antwort auf die Frage, wie man sich denEingaben annähern sollte. Natürlich erfordert das vor allemeine starke Konzentration auf das Thema, wie die demo-kratische Zivilisation im Mittleren Osten entwickelt wer-den kann, und damit einhergehend eine philosophische,ideologische, politische und organisatorische Vorbereitungauf hohem Niveau. Die Ausrüstung dafür liefern die Ein-gaben, die Herr Öcalan als seine „raffinerierten Gedan-ken“ bezeichnet.

Die Eingaben bringen auch Klarheit darüber, warum derMittlere Osten heute soweit zurückgeblieben ist, obwohler insbesondere im neolithischen Zeitalter [Jungsteinzeit] dieWiege der Menschheit und Zivilisation darstellte. Bis zum11. Jahrhundert bildete der Mittlere Osten die Vorhut in denBereichen Wissenschaft, Philosophie, Kultur und Kunst.Warum wurde er später nicht zum Ort der Entwicklungsondern der Rückständigkeit, nicht der Aufklärung son-dern der Verwilderung, nicht der Befreiung sondern derVersklavung? Diese Situation hängt damit zusammen, dassder Mittlere Osten in der geistigen Entwicklung der Mensch-heit nicht den Übergang schaffte von den Revolutionendes mythologischen Entwurfes und der religiösen Gedan-ken zur Evolution der Philosophie und des wissenschaft-lichen Denkens. Das hat etwas mit Dogmatismus zu tun.

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Erläuternde Bemerkungen

Europa wurde zum Ort der neuen Zivilisation, weil dort derÜbergang auf dem Weg einer Synthese erfolgreich vollzo-gen wurde. Auch heute ist die Mauer des Dogmatismusdas Hindernis, das im Mittleren Osten vor jeder Art vonZivilisationsentwicklung und demokratischer Entwicklungsteht. Es ist unbestritten, dass der Reichtum des histori-schen Potentials im Mittleren Osten mit keiner anderenRegion vergleichbar ist. Selbst das Christentum, das Euro-pa aus der Barbarei in die Zivilisation führte, ist eine Ent-wicklung des Mittleren Ostens. Die Europäer haben dieZivilisation, die Wissenschaft, die Kunst und die Philoso-phie aus dem Mittleren Osten geholt. Der Erfolg Europasresultiert aus der Verinnerlichung der Synthese durch dieGriechen und Römer. Der Philosophie und dem Denkenwurde der Weg geebnet. Ihre Überlegenheit haben dieEuropäer an diesem Punkt erreicht.

Als in Europa die Reformierung des Christentums dieRenaissance ermöglichte, wurde im Mittleren Osten durchden täglich härter werdenden Dogmatismus des Islams dieFinsternis immer erdrückender. In Europa entwickelten sichPhilosophie und Individuum, das Individuum gewann eineneigenen Willen, und damit einhergehend brachen dieMuster des Dogmatismus auseinander. Die europäischeRenaissance ist von dieser individuellen Entwicklunggeprägt. Auch wenn die Individualität später einen so extre-men Grad erreicht hat, dass damit die soziale Gesellschaftbedroht wird, handelt es sich um eine der größten Revo-lutionen der Menschheitsgeschichte, dass das Individuumdamals so stark an Willen und Eigeninitiative gewinnenkonnte. Im Mittleren Osten dagegen wurde den Menschen

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Erläuternde Bemerkungen

mit Gewalt und Demagogie nach dem mythologischenGedanken die absolute Herrschaft der Religion eingeimpft,die Gott-König-Kultur und später die Macht der Traditiondes Herrschers als irdischem Schatten Allahs. Die religiösenDogmen wurden unter dem Etikett der „Hand Gottes“oder der „göttlichen Verfügung“ mit einem Lack der Heilig-keit versehen und damit in den Gesellschaften des Mittle-ren Ostens das Individuum und der freie Wille vernichtet.Aufgrund dieser Rolle wird der Dogmatismus in den Ein-gaben gründlich analysiert:

„In den östlichen Gesellschaften ist die Lebensgrundla-ge des Individuums seit der Ordnung der sumerischen Prie-ster kontinuierlich verkümmert. Wie ein Individuum lebenund denken soll, ist vor Tausenden von Jahren festgelegtund als Schicksal präsentiert worden. Das wiederum stütztsich auf die Auffassung, dass die feste Ordnung des Him-mels im wesentlichen der Ordnung auf der Erde entspricht.Die mythologische und religiöse Denkweise hat zuneh-mend dieses System perfektioniert. Ausgehend von denBedingungen der ersten Sklavenhaltergesellschaft wurdedas Individuum so stark an das System gebunden, das esnicht einmal einen Anspruch auf den eigenen Schattengeltend machen konnte. Damit wurde der Individualitätvon Anfang an ein radikaler Schlag versetzt. Die Mission,den Menschen jegliche Persönlichkeit zu nehmen, begannin der sumerischen Mythologie und wurde in den mono-theistischen Religionen an noch striktere Glaubensregelngebunden. Jedes kreative und konstruktive Denken undFühlen des Individuums zu irgendeinem Thema wird als

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Erläuternde Bemerkungen

Sünde abgestempelt und bedeutet gesellschaftliche Dis-kriminierung. Ein Individuum, das nicht die notwendigeKraft dagegen aufbringt, kapituliert sofort vor dem herr-schenden Gedanken. Es breitet sich ein Despotismus aus,dessen Herrschaft erleichtert wird, indem allen östlichenIndividuen eine Schicksalsergebenheit eingepflanzt wird.“

Aus diesem Grund ist der Mensch des Mittleren Ostensintrovertiert. Er traut seinen eigenen Gedanken nicht. Erweiß nicht einmal, ob es eine solche Fähigkeit tatsächlichgibt. Er nimmt nur das an, was ihm vorgesetzt wird. Es istzu einem scheinbar natürlichen Verlauf geworden, dass dasSystem dermaßen an Stärke gewinnt und das Individuumso sehr an Kraft verliert. Das ist eben Schicksal.

In den östlichen Gesellschaften hat das Individuum aufdie offizielle Ideologie mit Mystizismus und Sektierertumreagiert oder geantwortet. Allerdings ist bekannt, dass die-se Gruppen niemals eine Alternative zum System darstel-len konnten. Nachdem einmal die Rede vom Wort Gotteswar, was kann da noch die Bedeutung des unabhängigenDenkens sein? Das freie Denken zu wagen, bedeutet, sichgegen Gott zu stellen. Nichts kann wahrer sein als das WortGottes. Das östliche Individuum hat keine eigenen Gedan-ken. Alles steht in den Büchern geschrieben. Am meistengebildet ist die Persönlichkeit, die am meisten auswendiglernt. Mystische Kommentare werden als Ketzerei beschul-digt.

Mit Sicherheit stehen also die Menschen als Individuender Gesellschaft des Mittleren Ostens in verschiedener Formund zu einem unterschiedlichen Grad unter dem Einfluss

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Erläuternde Bemerkungen

dieses tiefverwurzelten Dogmatismus. Es hat sich auchgezeigt, dass sogar der Realsozialismus, den ein Teil derMenschen für ihre Rettung hielten, keine weitere Bedeu-tung hatte als eine andere Version des Dogmatismus. Esist Fakt, dass diese Menschen in dieser neuen Zeitphaseernsthafte, aus dem Dogmatismus resultierende Problemedamit haben, die veränderte Strategie und Organisations-linie der PKK zu verstehen und zu verinnerlichen. Aus die-sem Grund sind die Menschen immer noch mit dem grund-legenden Problem konfrontiert, die Muster desDogmatismus zu brechen und zu überwinden. Dieses Pro-blem kann am ehesten gelöst werden, wenn es gelingt, alsIndividuen zu existieren. Solange die Menschen keine freidenkenden, forschenden, untersuchenden und erschaf-fenden Individuen sind, werden sie sich vor dem Dogma-tismus nicht retten können. Die Eingaben zeigen den Weg,den Dogmatismus zu überwinden und zu freien Individu-en zu werden. Und sie zeigen auf, dass dieser Weg einementale Revolution bedeutet. Kurz gesagt existiert ein men-tales Problem. Der in den Eingaben häufig vorgebrachteSatz: „Es muss eine mentale Revolution stattfinden“ stehtin Zusammenhang mit unserer eigenen negativen Realität.Beim Bemühen, die Eingaben zu begreifen, muss das Zielsein, eine „individuelle Revolution“, d.h. eine „mentaleRevolution“ zu verwirklichen, die als größte Revolution derMenschheit in der Geschichte gilt.

Dabei ist es wichtig, ein ausgewogenes Gleichgewichtzwischen Gesellschaft und Individuum beizubehalten. Bei-de Faktoren müssen so entwickelt werden, dass sie sichgegenseitig vervollständigen. Eine extreme Individualisie-

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Erläuternde Bemerkungen

rung mit gleichzeitiger Schwächung der Gesellschaft undsozialen Fähigkeiten führt zum verantwortungslosen undprofitgierigen Individuum des Kapitalismus. Eine Schwä-chung des Willens des Individuums und die extremeErhöhung der Gesellschaft bringt dagegen den traditio-nellen Dogmatismus hervor, in dem das Individuum aus-gelöscht wird. Wir sollten nicht vergessen, dass eineGemeinschaft, die sich aus willenlosen und versklavtenIndividuen zusammensetzt, keinen Unterschied zu einerHerde aufweist. Wo das Individuum kein Individuum mehrist, ist auch die Gemeinschaft keine Gemeinschaft. Diedemokratische Zivilisation ist eine Zivilisation, in der sowohlfür das Individuum als auch für die Gemeinschaft Raumbesteht und das eine nicht dem anderen geopfert wird,sondern im Gegenteil eine freie Gesellschaft angestrebtwird, die sich aus freien Individuen zusammensetzt.

Das Manifest der Demokratischen Zivilisation hat auchden Anspruch, das Vakuum zu füllen, das in philosophi-scher Hinsicht entsteht, wenn der Dogmatismus über-wunden wird. Die Praxis des Realsozialismus hat gezeigt,dass der Marxismus, der als Alternative zur bourgeoisenZivilisation gegen das System und für die Werktätigen ent-standen ist, trotz seiner Wissenschaftlichkeit in vielen The-men unzureichend war und sehr begrenzt geblieben ist.Dadurch wurde er zermürbt und geschwächt. Heute mussder Marxismus an den Punkten überwunden werden, andenen er unzureichend war. Diese liegen in der Denkstrukturdes Marxismus, der lediglich eine Periode der Zivilisationanalysiert und bewertet hat: den Kapitalismus, und dabeiam meisten den Mehrwert. Mit dem Zusammenbruch des

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Erläuternde Bemerkungen

Realsozialismus hat die Welt der ArbeiterInnen ein großesMaß an Moral verloren und ist in ein philosophisches Vaku-um geraten.

Die Eingaben des Vorsitzenden der PKK, Herrn A. Öcalan,bringen Klarheit in die seelische und geistige Welt derMenschheit und füllen das Vakuum, das Marx hinterlas-sen hat, durch eine wissenschaftliche Analyse des mytho-logischen Denkens, des religiösen Glaubens und auf die-ser Grundlage des Gott-Begriffes. Zur türkischen Linkenund dem Marxismus sagt Herr Öcalan:

„Beim Marxismus und der türkischen Linken, die sich aufihn stützt, handelt es sich um das revolutionäre Denkenund Handeln eines begrenzten Zeitalters. Der Hauptgrundfür ihre Erfolglosigkeit ist der Kampf gegen den Kapitalis-mus mit einer Persönlichkeit, die eben von diesem geformtwurde und sich in ihrem Wesen nicht vom kapitalistischenSystem gelöst hat. Eine gute Absicht und ein radikaler Anti-Kapitalismus allein reichen nicht aus, um das System zuüberwinden. Die bestehende Persönlichkeit hat nicht dieFähigkeit und die Kraft, das System zu überwinden undzu transformieren, auf das sich der Kapitalismus stützt. Siesind nicht darüber hinaus gekommen, eine etwas weiterentwickelte, mit einer bestimmten wissenschaftlichenGrundlage versehene, zeitgenössische Form der mystischenOrden des alten Zeitalters darzustellen. Sie haben sichnicht davor retten können, lediglich den äußersten linkenZipfel des Kapitalismus zu bilden. Auch der kapitalistischeRevolutionär ist trotz seines Anti-Feudalismus als ein Schös-sling des Feudalismus herangewachsen und hat viele Men-

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Erläuternde Bemerkungen

talitäts- und Geistesmuster von dort erhalten. Die gene-relle Form der Klassengesellschaft hat ihnen allen gemein-same Haupteigenschaften eingeprägt.“

Wie aus dieser Aussage hervorgeht, ist eine Zivilisationein Gesamtsystem. Eine Bewegung kann nur in dem Aus-maß zu einer anderen sozialen Revolution gelangen, indem sie diese Gesamtheit zu fassen bekommt. Dem Real-sozialismus ist es trotz seines Anspruches nicht gelungen,eine solche Qualität zu erreichen.

Zu seiner Beziehung zum Marxismus sagt Herr Öcalanweiterhin:

„Aus meiner Position heraus kann ich sowohl mit deroffiziellen Bourgeoisie als auch mit seiner linken Verlän-gerung lediglich vorübergehende Bündnisse schließen. Eskann nicht erwartet werden, dass diese beiden miteinan-der verschmelzen. Diese Sache ist theoretisch richtig undwird sich auch in der Praxis verwirklichen. Ich halte zumMarxismus und zum Realsozialismus einen Abstand einund begegne auch deren türkischer Version in ähnlicherForm.“

Entsprechend seiner Beziehung zur offiziellen Bourgeoi-sie-Gesellschaft und zum Marxismus, nimmt Herrn Öcalan,der den Anspruch hat, diese zu überwinden, eine ähnlicheHaltung auch zu deren abgenutzter Kopie im MittlerenOsten ein. Er ist auf seinem eigenen Weg marschiert. Dasbedeutet natürlich nicht, dass er nicht von anderen Philo-sophien beeinflusst worden ist. Sein eigener Weg ist eine

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Erläuternde Bemerkungen

Synthese: eine Synthese, die die gesamte Menschheitsge-schichte mit einschließt. Diese Synthese unterscheidet sichvon den Elementen, aus denen sie sich zusammensetzt; siebeinhaltet zwar deren positive Seiten, stellt aber ein ganzneues System, eine ganz neue Philosophie dar.

„Meine Systemsuche übersteigt die aus dem MittlerenOsten hervorgegangene Zivilisation. Dass das westlicheSystem so, wie es ist, nicht annehmbar ist, hängt mit sei-ner Identität zusammen.“

Aus diesem Grund bedarf es der Erneuerung des philo-sophischen Blickwinkels. Um die Begrenztheit auf diesemGebiet zu überwinden, müssen die Eingaben ins Bewusst-sein gerufen werden.

Mit der Verinnerlichung der Eingaben wird es möglich,die Kraft und den Genuss befreiter Gefühle und Gedan-ken zu schmecken. Mit der Philosophie von Herrn Öcalanist der Knoten endlich gelöst; die Brille, die den Menschenschielen und schwarz-weiß sehen lässt, ist weggeworfenworden. Der Dogmatismus mit seiner 5000jährigen gött-lichen Macht ist in eine Position versetzt worden, in der ermitsamt seiner Heiligkeit nur noch als Museumsstück taugt.Wenn der schwarze Vorhang des Dogmatismus zerrissenwird, ist es, als ob alles nach Farben-, Stimmen- und Bedeu-tungsreichtum und Schönheit ruft. Der Mensch, der durchdie Verbote der Götter und Despoten von Land und Den-ken abgehalten worden ist, hat endlich begonnen, er selbstzu sein. So beginnt der neue Humanismus, die Renaissance.Zu ihrer Zeit haben so auch die europäischen Individuen beider Entwicklung ihrer Zivilisation angefangen. Aber es han-

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Erläuternde Bemerkungen

delt sich nicht um eine Imitation, sondern um einen Marschauf den Böden des Mittleren Ostens. Es kann keine Wie-derholung Europas geben. Wie Herr Öcalan sagt: „DasKind von gestern.“ Die Renaissance des Mittleren Ostenswird von den eigenen Wurzeln ausgehen.

Auf der Grundlage einer umfassenden Analyse der ver-schiedenen Zeitalter werden in den Eingaben auch neueGedanken und Feststellungen zu den Themen Ideologie,Politik, Gewalt, Staat, Demokratie, kurdische Realität, PKK,Lösung der kurdischen Frage, neue Kampfstrategie und-taktik hervorgebracht. Die Imrali-Verteidigung, die HerrÖcalan als Botschaft für eine demokratische Lösung undFrieden hervorgebracht hat, um die Atmosphäre zu ent-spannen und ein politisches Lynchen zu verhindern, stelltden Beginn zu diesem Thema dar. Ohnehin sind beide Ver-teidigungen Teile eines Ganzen, die sich gegenseitig ergän-zen. Das Zeitalter wird darin als das der „Demokratie undFreiheit“ bezeichnet. Sich in diesem Zeitalter den nationa-len und sozialen Problemen mit den Köpfen des 19. Jahr-hunderts oder von 1980 anzunähern, ist vergeblich. DieZeit der Revolutionen im klassischen Sinne ist vorbei. Selbstdie radikalste Änderung kann nur noch auf evolutionäremWege verfolgt werden. Das Wesen des demokratischenZeitalters, das eine Übergangsphase darstellt, besteht inder Lösung der Probleme auf demokratischem Wege undschwerpunktmäßig durch Einigung und Verständigung.Diese Zivilisation wird die Aufgabe erfüllen, die der Real-sozialismus plante, aber nicht umsetzen konnte, nämlichden Weg zu ebnen zu einer generellen Befreiung derMenschheit. Selbstverständlich bedeutet dies keine Ent-

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Erläuternde Bemerkungen

fernung von der Utopie von Freiheit und Gleichheit ent-sprechend der Formulierung „jeder nach seinen Fähigkei-ten und Bedürfnissen“; im Gegenteil wird diese Utopieunter Beachtung der Erfahrungen aus der Vergangenheitals Ziel in eine realistischere Form gebracht. Aus dieser ideo-logischen Herangehensweise als langfristigem Ziel bestehtder Kern der Eingaben. Je mehr davon begriffen wird, destoeindeutiger wird dieser Kern hervortreten und sowohl eineRichtung weisen als auch Moral geben.

In den Eingaben werden beginnend mit ihrem Titel („Vomsumerischen Priesterstaat zur Volksrepublik“) insbeson-dere auch der Staat als Zwangsmittel und Gewalt als Kampf-mittel ausführlich analysiert. Herr Öcalan hat wichtige Grün-de dafür, seine ideologische Herangehensweise und seinetiefgreifende Analyse zum Thema Staat hervorzubringen.Der Staat ist bis heute nicht ausreichend analysiert wordenund hat unter ständiger Heiligsprechung mit dem bei sei-ner ersten Gründung vorherrschenden Geist die Gegen-wart erreicht. Die Haltung gegenüber dem Staat ist einesder Hauptkriterien für die demokratische Zivilisation. Essind die Irrtümer über den Staat, die grundlegend dazu bei-getragen haben, dass so viele SozialistInnen und Revolu-tionärInnen aus ihren heldenhaften Kämpfen keine aus-reichenden Ergebnisse erzielen konnten und ihre Arbeit zueinem großen Teil ins Leere lief. Auch die Staatsanalyse desMarxismus, der die wissenschaftlichste Strömung darstellt,ist eng und oberflächlich. Auch für den Zusammenbruchdes Realsozialismus ist einer der Hauptgründe der Irrtumbeim Thema Staat. Deshalb muss das Thema Staat nochausführlicher behandelt werden. Insbesondere die große

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Erläuternde Bemerkungen

wissenschaftlich-technische Revolution im 20. Jahrhundert,die Bereitstellung der an die mechanische Technikangehängten elektronischen und nuklearen Technik fürden Dienst in der Gesellschaft hat das traditionelle Gleich-gewicht umgeworfen. Diese Situation erfordert zwangs-läufig große Veränderungen auf den Gebieten Staat, Poli-tik und Militär. Zweifellos handelt es sich nicht um das„Ende der Geschichte“, wie es von bürgerlichen Professo-ren oder Ideologen angebracht worden ist. Aber es ist einerealistische Herangehensweise, vom Ende der Besonder-heiten zu sprechen, die auf dem Klassencharakter der Zivi-lisation aufbauen. Wenn die Geschichte, so wie Marx sag-te, aus Klassenkämpfen besteht, dann bekommt derAusspruch vom Ende der Geschichte in diesem Sinne eineBedeutung. Denn mit der wissenschaftlich-technischenRevolution ist die klassische Klassenstruktur überwundenworden. Zunehmend in den Vordergrund getreten sind diesozialen Strukturen auf der Basis von Arbeit und Beruf.

Der Staat als konzentrierte und institutionalisierte Poli-tik ist eine Erfindung und ein Mittel des Sklavenhalter-Zeit-alters. Die marxistische Soziologie hat den Staat überwie-gend auf der Basis des Kapitalismus analysiert und damiteine verhängnisvolle Unzulänglichkeit eingeleitet. Es warendie sumerischen Priester, die das erste Prinzip und die ersteForm von Staat festgelegt haben. Irgendeine Grundlagegab es dabei nicht. Der Staat als Mittel für brutalste Klas-senausbeutung stützte sich auf mythologisches Denken,das sogar hinter der religiösen Ideologie zurückblieb. Nachden priesterlichen Beobachtungen war der Staat Beispielfür die stabile Himmelsordnung. So wie die Götter den

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Erläuternde Bemerkungen

Himmel regierten, musste der Staat den Erdboden regie-ren. So wie die Führung der Götter heilig war, galt das glei-che auch für die Staatsführung. Die Idee, dass der Staatheilig sei, hat sich vom mythologischen Glauben der sume-rischen Priester ausgehend bis heute gehalten und ist einegefährliche Ansicht, die über Repression die alte Ausbeu-tung bewahrt. Immer ist versucht worden, den Staat zubewahren, indem er mit einer gewissen Heiligkeit belegtworden ist. Dies wird aufgrund der Wichtigkeit getan, dieer für die herrschenden und ausbeuterischen Klassen hat.Der Staat im Kapitalismus ist ein Produkt der sumerischenPriester. Viele Kräfte, die bei der Sowjet-Revolution davonüberzeugt waren, es sei ein Staat der Werktätigen gegrün-det worden, verstanden hinterher, dass man sich nicht davorhatte retten können, sich eben diesem Priesterstaat aus-zuliefern. Es ist kein Zufall, dass die Staaten nach sowjeti-scher Weise am stärksten der Art und Weise der sumeri-schen und ägyptischen Priester ähnelten. Was dierealsozialistischen Revolutionen umsetzten, war dasHerunterreißen der überflüssigen Kleider, die dem Staatseit den Sumerern angelegt worden waren, sowie das Zer-stören seiner Organe. Aber dass die Idee vom heiligen Staat,der als „Diktatur des Proletariats“ präsentiert wurde, unddessen Hauptkerne Druck und Zwangsarbeit waren, kei-ne weitere Bedeutung als Selbstbetrug hatte, wurde erstsehr spät begriffen.

In der Analyse des Staates erklärt Herr Öcalan auch deut-lich seine Herangehensweise an dieses Werkzeug:

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Erläuternde Bemerkungen

„Die Diktatur des Proletariats kann in der Bedeutungdes Wortes die Beziehung zu den Werktätigen sein. AlleDiktaturen haben einen Bezug zur Ausbeutung. Selbst dieeintägige Dauer einer Diktatur bedeutet, Mittel der Aus-beutung zu sein. Es war der Irrtum im Bereich Staat undDiktatur, der den Sowjet-Sozialismus zerstört hat. Dieunterdrückten Arbeiterklassen und damit die Gesellschafthaben niemals Bedarf nach dem Mittel Staat. Denn die-ses Mittel führt die Klassenbildung fort. Sein Existenzgrundist die Klassengesellschaft.“

Solange die Klassengesellschaft andauert, kann nichtohne Staat gelebt werden. In dieser Situation ohne denStaat auskommen zu wollen, würde bedeuten, ins Stein-zeitalter zurückzukehren oder anarchistisch zu sein. Aberes sollte auch bekannt sein, dass es die Technik war, diedie Klassenbildung hervorgebracht hat, und es wiederumdie Technik auf einem bestimmten Entwicklungsniveau seinwird, die diese überwindet. Es ist vorauszusehen, dass diesozialen, politischen und militärischen Resultate der zwei-ten großen wissenschaftlich-technischen Revolution des20. Jahrhunderts größer und anhaltender sein werden. Die-se Ergebnisse treten erst jetzt hervor. Das erste dieser Ergeb-nisse ist die Auflösung der Blöcke und damit der Sowjets.Das zweite ist der Verlust der früheren Bedeutung der Natio-nalstaaten. Ohnehin haben die Klassen ihre Bedeutung zueinem großen Teil verloren. Dabei spielt die außerordent-liche Revolution der Kommunikationstechnologie eine Rol-le. Allein das Internet ist ein revolutionäres Phänomen.Ohne der Rechnung die wirtschaftlichen, sozialen, politi-schen und militärischen Ergebnisse der im Bereich mecha-

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nischer, elektronischer und nuklearer Technik stattgefun-denen Revolution hinzuzufügen, kann keine theoretischeAnalyse die aktuelle Zeitphase richtig bewerten. Diese The-men müssen ausführlich diskutiert werden und erfordernKritik und Selbstkritik. Ein wichtiger Grund für die auftre-tenden ideologischen Krisen ist das schwache Niveau dar-auf ausgerichteter Untersuchungen, Forschungen und Aus-wertungen. Mit den Eingaben wird angestrebt, dieseSchwäche zu überwinden. Zweifellos werden sie jeden,den es betrifft, dazu anregen.

Der Vorsitzende der PKK, Herr Öcalan bringt seine Hal-tung zum Werkzeug Staat folgendermaßen zum Ausdruck:

„Meine Auffassung von Menschlichkeit lässt außer demVerständnis von und den Mitteln der gezwungenermaßenerfolgenden Selbstverteidigung kein Gewaltmittel und kei-nen Staat zu. Ich werde niemals etwas mit dem MittelStaat (als klassisches Klassenherrschaftsmittel) gegen dieMenschen und die Gesellschaft zu tun haben. Dem klas-sischen Staat und seiner Regierungsform räume ich in mei-nem Verständnis und meiner Praxis keinen Platz ein. Ichfalle nicht auf die Verirrung Realsozialismus herein. Es istein Irrtum, den Staat mit einer Gegenmacht zu zerstörenund an seiner Stelle einen neuen aufbauen zu wollen.Stattdessen setze ich auf eine Führung ziviler Einheiten,deren Aufgabe die allgemeine Koordination der Gesell-schaft mit technischen Regelungen ist, ohne physischeoder bewaffnete Gewalt anzuwenden.“

Diese Herangehensweise bedeutet die Überwindung derAuffassung von der Diktatur des Proletariats, die im Mar-

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Erläuternde Bemerkungen

xismus für die Zeit des Übergangs in die staatenlose Zeit-phase vorgesehen ist. Es handelt sich dabei ebenso um einPrinzip, das aus den historischen Erfahrungen mit Staat undZwang hervorgeht, um eine Form, die die wissenschaft-lich-technische Revolution zunehmend möglich macht. Dieklassenlose Gesellschaft wird nicht mit einer Diktatur desProletariats, sondern über die schrittweise Schwächungund Umformung des Staates in ein Koordinationsmittelund stattdessen die Stärkung der Initiative der Zivilgesell-schaft erreicht werden. Dafür gibt es noch keine existie-renden konkreten Formen oder Beispiele. Aber es ist eineTatsache, dass demokratische Normen eine zunehmendeEntwicklung zeigen, die wissenschaftlich-technische Revo-lution diese beschleunigt und in der Problemlösung damitbegonnen worden ist, die Gewalt aufzugeben und zu einerEinigungskultur mit friedlichen Methoden zu kommen. Die-se Entwicklungen werden eine solche Regierungsformzunehmend möglich machen. Die Vorstellung von „Koor-dination“ stützt sich ohnehin auf eine solche Voraussicht.Wenn immer noch in uns und in unserer Umgebung derGedanke vorherrscht, dass die Regierungsweise der klas-sischen Staatsauffassung – und sogar die Widerspiegelungdes Originals, angelehnt an die Logik der sumerischen Prie-ster – die beste ist, dann sind die Eingaben eine lehrreicheQuelle, um zu einer demokratischen Regierungsauffassungzu gelangen.

In der Verteidigungsschrift wird auch die Gewalttheoriekomplett erneuert. Die Rolle von Gewalt bei der Lösungsozialer Probleme und zivilisatorischen Entwicklungen isthäufig übertrieben worden. Es ist immer gesagt worden,

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Erläuternde Bemerkungen

dass die Gewalt die Hebamme jeder neugeborenen Gesell-schaft ist. Diese Feststellung, die schon Marx betont hat,ist im wesentlichen richtig. Die Rolle einer Hebamme istes, der Mutter zu einer weniger schmerzhaften und leich-teren Geburt zu verhelfen. Sie hat die Rolle einer Helferin.Aber in der Gesellschaft ist die Gewalt viel zu oft dieserRolle enthoben worden und hat nicht mehr für eine Ver-minderung sondern für eine Vermehrung der Schmerzenund zu Toten geführt. Da die Gewalt ein Mittel ist, dasjeden Moment ausarten kann, hat sie keine konstruktiveWirkung mehr auf Mensch und Gesellschaft ausgeübt, son-dern eine destruktive Rolle eingenommen. Darüber hinausist es auch nicht möglich, eine Gesellschaft mit Zwang dahinzu bringen, ein System anzunehmen, das sie nicht verin-nerlicht hat. Selbst wenn sie mit Repression und Angstgebeugt wird, so ist das nur vorübergehend und leitet inKürze Aufstände, Krisen und Kämpfe ein. Eine positiveFunktion kann Gewalt dagegen in Gesellschaften haben,die darauf ideologisch vorbereitet sind. Deshalb ist es not-wendig, Gewalt nicht als ein grundlegendes Mittel undMethode zu betrachten und zu praktizieren, sondern statt-dessen auf den demokratischen Kampf zu setzen undGewalt nur als Mittel der Selbstverteidigung in absolut not-wendigen Situationen anzuwenden.

Dem entspricht auch die militärische Herangehenswei-se auf der Linie des Vorsitzenden der PKK, Herrn Öcalan.Seine Ansicht zum Thema Gewalt und Selbstverteidigungumreißt er folgendermaßen:

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„Aber, beginnend bei einem einzigen Menschen bis hinzu allen Menschen und Völkern, werde ich gegen die ganzeWelt – wenn es notwendig ist – die Selbstverteidigunganwenden, bis ein Ergebnis erzielt worden ist. In diesemSinne bleibe ich dem Ausspruch verbunden, dass einMensch die ganze Welt besiegen kann.“

Selbstverteidigung ist sowohl ein verfassungsrechtlichesals auch ein universelles Recht.

In den Eingaben wird aufgezeigt, dass die PKK in ihrenAnfängen mit einer solchen Verteidigungsauffassung auf-gebrochen ist. Grundsätzlich ist sie in ihrem Kampf inner-halb dieses Rahmens geblieben, zunehmend hat sich aberauch eine Bandenmentalität eingeschlichen. In den Einga-ben wird Selbstkritik geübt an diesen Aktionen, die in derPraxis der Vergangenheit konträr zur Linie ihres Vorsitzen-den verliefen und mit denen die Grenzen der Selbstvertei-digung überschritten wurden.

Herr Öcalan hat in seinen Eingaben sowohl die Zivilisa-tionsgeschichte analysiert als auch das kurdische Phäno-men als Teil dieser Zivilisation von neuem bearbeitet undauf seinen richtigen Platz gestellt. Ein großer Teil der Ein-gaben ist der Untersuchung und Definition der kurdischenSache vorbehalten. Deutlich wird dabei, dass es sich beider kurdischen Frage um die verwickelteste im MittlerenOsten handelt. Ohne die kurdische Realität hervorzuho-len, wird es auch nicht möglich sein, die daraus resultie-renden Probleme zu lösen. Von diesem Punkt ausgehendwerden in den Eingaben die KurdInnen ab dem neolithi-schen Zeitalter chronologisch untersucht und neue Tatsa-

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Erläuternde Bemerkungen

chen zu diesem Themenfeld vor Augen geführt. Obwohles sich nicht um ein Geschichtsbuch handelt, gibt es auf dieFragen: „Wer ist die Kurdin/der Kurde?“ und „Wo in derGeschichte?“ eine wissenschaftliche Antwort. Es ist einegute Definition der kurdischen Sache. Die richtige Defini-tion eines Phänomens stellt schon zur Hälfte die Beleuch-tung des Lösungsweges dar.

An welchem Punkt dieses Thema angegangen werdensoll, erklärt der Vorsitzende der PKK, Abdullah Öcalan, fol-gendermaßen:

„Die Definition des kurdischen Phänomens hat großeBedeutung. Das größte Unverständnis besteht bei der Fra-ge, wie dieses Phänomen definiert werden muss. Die Ara-ber nennen die Kurden ‚jemenitische Araber‘, die Türkensagen ‚Bergtürken‘, die Perser betrachten sie als das glei-che wie sich selber oder definieren sie als ‚reine, naiveNation‘. Dass die daraus resultierenden Herangehenswei-sen sehr unterschiedlich sind, bleibt unausweichlich.“

Herr Öcalan hat dagegen mit der Definition der KurdIn-nen begonnen und die heutige Situation definiert, indemer die Geschichte verfolgt hat. In der Verteidigungsschriftwird aufgezeigt, dass die historische These falsch ist, gemäßder die KurdInnen als Angehörige der arischen Rasse ausNordeuropa in den Mittleren Osten migriert seien. Es wirdunterstrichen, dass dies die These deutscher Rassisten ist,die korrigiert werden muss. Wie aus archäologischen Aus-grabungsfunden deutlich geworden ist, stammen die Kurd-Innen aus dem Mittleren Osten, und ihre Wurzeln gehenzu den Horitern, Kassitern und Mitannitern zurück. Es ist

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bewiesen, dass die erste große Revolution der Menschheit,das Neolithikum, in Kurdistan von den Ahnen der KurdIn-nen verwirklicht worden ist. Erste Sesshaftwerdung, Vieh-zucht und Ackerbau haben hier begonnen. Auch im Fun-dament der mit den Sumerern begonnenen Zivilisation ruhtdie in Nordmesopotamien entwickelte neolithische Kultur.Die Vorfahren der KurdInnen gehörten zur arischenGemeinschaft, was aber nicht Rasse bedeutet, sondern„Gemeinschaft von den Boden bearbeitenden Bauern“.

Da die Vorfahren der KurdInnen das Neolithikum sehrintensiv erlebt haben, hat die Stammesorganisierung und-kultur bei ihnen einen großen Raum eingenommen. Ver-tieft wurde dieses Phänomen noch durch äußere Invasio-nen, gegen die sie sich und ihre Freiheit gezwungener-maßen durch einen Rückzug in die Tiefe der Berge schützenmussten. Aufgrund der politischen Stellung des MittlerenOstens, und weil es die politischen Profite verschiedenerKräfte so erforderten, konnten die KurdInnen, die im feu-dalen Zeitalter zu einem Volk wurden, sich nicht zu einermodernen Nation entwickeln und wurden aus der Zivilisa-tion ausgestoßen. Durch den Kampf und die Anstrengun-gen der PKK ist das kurdische Phänomen heute endlich einbekanntes und aufgeklärtes Phänomen. Um das kurdischeVolk und sich selbst kennen zu lernen und uns darüber hin-aus der Mittelost-Politik bewusst zu werden, können undmüssen wir von den Eingaben auf maximalem Niveau pro-fitieren.

In der Definition des kurdischen Phänomens wird auchdie kurdische nationale demokratische Bewegung ausge-wertet. Seit seinem ersten Auftreten hat sich das kurdische

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Erläuternde Bemerkungen

Phänomen immer entsprechend der Besonderheiten derjeweiligen Zeit im Kampf befunden. In wichtigen gesell-schaftlichen Zeitaltern hat sich das kurdische Volk als einbewegtes, produzierendes und erschaffendes Volk erwie-sen. Das fruchtbarste Volk im Neolithikum waren die Kurd-Innen. An der Spitze der Gemeinschaften, die das ersteZeitalter hervorbrachten, das Fundament legten für einensich auf den Himmel beziehenden göttlichen Glauben unddie mythologische Gedankenform systematisierten, stehendie KurdInnen. Sie besitzen ausserdem die Ehre, das ersteethnische Volk zu sein, dass gegen die sumerische Skla-verei und den Kolonialismus mit Stammesbewusstsein undder unverzichtbaren Leidenschaft für Freiheit Widerstandleistete. Auch in den Freiheitsbestrebungen gegen den isla-mischen Absolutismus im Mittelalter waren die KurdInnenstark vertreten. Zarathustratum, Alevismus, Manichäismusund verschiedene mystische Orden stehen für den Wider-stand und die Tendenz zu einem freien Leben des Volkesgegen die feudale Sklaverei. In den Aufständen des 19.und 20. Jahrhunderts gab es keine bürgerliche Grundlageim ideologischen Sinne; sie stützten sich auf ein gefühls-mäßiges Kurdentum und die traditionelle Gesellschafts-struktur. Diese Bewegungen, die für Verrat und Ausnut-zung geradezu prädestiniert waren, sind in die Kategorie„primitiver Nationalismus“ einzuordnen. Mit der PKK-Bewegung wurde das Zeitalter des primitiven Nationalis-mus und des traditionellen Aufrührertums der kurdischennationalen demokratischen Bewegung beendet und diefortschrittliche Zeit der Befreiung begonnen. In den Ein-gaben werden die Realität der PKK mit kritischem und

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Erläuternde Bemerkungen

selbstkritischem Blick bewertet und damit Perspektiven füreine Neustrukturierung und die Zukunft dieser Bewegunggegeben.

Die Eingaben präsentieren Lösungspläne für die kurdischeFrage, für die bisher keine Lösung gefunden werden konn-te, obwohl in ihrem Namen viel Blut geflossen ist, vieleOrganisationen gegründet wurden und jede Art vonAnstrengung unternommen wurde. Diese Lösungsplänewerden den beteiligten Seiten vorgeschlagen. Die „demo-kratische Republik“ ist ein Modell im Lösungsplan. Derwesentliche Geist der Lösung liegt in der Festlegung vonDemokratie und Freiheit als Minimalbedingung. In den Ein-gaben wird die türkisch-kurdische Beziehung als Lösungs-schlüssel behandelt. Außerdem werden die besonderenSeiten und Lösungsmethoden des Problems in Iran, Irakund Syrien aufgezeichnet.

Hauptachse der Lösung stellt folgender Satz dar:„Die Föderation demokratischer Völker im Mittleren Ostenentspricht der Einheit Demokratisches Kurdistan.“

Das Thema Lösung wird in allen Dimensionen untersuchtund mit den hervorgebrachten Lösungsvorschlägen einegereifte Entwicklung gezeigt. Für diejenigen, die die Vor-hut in der Lösung darstellen, ist die Verinnerlichung der zudiesem Thema entwickelten Vorschläge Vorbedingung fürdie Verfolgung des richtigen Weges in der aktuellen Poli-tik und für ein erfolgreiches Vorgehen.

Die Frage der Frauenbefreiung ist ein wichtiges Themain den Eingaben. Die Konzentration darauf und die Ana-lyse und Lösung der Frauenfrage gehört zu den vorran-gigsten intellektuellen Arbeiten von Herrn Öcalan. Er hat

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Erläuternde Bemerkungen

alles getan, was notwendig war, um einer Frauenrevoluti-on den Weg zu ebnen. Seine Arbeiten auf diesem Gebietbezeichnet er als „episch“ und „von großer Bedeutung“.Natürlich ist es undenkbar, dass sich diese Auffassung nichtin den Eingaben widerspiegeln könnte. In dieser Hinsichtist das Manifest der demokratischen Zivilisation ein Mani-fest der Beziehungen und Lebensformen eines Systems,das zum Wohle der Menschheit auf die Frau ausgerichtetist. In diesem Manifest wird in der Analyse des neolithi-schen Zeitalters beleuchtet, wie mit den Erfindungen derFrau die Grundsteine der Zivilisation gelegt wurden. Es wirdaufgezeigt, wie die Frau einhergehend mit der Zivilisationaus dem Leben ausgestoßen wurde. Die Geschichte, dieohne Frauen geschrieben wurde, wird beurteilt und bei-nahe neu geschrieben: Die Achtung der Frau im Rang einerGöttin, ihr Status von Gleichheit, Freiheit und Führungskraftwird mit List und Gewalt zerstört. Der verlogene und grau-same Mann versklavt mit der daraus gewonnenen Stärkeund dem Mut auch sein eigenes Geschlecht und gründetdas bestehende Herrschaftssystem. Diese Ordnung ist durchdie Versklavung der Frau eingerichtet worden, und sie wirdmit der Rückgabe der „ME“ [religiöse Gesetzgebung beiden Sumerern] zusammenbrechen. In diesem Sinne bedeu-tet die demokratische Zivilisation auch die Erneuerung derGrundsteine des neolithischen Zeitalters. Herr Öcalan hatder Frau die „ME“ schon vor langer Zeit zurück gegeben.Wichtig ist, dass sie sie annimmt und sich an die Spitze derneuen Zivilisation stellt. Beim Lesen der Eingaben wird mankeine Schwierigkeiten damit haben, diese Perspektive zuerfassen.

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Erläuternde Bemerkungen

Die Eingaben bringen neben einer umfassenden Zivili-sationsanalyse und der Bewertung von Geschichte, Poli-tik, Ideologie und Philosophie Licht in die damit verbundeneWirklichkeit des „internationalen Komplotts“ [in dessenRahmen der Vorsitzende der PKK in die Türkei entführtwurde] hinsichtlich Motiv, Durchführung und Ziele. Selbst-verständlich bleibt es nicht bei der Aufklärung, gleichzei-tig wird es verurteilt vor dem Gewissen des kurdischenVolkes und der gesamten Menschheit. Dem Komplott undder Zivilisation, auf der das Komplott aufbaut, wird miteiner Renaissance begegnet, mit einem alternativen Auf-bruch, der eine Antithese darstellt. Nach diesem Manifestwerden die Kräfte, die das Komplott ausgeführt haben,dazu gezwungen sein, eine Bilanz dieser Maßnahmen zuziehen. Sie werden sich selbst fragen, ob ihr Tun wirklichrichtig oder doch falsch gewesen ist. Mit dem Komplotthaben sie bezweckt, Herrn Öcalan auszuschalten und diekurdische nationale demokratische Bewegung zu vernich-ten. Aber mit den Eingaben gelingt sowohl dem Vorsit-zenden der PKK als auch der kurdischen Befreiungsbewe-gung ein Aufbruch, der mit der alten Position nicht zuvergleichen ist. Die PKK hat ihre momentane organisato-rische und politische Haltung immer an der Haltung gemes-sen, die sie angesichts des internationalen Komplotts ein-genommen hat. Aber in Zukunft wird sie ihre Haltung nichtmehr an einer einzig gegen das Komplott gerichteten Ein-stellung und einem oberflächlichen Folgen des Vorsitzen-den messen können. Das wäre ungenügend. Ab sofortmüssen die Haltungen danach bewertet werden, wie enga-giert man sich im Aufbruch befindet, der als Renaissance

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Erläuternde Bemerkungen

in den Eingaben vorgesehen ist, und wie weit er vertretenwird.

Mit dem internationalen Komplott und den Gerichtensind das Rechtswesen und der juristische Kampf als einneues Thema auf die Tagesordnung getreten. Gab es vor-her kein Rechtswesen? Zweifellos gab es das, aber weil wirKurdInnen im allgemeinen außerhalb des Rechtswesensstanden, hatte es für uns nicht allzu viel Bedeutung. Des-halb ist das Rechtswesen ein etwas fremdes Gebiet. Sowohlaufgrund des Charakters der momentanen Phase als auchaufgrund der Öffnung des Rechtsweges wird in den Ein-gaben der juristische Kampf als ein wichtiges Gebiet gewer-tet. Um die Tür zur Lösung in der aktuellen Etappe durcheine Analyse des Rechtswesens mit einem juristischenKampf einen Spalt weit zu öffnen, wird diesem Gebiet einebesondere Rolle zugeschrieben. Mit der Entwicklung demo-kratischer Rechte und Freiheiten in diesem Zeitalter ist esauch für das kurdische Volk zu einem wichtigen und beach-tenswerten Bereich des Kampfes geworden, Fortschritteim Bereich des Völkerrechts zu erzielen, den Rechten derVölker im Sinne der drei Generationen von Rechten – denindividuellen, politischen und ökonomischen – eine uni-verselle Qualität zu verschaffen, neben den Kampfmetho-den zur Verwirklichung dieser Rechte auch die eigenenRechte einzufordern, und diesen Kampf auf einer Ebenezu führen, die auf die Änderung und Erneuerung beste-henden Rechtes abzielt.

In diesem Sinne sind die Eingaben auch ein Dokumentdes ersten wichtigen Rechtskampfes der KurdInnen. Vordem EGMR wird das Existenzrecht des kurdischen Volkes,

121

Erläuternde Bemerkungen

sein Recht auf Sprache, Identität, Kultur und Freiheit, vorder ganzen Welt ausgebreitet und verteidigt. Der Kampfwird in der kommenden Phase schwerpunktmäßig als einRechtskampf weitergehen. Weil dafür die Ausrüstung fehlt,ist es eine dringende Aufgabe, heute damit zu beginnen undzu rüsten und sich das Verständnis und die Technik diesesKampfes anzueignen. Der Teil der Eingaben, der spezielldem Rechtswesen und dem Rechtskampf vorbehalten ist,stellt den Beginn des Eintritts in dieses Gebiet dar. Wichtigdabei ist natürlich, den Kampf auf das Volk zu übertragen.Der Rechtskampf wird in historischen Prozessen von stra-tegischem Wert ausgetragen und ebenso in breiter Formals tägliche Aufgabe der Völker in der Aneignung der eige-nen Rechte. Die Eingaben sehen beides vor.

Die Eingaben sind gleichzeitig eine Widerspiegelung derRealität von Herr Öcalan, mit der jahrelang Schwierigkei-ten bestanden, sie zu begreifen und zu verstehen.

Herr Öcalan sagt dazu: „Hiermit habe ich jedem – ob Freund oder Feind – gezeigt,wer und was ich bin.“

So betrachtet sind die Eingaben wie ein riesiger Spiegel.Beim Betrachten des Spiegels kann jeder auch ein bisschensich selbst sehen. Natürlich werden darin die wirklichenRiesen von den Zwergen getrennt. Ein Weg, die Unzuläng-lichkeit im genossenschaftlichen Verhältnis zu überwinden,verläuft über den Blick in den Spiegel und das Maßneh-men der eigenen Größe.

122

Erläuternde Bemerkungen

Letztendlich sind die Eingaben wie ein Meer, das dietheoretischen Grundlagen für die „mentale Revolution“bzw. die „demokratische Zivilisation“ liefert. Es ist nichtmöglich, das Ende zu erreichen. Deshalb ist es ein grund-legendes Schulungsmaterial für die gesamte Menschheit.

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Erläuternde Bemerkungen

Abdullah Öcalan

Vom sumerischen Priesterstaat zur Volksrepublik

Originaltitel:

Sümer Rahip Devletinden Halk Cumhuriyetine DogruErste Auflage Oktober 2001, zweibändig (526 S./450 S.)Inhaltsverzeichnis

ERSTER BAND

Vorwort

Erstes Kapitel: Sklavenhaltergesellschaft und zivilisatorische Entwicklung

A- Sumerer: Zivilisation an den Ufern des Euphrat und TigrisB- Historische Rolle und Institutionalisierung der sumerischen

ZivilisationC- Bleibende Resultate in der sumerischen ZivilisationD- Historische Entwicklung und methodische Probleme in der

AusbreitungE- Ausbreitungs- und Reifezeit der Sklavenhalter-Zivilisation

1- Ägyptische Zivilisation2- Indien – Im Flussdelta des Pencap und Indus die Harapa-

und Mohenjadaro-Zivilisation

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Vom sumerischen Priesterstaat zur Volksrepublik – Inhalt

3- Chinesische ZivilisationF- Zeitalter der Sklavenhalter-Stadtstaaten im Mittleren Osten

1- Ackerbau und Viehzucht2- Übergang zur Institutionalisierung und Stammesord-

nung3- Von der Formierung der Zivilisation, einigen grundlegen-

den Klassenformen bis heuteI- HititerII- Hurri, Guti, Mitani, Urartu und MederIII- Zivilisierung im östlichen Mittelmeer: Erster gemeinsamer

Einfluss der sumerischen und ägyptischen Systeme auf denöstlichen Mittelmeerraum

IV- Zivilisation der GiritV- Sumerische und ägyptische ZivilisationG- Widerstand gegen die Sklavenhalter-Zivilisation und

Reform1- Geburt der ersten monotheistischen Religionen und ihr

Platz in der Zivilisation2- Widerstand ethnischer Strukturen und Sklavenhalter-

Zivilisation3- Entwicklung philosophischer Gedanken und Zivilisation

(Kurze Geschichte der mentalen und geistigen Entwick-lung)

I- Zarathustra und ZarathustratumII- BuddhismusIII- KonfuziusIV- Sokrates und das Zeitalter der gesellschaftlichen

PhilosophieH- Gipfel der Sklavenhalter-Zivilisation

1- Griechische Zivilisation

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Inhalt – Vom sumerischen Priesterstaat zur Volksrepublik

a- Wurzeln im Neolitikum b- Wurzeln im Zivilisationszeitalter

2- Rom in der Sklavenhalter-Zivilisation3- Aufbruch der Medya-Perser und Ost-West-Aufteilung

I- Verfall der Sklavenhalter-Zivilisation1- Geburt und Entwicklung2- Reifezeit und Ausbreitung3- Klassische Zeit der Zivilisation oder Zeitalter des Gipfels

und des Zerfalls4- Erbe der Sklavenhalter-Zivilisation

Zweites Kapitel: Zeitalter der feudalistischen Zivilisation

A- Ideologische Identität des feudalistischen ZeitaltersB- Islamismus als revolutionäre Kraft des feudalen ZeitaltersC- Institutionalisierung und Verbreitung

der feudalen ZivilisationD- Gipfel und Niedergang der feudalen ZivilisationE- Statt eines Resümees

Drittes Kapitel: Zeitalter der kapitalistischen Zivilisation

A- Geburt und ideologische Identität der kapitalistischen Zivilisation

B- Entwicklung und Institutionalisierung der kapitalistischen Zivilisation

C- Zeit der Verbreitung und Gipfel der kapitalistischen Zivilisation

D- Generelle Krise der Zivilisation und Zeitalter der demokratischen Zivilisation

126

Vom sumerischen Priesterstaat zur Volksrepublik – Inhalt

Viertes Kapitel: Ideologische Identität der neuen zivilisatorischen Entwicklung:Ort, Zeit und Bedingungen

Fünftes Kapitel: Kann die kulturelle Tradition des Mittleren Ostens eine neueZivilisationssynthese darstellen?

ZWEITER BAND

Sechstes Kapitel: Probleme des kurdischen Phänomens im Mittleren Osten und mögliche Lösungswege

EinleitungA- Erläuterung grundlegender Begriffe

1- Gesellschaft2- Stamm, Stammestum, Ethnizität3- Nation und nationaler Staat4- Militärische und politische Lösung5- Demokratische und rechtliche Methode6- Staatsbürgertum und Nationalität7- Offizielle traditionelle Gesellschaft und Zivilgesellschaft8- Liebe zum Land und Internationalismus

B- Probleme der Methodik und Herangehensweise an das kurdische Phänomen

C- Rahmen für die kurdische Geschichte1- Neolithikum und Kurden2- Sklavenhalter-Zeitalter und Kurden

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Inhalt – Vom sumerischen Priesterstaat zur Volksrepublik

3- Kurden im feudalen Zeitalter4- Kurden im Zeitalter des Kapitalismus

D- Die ethnische nationale demokratische Bewegung der Kurden1- Zeit des primitiven feudalen Nationalismus2- Zeit des bürgerlichen Nationalismus3- Befreiungstendenz des Volkes4- PKK: Geburt, Entwicklung, Zukunft

E- Zur Lösung in der kurdischen Frage1- Kurdische Frage in der Türkei und demokratische

Lösunga- Zeit der feudalen Beys und Sultanateb- Nationalismus, Aufstand und Rückschlagc- Neustrukturierung der Republik und demokratische

Lösung der kurdischen Frage2- Nationale Frage und demokratische

islamische Lösung im Iran3- Kurdische Frage der Araber und Irak-Lösung4- Syrien: Erlangung von Identität und

Lösung durch demokratische Teilnahme

Siebtes Kapitel: Als Freiheitskämpfer eines Volkes in der Umklammerung des Komplotts

Einleitung1- Geschichte der Komplotte und

daraus zu ziehende Lektionen a- Komplotte im ersten Zeitalter

und betrügerische Mythenb- Komplotte im Mittelalter und mit religiöser Maske

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Vom sumerischen Priesterstaat zur Volksrepublik – Inhalt

c- Kapitalistischer Nationalismus und Faschismus als höchstentwickeltes Verschwörertum1) 1800-19402) 1940-1975: KDP-Phase3) 1975-2000

2- Die Realität des Komplotts in der PKKI- Von der Entstehung bis zur offiziellen AusrufungII- 1978-88 Internes Komplott und VernichtungIII-1988-98 Bandentum und weltweite

imperialistische Intervention3- Komplotte gegen die PKK-Führung als Eingeständnis der

Angst vor der freien Identität des kurdischen Volkesa- Zeit der Führungsgeburt für das Volk (1970-80)b- Soziologische Zersplitterung und Neustrukturierung der

Persönlichkeit4- Wie muss das innere Gesicht des Jahrhundert-Komplotts

aufgefasst werden?a- Historische Komplotte halten die Entwicklung nicht auf,

sondern beschleunigen sieb- Das Komplott vom 15.2. kann in einen dauerhaften

Frieden und in Demokratie für die Völker verwandeltwerden

Achtes Kapitel: Kann das Rechtswesen Europas eine Lösungsmöglichkeitfür die kurdische Frage hervorbringen?

1- Geburt und Entwicklung des Rechtswesens2- Rolle des Rechtswesens bei der Lösung gesellschaftlicher

Probleme

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Inhalt – Vom sumerischen Priesterstaat zur Volksrepublik

3- Europas Rechtswesen, die Republik Türkei und die kurdische Frage

4- Imrali-Verurteilung, Europäische Menschenrechts-vereinbarung und Europäischer Menschenrechtsgerichtshofa- Meine Entführung und unrechtmässiges Vorgehenb- Todesstrafe und Nutzung als Druckmittel

gegen das kurdische Volkc- Politische Lynchjustiz im Imrali-Prozessd- Freundschaftliche Einigung am EGMR, Dialog-Suche

und dem Europa-Parlament zufallende Aufgaben

Neuntes Kapitel: Apo-Identität – Vom Clan zum Volk

1- Natürliche Geburt, Auflösung der Clan-Kultur und der Zivilisations-Dschungel

2- Zweifel und revolutionäre Haltung zur Bekanntschaft mitder bürgerlichen Gesellschaft und der Republik

3- Durch Krieg sich selbst erschaffen, aber bis wohin?4- Auf der Suche nach Frieden; Kritik und Selbstkritik

Schlusswort ISchlusswort II

Urfa-Verteidigungsrede

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Vom sumerischen Priesterstaat zur Volksrepublik – Inhalt

131

132

Fußnoten

1 Seldschuken und Oguz-Stämme: Die turksprachigen pastoral-nomadischenOguz-Stämme von zentralasiatischer Herkunft siedelten im frühen Mittelalterum das kaspische Meer und den Aralsee, von wo aus sie sich zunächst überKhorasan im Iran verbreiteten. Mehrere dieser Stämme bekannten sich zumsunnitischen Islam, und der Clan der Seldschuken erlangte im 11. Jahrhundertmilitärischen und politischen Rang im Iran und konnte dort einen Staat errich-ten. Türkischstämmige Berufssoldaten waren schon früh in den Armeen derAbbassiden (siehe Fußnoten 32 und 17) verbreitet und konnten hohen Rangerreichen. Im Jahre 1055 wurde die Militärherrschaft der ebenfalls kaspischen,schi´itischen Buyiden über Baghdad beendet, und der abbassidische Kalif al-Qa´im ernannte die sunnitischen Seldschuken zu Militärbefehlshabern und Ver-waltern seiner Autorität, d.h. zu Sultanen. Die seldschukischen Sultane konn-ten einerseits das (nominell abbassidische) Reich erheblich vergrössern undfestigen, förderten andererseits die Migration türkischer Stämme nach Westen.

2 Schlacht von Malazgirt oder auch Manzikert: Die seldschukische Armeeunter Alp-Arslan besiegte im Jahre 1071 das byzantinische Heer bei Manzikert,dem heutigen Distrikt Malazgirt in der kurdischen Provinz Mus, und öffnete somitein Einfallstor für die Besiedlung Anatoliens durch türkische pastorale (Oguz-)Stämme und die darauf folgende Transformation Anatoliens von griechisch-sprachigem christlichem Territorium zu einem türkischsprachig-muslimischen.Hauptgrund für den Sieg gegen die militärisch überlegenen Byzantiner war dieUnterstützung des seit 1055 durch die Abbassiden favorisierten Seldschukendurch die muslimischen lokalen kurdischen Stämme.

3 In den mehr als 4 Jahrhunderten zwischen Errichtung des ersten seld-schukischen Staates im nordwestlichen Iran und der Einnahme Konstantino-pels durch den osmanischen Sultan Mehmet den Eroberer 1453 gewannen tür-kischstämmige Familien stetig an militärischem und politischem Einfluss in dergesamten islamischen Welt und ersetzten so auch zunehmend lokale Herrscherund Unterverwalter.

4 Anspielung auf Pax Romana, hier also: Garant gegenüber den unterworfe-nen Völkern, diese im Rahmen der Verteidigung des Großreiches vor äußerenAngriffen zu schützen und ihre internen Konflikte per Intervention der Zen-tralmacht gütlich zu regeln.

5 Namik Kemal: Dichter, Dramaturg und Hauptvertreter der politischen Ideender Jung- oder Neo-Osmanen, die angesichts der wachsenden Marodität desSultanats in den 1860er und 1870er Jahren auf Grundlage der rechtlichenGleichheit aller osmanischen Bürger (seit 1856) die Idee eines säkulären osma-

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Fußnoten

nischen Territorialstaates vertraten. Verbundenheit mit diesem Staat, i.e. Patrio-tismus im europäischen Sinne, sollte verschiedenen religiösen Gemeinschaftenund deren Machtträgern gegenüber bestehende Loyalitäten ablösen. Dem-entsprechend war ihr Ziel die konstitutionelle Monarchie, die unter dem BegriffMesrutiyet (mashrutiye, arab: Begrenzung oder Bedingtheit von Macht) 1876,wenn auch inhaltlich und zeitlich begrenzt, erstmalig eingerichtet wurde (sie-he Fußnote 7).

6 Ittihat ve Terraki Firkasi (osman.): Komitee für Einheit und Fortschritt, wur-de 1889 als geheime Protestgesellschaft unter Kadetten osmanischer Militära-kademien und Beamten gegen die repressive Herrschaft Abdul-Hamids gegrün-det. Die Bewegung verlangte zunächst die Wiederherstellung derkonstitutionellen Monarchie und am Westen orienterte Reformen, eine Forde-rung, die sie 1908 durch Androhung einer Revolte in der Armee durchsetzte.Vier Jahre nach Abdankung Abdul-Hamids richtete das Komitee 1913 eine defacto-Militärherrschaft unter dem Triumvirat Enver Pasha, Talat Pasha undCemal Pasha ein. Die Bewegung verliert damit ideologisch und politisch gese-hen an Heterogenität. Ideologisch gesehen setzt sich das Komitee vom inzwi-schen angesichts der Unabhängigkeitsbestrebungen der Balkanvölker und derarabischen Provinzen kompromittierten Neo-Osmanismus (Fußnote 5) eben-so ab wie vom rückwärtsgewandten Panislamismus (Fußnote 7) und beziehtsich auf die verbindenen Elemente aller türkischsprechenden Völker von Ana-tolien bis China. Dieser Pantürkismus fordert in seiner Extremform die Errich-tung eines Großreiches für all diese Turkvölker, in seiner pragmatischeren Vari-ante die Überlegenheit der türkischen Kultur gegenüber den anderen Völkerndes osmanischen Reiches und dementsprechend einen türkischen National-staat.

7 Sultan Abdul-Hamid II. (Regentschaft 1876-1909), der letzte osmanischeSultan mit uneingeschränkter monarchischer Gewalt. Bei seiner Thronbesteigungakzeptiert er zwar die Verfassung von 1876 und deren parlamentarische Mecha-nismen, suspendiert diese aber bereits nach zwei Jahren. In Reaktion auf Reform-und Modernisierungsbestrebungen geriert er sich als Kalif, also als Herrscherüber alle Muslime der Welt, und nivelliert somit die Ansprüche anderer reli-giöser Gruppen auf politische Gleichheit. Unter Abdul-Hamid werden in den1890ern erstmals (sunnitische) kurdische Freikorps gegen (christliche) armeni-sche ZivilistInnen gehetzt, um armenische Nationalstaatsbestrebungen zu unter-drücken. Der 1909 durch das Komitee für Einheit und Fortschritt abgesetzteAbdul-Hamid vertrat dem westlichen Imperialismus gegenüber eine berüch-tigt äquivoke Politik, die sich an seinen Eisenbahnprojekten illustrieren lässt:Einerseits lässt er durch Spenden von Muslimen aus aller Welt die Hijaz-Eisen-bahnline von Damaskus nach Mekka bauen (Fertigstellung 1908), mit der diejährliche Pilgerfahrt erleichtert werden soll und die zum Symbol für Moderni-sierung in Freiheit von europäischen Kapitalinvestitionen stilisiert wird, ande-rerseits aber lädt er 1882 den preußischen General Colmar von der Goltz ein,

134

Fußnoten

um das osmanische Heer zu reformieren und billigt den Bau eines Eisenbahn-netzes in Abhängigkeit von deutschem Kapital (Berlin-Baghdad-Bahn) bei gleich-zeitiger Öffnung des Reiches für britische und französische koloniale Unter-nehmungen. Interne Opposition jeglicher Couleur wird unter Abdul-Hamid II.brutal unterdrückt.

8 Schlacht von Malazgirt: siehe Fußnote 2

9 Schlacht von Chaldiran: Nach 15 Jahren kriegerischer Auseinandersetzun-gen um Anatolien und Mesopotamien zwischen Shah Ismail (Regierungszeit1494-1524), dem Begründer der persischen Safavidendynastie, und der Osma-nischen Armee besiegte die letztere das Heer Ismails 1514 bei Chaldiran (in derheutigen kurdischen Provinz Van) und konnte so die osmanische Vorherrschaftin Anatolien, über Kurdistan und später auch den heutigen Irak konsolidieren.Interessant ist, dass sowohl die Safaviden sich auf kurdische und türkische Stäm-me stützten, als dass auch die Osmanen eine Allianz mit kurdischen Fürsten-tümern eingegangen waren. Shah Ismail etablierte historisch erstmalig dasSchi´itentum als Staatsreligion Persiens.

10 Zarathustra/Zoroaster (pers.: Zardusht): Prophet und Moralreformer im Per-sien des 7. Jahrhunderts v.Chr., der eine gleichheitsorientierte Lehre auf derGrundlage eines philosophischen Dualismus formulierte (Antagonismen vonGut und Böse, Licht und Dunkelheit), in der (zeitgleich mit den alttestamenta-rischen Propheten) erstmals dem Individuum Entscheidungsfreiheit und mora-lische Verantwortung eingeräumt werden. Von einigen Forschern als Stifter derzweiten monotheistischen Religion angesehen. Quellenlage äusserst begrenzt.Öcalan betont im ersten Band seines Werkes den ideologischen Einfluss Zara-thustras auf die Transformation der medischen (kurdisch-persischen) Stam-meskonföderation zum Mederreich, einer weniger despotisch-grausamen For-mation als das Assyrische Reich.

11 Ahura Mazda: Name der Gottheit in der durch Zarathustra begründetenReligion. Ihr gegnüber steht die Verkörperung der Finsternis, Ehriman. Ursprüng-lich individuell-dualistische Morallehre, wird der Mazdaismus im persischenSassanidenreich (234-634 n. Chr.) zur Staatsreligion und zum Zeremonialkultder herrschenden Elite, von der sich Grossteile der Bevölkerung allerdings ent-fremden.

12 ahl (arab.): religiös begründeter Führungsanspruch im Islam

13 Schi´a: Eine der beiden Hauptkonfessionen im Islam. Das Wort bedeutetsoviel wie Parteigänger, womit die Parteigänger des 4. Kalifen Ali Ibn Abi Talib(Regentschaft 656-61 n. Chr.) gemeint sind (siehe auch Fußnote 19). Ali warzwar auch aus dem Stamm des Propheten Muhammed, der Quraysh, aber ver-feindet mit dem Clan des von Gegnern ermordeten 3. Kalifen Uthman [Osman]Ibn Affan (Regentschaft 644-656). Als seine Kalifenschaft durch diese ange-

135

Fußnoten

fochten wurde, liess sich Ali auf Kompromiss und Vermittlung durch Dritte ein,fiel allerdings 661 einem Attentat zum Opfer. Sein Neider Mu´awiya ibn AbiSufyan (661-680) proklamierte sich selbst zum Kalifen und gründete die Dyna-stie der Ummayyaden (siehe Fußnote 20). Im Jahre 680 n.Chr. führte Alis Sohnal-Hussayin Ibn Ali eine Revolte gegen die Ummayyaden an, die bei Karbalaim heutigen Irak blutig niedergeschlagen wurde. Das Märtyrertum Hussayinsund anderer Verwandter des Propheten Muhammed wird von den AnhängernAlis, also den Schi´iten, zum Gründungsmythos ihrer geistig und politisch oppo-sitionellen Haltung gegenüber dem in der absolutistischen Monarchie des Kali-fats unter den Ummayyaden institutionalisierten Islam (auf den sich die Sun-niten berufen) verarbeitet. Die erste offizielle Institutionalisierung des schi´itischenIslams erfolgte durch die (vom sunnitischen Kurden Saladin Ayyubi abgelöste)ismailitische Fatimidendynastie in Ägypten (969-1171) und für den Iran unterShah Ismail (1494-1524) im safavidischen Reich (siehe Fußnote 9). Auch dieAleviten beziehen sich auf Ali und Hussayin, weichen aber von der Schi´a in Kate-chismus und Liturgie stark ab.

14 Sumerisches Sklaventum: Öcalan sieht im sumerischen Staat – der auch denTitel seines Werkes bestimmt – die historisch erste Form von Patriarchat, Klas-senwidersprüchen und Sklaventum in Form eines von Priestern regierten, vor-dynastischen Verwaltungsapparates. Mit seiner Analyse der sumerischen Theo-kratie zielt er darauf ab, bleibende Erscheinungsformen der o. g.Unterdrückungsverhältnisse in der mittelöstlichen Gesellschaft bis zum heuti-gen Tage aufzuzeigen und gleichzeitig die Geschichte der geistigen und mate-riellen Gegenbewegungen zu einem positiven Bezugspunkt aktueller Demo-kratisierungsbemühungen zu machen. Alle in diesem Kapitel auftauchendenhistorischen Begriffe werden im ersten Band seines Werkes eingehend disku-tiert.

15 Manichäismus oder Maniismus: Mani von Ctesiphon (216-274 n. Chr.),geboren in Mesopotamien, ist Begründer einer religiös-philosophischen Welt-anschauung, die sich als Synthese aller vorherigen religiösen Systeme begreiftund dementsprechend Toleranz und Dialog predigt. Die oft als eine nach-christlich-gnostische Reform der Lehren Zarathustras bezeichnete Lehre Manisbasiert auf der Annahme, dass alles Leben im Dualismus von Materie und Geist,Licht und Dunkelheit, Wahrheit und Falschem etc. begriffen werden kann. Maniselbst konnte mit seiner Lehre zwar zu seinen Lebzeiten Menschen aus ver-schiedensten Kulturkreisen des Ostens gewinnen, fiel aber der Feindschaft desmazdaistischen Priestertums im Sassanidenreich zum Opfer und wurde zu Todegemartert. Sein Tod führte jedoch im Gegensatz zu dem des Jesus Christusnicht zu einer weiteren Verbreitung seiner Lehre, sondern zu einem Rückgangseiner Gefolgschaft. Da die meisten schriftlichen Dokumente seiner Lehre ver-nichtet worden sind, ist der Manichäismus vor allem einerseits aus hellenisti-schen Quellen bekannt, in denen die Lehre abwertend als grober Dualismus dar-gestellt wird, und andererseits aus der Überlieferung einiger christlicher

136

Fußnoten

Gemeinden, die bis ins Hochmittelalter hinein Züge von Manis Denken gegendie Doktrin der römisch-katholischen Kirche vertraten.

16 Mazdeken und Hurremiten: Die Mazdeken (arabisch: Khorramiyah) gehenauf eine religiöse Gemeinschaft zurück, die bereits im späten Sassanidenreichdie egalitären und monogamen Traditionen der ursprünglichen Zarathustra-lehre versetzt mit dem erneuernden Einfluss des Manichäismus gegenüber deroffiziellen mazdaistischen Religion zu bewahren versuchten. Mit der Zerstörungdes Sassanidenreiches und der Errichtung des Kalifats verwandelten sich dieMazdeken in eine breite Volksbewegung des heterodoxen Islam im gesamtenGebiet des heutigen Iran, die in Form einer religiösen Gemeinschaft die Wer-te von Gleichheit an Eigentum, Ablehnung der Polygamie u.ä. gegenüber derummayyadischen Macht zu verteidigen suchten. Die Hurremiten gehen aufdieselbe Tradition zurück. Als eine religiös-soziale Protestbewegung unter derFührung einer Frau [Hurrayim, deren Mann Javidan ibn Sahl ermordet wurde]befand sich die ethnisch heterogene Bewegung als Sammelbecken aller nicht-arabischen Völker (Die Khariji: PerserInnen, KurdInnen, ArmenierInnen, Türk-Innen, afrikanische SklavInnen [zanj], AssyrerInnen etc.) von 816 bis 837 im Auf-stand gegen die Abbassiden – also zu jener Zeit, als sich eine Konvertierung derunterworfenen Völker zum Islam anzubahnen begann. Die Hurremiten geltenals heterodoxe islamische Bewegung und werden von den Sunniten mit demBegriff Rotköpfe belegt, wie später auch die Aleviten.

17 Abu Muslim: Abu Muslim aus Khorasan (Iran) war ein Abgesandter und spä-ter militärischer Führer jener oppositionellen Bewegung, die 749 n. Chr. dieHerrschaft der Ummayyadischen Dynastie beendete. Allerdings wurde der letz-te der Ummayyaden, Marwan II., nicht durch einen Nachkommen Alis abgelöst,sondern durch einen Nachkommen des Onkels des Propheten Muhammeds,Abbas. Abu´l-Abbas (749-754) begründete ein neues Herrscherhaus, die Abbas-sidische Dynastie mit Machtzentrum in Baghdad, und liess Abu Muslim undseine Gefolgschaft ermorden. Die Abbassiden herrschten bis 1258 (siehe Fuß-note 32).

18 Die Zwölf Imame: Nach Ansicht der Mehrheit der Schi´iten sind die Nach-folger des letzten der Rashidun, des ermordeten Alis, heilige Figuren (Imame),deren zwölfte, Muhammad al-Muntazaar (nach 874 n.Chr.) von Gott der Weltenthoben wurde und am Jüngsten Tag (mahshar) zurückkehren wird. Dagegenakzeptieren die Ismailis und die Zaydis eine andere Linie der Imame.

19 Al-Rashidun (arab: die Rechtschaffenen oder Gottgeleiteten): Begriff fürdie ersten vier Kalifen im Islam, die von der jungen Gemeinde der Muslime alsdirekte Nachfolger des Propheten Mohammeds jeweils gewählt wurden. AbuBakr [Bekir] (632-634), Umar [Ömer] ibn al-Khattab (634-644), Uthman[Osman] ibn Affan (644-656) und Ali ibn Abi Talib (656-661) stammten alleaus dem Stamm der Quraysh, aus dem auch der Prophet Muhammed hervor-ging, und waren von Anbeginn an sowohl geistig-religiöse als auch militärisch-

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Fußnoten

politische Führer, unter denen der Islam in Auseinandersetzung mit dem Byzan-tinischen und dem Sassanidischen Reich seine Herrschaft über die gesamte ara-bische Halbinsel, Persien, Irak, Syrien und Ägypten behaupten konnte. Auf dievon der muslimischen Gemeinde gewählten und bis heute von allen Muslimenals rechtmässige Nachfolger des Propheten anerkannten Rashidun folgte dieDynastie der Ummayyaden in Form einer Erbmonarchie.

20 Ummayyadendynastie: 661 n.Chr. mit der Ermordung des vierten Kalifen,Ali, von Mu´awiya ibn Abi Sufyan I. etablierte Erbdynastie mit Machtzentrumin Damaskus. Die Ummayyaden eigneten sich im Zuge ihrer unaufhörlichenMachtexpansion die bestehenden bürokratischen Strukturen des eroberten Sas-sanidenreiches an und richteten ein stehendes Heer ein. Damit stiessen sie überNordafrika bis nach Südspanien vor und etablierten Arabisch als Amtssprachein allen unterworfenen Provinzen. Unter den Ummayyaden wird der Islam zueiner verfestigten und mit politischer Herrschaft verbundenen Doktrin, es bestehtjedoch zunächst kein Konversionszwang für AnhängerInnen anderer Religio-nen.

21 KDP: Demokratische Partei Kurdistans, ursprünglich kurdische National-bewegung in allen von KurdInnen besiedelten Gebieten. Gegründet im Herbst1945 durch Qadhi Mohammed (siehe Fußnote 24) aus iranisch-Kurdistan unterBeteiligung von Mollah Mustafa al-Barzani aus irakisch Kurdistan. Noch zu Zei-ten der Republik Mahabad gründete Barzani mit Hamza Abdullah eine sepa-rate irakische KDP und zerwarf sich mit dem irakischen Kurden Ibrahim Ahmed,Parteigänger Qadhi Mohammeds, der allerdings 1951 zum Generalsekretär derirakischen KDP wurde. Bereits seit 1961 wird die KDP zum Vehikel von Stam-meskämpfen der Barzans gegen ihre traditionellen Feinde. 1966 kämpfenAhmed und Jalal Talabani auf Seiten der irakischen Regierung gegen Barzani,der Unterstützung durch den iranischen Schah und ab Anfang der 1970er Jah-re auch beträchtliche Finanzmittel von den USA erhält. 1975 erlebt die kurdi-sche Nationalbewegung des Irak eine schwere Niederlage, als Teheran auf-grund eines Abkommens mit Baghdad die Unterstützung entzieht. Im März1975 Gründung der Patriotischen Union Kurdistans (PUK) durch Jalal Talaba-ni, während die Führung der KDP durch Mollah Mustafa Barzanis Sohn, Mas-soud Barzani, übernommen wird. Die iranische KDP bleibt nach Zerschlagungder Republik von Mahabad über lange Zeit ohne nennenswerten Einfluss undentwickelt sich im Schatten Barzanis, bis Anfang der sechziger Jahre Abdul-Rahman Ghassemlou der Partei wieder Profil verleiht (siehe Fußnote 25). Inder Türkei bleibt die KDP eine in sich zerstrittene Gruppierung einiger feuda-ler Stammesführer ohne nennenswerten Einfluss.

22 Ubaidullah: Kurdischer Adliger und religiöser Führer. Scheich Ubaidullahbegann 1881 einen religiös-stammestümlich orientierten Aufstand gegen deniranischen Schah. Im Unterschied zu verschiedenen kurdischen Aufständengegen das osmanische Reich, die durch die Briten unterstützt wurden, bemüh-

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Fußnoten

te sich Ubaidullah, dessen Stammensgebiet bei Semdinli/Hakkari lag (also imiranisch-osmanischen Grenzgebiet auf osmanischer Seite), um osmanischeUnterstützung im Kampf gegen den Iran und nahm zeitweise ein Gebiet bis weitüber Urmiya hinaus unter seine Kontrolle. Sein Plan, dieses Gebiet zu konsoli-dieren, um später mehr Autonomie für die Kurden gegenüber dem osmani-schen Reich zu fordern, scheiterte allerdings.

23 I.Simko: Iranisch-kurdischer Feudalherr. Einer der Stammesführer, die in derZeit nach dem ersten Weltkrieg in der Atmosphäre der Desintegration der ira-nischen Zentralmacht angesichts der fortdauernden Besetzung des Südens desLandes durch die Briten und des noch frischen Abzugs der russischen Truppenaus dem Norden (die seit 1908, zu Zeiten des Zaren, im Einvernehmen mitGrossbritannien und zur Zerschlagung der konstitutionellen Bewegung die Hälf-te des Landes besetzt hatten und nach der Oktoberrevolution durch die Bol-schewisten zurückgezogen wurden) regionale Aufstände entfachten, dabeiallerdings von Kolonialmächten gelenkt wurden. Ab 1921 führte das iranischeMilitär unter dem späteren Schah Reza Khan [Pahlevi] entscheidende Schlägegegen die Bewegungen Simkos und anderer aus.

24 Republik von Mahabad: Als nach Ende des zweiten Weltkrieges sowjeti-sche Truppen in Verletzung eines sowjetisch-iranischen Vertrages von 1941weiterhin in der iranischen Provinz Aserbeidschan stationiert blieben, folgte dieProvinzregierung Iranisch-Aserbeidschans im November 1945 dem inspirie-renden Beispiel der sozialistischen Sowjetrepublik Aserbeidschan und erklärteihre Autonomie. Am 22. Januar 1946 riefen dann kurdische Patrioten im angren-zenden iranischen Kurdistan die autonome Republik von Mahabad aus. Unterstarker US-amerikanischer und britischer Unterstützung konnte die iranischeZentralregierung durch eine Beschwerde beim neugegründeten Sicherheitsratder Vereinten Nationen den Abzug der sowjetischen Truppen im Frühjahr 1946erwirken. Im Iran wurde die Regierung durch konservative Kräfte gestürzt.Sofort stürmten die Truppen des Schahs die Republiken Aserbeidschan undMahabad und zerschlugen die jeweiligen Autonomiebewegungen. Die kurdi-sche Republik von Mahabad musste sich am 16. Dezember 1946 ergeben, Bar-zani wurde aus dem Iran vertrieben und Qadhi Mohammed exekutiert, dochging das kurzlebige Experiment als einziger Versuch von Eigenstaatlichkeit indie kurdische Geschichte ein.

25 Ghassemlou: Der iranische Kurde Abdul-Rahman Ghassemlou war in den1950ern Professor für orientalische Sprachen und Literatur an der Pariser Sor-bonne und vom Gedankengut der nationalen und antikolonialen Befreiungs-bewegungen inspiriert. Anfang der 60er kehrte er nach Kurdistan zurück undwurde Generalsekretär der KDP Iran, die unter seiner politischen Vision undseinem diplomatischen Geschick zum wichtigen Bestandteil der Oppositiongegen den Schah wurde. Im Zuge der Revolution wich das Konzept von Eigen-staatlichkeit nach dem Modell Mahabads einem flexibleren Konzept von Födera-

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Fußnoten

lismus im Rahmen einer iranischen Republik, doch wird Ghassemlou nachUmschlag der Volksrevolution in eine islamische Ende 1979 in Wien durchAgenten des Ayatollah Khomeini ermordet.

26 Abraham: Öcalan bezieht sich auf den Patriarchen Abraham einerseits alseine ökumenische Figur, die für Judentum, Christentum und Islam gleicher-massen ätiologisch am Anfang der monotheistischen Religion steht, anderer-seits aber Kraft der (im hellenistischen Judentum und im Qur´an belegten) Erzäh-lung von der Zerstörung der Götzenfiguren des Tyrannen Nimrod durch Abrahamund dessen politisch-religiöser Verfolgung, die erst zum Auszug nach Kanaanführt, als symbolische Widerstandsfigur armer semitischer Stämme gegen anti-ke Grossreiche und als monotheistisch-emanzipatorischer Vorstoss gegen impe-rialen Götzen- und Herrscherkult. Alle drei Dimensionen der Abrahamgestalthaben somit für Öcalan zeitgeschichtlichen Gehalt.

27 Kawa: mythologische Figur, auf die sich die traditionelle Newrozlegendebezieht. Der Sage nach erschlug der kurdische Schmied Kawa den TyrannenDehak und zündete ein Feuer auf einer Berganhöhe an. Vermutlich geht dieLegende auf einen der Volksaufstände der medischen Stammeskonföderationgegen das langsam zerfallende assyrisch-babylonische Reich zurück (Beginndes 1. vorchristlichen Jahrtausends).

28 Harran: antike und mittelalterliche Kultur- und Handelsmetropole, heuteKreisstadt in der kurdischen Provinz Urfa (archäologische Ausgrabungsstätte).Harran gilt in der alttestamentarischen Tradition als Heimatstadt des PatriarchenAbraham.

29 Das Wort arisch (etymologisch abgeleitet vom sumerischen ar: der Pflug undard: die Erde) bezeichnet in der historischen Forschung jene vorgeschichtlichenund antiken Stammesgruppen, die sich seit dem Neolithikum im oberenZweistromland als sesshafte AckerbauerInnen entwickelten und bereits vor Her-ausbildung der städtischen Zivilisation ihre Kulturerrungenschaften vom östli-chen Mittelmeerraum bis zum Industal verbreiteten. Die semitischen Stämmehingegen sind historisch gesehen die aus dem Bereich der arabischen Halbin-sel hervorgegangenen und aufgrund klimatischer Bedingungen stärker mit Vieh-zucht und Handel beschäftigten Bevölkerungsgruppen. Aus beiden gehen vor-geschichtliche Sprachfamilien hervor: aus dem Arischen die indo-europäische,zu der auch das Persische und das Kurdische zählen, aus dem Semitischen diehebräische, aramäische, assyrische und arabische Sprache. Öcalan betont, dassdiese Begriffe unbedingt von den rassistisch-biologistischen Konnotationenbefreit werden müssen, die ihnen im Europa des 19. Jahrhunderts und späterdurch den Faschismus angeheftet wurden, und sieht sämtliche Völker des Mitt-leren Ostens als Mischvölker an.

30 Siehe Fußnote 26.

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Fußnoten

31 Dieser historische Prozess ist im ersten Band von Öcalans Werk ausführlichgeschildert und kann hier nicht erläutert werden.

32 Abbassidendynastie: (Siehe auch Fußnote 17) Die Abbassiden waren diezweite arabisch-islamische Kalifendynastie und regierten zwischen 749 und1258 n.Chr. ein Weltreich, das sich von Zentralasien bis nach Algerien erstreck-te. Gleichzeitig entstanden und vergingen allerdings viele unabhängige, teilweiselokale Muslimdynastien im spanischen Andalusien, in Marokko, Ägypten undZentralasien/Iran, darunter auch die türkischen Seldschuken und die kurdischeAyyubische Dynastie (1169-1260), die auf den kurdischen Strategen Salah-al-Din [Saladin oder Selahattin] Ayyubi (Regentschaft 1169-93) zurückgeht, derdie europäischen Kreuzritter zurückschlug und daraufhin in Ägypten, Syrienund Westarabien regierte.

33 Schleifung des Sassanidenreiches durch die arabisch-islamische Bewegungin einem Prozess, der 629 n. Chr. noch zu Lebzeiten des Propheten Muham-med begann und unter den ersten beiden Kalifen fortgeführt wurde. Bedeu-tete das Ende der vorislamischen persischen Grossreichtradition und Kultur.Während Persien die arabische Schrift adaptiert und langsam islamisiert wird,übernehmen die ummayyadischen Kalifen Verwaltungsstrukturen und büro-kratische Kader des Sassanidischen Reiches.

34 Scheich, Seyyid und Mollah: Verschiedene Grade im islamischen Klerus. DerScheich ist gleichzeitig oftmals Grundbesitzer und im osmanischen Reich tra-ditionell Verwaltungsbeamter, Seyyid ist jemand, der Abstammung von derLinie des Propheten behauptet, der Mollah religiöser Lehrer und Prediger imDienst des Scheichs.

35 Monarchie im Irak: Seit der Zerstörung des abbassidischen Kalifats von Bag-hdad durch die Mongolen 1258 gehörte die umliegende Region verschiedenenImperien an. Im ersten Weltkrieg sendet Grossbritannien (indischstämmige)Truppen nach Mesopotamien und kann 1917/18 Baghdad, Kirkuk und Mosulbesetzen. Gleichzeitig rebellieren von den Briten ausgestattete und von T.E.Lawrence gelenkte arabische Truppen in anderen arabischen Provinzen gegendas osmanische Reich. Ihr Anführer Amir Faysal Ibn Hussayin wird nach der Auf-teilung der den Osmanen entrissenen Provinzen [„Mandaten“] zwischen Frank-reich und Grossbritannien im August 1921 nach Direktiven des Kolonialmini-sters Churchill zum König des Iraks gekrönt. Da König Faysal Sohn des Amirsvon Mekka [Verwalter der Heiligen Pilgerstätten], Sharif Hussayin Ibn Ali, ist,den die Briten als religiös-politische Identifikationsfigur für Muslime gegen dasosmanische Sultanat aufgebaut hatten, bekommt die irakische Monarchie denAnstrich einer Fortsetzung der islamischen Theokratie. Am 3. Oktober 1932wird der Irak als konstitutionelle Monarchie nominell in die Unabhängigkeitentlassen. Im zweiten Weltkrieg wieder britische Besatzung. Erst am 14. Juli1958 stürzen nationalistische Offiziere die Monarchie. Die Briten schufen schonzu Beginn ihrer Herrschaft ein eigenes Rechtssystem für die Stämme, um die

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Fußnoten

Macht der Grossgrundbesitzer zu stärken, und ernannten ´geeignete´ Stam-mesführer zu ‚Regierungsscheichs‘. Andererseits wurden aus der assyrisch-christlichen Bevölkerungsgruppe schon vor dem ersten Weltkrieg besonderebritische Söldner rekrutiert, was Feindschaft gegenüber den Assyrern verstärk-te. Die drei völlig heterogenen Provinzen Basra (Südirak/Golf, arabisch-schi´itisch),Baghdad (zentrales Zweistromland, arabisch-sunnitisch) und Mosul/Kurdistan(Nordirak, kurdisch-sunnitisch) werden erstmals durch die Briten zu einem Ver-waltungsganzen zusammengefügt.

36 Siehe Fußnote 21.

37 Siehe Fußnoten 26 und 28.

38 Urfa ist Heimat Abdullah Öcalans und aufgrund seiner starren, rückständi-gen Feudalstrukturen Ort der ersten Organisierungs- und Kampfversuche derPKK gegen feudale Grossgrundbesitzer Ende der 70er Jahre. Viele Familien ausUrfa haben Verwandte jenseits der syrischen Grenze.

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Fußnoten